Die Auferweckung der Lärche - Warlam Schalamow - E-Book

Die Auferweckung der Lärche E-Book

Warlam Schalamow

4,7

Beschreibung

"Es geht ohne Schalamow überhaupt nicht." Karl Schlögel Mit Die Auferweckung der Lärche liegen nun die 6 Zyklen der Erzählungen aus Kolyma erstmals vollständig auf Deutsch vor. Die insgesamt ca. 1600 Seiten umfassenden Erzählungen zählen zu den eindrucksvollsten literarischen Texten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts und eröffnen einen immer wieder verstörenden Blick in dessen Abgründe. Der abschließende Band der Erzählungen aus Kolyma wird - wie schon der dritte Band Künstler der Schaufel - zwei Erzählzyklen enthalten. Die Werkausgabe wird mit Romanen, Briefen und Gedichten fortgesetzt. "Eine vorbildlich edierte Werkausgabe präsentiert Warlam Schalamow als einen der großen russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts." Volker Strebel, literaturkritik.de, Mai 2012

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Warlam Schalamow

Die Auferweckung der LärcheErzählungen aus Kolyma 4

Werke in EinzelbändenBand 4

Warlam Schalamow

Die Auferweckung der Lärche Erzählungen aus Kolyma 4

Aus dem Russischen von Gabriele LeupoldHerausgegeben, mit einem Glossar, Anmerkungensowie mit einem Nachwort versehenvon Franziska Thun-Hohenstein

Inhalt

Die Auferweckung der Lärche

Der Pfad

Graphit

Ankerplatz der Hölle

Stille

Zwei Begegnungen

Das Thermometer von Grischka Logun

Die Razzia

Furchtlose Augen

Marcel Proust

Die verwaschene Photographie

Der Chef der Politverwaltung

Rjabokon

Die Vita der Ingenieurs Kiprejew

Der Schmerz

Die namenlose Katze

Fremdes Brot

Der Diebstahl

Die Stadt auf dem Berg

Das Examen

Der Brief

Die Goldmedaille

Am Steigbügel

Khan-Girej

Das Abendgebet

Boris Jushanin

Der Besuch des Mister Popp

Das Eichhörnchen

Der Wasserfall

Das Feuer bändigen

Die Auferweckung der Lärche

Der Handschuh

Der Handschuh

Galina Pawlowna Sybalowa

Ljoscha Tschekanow, oder Mitangeklagte an der Kolyma

Triangulation 3. Ordnung

Die Schubkarre I

Die Schubkarre II

Der Schierling

Doktor Jampolskij

Oberstleutnant Fragin

Dauerfrostboden

Iwan Bogdanow

Jakow Owsejewitsch Sawodnik

Das Schachspiel von Doktor Kusmenko

Der Mann vom Dampfer

Aleksandr Gogoberidse

Lektionen der Liebe

Attische Nächte

Reise nach Ola

Der Oberstleutnant des Medizinischen Dienstes

Der Kriegskommissar

Riva-Rocci

Franziska Thun-Hohenstein: »Die Kraft des Authentischen«

Anmerkungen

Glossar

Die Auferweckung der Lärche

Mein Buch »Die Auferweckung der Lärche«ist Irina Pawlowna Sirotinskaja gewidmet.Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.

Der Pfad

In der Tajga hatte ich einen wunderbaren Pfad. Ich hatte ihn selbst angelegt im Sommer, als ich mir Brennholz für den Winter besorgte. Um die Hütte herum gab es viel Reisig – konusförmige Lärchen, grau und wie aus Pappmaché, steckten im Sumpf wie Pfähle. Die Hütte stand auf einer Anhöhe, umringt von Krummholzbüschen mit grünen Nadelquasten – zum Herbst hin zogen die von Nüssen geschwollenen Zapfen die Zweige zum Boden. Durch dieses Krummholzdickicht führte der Pfad in den Sumpf, aber der Sumpf war nicht immer ein Sumpf gewesen – ein Wald wuchs dort, aber dann sind die Baumwurzeln vom Wasser verfault und die Bäume gestorben, vor langer, langer Zeit. Der lebendige Wald hat sich um den Fuß des Berges bis an den Bach zurückgezogen. Der Weg, den Automobile und Menschen nahmen, lag auf der anderen Seite der Anhöhe, weiter oben am Berghang.

Die ersten Tage tat es mir leid, die fetten roten Maiglöckchen zu zertreten und die Iris, die mit ihren Blütenblättern und ihrem Muster aussahen wie riesige lila Schmetterlinge; die dicken blauen Riesenschneeglöckchen knackten unangenehm unter dem Fuß. Die Blüten hatten, so wie alle Blüten im Hohen Norden, keinen Duft; einmal ertappte ich mich bei einer automatischen Bewegung – du pflückst einen Strauß und führst ihn an die Nase. Doch dann habe ich es mir abgewöhnt. Am Morgen sah ich mir an, was über Nacht auf meinem Pfad passiert war – hier hat sich ein Maiglöckchen aufgerichtet, ein gestern von meinem Stiefel zerdrücktes, es ist zur Seite ausgewichen, aber doch wieder aufgelebt. Ein anderes Maiglöckchen ist schon für immer zerdrückt und liegt da wie ein umgekippter Telegrafenmast mit Porzellan-Isolatoren, und die zerrissenen Spinnweben hängen daran wie zerfaserte Leitungen.

Und dann war der Pfad ausgetreten, und ich nahm nicht mehr wahr, dass sich mir Krummholzzweige in den Weg legten, die, die mir ins Gesicht schlugen, brach ich ab und nahm die abgebrochene Stelle nicht mehr wahr. Zu beiden Seiten des Pfades standen junge Lärchen von etwa hundert Jahren – ich sah sie grün werden, sah sie die feinen Nadeln auf den Pfad streuen. Der Pfad wurde von Tag zu Tag dunkler und war schließlich ein gewöhnlicher dunkelgrauer Bergpfad. Niemand außer mir benutzte ihn. Blaue Eichhörnchen hüpften darauf, und die Spuren der ägyptischen Keilschrift der Rebhühner habe ich immer wieder gefunden, auch eine dreieckige Hasenspur kam vor, aber Vögel und Wildtiere zählen ja nicht.

Ich benutzte meinen Pfad fast drei Jahre lang. Darauf ließen sich gut Gedichte schreiben. Wenn ich, zurückgekehrt von einer Reise, wieder darauf ausschritt, stellte sich auf diesem Pfad ganz gewiss eine Strophe ein. Ich hatte mich an den Pfad gewöhnt, hielt mich dort auf wie in einem Arbeitszimmer im Wald. Ich erinnere mich, wie schon vor dem Winter Kälte und Eis den Matsch auf dem Pfad erfassten, und der Matsch sah verzuckert aus wie Marmelade. In zwei Herbsten ging ich vor dem Schnee auf diesen Pfad – um eine tiefe Spur zu hinterlassen, die vor meinen Augen für den ganzen Winter erstarrt. Und im Frühjahr, wenn der Schnee getaut war, sah ich meine Zeichen vom vorigen Jahr, trat in die alten Spuren, und Gedichte schrieben sich wieder leicht. Im Winter stand mein Kabinett natürlich leer: Der Frost lässt einen nicht denken, schreiben kann man nur im Warmen. Im Sommer konnte ich alles herzählen, und alles war viel bunter als im Winter auf diesem Zauberpfad – das Krummholz und die Lärchen und die Heckenrosenbüsche brachten stets ein Gedicht, und wenn mir nicht fremde Gedichte von entsprechender Stimmung einfielen, dann murmelte ich ein eigenes, das ich, zurück in der Hütte, aufschrieb.

Im dritten Sommer lief über meinen Pfad ein Mensch. Ich war gerade nicht zu Hause, ich weiß nicht, ob es ein umherwandernder Geologe war oder ein Bergbriefträger oder ein Jäger – der Mensch hinterließ die Spuren seiner schweren Stiefel. Von da an konnte ich auf diesem Pfad keine Gedichte mehr schreiben. Die fremde Spur war im Frühjahr hinterlassen worden, und den ganzen Sommer schrieb ich auf diesem Pfad keine einzige Zeile. Zum Winter wurde ich an einen anderen Ort versetzt, und es tat mir auch nicht leid – der Pfad war hoffnungslos verdorben.

Manches Mal habe ich versucht, über diesen Pfad ein Gedicht zu schreiben, doch es ist mir trotz allem niemals gelungen.

<1967>

Graphit

Womit werden Todesurteile unterschrieben: mit Kopierstift oder Passtusche, mit Kugelschreibertinte oder Alizarin, vermischt mit reinem Blut?

In jedem Fall wird kein einziges Todesurteil mit einfachem Bleistift unterschrieben.

In der Tajga können wir keine Tinte gebrauchen. Regen, Tränen und Blut lösen jede Tinte, jeden Kopierstift auf. Kopierstifte darf man in den Paketen nicht schicken, sie werden bei Durchsuchungen eingezogen – dafür gibt es zwei Gründe. Der erste: Der Häftling kann damit jedes Dokument fälschen; der zweite: So ein Stift dient als Druckfarbe bei der Herstellung der Spielkarten der Ganoven, der »stirki«, und also …

Zugelassen ist nur ein schwarzer Bleistift, einfacher Graphit. Die Verantwortung des Graphits ist an der Kolyma außerordentlich, ungewöhnlich groß.

Die Kartographen haben mit dem Himmel gesprochen, haben den Sternenhimmel ins Auge gefasst, nach der Sonne geschaut und einen Festpunkt auf unserer Erde bestimmt. Und über diesem Festpunkt, einer auf dem Gipfel eines Bergs, auf einem Felsgipfel in den Stein getriebenen Marmortafel – stellten sie einen Dreifuß auf, ein Lattensignal. Dieser Dreifuß zeigt exakt die Stelle auf der Karte, und von ihm, vom Berg, vom Dreifuß, durch Talkessel und Schluchten über Lichtungen, Brachen und Sumpfräumden zieht sich ein unmerklicher Faden – ein unsichtbares Netz von Längen- und Breitenkreisen. In die dichte Tajga werden Schneisen geschlagen – jede Kerbe, jede Marke ist eingefangen im Fadennetz des Nivellierinstruments, des Theodoliten. Die Erde ist vermessen, die Tajga ist vermessen, und auf den frischen Kerben begegnen wir auf Schritt und Tritt der Spur des Kartographen, des Landvermessers – einfachem schwarzem Graphit.

Die Tajga des Kolymagebiets ist kreuz und quer durchzogen von den Schneisen der Topographen. Und doch gibt es die Schneisen nicht überall, nur in den Wäldern rund um die Siedlungen, um die »Produktion«. Die Brachen, Lichtungen und Räumden der Waldtundra und die nackten Bergkuppen sind nur von Luft-, von imaginären Linien durchzogen. Hier gibt es keinen einzigen Baum, um einen Anschluss zu markieren, keine verlässlichen Richtpunkte. Richtpunkte werden auf Felsen gesetzt, in Flussbetten, auf die schneelosen Bergkuppen. Und von diesen sicheren, biblischen Festpunkten aus erfolgt die Vermessung der Tajga, die Vermessung der Kolyma, die Vermessung des Gefängnisses. Die Kerben an den Bäumen sind das Netz von Schneisen, von denen durch das Rohr des Theodoliten, im Fadenkreuz die Tajga ins Auge gefasst und berechnet ist.

Ja, für die Kerben eignet sich nur der einfache schwarze Bleistift. Nicht der Kopierstift. Der Kopierstift verfließt, wird vom Saft des Baumes aufgelöst, vom Regen oder Tau, vom Nebel oder Schnee abgewaschen. Der künstliche Bleistift, der Kopierstift eignet sich nicht für Notizen über die Ewigkeit, über die Unsterblichkeit. Doch der Graphit, der Kohlenstoff, unter höchstem Druck Millionen Jahre zusammengepresst und wenn nicht in Steinkohle, dann in einen Brillanten verwandelt oder, noch wertvoller als ein Brillant, in einen Bleistift, in Graphit, der alles aufschreiben kann, was er gewusst und gesehen hat … Ein größeres Wunder als der Diamant, obwohl die chemische Natur von Graphit und Brillant dieselbe ist.

Die Instruktion verbietet den Topographen nicht nur, für Marken und Kerben den Kopierstift zu benutzen. Jede Legende oder jeder Legendenentwurf bei der Vermessung nach Augenmaß braucht den Graphit für die Unsterblichkeit. Die Legende braucht den Graphit für die Unsterblichkeit. Der Graphit – ist Natur, der Graphit hat teil am irdischen Kreislauf und widersteht der Zeit manchmal besser als der Stein. Die Kalksteinberge zerfallen unter dem Regen, den Windstößen, den Flusswellen, aber die junge Lärche – sie ist erst zweihundert Jahre alt, sie muss noch leben – bewahrt auf ihrer Kerbe die Ziffer, die Marke der Verbindung von biblischem Geheimnis und Gegenwart.

Die Ziffer, das Kartenzeichen wird auf die frische Kerbe gemalt, auf die strömende frische Wunde des Baumes, eines Baumes, der Harz verströmt wie Tränen.

Nur mit Graphit kann man in der Tajga schreiben. Die Topographen haben in den Taschen ihrer Westen, Seelenwärmer, Feldblusen, Hosen und Halbpelze immer einen Stummel, ein Restchen Graphitstift.

Papier, Notizbuch, Messplan, ein Heft – und der Baum mit der Kerbe.

Das Papier ist eine der Masken, eine der Verwandlungen des Baumes in Diamant und Graphit. Der Graphit ist Ewigkeit. Größte Härte, die in größte Weichheit verwandelt wurde. Ewig ist die Spur, die der Graphitstift in der Tajga hinterlässt.

Die Kerbe wird behutsam gehauen. Am Stamm einer Lärche werden auf Gürtelhöhe zwei Sägeschnitte angebracht und mit der Ecke der Axt das noch lebendige Holz herausgebrochen, um Platz zu machen für eine Notiz. Es entsteht ein Dach, ein Häuschen, eine saubere Tafel mit Vordach gegen den Regen, die bereit ist, die Notiz auf ewig zu bewahren – praktisch ewig, bis ans Ende des sechshundertjährigen Lärchenlebens.

Der verletzte Körper der Lärche ist wie eine offenbarte Ikone – eine Gottesmutter von Tschukotka, Jungfrau Maria von der Kolyma, die ein Wunder erwartet, ein Wunder offenbart.

Und der leichte, zarte Harzduft, der Duft des Lärchensafts, der Duft des Bluts, das die menschliche Axt aufgewühlt hat, atmet sich wie der ferne Duft der Kindheit, der Duft von Benzoeharz.

Die Ziffer ist eingetragen, und die verletzte Lärche, Wind und Sonne ausgesetzt, bewahrt diesen »Anschluss«, der in die große Welt führt aus dem Tajgadickicht – durch die Schneise zum nächsten Dreifuß, dem kartographischen Dreifuß auf dem Berggipfel, wo unter dem Dreifuß, mit Steinen zugeschüttet, in einer Vertiefung eine Marmortafel liegt, der die wahre Länge und Breite eingeritzt ist. Diese Inschrift ist keineswegs mit Graphitstift gemacht. Und an den tausend Fäden, die sich von diesem Dreifuß spannen, an den Tausenden Linien von Kerbe zu Kerbe kehren wir zurück in unsere Welt, um uns ewig an das Leben zu erinnern. Der topographische Dienst ist ein Dienst am Leben.

Aber an der Kolyma ist nicht nur der Topograph verpflichtet, den Graphitstift zu benutzen.

Außer dem Dienst am Leben gibt es hier noch den Dienst am Tod, wo der Kopierstift ebenfalls verboten ist. Die Instruktion des »Archivs Nr. 3« – der sogenannten Abteilung Statistik von Häftlingstoden im Lager – lautete: Am linken Unterschenkel des Toten ist ein Täfelchen zu befestigen, ein Sperrholztäfelchen mit der Nummer der Lagerakte. Die Nummer der Lagerakte ist mit einfachem Graphitstift zu schreiben – nicht mit Kopierstift. Der künstliche Bleistift steht auch hier der Unsterblichkeit im Weg.

Man könnte meinen, wozu dieses Spekulieren auf Exhumierung? Auf Wiedererweckung? Auf Überführung der Asche? Es gibt wer weiß wie viele namenlose Massengräber an der Kolyma – in die man die Menschen ganz ohne Täfelchen warf. Doch Instruktion ist Instruktion. Theoretisch sind alle Gäste des ewigen Dauerfrostbodens unsterblich und bereit, zu uns zurückzukehren, damit wir die Täfelchen von ihren linken Unterschenkeln nehmen und Bekanntschaften und Verwandtschaften klären.

Sofern nur auf dem Täfelchen mit einfachem schwarzen Graphitstift die Nummer vermerkt ist. Die Lageraktennummer werden weder Regen noch unterirdische Quellen, noch Frühjahrshochwasser abwaschen, wird das Eis des Dauerfrostbodens nicht berühren, das manchmal der sommerlichen Wärme nachgibt und seine unterirdischen Geheimnisse verrät – nur einen Teil dieser Geheimnisse.

Die Lagerakte, das Formular – ist der Pass des Häftlings, mit Photos en face und en profil, Abdrücken der zehn Finger beider Hände und Beschreibung der besonderen Kennzeichen. Der Registraturverwalter, der Mitarbeiter des »Archivs Nr. 3« muss die Todesurkunde für jeden Häftling in fünf Exemplaren ausstellen mit Abdruck sämtlicher Finger plus dem Hinweis, ob die Goldzähne ausgebrochen wurden. Für die Goldzähne wird ein eigenes Protokoll ausgestellt. So ist es in den Lagern schon immer gewesen, und die Nachrichten von ausgebrochenen Zähnen in Deutschland haben an der Kolyma niemanden verwundert.

Die Staaten wollen das Gold der Toten nicht verlieren. Urkunden über ausgeschlagene Goldzähne wurden in Gefängnissen und Lagereinrichtungen schon immer ausgestellt. Das Jahr siebenunddreißig brachte den Untersuchungsverfahren und Lagern viele Menschen mit Goldzähnen. Bei denen, die in den Bergwerken der Kolyma starben – sie haben dort nicht lange gelebt –, waren die nach dem Tod ausgebrochenen Goldzähne das einzige Gold, das sie dem Staat in den Goldgruben der Kolyma gegeben haben. In den Prothesen war mehr Gold, als diese Menschen in ihrem kurzen Leben in den Gruben der Kolyma zusammengraben, zusammenschaufeln, zusammenhacken konnten. Wie beweglich die Wissenschaft der Statistik auch sei – dieser Aspekt der Sache ist wohl kaum erforscht.

Die Finger des Toten sind mit Druckfarbe zu färben, und ein Vorrat an dieser Farbe, ihr Verbrauch ist sehr hoch, liegt bei jedem Mitarbeiter der »Statistik«.

Getöteten Flüchtlingen hackt man die Hände ab, damit man zur Identifizierung den Körper nicht überführen muss – zwei menschliche Hände in einer Militärtasche sind wesentlich bequemer zu überführen als Körper, als Leichen.

Das Täfelchen am Bein ist ein Zeichen von Kultur. Andrej Bogoljubskij hatte kein solches Täfelchen – man musste ihn anhand seiner Knochen identifizieren, auf Alphonse Bertillons Berechungen zurückgreifen.

Wir glauben an die Daktyloskopie – diese Erfindung hat uns nie im Stich gelassen, wie sehr sich die Kriminellen auch die Fingerspitzen verstümmelten, sie mit Feuer oder Säure verbrannten, ihnen mit dem Messer Wunden beibrachten. Die Daktyloskopie hat uns nicht im Stich gelassen – es gibt ja zehn Finger –, und sie alle zehn abzubrennen unterfing sich kein einziger Ganove.

Wir glauben nicht Bertillon – dem Chef der französischen Kriminalpolizei, dem Vater des anthropologischen Prinzips in der Kriminologie, das die Identität anhand einer Serie von Messungen, anhand des Verhältnisses der Körperteile zueinander feststellt. Bertillons Entdeckungen taugen höchstens für Künstler, für Maler – die Abstände zwischen Nasenspitze und Ohrläppchen haben uns nichts enthüllt.

Wir glauben an die Daktyloskopie. Fingerabdrücke abgeben, »Klavierspielen« können alle. Im Jahr siebenunddreißig, als alle aufgezeichnet wurden, die schon früher gezeichnet waren, legte jeder mit routinierter Bewegung seine routinierten Finger in die routinierten Hände des Gefängnismitarbeiters.

Dieser Abdruck wird auf ewig in der Lagerakte aufbewahrt. Die Tafel mit der Nummer der Lagerakte bewahrt nicht nur den Todesort, sondern wahrt auch das Geheimnis des Todes. Diese Nummer auf dem Täfelchen ist mit Graphit geschrieben.

Der Kartograph, der neue Wege auf der Erde bahnt, neue Straßen für die Menschen, und der Totengräber, der auf die Einhaltung der Begräbnisregeln, der Totengesetze achtet, müssen ein und dasselbe Werkzeug benutzen – den schwarzen Graphitstift.

<1967>

Ankerplatz der Hölle

Die schweren Türen des Laderaums öffneten sich über uns, und über eine schmale Eisenleiter stiegen wir einer nach dem anderen langsam an Deck. Die Begleitposten standen in geschlossener Reihe vor der Reling am Schiffsheck, die Gewehre auf uns gerichtet. Aber niemand beachtete sie. Jemand schrie – schneller, schneller, die Menge drängelte, wie auf jedem Bahnhof beim Einsteigen. Den Weg zeigten sie nur den ersten, an den Gewehren entlang zu dem breiten Steg – auf die Barke, und von der Barke über den anderen Steg – an Land. Unsere Schiffsreise war zu Ende. Zwölftausend Mann hatte unser Dampfer gebracht, und während sie an Land gingen, war Zeit, sich umzuschauen.

Nach den heißen, herbstlich sonnigen Tagen in Wladiwostok, nach den sehr reinen Farben des fernöstlichen Abendhimmels, makellos, klar, ohne Halbtöne und Übergänge, eingeprägt fürs ganze Leben …

Es fiel ein kalter feiner Regen aus dem weißlich-trüben, düsteren, einfarbigen Himmel. Nackte, waldlose, felsige grünliche Bergkuppen standen direkt vor uns, und in den Lichtungen dazwischen, unmittelbar an ihrem Fuß, hingen zottige schmutzig-graue zerrissene Wolken. Als ob die Fetzen einer riesigen Decke dieses düstere Bergland bedeckten. Ich erinnere mich gut: Ich war vollkommen ruhig, zu allem bereit, aber mein Herz begann zu schlagen und krampfte sich unwillkürlich zusammen. Ich wandte die Augen ab und dachte – sie bringen uns zum Sterben hierher.

Meine Jacke wurde allmählich nass. Ich saß auf meinem Koffer, den ich, in ewiger menschlicher Geschäftigkeit, bei der Verhaftung von zu Hause mitgenommen hatte. Alle, alle hatten Sachen dabei: Koffer, Rucksäcke, zusammengerollte Decken … Viel später begriff ich, dass die ideale Ausrüstung eines Verhafteten ein kleiner Leinenbeutel ist, und darin ein Holzlöffel. Alles Übrige, ob Bleistiftstummel oder Decke, ist nur lästig. Ja, wenn man uns etwas gründlich beigebracht hat, dann das Geringschätzen von persönlichem Eigentum.

Ich schaute den Dampfer an, der sich an den Kai drückte, so klein und hin- und hergeschaukelt von den grauen, dunklen Wellen.

Durch das graue Netz des Regens traten die düsteren Silhouetten der Felsen hervor, die die Nagajewo-Bucht umgeben, und nur dort, wo der Dampfer hergekommen war, zeigte sich der unendlich bucklige Ozean, als läge ein riesiges Tier am Ufer, schwer seufzend, und der Wind zause sein Fell mit dem schuppigen, auch im Regen funkelnden Wellenmuster.

Es war kalt und schrecklich. Die heiße herbstliche Klarheit der Farben des sonnigen Wladiwostok war irgendwo dort geblieben, in der anderen, wirklichen Welt. Dies hier war eine feindselige und düstere Welt.

Kein Wohngebäude war in der Nähe zu sehen. Die einzige Straße umrundete die Bergkuppe und lief irgendwohin nach oben.

Schließlich waren alle an Land gegangen, und schon in der Dämmerung machte sich die Etappe langsam auf in die Berge. Niemand fragte etwas. Die Menge der nassen Menschen kroch die Straße entlang und blieb oft zum Atemholen stehen. Die Koffer wurden zu schwer, die Kleidung war nass.

Zwei Biegungen, und neben uns, oberhalb von uns, sahen wir auf einem Bergvorsprung Reihen von Stacheldraht. An den Stacheldraht pressten sich von innen Menschen. Sie schrien etwas, und plötzlich flogen Brotlaibe zu uns herüber. Das Brot wurde über den Stacheldraht geworfen, wir fingen es auf, brachen es durch und teilten es. Hinter uns lagen Monate im Gefängnis, fünfundvierzig Tage Etappe auf der Eisenbahn und fünf Tage Meer. Ausgehungert waren alle. Niemandem hatte man Geld auf den Weg mitgegeben. Das Brot wurde gierig gegessen. Der Glückliche, der ein Brot aufgefangen hatte, verteilte es unter allen, die wollten – eine Hochherzigkeit, die wir uns drei Wochen später für immer abgewöhnt hatten.

Man führte uns immer weiter, immer höher. Die Halte wurden immer häufiger. Und plötzlich ein Holztor, Stacheldraht und dahinter Reihen von regendunklen Segeltuchzelten – weiß und hellgrün, riesig. Wir wurden abgezählt und geteilt, ein Zelt nach dem anderen gefüllt. In den Zelten gab es zweistöckige Holzpritschen, Typus Eisenbahn, jede Pritsche für acht Mann. Jeder nahm seinen Platz ein. Das Segeltuch war leck, Pfützen standen sowohl auf dem Boden als auch auf den Pritschen, aber ich war so erschöpft (und alle anderen waren nicht weniger müde als ich – vom Regen, der Luft, dem Marsch, der durchnässten Kleidung, den Koffern), dass ich, irgendwie zusammengerollt, ohne an das Trocknen der Kleider zu denken – und wo sie auch trocknen –, mich hinlegte und einschlief. Es war dunkel und kalt …

<1967>

Stille

Wir alle, die ganze Brigade, setzten uns voller Verwunderung, Argwohn, Vorsicht und Scheu an die Tische der Lagerkantine – die schmutzigen, klebrigen Tische, an denen wir all unser hiesiges Leben lang aßen. Warum die Tische klebrig sein mussten – nicht die Suppe wurde ja hier verschüttet, »niemand führte den Löffel am Mund vorbei« und würde es auch nicht tun, aber es gab ja keine Löffel, und vergossene Suppe würde man mit dem Finger in den Mund holen und einfach auflecken.

Es war Essenszeit für die Nachtschicht. Unsere Brigade hatte man in die Nachtschicht gesteckt, vor irgendjemandes Augen verborgen – wenn es solche Augen gab! – in unserer Brigade waren die Allerschwächsten, Allerschlimmsten, Allerverhungertsten. Wir waren menschlicher Abfall, und doch musste man uns ernähren, und zwar keineswegs mit Abfällen, nicht einmal mit Resten. Auch für uns brauchte man Fette und warmes Essen, und vor allem – Brot, in der Qualität genau dasselbe Brot, das die besten Brigaden bekamen, die sich ihre Kräfte noch bewahrt hatten und den Plan noch brachten in der wichtigsten Produktion – die Gold, Gold, Gold brachten …

Wenn sie uns schon ernährten, dann als allerletzte, ob nachts, ob tags – ganz egal.

Auch heute Nacht waren wir als letzte an die Reihe gekommen.

Wir wohnten alle in einer Baracke, in einer gemeinsamen Sektion. Ich kannte einige von diesen Halbleichen – aus dem Gefängnis, aus den Etappen. Ich bewegte mich jeden Tag mit einem Haufen von zerrissenen Steppjacken, von StoffOhrenmützen, die von einem Badetag zum anderen auf dem Kopf blieben; von burki, aus zerrissenen Hosen zusammengesteppt und angesengt an den Lagerfeuern, und nur dank meines Gedächtnisses erkannte ich, dass unter ihnen sowohl der rotgesichtige Tatare Mutalow war – der einzige Bewohner von ganz Tschimkent, der ein zweistöckiges Haus mit Blechdach besaß, als auch Jefimow, ehemaliger Erster Sekretär des Stadtparteikomitees von Tschimkent, der im Jahr dreißig Mutalow als Klasse liquidiert hatte.

Hier war auch Oksman, der ehemalige Chef der Politabteilung einer Armeedivision, der von Marschall Timoschenko, damals noch nicht Marschall, als Jude aus seiner Division gejagt wurde.

Hier war auch Lupilow, der Referent des Generalstaatsanwalts der UdSSR, Referent Wyschinskijs. Shaworonkow, der Lokführer aus dem Sawjolowskij Lokomotivdepot. Und auch ein ehemaliger NKWD-Chef aus der Stadt Gorkij, der während der Etappe einen Streit mit einem seiner »Mündel« begann:

»Man hat dich geschlagen? Ja und? Du hast unterschrieben – also bist du ein Feind, machst unsere Sowjetmacht irre, störst uns bei der Arbeit. Wegen solchen Scheusalen habe ich auch fünfzehn Jahre bekommen.«

Ich mischte mich ein:

»Ich höre dir zu und weiß nicht, was tun – lachen oder dir in die Fresse spucken …«

Unterschiedliche Leute gab es in dieser »auf Grund laufenden« Brigade … Es gab auch einen Anhänger der Sekte »Gott weiß«, vielleicht hieß die Sekte auch anders – das war einfach die einzige beständige Antwort des Sektierers auf alle Fragen der Leitung.

Der Name des Sektierers ist mir im Gedächtnis geblieben, natürlich – Dmitrijew –, obwohl der Sektierer selbst niemals darauf reagierte. Die Hände der Kameraden und des Brigadiers bewegten Dmitrijew vom Fleck, stellten ihn in die Reihe, führten ihn.

Die Begleitposten wechselten häufig, und fast jeder neue Begleitposten versuchte, das Geheimnis der verweigerten Reaktion auf das drohende »Antworten!« zu begreifen – beim Abmarsch zum Einsatz zur so genannten Arbeit.

Der Brigadier erklärte kurz die Umstände, und der erfreute Begleitposten fuhr mit dem Appell fort.

Den Sektierer waren alle in der Baracke leid. Nachts schliefen wir nicht vor Hunger, wir wärmten uns, wärmten uns am eisernen Ofen, hielten ihn mit den Armen umfasst und fingen die entweichende Wärme des erkaltenden Eisens ein, hielten das Gesicht ans Eisen.

Selbstverständlich verstellten wir diese klägliche Wärme den übrigen Barackenbewohnern, die – so wie wir, die vor Hunger nicht schliefen – in den fernen, raureifbedeckten Ecken lagen. Von dort, aus diesen fernen dunklen, raureifbedeckten Ecken sprang jemand hervor, der das Recht hatte zu schreien, und sogar auch das Recht zu schlagen, und vertrieb die hungrigen Arbeiter mit Fluchen und Fußtritten vom Ofen.

Am Ofen durfte man stehen und legal Brot rösten, aber wer hatte Brot, um es zu rösten … Und wie viele Stunden kann man ein Stückchen Brot rösten?

Wir hassten die Chefs, hassten uns gegenseitig, und am meisten hassten wir den Sektierer – für die Lieder, für die Hymnen, für die Psalmen …

Wir alle schwiegen, wenn wir den Ofen umarmt hielten. Der Sektierer sang, sang mit heiserer, erkälteter Stimme – nicht laut, aber er sang irgendwelche Hymnen, Psalmen und Verse. Die Lieder waren endlos.

Ich arbeitete gemeinsam mit dem Sektierer. Die übrigen Bewohner der Sektion erholten sich in der Arbeitszeit vom Hymnen- und Psalmensingen, erholten sich von dem Sektierer, aber ich hatte auch diese Erleichterung nicht.

»Sei still!«

»Ich wäre längst tot ohne die Lieder. Ich wäre gegangen – in den Frost. Mir fehlt die Kraft. Hätte ich ein bisschen mehr Kraft. Ich bitte Gott nicht um den Tod. Er sieht alles selbst.«

Es gab in der Brigade auch andere Leute, die in Lumpen gewickelt waren, genauso schmutzig und hungrig, mit demselben Glanz in den Augen. Wer sind sie? Generäle? Helden des Spanischen Kriegs? Russische Schriftsteller? Kolchosbauern aus Wolokolamsk?

Wir saßen in der Kantine und begriffen nicht – warum gibt man uns nichts zu essen, worauf wartet man? Was für eine Neuigkeit wird man verkünden? Für uns konnte eine Neuigkeit nur gut sein. Es gibt eine Grenze, von der an alles, was mit einem Menschen passiert – Glück bedeutet. Eine Neuigkeit kann nur gut sein. Das begriffen alle, begriffen es mit ihrem Körper, nicht mit dem Gehirn.

Die Klappe des Ausgabefensters öffnete sich von innen, und man brachte uns Näpfe mit Suppe – heiß! Grütze – warm! Und Fruchtspeise, den dritten Gang – beinahe kalt! Jeder bekam einen Löffel, und der Brigadier machte uns darauf aufmerksam, dass wir den Löffel zurückgeben müssen. Natürlich geben wir die Löffel zurück. Wozu brauchen wir einen Löffel? Um ihn gegen Tabak einzutauschen in einer anderen Baracke? Natürlich geben wir die Löffel zurück. Wozu brauchen wir Löffel? Wir sind es längst gewöhnt, über Bord zu essen. Wozu brauchen wir einen Löffel? Was am Grund bleibt, kann man mit dem Finger zum Bord, zum Ausgang schieben …

Zu denken gab es hier nichts – vor uns stand Essen, Nahrung. Man gab uns Brot auf die Hand – jedem einen Zweihunderter.

»Brot nur nach Ration«, verkündete feierlich der Brigadier, »und alles andere zum Vollschlagen.«

Und wir schlugen uns voll. Jede Suppe besteht aus zwei Teilen: Dickem und Brühe. Zum Vollschlagen gab man uns die Brühe. Dafür war der zweite Gang, die Grütze, ganz ohne Betrug. Der dritte Gang – lauwarmes Wasser mit einem leichten Beigeschmack von Stärke und einer kaum wahrnehmbaren Spur von aufgelöstem Zucker. Das war die Fruchtspeise.

Häftlingsmägen sind keineswegs vergröbert, ihr Geschmacksvermögen durch den Hunger und die grobe Nahrung keineswegs abgestumpft. Im Gegenteil, das Geschmacksvermögen des hungernden Häftlingsmagens ist außerordentlich. Die qualitative Reaktion eines Häftlingsmagens nimmt es an Feinheit mit jedem physikalischen Labor eines beliebigen Landes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf.

Kein freier Magen hätte das Vorhandensein von Zucker in jener Fruchtspeise festgestellt, die wir aßen oder vielmehr tranken in dieser Kolyma-Nacht im Bergwerk »Partisan«.

Uns aber erschien die Fruchtspeise süß, ausnehmend süß, uns erschien sie als Wunder, und jeder erinnerte sich daran, dass es noch Zucker gibt auf der weiten Welt und er sogar in den Häftlingskessel gelangt. Welcher Zauberer …

Der Zauberer war nicht weit. Wir entdeckten ihn nach dem ersten Gang des zweiten Mittagessens.

»Brot nur nach Ration«, sagte der Brigadier, »den Rest zum Vollschlagen.« Und er sah den Zauberer an.

»Jaja«, sagte der Zauberer.

Das war ein kleines, sauberes, dunkles Männchen, sauber gewaschen, mit noch nicht erfrorenem Gesicht.

Unsere Leitung, unsere Aufseher, Vorarbeiter, Einsatzleiter, Lagerchefs und Begleitposten – alle hatten die Kolyma schon gekostet, und in jedem, in jedem Gesicht hatte die Kolyma ihre Worte eingeschrieben, ihre Spur hinterlassen, zusätzliche Furchen gekerbt, für immer den Fleck der Erfrierungen, ein unverwischbares Zeichen, ein unauslöschliches Brandmal gesetzt!

Auf dem rosigen Gesicht des sauberen dunklen Männchens gab es noch nicht einen einzigen Fleck, nicht ein Zeichen.

Das war der neue Obererzieher unseres Lagers, soeben vom Festland angereist. Der Obererzieher machte ein Experiment.

Der Erzieher hatte mit dem Natschalnik abgemacht, hatte durchgesetzt, dass gegen eine Gepflogenheit der Kolyma verstoßen wird: Täglich hatte man die Reste der Suppe und der Grütze nach alter, hundert- oder sogar tausendjähriger Tradition immer von der Küche in die Baracke der Ganoven getragen und »das Dicke« in der Baracke der besten Brigaden verteilt – um die Brigaden nicht mit dem größten, sondern mit dem kleinsten Hunger zu unterstützen und alles auf den Plan zu verwenden, alles in Gold zu verwandeln – die Seelen und Körper aller Natschalniks, Begleitposten und Häftlinge.

Jene Brigaden – und die Ganoven genauso – hatten schon gelernt, sich schon angewöhnt, auf diese Reste zu rechnen. Also – auch ein moralischer Schaden.

Aber der neue Erzieher war mit der Gepflogenheit nicht einverstanden, er bestand darauf, die Reste der Nahrung den Schwächsten, den Hungrigsten zu geben – damit wird dann wohl auch ihr Gewissen erwachen.

»Statt eines Gewissens ist ihnen ein Horn gewachsen«, versuchte sich der Vorarbeiter einzumischen, aber der Erzieher blieb standhaft und bekam die Genehmigung zu seinem Experiment.

Für den Versuch wurde die allerhungrigste, unsere Brigade ausgewählt.

»Sie werden sehen, der Mensch wird essen und zum Dank an den Staat besser arbeiten. Kann man denn von diesen dochodjagi Arbeit verlangen? Dochodjagi sage ich, ja? Dochodjagi – das ist das erste Wort aus der Gaunersprache, das ich an der Kolyma gelernt habe. Sage ich das richtig?«

»Ganz richtig«, sagte der Abschnittschef, ein Freier, ein Kolymaveteran, der in diesem Bergwerk einige Tausend Mann »an den Hügel« geschickt hat. Er war gekommen, um sich das Experiment anzuschauen.

»Aber diese Drückeberger, diese Simulanten kann man einen ganzen Monat mit Fleisch und Schokolade füttern, bei völliger Ruhe. Und selbst dann werden sie nicht arbeiten. In ihrem Hirnkasten hat sich etwas für immer verändert. Das ist Schlacke, Auswurf. Für die Produktion wäre es wertvoller, die zu füttern, die noch arbeiten, und nicht diese Drückeberger!«

An der Küchenluke begann ein Streit, ein Geschrei. Der Erzieher redete energisch. Der Abschnittschef hörte mit unzufriedenem Gesicht zu, und als der Name Makarenko fiel, winkte er endgültig ab und zog sich zurück.

Wir beteten jeder zu seinem Gott, und der Sektierer – zu seinem. Wir beteten, dass sich die Luke nicht schließen, dass der Erzieher gewinnen möge. Der Häftlingswille von zwei Dutzend Mann strengte sich an – und der Erzieher gewann.

Wir aßen weiter und wollten uns von dem Wunder nicht trennen.

Der Abschnittschef zog die Uhr hervor, aber das Signal tönte schon – die durchdringende Lagersirene rief uns zur Arbeit.

»Also, ihr Arbeiter«, sagte der neue Erzieher, er sprach dieses hier nutzlose Wort unsicher aus. »Ich habe getan, was ich konnte. Habe das für euch erreicht. Jetzt seid ihr dran, darauf mit Arbeit zu antworten, nur mit Arbeit.«

»Wir werden arbeiten, Bürger Natschalnik«, sagte wichtig der ehemalige Referent des Generalstaatsanwalts der UdSSR, band die Steppjacke mit einem schmutzigen Handtuch zusammen und atmete in den Ärmel, um warme Luft hineinzublasen.

Die Tür ging auf und ließ weißen Dampf herein, und wir krochen hinaus in den Frost, um uns diesen Erfolg fürs ganze Leben zu merken – alle, die weiterleben würden. Der Frost erschien uns geringer, schwächer. Aber nicht lange. Der Frost war zu stark, sich nicht zu behaupten.

Wir kamen in der Grube an, setzten uns im Kreis, um auf den Brigadier zu warten, setzten uns an den Platz, an dem wir einmal ein Feuer gemacht und uns gewärmt, in die goldene Flamme geatmet hatten, an dem wir Handschuhe, Mützen, Hosen, Steppjacken und burki verbrannt hatten bei dem vergeblichen Versuch, uns zu wärmen, vor dem Frost zu retten. Aber das Feuer war lange her – anscheinend im letzten Jahr. Im jetzigen Winter erlaubte man den Häftlingen nicht, sich zu wärmen, es wärmt sich nur der Begleitposten. Unser Begleitposten setzte sich, schichtete die Scheite für sein Feuer und schürte die Flamme. Er wickelte sich in den langen Pelz, setzte sich auf einen Stamm und stellte das Gewehr auf.

Weißer Dunst umgab die Grube, die nur vom Feuer des Begleitpostens beleuchtet war. Mein Nachbar, der Sektierer, stand auf und lief am Feuer vorbei in den Nebel, in den Himmel …

»Stehenbleiben! Stehenbleiben!«

Der Begleitposten war kein schlechter Kerl, aber mit dem Gewehr kannte er sich aus.

»Stehenbleiben!«

Dann ertönte ein Schuss, ein trockenes Gewehrknacken – der Sektierer war noch nicht im Dunst verschwunden – und ein zweiter Schuss …

»Na siehst du, du Gimpel«, sagte der Grubenchef auf Ganovenart zum Obererzieher – sie waren in die Grube gekommen. Aber der Erzieher wagte sich über den Mord nicht zu wundern, und der Abschnittschef konnte sich nicht wundern über solche Dinge.

»Hier hast du dein Experiment. Diese Kanaillen arbeiten jetzt noch schlechter. Ein Mittagessen mehr – mehr Kräfte, gegen den Frost anzukämpfen. Die Arbeit, merk dir das, du Gimpel, presst ihnen nur der Frost ab. Nicht dein Mittagessen und nicht meine Backpfeife, nur der Frost. Sie rudern mit den Händen, um sich zu wärmen. Und wir legen Hacken und Schaufeln in diese Hände – ist es nicht ganz egal, womit man rudert –, stellen ihnen Schubkarre, Körbe, Loren hin, und das Bergwerk erfüllt den Plan. Bringt uns Gold. Jetzt sind die Kerle satt und werden überhaupt nicht arbeiten. Bis ihnen kalt wird. Dann fangen sie an, mit den Schaufeln zu rudern. Sie zu füttern ist nutzlos. Das hast du gründlich verdummbeutelt mit diesem Mittagessen. Das erste Mal wird dir verziehen. Wir waren alle solche Gimpel.«

»Ich wusste nicht, dass sie solche Dreckskerle sind«, sagte der Erzieher.

»Das nächste Mal wirst du den Vorgesetzten glauben. Einen haben wir heute erschossen. Einen Drückeberger. Ein halbes Jahr hat er umsonst die staatliche Ration gegessen. Wiederhole das – ein Drückeberger.«

»Ein Drückeberger«, wiederholte der Erzieher.

Ich stand daneben, aber die Leitung genierte sich nicht vor mir. Zu warten hatte ich einen gesetzlichen Grund – der Brigadier musste mir einen neuen Partner bringen.

Der Brigadier brachte mir Lupilow – den ehemaligen Referenten des Generalstaatsanwalts der UdSSR. Und wir fingen an, den gesprengten Stein in die Körbe zu schütten – die Arbeit zu machen, die ich mit dem Sektierer gemacht hatte.

Wir liefen den bekannten Weg zurück, wie immer, ohne die Norm erfüllt zu haben, ohne uns um die Norm zu kümmern. Aber anscheinend hatten wir weniger gefroren als sonst.

Wir bemühten uns zu arbeiten, aber zu groß war der Abstand zwischen unserem Leben und dem, was man in Zahlen, in Schubkarren, in Planprozenten ausdrücken konnte. Die Zahlen waren Blasphemie. Aber für eine Stunde, einen Augenblick waren unsere Kräfte, die seelischen und physischen, nach diesem nächtlichen Mittagessen gewachsen.

Und ich begriff – und der Gedanke ließ mich erstarren –, dass dieses nächtliche Mittagessen dem Sektierer die Kraft zum Selbstmord gegeben hat. Das war die Portion Grütze, die meinem Partner gefehlt hatte, um den Entschluss zu fassen zu sterben – manchmal muss sich ein Mensch beeilen, um den Willen zum Tod nicht zu verlieren.

Wie immer standen wir um den Ofen. Nur Hymnen sang heute niemand. Und ich war am Ende sogar froh über diese Stille.

1966

Zwei Begegnungen

Mein erster Brigadier war Kotur, ein Serbe, der sich nach der Zerschlagung des Internationalen Klubs in Moskau an der Kolyma wiederfand. Kotur nahm seine Brigadierspflichten nicht sehr ernst, er begriff, dass sich sein Schicksal, wie das von uns allen, nicht in den Goldgruben entscheidet, sondern an ganz anderem Ort. Im Übrigen setzte uns Kotur jeden Tag zur Arbeit ein, vermaß mit dem Aufseher unsere Ergebnisse und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Die Ergebnisse waren jämmerlich.

»Komm, du hier – du kennst das Lager. Zeig, wie man die Schaufel schwingt«, bat Kotur.

Ich nahm die Schaufel und karrte, die lockere Erde aufbrechend, die Schubkarre heran. Alle lachten.

»So arbeiten nur Drückeberger.«

»Sprechen wir darüber in zwanzig Jahren.«

Aber in zwanzig Jahren sollten wir nicht darüber sprechen. Im Bergwerk war ein neuer Chef angekommen, Leonid Michajlowitsch Anissimow. Schon bei der ersten Begehung der Gruben entließ er Kotur. Und Kotur verschwand …

Unser Brigadier hatte in einer Schubkarre gesessen und war beim Näherkommen des Chefs nicht aufgestanden. Die Schubkarre ist ohne Zweifel sehr tauglich für die Arbeit. Aber noch tauglicher ist ihr Kasten für eine Pause. Es ist schwer, aufzustehen, sich zu erheben aus dem tiefen, tiefen Sessel – es braucht eine Willensanstrengung, es braucht Kraft. Kotur saß in der Schubkarre und stand nicht auf, als der neue Chef kam, konnte nicht rechtzeitig aufstehen. Erschießung.

Mit der Ankunft des neuen Chefs – anfangs war er stellvertretender Bergwerkschef – wurden jeden Tag und jede Nacht Leute aus den Baracken geholt und weggefahren. Keiner von ihnen kehrte ins Bergwerk zurück. Aleksandrow, Kliwanskij – die Namen schwanden aus dem Gedächtnis.

Der neue Nachschub hatte erst gar keine Namen. Im Winter 1938 hatte die Leitung beschlossen, die Etappen zu Fuß von Magadan in die Gruben des Nordens zu schicken. Von einer Kolonne von fünfhundert Mann kamen nach den fünfhundert Kilometern bis Jagodnoje dreißig, vierzig an. Die anderen blieben auf dem Weg – erfroren, verhungert, erschossen. Mit Namen wurde niemand von diesen Ankömmlingen angesprochen – das waren Leute aus fremden Etappen, die weder an der Kleidung noch der Stimme, noch den Erfrierungsflecken auf den Wangen oder den Erfrierungsblasen an den Händen auseinanderzuhalten waren.

Die Brigaden schrumpften – auf der Straße zur »Serpantinka«, zur Erschießungsaußenstelle der Nördlichen Verwaltung, fuhren Tag und Nacht Fahrzeuge, die unbeladen zurückkamen.

Die Brigaden wurden zusammengelegt – es fehlten Leute, und die Regierung versprach Arbeitskräfte gegen Erfüllung des Plans. Jeder Bergwerkschef wusste, dass ihn für die Menschen niemand zur Verantwortung zieht: von wegen, sie sind das Wichtigste – die Menschen, die Kader. All das hatte jeder Chef in den Politzirkeln gelernt, und die praktische Illustration bekam er in den Goldgruben seines Bergwerks.

Zu dieser Zeit war Chef des Bergwerks »Partisan« von der Nördlichen Bergwerksverwaltung Leonid Michajlowitsch Anissimow, der künftige große Chef an der Kolyma, der sein Leben dem Dalstroj widmete – der künftige Chef der Westlichen Verwaltung, Chef von Tschukotstroj.

Ihren Anfang nahm Anissimows Lagerkarriere im Bergwerk »Partisan«, in meinem Bergwerk.

Eben zu seiner Zeit wurde das Bergwerk überschwemmt mit Begleitposten, wurden Zonen und Verwaltungen des »Fahnder«-Apparats eingerichtet, begann die Erschießung von ganzen Brigaden, von Einzelpersonen. Es begann das Verlesen der endlosen Erschießungsbefehle bei den Appellen und beim Ausrücken. Diese Befehle waren unterschrieben von Oberst Garanin, doch die Namen der Leute aus dem Bergwerk »Partisan« – und das waren sehr viele – wurden Garanin genannt, an ihn herausgegeben von Anissimow. Das Bergwerk »Partisan« war ein kleines Bergwerk. Dort gab es 1938 nur zweitausend Mann an Listenbelegschaft. Die Nachbarbergwerke »W. At-Urjach« und »Schturmowoj« hatten eine Bevölkerung von je zwölftausend Mann.

Anissimow war ein eifriger Chef. Zwei persönliche Gespräche mit dem Genossen Anissimow haben sich mir gut eingeprägt. Das erste im Januar 1938, als Bürger Anissimow zum Ausrücken gekommen war, an der Seite stand und zuschaute, wie sich seine Gehilfen unter dem Blick des Chefs schneller drehten als nötig. Aber nicht schnell genug für Anissimow.

Jetzt trat unsere Brigade an, und der Einsatzleiter Sotnikow zeigte mit dem Finger auf mich, holte mich aus der Reihe und stellte mich vor Anissimow hin.

»Das ist ein Drückeberger. Er will nicht arbeiten.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Journalist, Schriftsteller.«

»Konservendosen wirst du hier beschriften. Ich frage – wer bist du?«

»Hauer der Brigade Firsow, Häftling soundso, Haftdauer fünf Jahre.«

»Warum arbeitest du nicht, warum schadest du dem Staat?«

»Ich bin krank, Bürger Natschalnik.«

»Was heißt krank, so eine robuste Stirn?«

»Es ist das Herz.«

»Das Herz. Es ist das Herz. Ich habe selbst ein krankes Herz. Die Ärzte haben mir den Hohen Norden verboten. Trotzdem bin ich hier.«

»Sie sind etwas anderes, Bürger Natschalnik.«

»Sieh an, wie viele Worte in einer Minute. Du sollst den Mund halten und arbeiten. Überleg es dir, ehe es zu spät ist. Wir rechnen ab mit euch.«

»Zu Befehl, Bürger Natschalnik.«

Das zweite Gespräch mit Anissimow war im Sommer, bei Regen, im vierten Abschnitt, wo man uns völlig durchnässt festhielt. Wir bohrten Schurfgraben. Die Ganovenbrigade war längst in die Baracke entlassen wegen des Sturzregens, aber wir waren Achtundfünfziger, und wir standen in den Schurfen, nicht tief, bis zum Knie. Der Begleitposten schützte sich vor dem Regen unter einem Pilz.

In diesem Sturzregen, in diesem Guss besuchte uns Anissimow zusammen mit dem Chef für Sprengarbeiten im Bergwerk. Der Chef kam, um zu prüfen, ob wir ordentlich nass werden, ob sein Befehl zu Artikel achtundfünfzig erfüllt wird, für den es keinerlei Arbeitsunfähigkeit gibt und der sich rüsten soll fürs Paradies, fürs Paradies, fürs Paradies.

Anissimow trug einen langen Regenmantel mit einer besonderen Kapuze. Im Laufen wedelte der Chef mit den Lederhandschuhen.

Ich kannte Anissimows Gewohnheit, den Häftlingen mit den Handschuhen ins Gesicht zu schlagen. Ich kannte diese Handschuhe, die in der Wintersaison von Pelzkragi bis zum Ellbogen abgelöst wurden, kannte die Gewohnheit, mit den Handschuhen ins Gesicht zu schlagen. Ich hatte die Handschuhe Dutzende Male in Aktion gesehen. Von dieser Eigenart Anissimows wurde im »Partisan« in den Häftlingsbaracken viel gesprochen. Ich war Zeuge stürmischer Diskussionen, beinahe blutiger Streits in der Baracke – schlägt der Chef mit der Faust oder mit den Handschuhen, mit einem Knüppel oder mit dem Rohrstock, mit der Peitsche oder verwendet er seinen »Handrevolver«. Der Mensch ist ein kompliziertes Geschöpf. Diese Streits endeten beinahe in Schlägereien, dabei waren die Teilnehmer an diesen Streits ehemalige Professoren, Parteimitglieder, Kolchosbauern und Heerführer.

Insgesamt rühmten alle Anissimow – er schlägt, aber wer schlägt nicht? Dafür blieben keine blauen Flecken von Anissimows Handschuhen, und wenn er einem mit den kragi die Nase blutig schlug, dann lag das an der »pathologischen Veränderung des Blutkreislaufs infolge langer Inhaftierung«, wie ein Arzt erläuterte, den man zu Anissimows Zeiten nicht zum ärztlichen Dienst zugelassen, sondern genauso wie alle zur Arbeit gezwungen hatte.

Ich hatte mir längst das Wort gegeben, wenn man mich schlägt, so wird das auch das Ende meines Lebens sein. Ich werde den Chef schlagen, und man wird mich erschießen. Leider war ich ein naiver Knabe. Als ich schwächer wurde, wurden auch mein Wille, mein Verstand schwächer. Ich brachte mich leicht dahin, es zu ertragen, und fand nicht die seelische Kraft für den Gegenschlag, für den Selbstmord, für den Protest. Ich war der allergewöhnlichste dochodjaga und lebte nach den psychischen Gesetzen der dochodjagi. All das war wesentlich später, aber damals, als ich dem Bürger Anissimow begegnete, besaß ich noch Kräfte, Stärke, Glaube, Entschlusskraft.

Anissimows Lederhandschuhe kamen näher, und ich legte die Hacke bereit.

Aber Anissimow schlug nicht zu. Seine schönen großen dunkelbraunen Augen begegneten meinem Blick, und Anissimow wandte die Augen ab.

»Die sind ja alle so«, sagte der Bergwerkschef seinem Begleiter. »Alle. Man erreicht nichts.«

<1967>

Das Thermometer von Grischka Logun

Die Müdigkeit war so groß, dass wir uns direkt in den Schnee an der Straße setzten, ehe wir nach Hause liefen.

Statt der vierzig Grad von gestern waren es nur noch fünfundzwanzig, und der Tag erschien sommerlich.

An uns vorbei lief im aufgeknöpften Halbpelz Grischka Logun, der Einsatzleiter des Nachbarabschnitts. In der Hand trug er einen neuen Stiel für die Hacke. Grischka war jung, erstaunlich rotgesichtig und heißblütig. Er gehörte zu den Vorarbeitern, sogar den jüngeren Vorarbeitern, und konnte sich oft nicht zurückhalten, mit der eigenen Schulter ein im Schnee steckengebliebenes Fahrzeug anzuschieben oder zu helfen, ein Stämmchen zu heben, einen angefrorenen, mit Erde gefüllten Korb von der Stelle zu rücken – Dinge, die für einen Einsatzleiter sichtlich tadelnswert sind. Er vergaß immer, dass er Einsatzleiter war.

Entgegen kam ihm die Brigade Winogradow – nicht weiß Gott was für Arbeiter, solche wie wir. Ihre Zusammensetzung war exakt dieselbe wie bei uns – ehemalige Gebiets- und Stadtkomitee-Sekretäre, Professoren und Dozenten, Militärs der mittleren Dienstgrade …

Die Leute drängten sich ängstlich an der Schneewand zusammen – sie kamen von der Arbeit und machten Grischka Logun Platz. Aber auch er blieb stehen – die Brigade arbeitete in seinem Abschnitt. Winogradow trat aus dem Glied. Er war ein Schwätzer, ehemaliger Direktor einer ukrainischen Maschinen- und Traktorenstation.

Logun hatte sich schon gehörig von der Stelle entfernt, an der wir saßen, die Stimmen hörten wir nicht, aber alles war auch ohne Worte verständlich. Winogradow fuchtelte mit den Händen und erklärte Logun etwas. Dann stieß Logun Winogradow das Stielende der Hacke in die Brust, und er fiel rücklings um … Winogradow stand nicht auf. Logun sprang mit den Füßen auf ihn, trampelte auf ihm herum und schwenkte den Stock. Kein einziger von den zwanzig Arbeitern der Brigade machte auch nur eine Bewegung zur Verteidigung ihres Brigadiers. Logun hob seine heruntergefallene Mütze auf, drohte mit der Faust und ging weiter. Winogradow stand auf und lief los, als wäre nichts gewesen. Alle übrigen – die Brigade lief an uns vorbei – zeigten weder Mitgefühl noch Empörung. Als er auf unserer Höhe war, verzog Winogradow den zerschlagenen, blutenden Mund.

»Das ist bei Logun das Thermometer, so ist halt das Thermometer«, sagte er.

»›Zertrampeln‹ – das heißt Tanzen bei den Ganoven«, sagte leise Wawilow, »oder ›Ach mein Hausflur, du mein Hausflur …‹«

»Und«, sagte ich zu Wawilow, meinem Freund, mit dem ich ins Bergwerk gekommen war gleich aus dem Butyrka-Gefängnis, »was sagst du dazu? Wir müssen entscheiden. Gestern hat man uns noch nicht geprügelt. Vielleicht schlägt man uns morgen. Was würdest du tun, wenn Logun mit dir so, wie mit Winogradow? Hm?«

»Ich würde es mir wahrscheinlich gefallen lassen«, antwortete Wawilow leise. Und ich begriff, dass er schon lange an dieses Unabwendbare gedacht hatte.

Später begriff ich, dass es hier bloß um die physische Überlegenheit ging, was die Brigadiere, Barackendienste, Aufseher betraf – alle Unbewaffneten. Solange ich stärker bin – wird man mich nicht prügeln. Kaum bin ich schwächer – schlägt mich jeder. Schlägt mich der Barackendienst, schlägt mich der Badewärter, der Friseur und der Koch, der Vorarbeiter und der Brigadier, schlägt mich jeder Ganove, selbst der allerschwächste. Die physische Überlegenheit des Begleitpostens besteht in seinem Gewehr.

Die Stärke des Chefs, der mich schlägt, sind das Gesetz, das Gericht und das Tribunal, die Wache und die Truppen. Für ihn ist es leicht, stärker zu sein als ich. Die Stärke der Ganoven liegt in ihrer großen Zahl, in ihrem »Kollektiv«, darin, dass sie dich womöglich nach dem ersten Wort abstechen (wie viele Male habe ich das gesehen). Aber ich bin noch kräftig. Mich kann der Chef schlagen, der Begleitposten oder der Ganove. Der Barackendienst, der Vorarbeiter oder der Friseur können mich noch nicht schlagen.

Einmal sagte Poljanskij, ein früherer Sportfunktionär, der viele Päckchen bekommen und niemals mit irgendjemand auch nur ein Stück geteilt hatte, vorwurfsvoll, dass er einfach nicht versteht, wie sich Menschen in einen Zustand bringen können, dass man sie schlägt, und empörte sich über meinen Einspruch. Aber es verging kein Jahr, bis ich Poljanskij traf – als dochodjaga, als Docht, als Sammler von Kippen, der danach gierte, für eine Suppe vor der Nacht irgendwelchen Ganovenpaten die Fersen zu kraulen.

Poljanskij war ehrlich. Eine geheime Qual peinigte ihn – so stark, akut und unentrinnbar, dass sie das Eis und den Tod, die Gleichgültigkeit und die Schläge, den Hunger, die Schlaflosigkeit und die Angst durchdringen konnte.

Irgendwann kam ein Feiertag, wir wurden zu den Feiertagen eingesperrt – das nannte sich Feiertagsisolation –, und es gab Leute, die einander eben in dieser Isolation begegneten, sich kennenlernten, einander zu vertrauen begannen. Wie schrecklich, wie erniedrigend diese Isolation auch war, für die achtundfünfziger Häftlinge war sie leichter als die Arbeit. Denn die Isolation war eine Erholungspause, wenn auch nur für einen Moment, und wer hätte sich damals ausgekannt, ob wir eine Minute oder einen Tag, ein Jahr oder ein Jahrhundert gebraucht hätten, um in unseren früheren Körper zurückzukehren – damit, in unsere frühere Seele zurückzukehren, rechneten wir schon nicht mehr. Und natürlich kehrten wir nicht zurück. Niemand kehrte zurück. Also, Poljanskij war ehrlich, mein Pritschennachbar am Isolationstag.

»Ich wollte dich schon lange eine Sache fragen.«

»Was denn für eine Sache?«

»Als ich dir vor einigen Monaten zusah, wie du läufst, wie du über kein Stämmchen steigen kannst auf deinem Weg und das Stämmchen umgehen musst, über das jeder Hund steigt. Wenn du mit den Füßen über die Steine schlurfst und dir eine kleine Unebenheit, ein winziges Hügelchen auf dem Weg als unüberwindliches Hindernis vorkommt, das Herzklopfen und Atemlosigkeit erzeugt und eine lange Erholungspause nötig macht, ich sah dir zu und dachte – so ein Faulenzer, so ein Drückeberger, ein erfahrenes Aas, ein Simulant.«

»Aha? Und dann hast du begriffen?«

»Dann habe ich begriffen. Habe ich begriffen. Als ich selbst schwächer wurde. Als mich plötzlich alle schubsten und schlugen, es gibt ja für den Menschen keine schönere Empfindung, als zu erleben, dass ein anderer noch schwächer ist, noch schlimmer dran.«

»Warum lädt man die Stoßarbeiter zu Besprechungen ein, warum ist physische Stärke ein moralisches Maß? Physisch stärker bedeutet besser, moralischer, sittlicher als ich. Natürlich – er kann einen Batzen von zehn Pud heben, und ich krümme mich unter einem Stein von einem halben Pud.«

»Ich habe das alles begriffen und will es dir sagen.«

»Danke, das hast du schon.«

Bald war Poljanskij tot – er fiel irgendwo in der Grube um. Der Brigadier hatte ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der Brigadier war nicht Grischka Logun, sondern einer von uns, Firsow, ein Militär, Artikel achtundfünzig.

Ich erinnere mich gut, wie ich das erste Mal geschlagen wurde. An die erste von Hunderttausenden Backpfeifen, jeden Tag, jede Nacht.

Man merkt sich nicht sämtliche Backpfeifen, aber an den ersten Schlag erinnere ich mich gut – ich war sogar darauf vorbereitet durch das Verhalten von Grischka Logun und Wawilows Demut.

Unter Hunger und Kälte und einem vierzehnstündigen Arbeitstag im weißen Frostnebel der felsigen Goldgrube blitzte plötzlich etwas anderes auf, ein Glück, ein im Vorübergehen zugesteckter Almosen – ein Almosen nicht in Brot, nicht in Arznei, sondern ein Almosen in Zeit, als Erholungspause zu ungewohnter Zeit.

Bergwerksaufseher, Vorarbeiter in unserem Abschnitt war Sujew – ein Freier, ehemaliger Häftling, der das Lager am eigenen Leib erlebt hatte.

Irgendetwas war in Sujews schwarzen Augen – vielleicht der Ausdruck eines Mitgefühls für das bittere menschliche Schicksal.

Macht bedeutet Zerstörung. Das von der Kette gelassene wilde Tier, das sich in der menschlichen Seele verbirgt, sucht die gierige Befriedigung seines ewigen menschlichen Wesens im Schlagen, im Morden.

Ich weiß nicht, ob man Vergnügen finden kann im Unterzeichnen eines Erschießungsurteils. Wahrscheinlich gibt es auch da einen finsteren Genuss, eine Phantasie, die nicht nach Rechtfertigungen sucht.

Ich habe Leute gesehen, viele Leute, die schon befohlen haben, jemanden zu erschießen – und jetzt werden sie plötzlich selbst umgebracht. Nichts, außer Feigheit, außer dem Geschrei: »Hier ist ein Fehler, ich bin nicht der, den man zum Nutzen des Staates umbringen muss, ich kann selbst töten!«

Ich kenne die Leute nicht, die Erschießungsbefehle gegeben haben. Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen. Aber ich denke, dass ein Erschießungsbefehl sich auf dieselben seelischen Kräfte, auf dieselben seelischen Fundamente stützt wie das Erschießen, das eigenhändige Morden selbst.

Macht bedeutet Zerstörung.

Der Rausch der Macht über Menschen, Straflosigkeit, Verhöhnungen, Erniedrigungen, Vergünstigungen sind das moralische Maß der Karriere eines Chefs.

Aber Sujew schlug weniger als die anderen – wir hatten Glück.

Wir waren gerade zur Arbeit gekommen, und die Brigade drängte sich im Unterschlupf – versteckte sich hinter einem Felsvorsprung vor dem schneidenden scharfen Wind. Das Gesicht mit den Handschuhen bedeckend, kam Sujew zu uns, der Vorarbeiter. Alle waren zu den Arbeitsstellen ausgerückt, zu den Gruben, und ich hatte nichts zu tun.

»Ich habe eine Bitte an dich«, sagte Sujew, atemlos vom eigenen Mut, »eine Bitte. Keinen Befehl! Schreib mir eine Eingabe an Kalinin. Meine Vorstrafe aufheben. Ich erzähle dir, worum es geht.«

In der kleinen Bude des Vorarbeiters, wo der Ofen brannte und wo man unsereins nicht hineinließ – jeder Arbeiter, der es wagte, die Tür zu öffnen, um auch nur für einen Moment diese heiße Luft des Lebens zu atmen, wurde mit Fußtritten und Backpfeifen verjagt.

Ein animalischer Drang führte uns zu dieser heißersehnten Tür. Wir dachten uns Bitten aus: »Wie spät ist es?«, Fragen: »Geht es rechts zur Grube oder links?«, »Könnten Sie mir Feuer geben?«, »Ist vielleicht Sujew hier? Dobrjakow?«

Aber diese Bitten täuschten niemanden in der Bude. Durch die offene Tür wurden die Fragenden mit Fußtritten in den Frost zurückgeschickt. Trotzdem ein Moment der Wärme …

Jetzt wurde ich nicht verjagt, ich saß direkt am Ofen.

»Was ist das, ein Jurist?«, zischte jemand verächtlich.

»Ja, er wurde mir empfohlen, Pawel Iwanowitsch.«

»Gut, gut.« Das war der Chef der Vorarbeiter, er ging auf die Bedürfnisse seines Untergebenen ein.

Sujews Verfahren – seine Haft war schon letztes Jahr zuende gegangen – war ein ganz gewöhnliches Dorf-Verfahren, das mit dem Unterhalt an die Eltern begann, der Sujew dann ins Gefängnis brachte. Bis zum Ende der Haftzeit war nur wenig geblieben, aber den Chefs war es noch gelungen, Sujew an die Kolyma zu befördern. Die Kolonisierung der Region verlangt eine harte Linie beim Errichten von allerlei Hindernissen für das Verlassen und ein ständiges Bemühen um das Anreisen, das Heranschaffen von Menschen an die Kolyma. Ein Häftlingstransport ist bloß der einfachste Weg, das neue, schwierige Land bewohnbar zu machen.

Sujew wollte mit Dalstroj abschließen, er bat darum, seine Vorstrafe zu tilgen, ihn wenigstens aufs Festland ziehen zu lassen.

Es fiel mir schwer zu schreiben, und nicht nur, weil die Hände grob geworden, weil die Finger gekrümmt waren um den Stiel der Schaufel und der Spitzhacke und es unwahrscheinlich schwer war, sie wieder gerade zu biegen. Mir blieb nur, den Bleistift und die Feder mit einem dickeren Lappen zu umwickeln, um den Stiel einer Spitzhacke, einer Schaufel nachzuahmen.

Als ich darauf kam, es so zu machen, war ich bereit, Buchstaben zu formen.

Es fiel mir schwer zu schreiben, weil mein Gehirn genauso grob geworden war wie die Hände, weil mein Gehirn genauso blutete wie die Hände. Die Worte, die schon aus meinem Leben verschwunden waren, und zwar, wie ich annahm, für immer, mussten wiederbelebt, auferweckt werden.

Ich schrieb dieses Schriftstück, schwitzte und freute mich. In der Bude war es heiß, und gleich belebten sich die Läuse und krochen über den Körper. Ich hatte Angst, mich zu kratzen, damit man mich nicht als Verlausten in den Frost hinausjagt, hatte Angst, meinem Retter Ekel einzuflößen.

Gegen Abend hatte ich das Gesuch an Kalinin geschrieben. Sujew dankte mir und schob mir eine Brotration in die Hand. Die Ration musste ich sofort essen, überhaupt soll man alles, was man gleich essen kann, nicht auf morgen verschieben – das hatte ich gelernt.

Der Tag ging schon zu Ende – nach der Uhr der Vorarbeiter, denn der weiße Nebel war derselbe um Mitternacht und um zwölf Uhr mittags –, und man führte uns nach Hause.

Ich schlief und hatte wieder meinen ständigen Kolyma-Traum – Brotlaibe, die durch die Luft flogen und alle Häuser, alle Straßen, die ganze Erde erfüllten.

Am Morgen wartete ich auf die Begegnung mit Sujew – vielleicht gibt er mir etwas zu rauchen.

Und Sujew kam. Ohne sich vor der Brigade, vor dem Begleitposten zu verstecken, zerrte er mich aus dem Unterschlupf in den Wind und brüllte los:

»Du hast mich betrogen, Kanaille!«

In der Nacht hatte er die Eingabe gelesen. Die Eingabe hatte ihm nicht gefallen. Seine Nachbarn, die Vorarbeiter, hatten die Eingabe auch gelesen und nicht gutgeheißen. Zu trocken. Zu wenig Tränen. So eine Eingabe überhaupt zu machen ist nutzlos. Kalinin erweicht man nicht mit solchem Unsinn.

Ich konnte, ich konnte einfach aus meinem vertrockneten Lagerhirn kein einziges überflüssiges Wort herauspressen. Ich konnte den Hass nicht übertäuben. Ich hatte die Arbeit nicht bewältigt, und nicht, weil der Bruch zwischen der Freiheit und der Kolyma zu groß, nicht, weil mein Hirn müde und erschöpft war, sondern weil dort, wo die begeisterten Adjektive gespeichert waren – dort war nichts als Hass. Überlegen Sie, wie der arme Dostojewskij all die zehn Jahre seines Soldatendienstes nach dem Totenhaus betrübte, tränenreiche und erniedrigende, aber die Seelen der Oberen rührende Briefe geschrieben hat. Dostojewskij schrieb sogar Gedichte an die Kaiserin. Im Totenhaus gab es keine Kolyma. Dostojewskij wäre verstummt, genauso verstummt wie ich, der es nicht geschafft hat, Sujews Eingabe zu schreiben.

»Du hast mich betrogen, Kanaille!«, tobte Sujew. »Ich zeige dir, wie man mich betrügt!«

»Ich habe Sie nicht betrogen …«

»Einen Tag lang hast du in der Bude, in der Wärme gesessen. Ich riskiere eine Haftstrafe für dich, du Dreckskerl, für deine Drückebergerei! Ich dachte, du bist ein Mensch!«

»Ich bin ein Mensch«, flüsterte ich, unsicher die blauen erfrorenen Lippen bewegend.

»Ich zeige dir jetzt, was du für ein Mensch bist!«

Sujew streckte die Hand aus, und ich spürte eine leichte, fast schwerelose Berührung, nicht stärker als ein Windstoß, der mich in derselben Grube schon manchmal umgeblasen hat.

Ich fiel hin, schützte mich mit den Händen und leckte mit der Zunge etwas Süßes, Klebriges, das aus den Mundwinkeln sickerte.

Sujew trat mir ein paar Mal mit dem Filzstiefel in die Seite, aber es tat mir nicht weh.

1966

Die Razzia

Der »Willys« mit vier Soldaten bog scharf von der Trasse ab und hüpfte, Gas gebend, über die Krankenhaus-Erdhöcker, über den morastigen, tückischen, mit weißem Kalk bestreuten Weg. Der »Willys« schlug sich durch zum Krankenhaus, und Krist tat das Herz weh vor Aufregung, der bekannten Aufregung bei der Begegnung mit der Leitung, mit den Begleitposten, mit dem Schicksal.

Der »Willys« tat einen Satz und blieb im Sumpf stecken. Von der Trasse bis zum Krankenhaus waren es vielleicht fünfhundert Meter. Dieses Stückchen Weg hatte die Oberärztin mit der sparsamen, mit der staatlichen Methode der Subbotniks gebaut, die an der Kolyma udarniks hießen. Eben mit dieser Methode wurden alle Bauprojekte des Fünfjahresplans durchgeführt. Die genesenden Kranken wurden hinausgetrieben auf diesen Weg – einen Stein, zwei Steine, eine Trage Schotter holen. Die kranken Hilfssanitäter – hauptamtliche standen einem kleinen Häftlingskrankenhaus nicht zu – kamen ohne Widerreden zu diesen Subbotniks-udarniks, sonst hätte sie die Mine erwartet, die Goldgrube. Zu diesen Subbotniks schickte man niemals Leute, die in der chirurgischen Abteilung arbeiteten – zerschrammte, verletzte Finger machten die Mitarbeiter der chirurgischen Abteilung für lange Zeit einsatzunfähig. Aber um die Lagerleitung davon zu überzeugen, brauchte es eine Weisung aus Moskau. Auf dieses Privileg – sich an den Subbotniks, den udarniks nicht zu beteiligen – waren die anderen Häftlinge auf krankhafte, verrückte Weise neidisch. Man könnte meinen, neidisch worauf? Gut, du arbeitest zwei, drei Stunden beim Subbotnik, so wie alle anderen. Aber du siehst, die Kameraden werden befreit von dieser Arbeit, und du wirst nicht befreit. Und das ist maßlos kränkend, das merkt man sich fürs ganze Leben.

Kranke, Ärzte, Sanitäter, jeder holte sich einen Stein und manchmal auch zwei, stellte sich an den Rand des Morasts und warf die Steine in den Sumpf.

Mit dieser Methode baute man Wege, schüttete Dschingis Khan Meere zu, nur hatte Dschingis Khan mehr Leute als die Oberärztin dieses Kreiszentralkrankenhauses für Häftlinge, wie es sich geschraubt nannte.

Dschingis Khan hatte mehr Leute, und er schüttete auch Meere zu und nicht den grundlosen Dauerfrostboden, der im kurzen Sommer an der Kolyma auftaute.

Der Sommerweg war der Winterstraße weit unterlegen, konnte Schnee und Eis nicht ersetzen. Je weiter der Sumpf auftaute, umso grundloser wurde er, umso mehr Steine brauchte es, und all die wechselnden Kranken konnten in drei Sommern den Weg nicht zuverlässig auffüllen. Erst gegen den Herbst hin, wenn die Erde schon vom Frost erfasst war und das Auftauen des Dauerfrostbodens aufhörte, konnte man Erfolg haben mit diesem Dschingis Khanschen Baubetrieb. Das Unsichere dieses Unterfangens war sowohl der Oberärztin als auch den kranken Arbeitern längst klar, aber alle hatten sich schon lange an die Sinnlosigkeit der Arbeit gewöhnt.

Jeden Sommer trugen die genesenden Kranken, die Ärzte, Feldscher und Sanitäter Steine auf diesen verfluchten Weg. Der Sumpf schmatzte, tat sich auf und schluckte, verschluckte diese Steine komplett. Der Weg, bestreut mit weißem funkelndem Kalkstein, war nicht sicher gepflastert.

Das war ein Fenn, Morast, unwegsamer Sumpf, und die Piste, bestreut mit weißem bröckligem Kalkstein, zeigte nur den Weg, gab die Richtung an. Diese fünfhundert Meter konnte der Häftling, der Natschalnik, der Begleitposten von Platte zu Platte, von Stein zu Stein überwinden, mit einem großen Schritt, mit einem Sprung, mit einem Satz. Das Krankenhaus stand auf einer Anhöhe – ein Dutzend einstöckiger Baracken, den Winden von allen vier Seiten ausgesetzt. Eine Zone mit Stacheldraht rund um das Krankenhaus gab es nicht. Zum Abführen der Entlassenen schickte man Begleitposten aus der Verwaltung sechs Kilometer vom Krankenhaus.

Der »Willys« gab Gas, tat einen Sprung und blieb endgültig stecken. Die Soldaten sprangen vom Wagen ab, und jetzt sah Krist etwas Ungewöhnliches. An den alten Mänteln der Soldaten waren ganz neue Schulterstücke