Die Ballade des letzten Gastes - Peter Handke - E-Book

Die Ballade des letzten Gastes E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Von einem anderen Erdteil kehrt Gregor zurück in die Heimat. Das »vormalige Vieldörferland« ist eine städtische Agglomeration geworden, vertraut und zum Verirren fremd zugleich. Auch die Familie hat sich verändert: Zwar wartet der Vater wie früher mit den Spielkarten, doch hat die Schwester überraschend einen Säugling auf dem Arm. Er, der große, ältere Bruder, soll der Taufpate des Kindes werden. Vom jüngeren Bruder Hans bleiben derweil nur die Todesnachricht, vom älteren der Familie verschwiegen, und Erinnerungen, zum Beispiel an den Unfall in den Brennesseln. Selbst der Obstgarten ist ein anderer geworden, noch immer an Ort und Stelle, aber längst nicht mehr zu retten. Es zieht ihn also in die Straßen und Gassen, ins Kino, ins Fußballstadion, in den Wald, und er geht und geht immer weiter.
In Peter Handkes neuem Buch durchdringen sich Gegenwart und Vergangenheit, scheint das eine ins andere zu kippen, steht alles »auf Messers Schneide«. Auf seinem Weg zurück zur Familie, durch einstmals bekannte Landschaften hält der Erzähler immer wieder inne, Kindheitserlebnisse werden wachgerufen, innere Stimmen treten ins Zwiegespräch. Was einmal war, hat sich unwiderruflich verändert – und bleibt dennoch vertraut.

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Seitenzahl: 204

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Cover

Titel

Peter Handke

Die Ballade des letzten Gastes

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77758-9

www.suhrkamp.de

Motto

… πῇ κεν ὑπεκπροφύγοιμι;

… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?

Odyssee 20/43

Sie wollte zu spielen anheben mit einer

stillen Traurigkeit … und allmählich sich

einem Gefühl tiefen Kummers nähern

Carson McCullers, Das Wunderkind

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

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Titel

Impressum

Motto

1 Über den Tod eines Fremden

2 Die Ballade vom letzten Gast

3 Die Ballade des letzten Gastes

Informationen zum Buch

Die Ballade des letzten Gastes

1

Über den Tod eines Fremden

Es muß ein stiller Nachsommer- oder Vorherbsttag gewesen sein. Der fragliche Mensch war auf dem Weg in seine Heimatgegend. Schon die paar Tage vorher war er dorthin unterwegs gewesen, zu Anfang seiner Heimreise mit dem Flugzeug, dann umgestiegen in ein zweites, zuletzt, zum Flug in sein Geburtsland, noch in ein drittes. Für die restliche Strecke jetzt fuhr der Mann, obwohl er mit der Eisenbahn weit früher hier in der großen Agglomeration angekommen wäre, wie einst in der Kindheit und Schulzeit mit dem Bus.

Er freute sich auf die bevorstehenden Tage – seine Urlaubswoche – mit seinen Eltern und seiner viel jüngeren Schwester, und wie!, und mehr noch, nein, anders, auf den Ort, die Örtlichkeit, das Dorf und den Wald, die Nachbardörfer und die Folge-Wälder, und wieder nein, vielmehr auf das, was von dem allen da und dort, in den Zentren wie an den Rändern, nach den Jahrzehnten, noch übriggeblieben war, bruchstückhaft, in der Form anderer »Findlinge«, auf den ersten Blick unsichtbar geworden, jedoch, dessen war er sich gewiß, vorhanden, um aufgespürt zu werden. – Nur: wozu? Kein wozu.

Von Zeit zu Zeit fuhr der Bus wie abseits jeder Zivilisation auf einer breiten und fast kurvenlosen Straße über ein wie freies Land. Bis zu sämtlichen Horizonten, einmal nah, einmal fern, eine menschenleere Natur; und er fand sich wieder in einem der alten Überlandbusse, als Markenzeichen auf die Flanken, statt des langgestreckt dahinfliegenden »Greyhound«, eine noch ganz anders durch die Lüfte schnellende Antilope gemalt, wenn nicht gar ein Delphin.

Also wieder das abendliche Kartenspielen mit dem Vater, welches, bis auf die Ansagen, meist unter Schweigen stattfände? Recht so. Und wieder das Befragtwerden von der Mutter, das stumme, allein mit den Augen, wie es dann regelmäßig überginge ins stimmhafte Erzählen, in der Küche oder auf der Hofbank, trotz der, denk doch an alle die Neubauten, Parzelle um Parzelle, verdrängten und schlußendlich aus der Welt geschafften »Hofstatt« – eine Armlänge weg von der Bank eine Trennmauer mit den unbekannten, einzig an ihren Stimmen zu vernehmenden Nachbarn? Wieder all die Muttergeschichten? Schön und gut, gut und schön. Und wieder die Männergeschichten der Schwester, welche sie, samt Liebeskummer, dem älteren Bruder, seit jeher ihr Vertrauter, auftischen würde nebenan in dem zu einer Einzimmerwohnung umgestalteten Werkzeugschuppen, all die schwesterlichen Liebeskummerlieder, diesmal womöglich noch akzentuiert vom Dazwischen- und Dreinschallen eines, so die Nachricht, gerade erst wackelig auf seinen zwei Kinderbeinen stehenden Kleinkinds (ah, Scheu, von Anbeginn, oft nah an etwas wie Schuldbewußtsein, angesichts sämtlicher, noch ohne eine übliche Sprache durch die Straßen und über die Plätze transportierten und kutschierten Frischlinge, insbesondere angesichts der, wieder sämtlich, so übergroßen Augen)? Warum nicht? Warum nicht sich dem aussetzen, sich gar, wie gesagt, darauf freuen, wenigstens jetzt, noch allein, hier in dem Überlandbus, dem beileibe nicht alten, dem, ja doch, wie fabrikneuen, bestärkt von dem sonoren, zugleich wie aus einer Ferne, einer unbestimmten, kommenden Motorröhren, fernes Röhren, für Momente auch ein Klang, aus der Tiefe, dem tiefen Untergrund, und dazu er der einzige der Passagiere auf der letzten der Sitzreihen, die anderen, spärlich, im Abstand, da und dort ein Hinterkopf? »Ja, warum nicht? Wir werden sehen« – »›Wir‹?« – »Ja, wir.«

Er war, seit langem, ohne Frau, hatte auch keine Kinder, lebte und betätigte sich seit Menschengedenken – dem eigenen – auf einem anderen Kontinent, sprich »Erdteil«, oder, nach seinem eigenen Sprachgebrauch, »Teil der Erde«. (Auf oder in welchem, möge ein jeder sich selber vorstellen.) Und er hatte dort auf dem anderen Kontinent, für die Woche in der Heimat, und zwar von heute auf morgen, gerade das unterbrochen, wofür – und im übrigen wovon – er, wieder seit seinem Menschengedenken, lebte, und was er bei sich »meine Ein-Mann-Expeditionen« nannte. Und unterbrochen worden war diese eine Expedition nach Erreichen der vorletzten Station, mitten in den Vorbereitungen hin zur Endstation. »Vorbereitungen«? »Zurüstungen«.

Es hatte ihm dort nämlich jenseits der Meere, wer weiß warum, geschienen, es gehöre zu solchen Zurüstungen, eine Zwischenetappe in seiner vormaligen Stammgegend zurückzulegen. Dabei hatte er von dem Was und Wie dieser Etappe keinerlei Vorstellung gehabt, höchstens momentweise eine Ahnung, ohne ein einziges, und noch so flüchtiges Bild. Er wollte dergleichen auch gar nicht. Nur keine Bilder, und vor allem keine festumrissenen! Und wenn er doch dann und wann etwas »Bildartiges« witterte, das ihn gleichsam hinterrücks anzufliegen drohte, tat er, in seinem Innern jedenfalls, einen Seiten-und-Ausweichschritt wie auf einer Tanzfläche oder in einer Arena, und vorbei schoß der Bildpfeil. Und jetzt hinten im Überlandbus: nicht einmal mehr eine Ahnung von dem, was ihm im sogenannten Heimatkreis bevorstehen könnte, geschweige denn, was er dort für den Abschluß seiner Expedition etwa aufspüren oder suchen hatte wollen. »Ich habe nichts mehr zu suchen daheim, rein gar nichts!« sprach er im stillen zu sich selber. – »Und gerade das macht dich heiß.« – »Ja, seltsam.« – »Oder auch nicht.« – »So oder so: Freude.« – »Verdirb sie dir nicht, als dein eigener Freudeverderber, wie nicht so ganz selten. Komm mir nicht aus dem Tritt, Freund: Schritt für Schritt!« – »Als Fahrgast, still sitzend?« – »Ja, zugleich im Stillsitzen, ein Fahrgast.«

Längst war der Überlandbus abgebogen in die Agglomeration. Ohne Übergang kurvte er da, und kurvte, und kurvte. Dabei war es, als würde, sagen wir, nach jeder dritten Kurve, die Straße entweder wieder ins Freie führen, auf die weiten Horizonte zu, oder, im Gegenteil, etwas wie das Zentrum, oder zumindest eins der Zentren, sich bemerkbar machen. Nichts da: statt dessen jedesmal wieder die Peripherie, wenn auch ein jedes Mal eine andere; und aber kaum je eine befremdende oder vielleicht gar feindselige, vielmehr, wohl auch dank der jeweils eher sanften Kurven, eine (fast) freundschaftliche, dem ersten Anschein nach jedenfalls (fast) willkommen heißende. Auffallend dazu, daß von den vielen, doch auch nicht wenigen, Hochhäusern ein jedes für sich allein stand, und das folgende ebenso, eine Lanzenwurfweite weg, »im Mittelgrund« verglichen mit dem im Vordergrund – und dergestalt (fast) die Rhythmik aller der Hochhausbauten der großen Agglomeration – Hochhäuser, die, auf den ersten Blick jedenfalls wiederum, abgewandelt das Wort des Poeten zu einem der noch lange nicht so hohen Häuser aus einem vergangenen Jahrhundert, »im Freien« standen. Dazu paßte, daß in dieser die Landschaft weniger füllenden als sprenkelnden Neustadt auch die sich kreuzenden und voneinander entfernenden Waagrechten, die im Hintergrund jedenfalls, ihn, den Fremden, oder hier jetzt Fremdgewordenen, zu bewillkommnen schienen, in Gestalt der unhörbar und dabei pausenlos als bewegliche Tangenten auch noch die fernsten Siedlungskreise in die Zivilisation eingemeindenden Lokalzüge, Straßenbahnen wie auch die streckenweise auf hohen Pfeilern verkehrenden oberirdischen Metros. Auf den zweiten oder dritten Blick erkannte er dann da und dort sogar den Turm einer der »nicht vielen, aber auch nicht wenigen« Dorfkirchen, Türme zu Füßen der Hochhäuser, so klein geworden in der Erinnerung an die Vorzeit, wie geschrumpft. Und wiederum recht so, daß diese Kirchtürme jetzt nicht mehr kreuz und quer durch das Land, so auffällig und alleinherrscherlich, Fingerzeige himmelwärts waren, wenn sie nicht gar mit dem Himmel drohten. »So wie sie heute jetzt dastehen, unauffällig geworden, geradezu spielzeughaft, scheinen sie mehr und besser am Platz.« – »Spielzeuge?« – »Ja, für ein ernstes Spiel.« – »Gute Neue Stadt: dein Ernst?« – »Fast.«

Auch der Busbahnhof, obwohl der Länge und Breite nach die ganze Straße einnehmend, gab keinen Eindruck von einem Zentrum, sondern bildete in der Aufeinanderfolge all der Peripherien eine zusätzliche. Auf das Aussteigen im Mittelgang wartend, er unter den Passagieren als der hinterletzte, fiel ihm auf, daß an einem der Stiefel der Frau vor ihm sich die sehr langen Schnürbänder gelöst hatten. Die Frau schien in Eile, als würde sie jetzt und jetzt, beim Öffnen der Bustür, gleich losrennen. In der Vorstellung sah er sie, zurückgerissen von dem Schuhband, schon auf den Rücken fallen, und er näherte sich ihr, berührte sie sachte am Arm und machte sie auf die Gefahr aufmerksam. War es denn wirklich eine? Jedenfalls nahm sie ihn ernst und bedankte sich, mit Worten und darüber hinaus mit einem Blick, als habe er, der Fremde, sie gerade vor etwas Nichtwiedergutzumachendem gerettet. Dabei ging ihm auf, daß er, zum ersten Mal während dieser tagelangen Reise, jetzt, an deren Endpunkt, ein Gesicht vor sich hatte. Was für ein Gesicht? Ein Gesicht. Erlebnis »Gesicht«! Und, jetzt die Frau, gebückt an dem Stiefel das Band festzurrend (wobei er versucht war, ihr zu helfen – nur wie?), von unten herauf ihn anlachend, ein Lachen erst der Überraschung, dann der Belustigung, indes sie zugleich auf einen der Schuhe des Mannes wies: Auch da ein loses Band, zwar entschieden kürzer als das ihre, keine Strauchelgefahr, aber wer weiß? Was weiß eine Fremde? Oder wußte, in dem und jenem, gerade eine solche? Und wieder in der Vorstellung, sah er die Frau, da sie sich nun schon gebückt hatte, ihm, nach den ihren, auch seine Bänder zuschnüren. Das geschah nicht. So oder so, hatten aber beide jetzt gemeinsam etwas zu lachen. Das war nicht nichts, und allem danach, vor der leer gewordenen Bushaltebucht, fühlte er sich angekommen in seiner Stammgegend auf eine bisher unerhörte Weise.

Zugleich sein übliches Zögern, sich auf der Stelle auf den Heimweg zu machen. In die Gegenrichtung, die Gegenrichtungen gehen? Nein, im Bereich des Busbahnhofs bleiben, sich irgendwo, möglichst unter dem freien Himmel, auf eine Bank oder einen Gebäudevorsprung setzen, mit nichts im Sinn, als fürs erste einmal bloß dazuhocken. Was auch geschah. Mit der Zeit freilich: genug jetzt der Leere, des Abseits, des stillen Winkels. Zurück zum Kommen und Gehen. Was auch geschah. Sehen und Gesehenwerden. Und seltsam: weniger Sehen als Gesehenwerden! Ja, es verlangte ihn, ja, er begehrte, gesehen zu werden, und mehr noch als bloß gesehen – erkannt zu werden. Erkannt von dem und jenem, aus den einstigen Dörfern, von dem einen oder andern Dorfjugendgenossen, mit denen er seinerzeit Fußball gespielt hatte oder sonstwie zusammengekommen war? Auch von denen, ja, und auch von einem der wenigen, jeweils einzelnen, mit welchen er dann Bekanntschaft gemacht hatte bei seinen späteren, jedesmal kurzen Besuchen im »Heimland«, Bekanntschaften, die ihm, wohl auch kraft der gedrängten Zeit, näher gekommen waren und stärker nachwirkten als alle die früheren. Gesehen und erkannt zu werden wünschte er sich jetzt, bei dieser besonderen Ankunft, insbesondere von Unbekannten, nein, einem oder einer einzigen. – Erkannt als wer oder was? – Erkannt. – Erkannt auch im Bösen: »Du bist durchschaut«? – Auch das.

Aber niemand erkannte ihn, weder so noch so. Kein Blick, der ihn streifte, geschweige denn jemand, der im Vorbeigehen stutzte oder gar die Augen aufriß: »Bist du das?« Und dann: »Ja, du bist es, du!« Andrerseits begegnete auch ihm in der Menge kein bekanntes Gesicht, keines von früher und keines sozusagen von immer, gesehen in den Träumen, und da auch nur zu allen heiligen Zeiten. Stattdessen erinnerten ihn manche der Gesichtszüge, Stirn, Nase, Lippen, »Geschau«, Haaransatz, an die Leute hier vor Jahrzehnten, schienen ihm vertraut, wiederholten fast haargenau die Züge der Einheimischen in seinen frühen Jahren. Die Nachkommenschaft? Söhne und Töchter? Und die erstaunlich vielen Kinder unterwegs, den Jungen von damals wie aus dem Gesicht geschnitten, die Enkel?

Wer den Ankömmling doch noch zu erkennen schien, so und so, anfangs jedenfalls, das war ein streunender, wohl herrenloser Hund. Mit dem ersten Blick auf ihn blieb das Tier stehen und zickzackte dann quer durch die Passantenbeine auf ihn zu, lief des weiteren freilich, statt ihn anzuspringen, neben ihm her, im Dahintraben unentwegt zu ihm aufschauend – bis der andere dem Hundeblick nicht mehr nach jedem zweiten Schritt auswich, sondern ihm standhielt –, worauf der Hund, schon vorher groß, jetzt plötzlich in Überlebensgröße, den Mann in der Tat ansprang, wenngleich ohne zuzubeißen – stattdessen ein Aufheulen, nah an einem Aufschrei, wie der nicht zu vereinbaren war mit einer Hundelunge – und auf und davon war das Tier – Flucht? Enttäuschung? Verachtung? Erkenntnis einer Verwechslung?

Bevor der Zurückgekehrte sich nun endlich auf den Heimweg machte, wollte er die Nachricht auf seinem Taschentelefonschirm lesen. Sie war ihm schon im Überlandbus signalisiert worden, aber auch, weil er keine Neuigkeiten erwartete und vielleicht, so gegen Ende der langen Heimreise, sogar sich scheute vor allem, was als »Neuigkeit« oder Aktualität daherkam.

Die Nachricht besagte Folgendes: Sein Bruder, der jüngste von den drei Geschwistern, war tot. Dem Angehörigen einer Division der Fremdenlegion in den Tropen, seit Jahren, hatte eine »feindliche Kugel« einen Kopfschuß verpaßt. Auf der Stelle tot. »Ihr Bruder hat nicht gelitten.« Er war noch am gleichen Tag begraben worden, siehe die Tropentemperaturen. Dazu kam, daß die Fremdenlegionäre, im Unterschied zu den im Kampf gefallenen regulären Soldaten, als Leichen nicht das Recht hatten, in einem mit den Nationalfarben drapierten Sarg per Flugzeug in ihren Heimatstaat eskortiert zu werden. Der kurzen Nachricht war ein Photo des frischen Grabes angefügt. Mit Sorgfalt bereitet, geradezu gestaltet, wirkte der Hügel, samt dem Grabkreuz – aus wie mit einem Schnitz-Messer zurechtgeschnittenen Palmholzröhren? – und der Name des Bruders fehlerlos daraufgetuscht, geradezu monumental, wie der Name eines Stars in einem Breitwandfilm. Riesige exotische Blumen – welche? gleichwelche, mal die dir selber aus – häuften sich auf dem Hügel (es war, als bestünde dieser allein aus der Blütenmasse, darunter die rasch eingeebnete Erde), und das war auch schon die einzige Farbfläche auf dem Photo, freilich was für eine!; im weiten Umkreis, ohne Unterschied flach bis zu einem vagen Horizont, sonst nichts als Schwarzweiß, von welchem einzig das Grab sich abhob, weder Strauch noch Baum, geschweige denn ein anderes Grab, auch kein Anzeichen einer Siedlung, nicht einmal der Umriß eines Vogels. Wären nicht die in allen Farben prangenden Blumen gewesen, hätte es den Anschein gehabt, das Brudergrab befinde sich nicht nah am Äquator, sondern irgendwo im Hohen Norden, in einem Tundra-Boden, der für den kurzen arktischen Sommer – richtiger Zeitpunkt, ein Grab zu graben – aufgetaut war und demnächst wieder zufröre.

Für einen Augenblick hatte er jetzt seinen Bruder vor sich, als Kleinkind, in der Einrad-Schiebtruhe, die damals als Kinderwagen oder eher als bloßes Spielgefährt diente, zum Kurven im Kreis um den Hof des elterlichen Anwesens, mit ihm, dem Heranwachsenden, als dem Schiebtruhenschieber, im Gedächtnis bloße Rückenansicht. Ja, und dann der Moment, da das Wägelchen, nach einer von Mal zu Mal beschleunigten Kreisfahrt, ihm, dem mit seinen späteren Ein-Mann-Expeditionen aus der Hand geraten ist, aus der Hand gerät, und die nun schieberlose Schiebtruhe ausgerechnet an den Rand des Hofkreises, wo der abfällt, seinerzeit jedenfalls noch abgefallen ist zu einer ziemlich steilen und fast abgrundtiefen Böschung, samt dem Säugling davontrudelt und wegkippt in die Brennesselzone dort, einen regelrechten Hochwald, aber zum Glück so dicht, daß aus dem Fall kein Todessturz wurde. Keine Spur jetzt aber von dem im Nesseldickicht verschwundenen kleinen Bruder, und auch kein Laut. Wer war das nur, der das Kind, dieses bis auf ein paar Brandblasen auf den Händen und im Gesicht unversehrt, zu guter Letzt, auf dem Bauch liegend, zurück herauf ans Licht gezogen hat? Die Eltern, in seiner Vorstellung, waren abwesend, arbeiteten fern auf den Feldern. Die Schwester? Undenkbar, die ging ja damals noch gar nicht zur Schule. Oder doch? Ein Nachbar, herbeigerufen von meinen Hilferufen? Habe ich denn überhaupt um Hilfe gerufen? Wäre das denn nicht das erste und bisher letzte Mal in meinem Leben gewesen? Ein zufällig Vorbeikommender, ein Fremder, der aber mir, dem stumm Dastehenden, das Unglück sofort angesehen hat? Ja, so war es, Bruder: Ein Fremder hat dich gerettet, hat uns beide gerettet. Was ich mir jetzt aber nicht vorstelle, dessen ich vielmehr gewiß bin, mein Bruder: Ich war’s nicht – ich bin dir nicht beigesprungen an jenem Tag, nicht und nicht, weder mit einem Wort noch mit einer Tat. Brennessel-Salzsäule, ich!

Er war nach dem Lesen der Todesnachricht stehengeblieben, hatte dann aber, kaum einen Moment später, den Nachhauseweg, den ehemaligen, fortgesetzt, im vorigen Tempo und Rhythmus, als ob irgendetwas, sowohl in ihm wie auch außerhalb seiner selbst, ihm vorgaukle, auf solche Weise werde er wenigstens für eine kleine Strecke das Geschehene als ungeschehen, als schlechten Scherz erleben. Er verstärkte sogar den Rhythmus, in dem er anfangs gegangen war, zu einer Art Marschrhythmus, indem er als Teil einer Kolonne oder Kompanie aufstampfte und große Schritte machte. Dazu aber spielten, oder eher spulten sich dann, wie zur Strafe, als Marschlieder, einzelne Sätze ab, die sich in ihm aber ständig stumm, und umso bösartiger, wiederholten, wie: »Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben!«, und: »Mann und Frau, und Frau und Mann, reichen an den Himmel an!«, und: »In dulci jubilo, so sing ich und bin froh!« … Und wie dabei vor, neben, hinter, zu Füßen und zu Häupten des Marschierers nichts als ein Zittern war, nicht allein ein Zittern der Blätter und Gräser, sondern ein Zittern ganzer Bäume, ganzer Wolken und Wolkenfelder am Himmel, ein Zittern von Spinnennetzen noch und noch – warum aber das eine dort stillstarr? Geh endlich unter, Zitter-Sonne, verschwinde! Aber die Sonne, sie ging und ging nicht unter, als werde sie dort in excelsis eigens angehalten, wenn auch nicht zu seinen, des Marschmenschen, Gunsten hier unten, auf daß er siege in einer Völkerschlacht oder bei Gottweißwas für einem Weltereignis, angehalten vielmehr gegen und wider ihn, auf daß – auf daß was?

Irgendwann dann merkte er, daß er sich verirrt hatte. Er war im Leben immer wieder in die Irre gegangen, schon von Kindesbeinen an. Da war ihm das erst gar nicht bewußt geworden; erst andere hatten ihn in der Regel auf sein Irrlaufen aufmerksam gemacht, was ihn aber kaum je beunruhigte oder gar in Angst und Schrecken versetzte: So sicher war er sich, daß ein Angehöriger oder sonst für ihn Zuständiger um ihn herum sei, und mit dem Schritt zu ihm hin befände er sich schon auf einem Heimweg, selbst wenn der nicht sofort heim-, das hieß, zum Haus hin führte. Lieber miteinander Umwege um Umwege nehmen, und möglichst spät, am liebsten erst in der tiefen Dämmerung heimkommen, oder überhaupt nicht eintreten in das doch wie einladend illuminierte Haus.

Der Mann später, nach Jahren des Ärgers, des eigenen wie auch manch anderer, über seinen »mangelnden Ortssinn«, wünschte sich, nachdem der Ortssinn doch noch zutage getreten war – so verläßlich wie bei sonst fast niemandem in seiner Umgebung –, er möge sich von Zeit zu Zeit wieder, und neu, verirren. Er forderte das dann sogar heraus, verirrte sich, kein Paradox, mit Absicht, als Teil eines Plans. Derartige Irrgänge, er zwischendurch auf dem Bauch kriechend, auf allen vieren, oder wie in einem Kinderspiel einen ungewissen Hang hinabrollend, grundierten und strukturierten seine Ein-Mann-Unternehmungen, wie in der Folge, flankiert von Photos und Zeichnungen, seine jeweilige Chronik davon. Chronist zu sein, seiner Abenteuer eines Verirrten, in dessen freiwilligem und darüber hinaus systematischem Irregehen kein Paradox wieder, solch ein Chronist zu sein, zu überliefern, ja, aber rein als Chronist, das betrachtete er als seinen Beruf. Erzählen, Gestalten, Umgestalten, Verwandeln, all das kam für ihn in seinem Tun nicht in Frage. – »Nichts als das Verfassen von Chroniken, den meinigen. Und das soll aber um des Himmels willen keine Rangordnung anzeigen!«

Zwar war es, vor allem während seiner Expeditionen der letzten Jahre, schon vorgekommen, daß das Chaos, zu welchem sein systematisches Sichverirren ihn weniger geführt als geschubst und gestoßen hatte, zugleich sein inneres, höchsteigenes geworden war, buchstäblich samt »Angst und Schrecken, Furcht und Zittern«, zumindest in der vor- oder vor-vor-letzten Episode.

An dem fraglichen Tag aber sah der Mann da sich verirrt – »da, wo war das? Was hieß das?« – auf dem Heimweg. Das war ihm noch keinmal zugestoßen, nicht in seiner ersten jugendlichen Betrunkenheit, der ärgsten, der ihm in seinen einzigen bewußten Momenten selber unfaßbaren. (Sonderbar übrigens, wie in der Regel die bewußtlos Betrunkenen geradezu zielstrebig, so oder so, heimzufinden pflegten.)

Er war nicht betrunken, obwohl es ihn vor dem Busbahnhof nach einem Glas verlangt hatte, nein, einer ganzen Flasche. Und dabei vollführte er jetzt, aus seinem Marschrhythmus geworfen, die Bewegungen eines Betrunkenen, eines Sturzbesoffenen. Nie würde er zu dem Haus, seinem Geburtshaus, seinem Wohn- und Arbeitshaus, bis zu der Zeit in Übersee, hinfinden, nie mehr. Bis ans Ende seiner Tage, das vielleicht schon in der folgenden Nacht käme, müßte er im Zickzack durch das Ausland aller Ausländer stolpern. Aber ist dein Heimweg vom Bahnhof trotz der Totalbesiedelung des vormaligen Vieldörferlandes, denn über das halbe Jahrhundert nicht fast der gleiche geblieben, wie du’s erlebt hast noch bei den letzten deiner alljährlichen Heimtrips?

Solche Ermahnung half ihm keineswegs aus dem Durcheinander. Sagte man nicht »heillos verirrt«? »So ist es: heillos verirrt bin ich. So wie ich bisher an einer äußerlich panischen Welt, in einem Orkan etwa, im Innern ganz ruhig, die Ruhe selbst geworden bin, so ist und so tobt nun, bei einer dem Anschein nach vollkommen ruhigen, wie abendlich beruhigten, beinah wie toten Außenwelt das Panische in mir.« – Und wie der Verirrte dazu wie auf der Stelle hin und her zuckte und ruckte, einen Halbschritt vor, einen zurück, einen Viertelschritt halbrechts, einen halblinks, und so fort?

Nein, Freund, nicht so fort. Wahr ist: Hättest du, Verirrter, auf dem Boden mit deinen Füßen Spuren hinterlassen, sagen wir, im Schlamm – es lag dort aber keiner – oder im Schnee – wie das im Sommer? –, so hätten diese Spuren insgesamt an ein Wagenrad erinnert, wenn auch an ein wie heillos zerbrochenes – wieder heillos? – oder, ganz anderes Speichenwerk, an eine Rosette in der Fassade einer mittelalterlichen Kathedrale, Rosette in Bruchstücken, wie unwiederherstellbar kartätscht respektive zerbombt. Mit der Zeit freilich hast du in deiner Irrsal und Wirrsal zu etwas wie einer Folgerichtigkeit gefunden – wie durch ein Wunder? ja, o Wunder. – Und die Spuren meiner Schuhsohlen im Schlamm oder Schnee gaben das Bild von einem Wagenrad, einem reparierten, und …?

So war es, ungefähr, fast so. Und statt »zu einer Folgerichtigkeit gefunden« sag vielleicht »in einen Rhythmus gefunden«, einen dem vorangegangenen, dem Marschrhythmus, in jeder Hinsicht entgegengesetzten, einen guten, nicht ansteckenden, einen dem, was gerade der Fall war, entsprechenden; einen Rhythmus, welcher an der Stelle von Trampelspuren eine Art Vorspur sehen ließe.

Und augenblicklich wurde ihm jetzt auch der Heimweg klar samt jeder Einzelheit, Abzweigung und Engstelle auf der Strecke, die er bis zum Haus noch vor sich hatte. Zugleich die Idee oder was auch, in seinem nächsten Chronik-Vorhaben vom Rhythmus dank »Irregehens« (oder so) Bericht zu erstatten. Wie das: Schämst du dich denn nicht, den Auslöser (oder was) für solche Erkenntnis (oder was auch), die Nachricht vom Tod des geliebten kleinen Bruders, für deine Projekte zu benutzen, wenn nicht auszubeuten? – Nein, er schämte sich nicht, schämte sich nicht im geringsten, freute sich gar seiner Idee, war stolz auf sie. Nur: Wie sie übertragen und, vordringlich, versachlichen, sachgerecht machen in der Chroniksprache, der seinigen, der Sprache eines die Grenzen sämtlicher Länder und sonstigen Sprachweisen überschreitenden Chronisten?

Vor dem ersten Schritt jetzt merkte er, daß er auf einem Bein stand, wie schon seit geraumer Zeit, wie seit dem Moment, da gerade die Wirrsal auf ihrem höchsten Punkt ihn von sich befreit hatte fürs Weitergehen. Und seinen ersten Schritt, obwohl er ganz und gar nicht so aussah, tat er als Tanzschritt. Er fühlte ihn so. Im selben Augenblick ging, wie auf Geheiß, wie beschleunigt, die Sonne unter, endlich. Und eine alte Schlagerzeile fiel ihm dazu ein. »Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt, bin ich mit meiner Sehnsucht allein …« Mutter und Schwester hatten ihm damals das Lied im Duett vorgesungen, schmetternd, wieder und wieder, um ihn zu ärgern, sich über ihn lustig zu machen, dem die Zeile zuwider war, speziell das Wort »Sehnsucht«, bei dem die beiden Sängerinnen jedesmal um zwei Tonleitern in die Höhe gellten.