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"Wilhelm Meister lebt mit seiner Mutter in der Heide so dahin, unlustig und voller Sehnsucht. Er möchte Schriftsteller werden. Unterwegs trifft er den alten Mann mit Mignon und die Schauspielerin Therese Farner. In Soest sprechen sie über die Einsamkeit und die Natur, über die Angst in Deutschland und über ihre Träume. Der Alte wurde seinerzeit aus einem fehlgeleiteten Naturgefühl erbarmungslos gegen die Menschen. Er tötete einen Juden; jetzt hofft er auf Vergessen in der Naturbetrachtung. Wilhelm sucht Therese und findet Mignon. Eine Zeitlang leben sie in Schwalbach im Taunus zusammen. Therese stört, daß Wilhelm beim Schreiben alles andere gleichgültig wird, der Alte ist hilflos und erbärmlich in seiner Einsamkeit; der alltägliche Wahnsinn ringsum nimmt zu. Therese bleibt mit Mignon zurück, als Wilhelm seine Reise durch Deutschland fortsetzt und auf der Zugspitze im Schneesturm mit dem eigentlichen Schreiben beginnt. Das ist die Geschichte der Filmerzählung Falsche Bewegung."
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Seitenzahl: 66
Peter Handke
Falsche Bewegung
Suhrkamp Verlag
Der riesige Marktplatz von HEIDE in Schleswig-Holstein, mit den kleinen Häusern weit weg am Horizontrand.
Wilhelm von hinten. Er steht in einem der kleinen Häuser am Fenster und schaut hinaus.
Der Marktplatz, ein wenig mehr von oben.
Wilhelm, das Fensterkreuz und der Marktplatz. Eine Katze auf dem Fensterbrett.
Wilhelm zerschmettert mit der Faust die Fensterscheibe. Die Katze springt vom Fensterbrett.
Wilhelms Mutter, einen Wäschestapel auf dem Arm, läuft herein.
Wilhelm lutscht an der Faust.
Durch den Luftzug schlägt hinter der Mutter die Tür zu.
Das Haus von außen, mit einer weiten Fläche des Platzes davor.
Das Haus nahe: Wilhelm tritt mit verbundener Hand heraus.
Eine junge Frau geht vorbei.
Wilhelm stößt einen Todesschrei aus und hockt sich nieder.
Der Himmel über Heide.
Die Frau dreht sich im Gehen kurz um und lächelt amüsiert.
Die Mutter erscheint im Fenster, ein Bügeleisen in der Hand.
Wilhelms Gesicht.
Eine Straße auf dem Land in Schleswig-Holstein: Wilhelm fährt einhändig Rad.
Er fährt freihändig, mit gekreuzten Armen.
Hoch über der Marsch fährt in der Ferne eine Eisenbahn.
Die Nordsee bei Husum: Wilhelm sitzt am Strand, das Fahrrad neben sich.
Wilhelm nahe: er schreibt in ein Notizbuch.
Eine Seite des Notizbuchs, während Wilhelm schreibt: »Ich bin nicht verzweifelt, nur verdrossen und unlustig. Seit zwei Tagen habe ich kein Wort mehr herausgebracht. Ich habe ein Gefühl, als ob die Zunge aus dem Mund verschwunden ist. Nur im Schlaf spreche ich die ganze Nacht, sagt die Mutter. Ich möchte Schriftsteller werden. Aber wie ist das möglich ohne Lust auf Menschen?«
Das Meer.
Wilhelms Notizbuch, in das er weiterschreibt: »Das Meer. Das Meer. Das Meer, das Meer, das Meer.«
Die Nordsee, im Sonnenuntergangslicht.
Wilhelms Notizbuch, in das er notiert, was er rundherum sieht: »Teerspritzer, Plastikbecher, Möweneierschalen …« (usw.)
Nah: was er gerade beschrieben hat, ist zu sehen.
Wilhelms Notizbuch: »Wenn ich nur schreiben könnte …«
Die Nordsee am Abend, Wilhelm an derselben Stelle.
Ein Foto von Wilhelm als Kind an der Wand in seinem Elternhaus. Off die Stimme der Mutter: »Fast freue ich mich, daß du seit einiger Zeit so unmutig bist und den Mund nicht mehr aufmachst. Eigentlich habe ich schon seit langem darauf gewartet, daß du endlich unzufrieden wirst, über die Sonntagsunzufriedenheit hinaus.«
Die Mutter, mit Besen und Kehrichtschaufel in der Hand: »Ich möchte, daß du von hier weggehst. Ich werde das Geschäft an den Supermarkt verkaufen und dir einen Teil der Kaufsumme mitgeben. Wir beide haben lange genug das Wasser erneuert, damit der Schnittlauch frisch bleibt, und den Kunden die Wurst oh bitte feiner und noch feiner geschnitten.«
Die kehrende Mutter: »Auch für mich ist das kein Leben, und wahrscheinlich für niemanden. Ich werde mir von jetzt an schöne Tage machen. Ich werde rauchen, wenn ich über den Platz gehe, und im HEIDER HOF werde ich am Spätnachmittag meinen Martini trinken und dabei deine Briefe lesen. ›Bitte mit Eis‹, werde ich immer sagen, wenn ich den Martini bestelle.«
Wilhelm nahe: er öffnet die Lippen.
Wilhelm und die Mutter: »Nein, du brauchst nichts zu sagen, lieber Wilhelm. Wart damit, bis du anders nicht mehr kannst. Und verlier dein Unbehaglichkeitsgefühl und deinen Mißmut nicht, die wirst du brauchen, wenn du schreiben willst.«
Die Mutter entfernt sich mit Besen und Schaufel und kehrt sofort mit einem Kissenbezug wieder, in den sie jetzt ein Kissen steckt.
Das Gesicht der Mutter groß: »Die ganze letzte Nacht hast du nur geredet. Du erzähltest jemandem, wie du unter der Haut schwitztest. Wie eine gewachste Orange, hast du gesagt. Ich wiege nur noch neunhundert Gramm statt ein Kilo, hast du gesagt, die Kunden beschweren sich schon.«
Wilhelm lächelt. »Mutter, ich möchte dir etwas zeigen.« Er legt einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch. Die Mutter setzt eine Brille auf und beugt sich darüber.
Ein Zeitungsfoto der Einkaufsstraße in Heide mit vielen Menschen. Ein Automatenpferd im Vordergrund, auf dem ein Kind reitet. Eine Unterzeile wie: »Erfolgreicher langer Samstag in Heide«. Die Stimme Wilhelms: »Der Passant hier bin nämlich ich.« Sein Finger zeigt auf einen Fußgänger neben dem Automatenpferd.
Wilhelms Gesicht: »Vor ein paar Wochen schlug ich die Zeitung auf, sah das Foto gar nicht recht an und erkannte auf einmal mich.«
Das Gesicht der Mutter. Wilhelm off: »Seitdem bin ich so unlustig. Es wurde mir klar, daß ich bis jetzt all die Jahre wirklich nichts anderes war als dieser beliebige Passant auf dem Foto. Das Foto war auch schon alles, was es über mich zu sagen gab. Ich muß versuchen, mehr über mich herauszufinden. Ich komme mir schon manchmal nur noch wie ein Posten in der Statistik vor.«
Wilhelms Gesicht: »Noch heute fahre ich weg. Ich muß noch den Koffer packen.«
Die Mutter: »Es ist schon alles bereit. Der Koffer ist in deinem Zimmer. Du brauchst ihn nur noch abzuschließen. Die nötigen Mittel für die erste Zeit liegen obenauf. Das weitere werde ich dir nach dem Verkauf des Geschäftes nachschicken.«
Sie gehen in Wilhelms Zimmer.
Der offene Koffer auf dem Bett: darin zuoberst das Geld, das Wilhelm einsteckt, und Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« und »L'éducation sentimentale« von Flaubert.
Wilhelm schließt den Koffer.
Die Mutter: »Leisten wir uns heute ein Taxi zum Bahnhof. Der Eilzug in Richtung Hamburg fährt in einer halben Stunde.«
Wilhelm steht unschlüssig. Dann greift er in den Taschen herum. »Hier, das Taschentuch. Es ist schmutzig. Ich will es nicht mitnehmen.«
Die Mutter nimmt das Taschentuch und trägt es hinaus.
Wilhelm allein. Aus dem Nebenzimmer das Drehen der Wählscheibe.
Die Mutter und Wilhelm im Taxi auf der Fahrt zum Bahnhof. Die Stimmen des Taxifunks.
Die Mutter zum Taxifahrer: »Schalten Sie lieber Musik an.«
Der Taxifahrer: »Sonst gern, Frau Meister. Aber heute warte ich auf Nachricht von der Zentrale. Meine Frau liegt im Krankenhaus. Gestern Nacht haben die Wehen eingesetzt.«
Blick aus dem fahrenden Taxi. Die Stimme des Taxifahrers: »Unlängst ist hier im Taxi bei einer die Fruchtblase geplatzt. Deswegen bin ich mit meiner Frau im Autobus in die Klinik gefahren.«
Das Taxi hält vor einer geschlossenen Schranke.
Wilhelm schaut aus dem Rückfenster.
Die HONGKONG-BAR von Heide-Schleswig-Holstein. Eine Frau lehnt an einem offenen Fenster.
Wilhelm steigt aus und geht zur Bar zurück.
Wilhelm: »Janine, ich fahre weg, nach Süden.«
Janine: »Nimmst du mich mit?«
Wilhelm: »Nein. Ich möchte mich in jemanden verlieben.«
Janine: »Das ist schön. Aber denk dabei daran, du verdankst es mir, daß du dich unbesorgt verlieben kannst.«
Die Mutter im Auto, die zuhört und lächelt.
Am Fenster der Bar erscheint eine zweite Frau, die einen Kirschkern auf Wilhelm hinunterspuckt.
Groß das ernste Gesicht Janines.
Ein Güterzug fährt vorbei.
Janine streckt plötzlich böse die Zunge heraus, zieht eine Grimasse und schließt das Fenster. Das Hupen des Taxis.
Wilhelm läuft zum Taxi, das sofort anfährt.
Die Mutter und Wilhelm am Bahnhof von Heide.