Die Bäume - Percival Everett - E-Book

Die Bäume E-Book

Percival Everett

4,0

Beschreibung

Auf der Shortlist für den Booker Preis 2022 – „Meisterhaft bewegt sich Everett zwischen unaussprechlichem Grauen und umwerfender Komödie.“ The New York Times Book Review

USA, Anfang des 21. Jahrhunderts: Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. Eine atemberaubende Mischung aus Parodie und Hardboiled-Thriller, wie es sie bislang in der amerikanischen Literatur nicht gegeben hat.

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Das ist das Cover des Buches »Die Bäume« von Percival Everett

Über das Buch

Auf der Shortlist für den Booker Preis 2022 — »Meisterhaft bewegt sich Everett zwischen unaussprechlichem Grauen und umwerfender Komödie.« The New York Times Book ReviewUSA, Anfang des 21. Jahrhunderts: Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. Eine atemberaubende Mischung aus Parodie und Hardboiled-Thriller, wie es sie bislang in der amerikanischen Literatur nicht gegeben hat.

Percival Everett

Die Bäume

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Hanser

Für Steve, Katie, Marisa, Caroline, Anitra und Fiona

Die Kunst des Krieges ist ganz einfach. Finde heraus, wo dein Feind steht. Rücke ihm so rasch wie möglich zu Leibe. Schlage so hart und so oft wie möglich auf ihn ein und ziehe dann weiter.

U. S. Grant

Aufstand

1

Money, Mississippi, sieht genau so aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas leicht Trauriges, wird zum Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen.

Knapp außerhalb von Money gab es etwas, was man sehr vereinfacht als Vorort, vielleicht sogar als Wohnviertel hätte betrachten können, eine gar nicht mal so kleine Ansammlung vinylverkleideter, Split-Level-Ranch- und Schuhkarton-Häuser, die inoffiziell Small Change hieß. In einem der verdorrenden Gärten fand um die ausfransenden Ränder eines mit verblassten Meerjungfrauen verzierten Aufstellpools ein kleines Familientreffen statt. Keine Feier, sondern ein gewöhnliches Treffen.

Hier lebten Wheat Bryant und seine Frau Charlene. Wheat war zurzeit arbeitslos, war ständig und immer zurzeit arbeitslos. Charlene wies oft und gern darauf hin, dass das Wort zurzeit ein Davor und ein Danach voraussetzte und dass Wheat in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Job gehabt habe, von einem Zurzeit also keine Rede sein könne. Charlene arbeitete als Empfangsdame bei der Money Tractor Exchange J. Edgar Price Eigentümer (der offizielle Firmenname, ohne Kommas) für Verkauf und Kundendienst, obwohl die Firma in letzter Zeit nicht viele Traktoren verkauft oder auch nur repariert hatte. In und um Money waren die Zeiten hart. Charlene trug stets ein gelbes Trägertop von der gleichen Farbe wie ihr gefärbtes und toupiertes Haar, und zwar, weil das Wheat wütend machte. Wheat trank eine Dose Falstaff-Bier nach der anderen, qualmte eine Virginia Slims nach der anderen — was ihn, wie er behauptete, zu einem von diesen Feministen machte — und erzählte seinen Kindern, das Bier sei nötig, um seinen dicken Bauch richtig in Form zu halten, und die Kippen seien wichtig für einen regelmäßigen Stuhlgang.

Wenn sich Wheats Mutter — Granny Carolyn oder Granny C — im Freien aufhielt, fuhr sie in einem dieser elektrischen Breitreifen-Wägelchen vom Sam’s Club herum. Es glich nicht einfach den Wägelchen von Sam’s Club, sondern war vielmehr dauerhaft vom Sam’s Club in Greenwood ausgeliehen. Es war rot und trug in weißen Buchstaben die Aufschrift am’s Clu. Der fleißige Elektromotor gab ein ständiges lautes Surren von sich, was jedes Gespräch mit der alten Frau zu einer ziemlichen Herausforderung machte.

Granny C wirkte immer ein bisschen traurig. Und warum auch nicht? Wheat war ihr Sohn. Charlene hasste die Frau fast ebenso sehr, wie sie Wheat hasste, aber sie zeigte es nie; Granny C war eine alte Frau, und im Süden respektiert man ältere Menschen. Ihre vier Enkelkinder, drei bis zehn Jahre alt, ähnelten einander überhaupt nicht, konnten aber unmöglich an irgendeinen anderen Ort oder zu irgendeiner anderen Familie gehören. Sie nannten ihren Vater beim Vornamen, und ihre Mutter nannten sie Hot Mama Yeller, das CB-Funk-Rufzeichen, das Charlene verwendete, wenn sie spätabends, nachdem die anderen schlafen gegangen waren, und gelegentlich auch beim Kochen mit Truckern plauderte.

Das CB-Geplauder machte Wheat wütend, teils weil es ihn an den einzigen Job erinnerte, den er einmal gehabt hatte: als Fahrer eines Sattelschleppers voller Obst und Gemüse für Piggly Wiggly, die Lebensmittelmarktkette. Diesen Job hatte er verloren, als er am Steuer einschlief und seinen Laster von der Tallahatchie Bridge fuhr. Nicht komplett, denn das Führerhaus baumelte stundenlang über dem Little Tallahatchie River, bis man ihn rettete. Er brachte sich in Sicherheit, indem er in die Schaufel eines Baggers kletterte, den man aus Leflore herangeschafft hatte. Er hätte seinen Job vielleicht sogar behalten, wäre der Laster nicht hängengeblieben, sondern einfach rasch und mit undramatischer Direktheit von der Brücke in den schlammigen Fluss gestürzt. So aber hatte die Geschichte reichlich Zeit, sich hochzuschaukeln, auf CNN, Fox und YouTube zu laufen, alle zwölf Minuten wiederholt zu werden und viral zu gehen. Der absolute Wahnsinn war der Clip, der zeigte, wie etwa vierzig leere Dosen Falstaff-Bier aus dem Führerstand herausfielen und in die Strömung unten hagelten. Selbst das wäre nicht so schlimm gewesen, hätte Wheat nicht mit seiner fetten Pranke eine Dose umklammert, als er sich zwischen den Zähnen der Baggerschaufel hindurchzwängte.

Bei dem Familientreffen ebenfalls anwesend war der Jüngste von Granny Cs Bruder, Junior. Sein Vater, J. W. Milam, wurde Junior genannt, also war sein Sohn Junior Junior, niemals J. Junior, niemals Junior J., niemals J. J., sondern Junior Junior. Der Ältere, den man nach der Geburt seines Sohnes einfach Just Junior nannte, war vor etwa zehn Jahren »am Krebs« gestorben, wie Granny C das genannt hatte. Er verschied knapp einen Monat nach Roy, ihrem Mann und Wheats Daddy. Irgendwie hielt sie es für wichtig, dass sie beide an der gleichen Krankheit gestorben waren.

»Granny C, ist dir nicht heiß mit dem dämlichen Hut?«, brüllte Charlene die alte Frau über dem Surren des Wägelchens an.

»Wie bitte?«

»Der Hut ist ja noch nicht mal aus Stroh. Eher so was wie ein Kunststoffdeckel. Und Luftlöcher hat er auch keine.«

»Was?«

»Sie kann dich nicht hören, Hot Mama Yeller«, sagte ihre Zehnjährige. »Sie hört überhaupt nichts. Sie ist stocktaub.«

»Verdammt, Lulabelle, das weiß ich doch. Aber du kannst nicht sagen, ich hätte sie wegen dem Hut nicht gewarnt, wenn sie plötzlich einen Hitzschlag kriegt und umkippt.« Wieder schaute sie auf Granny C herab. »Und in dem Apparat, in dem sie da rumgurkt, wird es auch ganz heiß. Davon wird dir noch heißer!«, schrie sie die Frau an. »Wie überlebt sie das bloß? Das würde ich gern mal wissen.«

»Lass meine Mama zufrieden«, sagte Wheat mit einem angedeuteten Lachen. Jedenfalls hätte es eins sein können. Wer wusste das schon? Sein Mund war zu einem dauerhaften schiefen Grinsen verzerrt. Viele glaubten, er habe vor Monaten beim Rippchenessen einen leichten Schlaganfall erlitten.

»Sie trägt schon wieder diesen dämlichen warmen Hut«, sagte Charlene. »Davon wird ihr noch schlecht.«

»Na und? Das macht ihr nichts. Was zum Geier geht dich das überhaupt an?«, sagte Wheat.

Junior Junior schraubte den Deckel wieder auf seine in einer Papiertüte steckende Flasche und sagte. »Sag mal, warum habt ihr eigentlich kein Wasser in dem Pool?«

»Das verdammte Ding leckt«, sagte Wheat. »Mavis Dill ist mit ihrem fetten Arsch dagegengeknallt, da hat die Wand einen Riss gekriegt. Dabei wollte sie noch nicht mal baden, ist einfach dran vorbeigegangen und dagegengeknallt.«

»Wie hat sie das denn hingekriegt?«

»Sie ist einfach fett, Junior Junior«, sagte Charlene. »Die Last kriegt das Übergewicht und kippt in die entsprechende Richtung. Schwerkraft. Wheat kann dir alles drüber erzählen. Stimmt’s, Wheat? Mit Schwerkraft kennst du dich aus.«

»Leck mich«, sagte Wheat.

»Solche Wörter dulde ich nicht vor meinen Enkeln«, sagte Granny C.

»Und wie zum Geier hat sie das jetzt gehört?«, sagte Charlene. »Schreie hört sie nicht, aber das hört sie.«

»Ich höre genug«, sagte die alte Frau. »Höre ich etwa nicht genug, Lulabelle?«

»Klaro«, sagte das Mädchen. Sie war ihrer Großmutter auf den Schoß geklettert. »Du hörst so ziemlich alles. Stimmt’s, Granny C? Du bist zwar schon so gut wie tot, aber hören tust du einfach prima. Stimmt’s, Granny C?«

»Na sicher, Püppchen.«

»Was wollt ihr denn jetzt mit dem Pool anfangen?«, fragte Junior Junior.

»Wieso?«, fragte Wheat. »Willst du ihn kaufen? Von mir aus kannst du ihn haben. Mach mir ein Angebot.«

»Ich könnte in dem Ding ein paar Schweine halten. Einfach den Boden rausschneiden und die Schweine reinstellen.«

»Nimm ihn mit«, sagte Wheat.

»Ich könnte die Schweine einfach herbringen. Das wär einfacher, findest du nicht?«

Wheat schüttelte den Kopf. »Aber dann würden wir deine Schweine riechen. Ich hab keine Lust, deine Schweine zu riechen.«

»Aber ihr habt ihn astrein aufgebaut und eingerichtet. Wär ein Haufen Arbeit, ihn abzubauen.« Junior Junior zündete sich eine dürre grüne Zigarre an. »Ihr könnt eins von den Schweinen für euch behalten. Wie wär’s?«

»Ich brauche kein scheiß Schwein«, sagte Wheat.

»Na, na!«, rief Granny C.

»Wenn ich Speck will, kaufe ich mir welchen«, sagte Wheat.

»Und bezahlen tust du ihn mit meinem Geld«, sagte Charlene. »Bring die Schweine her, Junior Junior, aber ich will zwei davon behalten, große, und schlachten tust du sie.«

»Abgemacht.«

Wheat sagte nichts. Er ging durch den Garten und half der Vierjährigen in ihr rosa Plastikauto.

Granny C starrte ins Leere. Charlene musterte sie eine Zeitlang. »Granny C, alles okay?«

Die alte Frau gab keine Antwort.

»Granny C?«

»Was ist los mit ihr?«, fragte Junior Junior und beugte sich näher heran. »Hat sie einen Schlaganfall oder so was?«

Granny C ließ sie zusammenfahren. »Nein, du taube Nuss, ich hab keinen Schlaganfall. Hier kann man nicht mal in Ruhe über sein Leben nachdenken, ohne dass einem irgendein Idiot vorwirft, man hätte einen Schlaganfall. Vielleicht hast du ja einen Schlaganfall? Du zeigst als Einziger Symptome.«

»Wieso gehst du auf mich los?«, fragte Junior Junior. »Charlene hat dich zuerst angeglotzt.«

»Kümmere dich nicht um ihn«, sagte Charlene. »Worüber hast du denn nachgedacht, Granny C?«

Wieder starrte Granny C ins Leere. »Ich hab über was nachgedacht, was ich lieber nicht getan hätte. Ich hab über die Lüge nachgedacht, die ich vor so vielen Jahren über diesen Niggerjungen erzählt hab.«

»Ach du Schande«, sagte Charlene. »Das schon wieder.«

»Ich hab dem kleinen Kerl unrecht getan. Wie es geschrieben steht: Alles rächt sich früher oder später.«

»Wo steht das geschrieben?«, fragte Charlene. »In Guns and Ammo?«

»In der Bibel, du Ungläubige.«

Im Garten wurde es still. Die alte Frau fuhr fort: »Ich hab nicht gesagt, dass er was zu mir gesagt hat, aber Bob und J. W., die haben behauptet, er hätte, also hab ich mitgezogen. Hätte ich das doch bloß nicht getan. J. W., der hat Nigger gehasst.«

»Das ist doch alles vorbei und Schnee von gestern, Granny. Also entspann dich einfach. Ist sowieso nicht mehr zu ändern. Das bringt den Jungen auch nicht zurück.«

2

Deputy Sheriff Delroy Digby fuhr gerade mit seinem zwölf Jahre alten Crown-Victoria-Streifenwagen über die Tallahatchie Bridge, als man ihn per Funk anwies, nach Small Change zu fahren. Er hielt vor Junior Junior Milams Haus und sah dessen Frau Daisy weinend hin und her tigern und dabei wild gestikulieren. Auf der Highschool war er mal kurz mit Daisy gegangen, aber das hatte aufgehört, nachdem sie ihn doch tatsächlich in die Zunge gebissen hatte. Danach war er zur Army gegangen und Schreibstubenhengst im Quartermaster Corps geworden. Bei seiner Heimkehr nach Mississippi hatte er feststellen müssen, dass Daisy mit Junior Junior verheiratet und mit ihrem vierten Kind schwanger war. Dieses Kind hatte sie jetzt beim Hin-und-her-Tigern auf dem Arm, während die anderen drei wie Zombies auf der untersten Stufe der Verandatreppe hockten.

»Was ist los, Daisy?«, fragte Delroy.

Daisy hörte auf herumzufuchteln und starrte ihn an. Ihr Gesicht war vom Weinen verquollen, die Augen rot und eingesunken.

»Was ist denn? Was ist passiert, Daisy?«, fragte er.

»Im Zimmer ganz hinten«, sagte sie. »Es ist Junior Junior. Gottogott, ich glaube, er ist tot«, flüsterte sie, damit die Kinder nichts hörten. »Er muss tot sein. Wir sind gerade erst von dem großen Flohmarkt auf dem Parkplatz vom Sam’s Club zurückgekommen. Die Babys haben nichts gesehen. Gottogott, es ist einfach schrecklich.«

»Okay, Daisy. Du bleibst hier.«

»Dahinten ist außerdem noch was«, sagte sie.

Delroy legte die Hand auf seine Pistole. »Was?«

»Jemand. Er ist auch tot. Muss tot sein. Ja, er ist tot. Muss ja. Du wirst schon sehen.«

Delroy war verwirrt und inzwischen auch mehr als nur ein bisschen verängstigt. Beim Militär hatte er nie etwas anderes getan, als Klopapierrollen zu zählen. Er ging zurück zu seinem Streifenwagen und griff nach dem Handmikrofon des Funkgeräts. »Hattie, hier spricht Delroy. Ich bin draußen bei Junior Junior Milams Haus, und ich glaube, ich brauche Verstärkung.«

»Brady ist nicht weit weg. Ich schicke ihn rüber.«

»Danke, Hattie, Ma’am. Sag ihm, ich bin hinten im Haus.« Er legte das Mikrofon hin und kehrte zu Daisy zurück. »Ich schaue mal eben nach. Du schickst Brady nach hinten, wenn er kommt.«

»Das Zimmer geht von der Küche ab«, sagte sie. »Delroy.« Sie legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Du weißt, ich hab dich immer gemocht, als wir auf der Highschool waren. Ich wollte dich gar nicht in die Zunge beißen, und es tut mir furchtbar leid. Fast Phyllis Tucker hat mir gesagt, alle Jungs mögen das, deswegen hab ich’s getan. Du hast es nicht gemocht. War wohl ein bisschen zu fest.«

»Okay, Daisy.« Er setzte sich in Bewegung, dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Daisy, du hast ihn nicht umgebracht, oder?«

»Delroy, ich bin diejenige, die die Polizei gerufen hat.«

Delroy starrte sie an.

»Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Keinen von beiden.«

Delroy zog seine Waffe nicht, als er das Haus betrat, aber er ließ die Hand schwer darauf liegen. Er ging langsam durch das vordere Zimmer. Es war dunkel, weil die Fenster so winzig waren. Auf dem Kaminsims stand eine Reihe kleiner Bowling-Trophäen. Der Kamin selbst war mit Stapeln bunter Plastikschalen, -teller und -tassen gefüllt. Im Haus war es so still und ruhig, dass er noch mehr Angst bekam und seine Pistole zog. Was, wenn der Killer immer noch da war? Sollte er wieder rausgehen und auf Brady warten? Wenn er das täte, würde ihn Daisy vielleicht für einen Feigling halten. Brady würde ihn ganz sicher auslachen und einen Schisser nennen. Also bewegte er sich weiter vorwärts. Er warf einen kurzen Blick in jedes Schlafzimmer, dann blieb er eine ganze Weile in der Küche stehen, ehe er sich überwand, in das hintere Zimmer zu gehen. Seine Stiefel knarzten laut auf dem welligen Linoleum.

Sowie er ins Zimmer kam, blieb er wie angewurzelt stehen. Er konnte sich nicht rühren. Er hatte noch nie im Leben zwei so tote Menschen gesehen. Dabei war er in einem gottverdammten Krieg gewesen. Wen oder was er für Junior Junior hielt, hatte einen blutigen, eingeschlagenen Schädel. Er konnte etwas von seinem Gehirn sehen. Ein langes Stück rostiger Stacheldraht war mehrmals um seinen Hals geschlungen. Eines seiner Augen war ausgestochen oder herausgeschnitten worden, lag neben seinem Oberschenkel und blickte zu Delroy auf. Überall war Blut. Einer seiner Arme war in unmöglichem Winkel auf dem Rücken verdreht. Seine Hosen waren offen und bis unter die Knie heruntergezogen. Sein Unterleib war mit verkrustetem Blut bedeckt, und es sah so aus, als fehlten seine Hoden. Etwa drei Meter von Junior Junior entfernt lag die Leiche eines schmächtigen Schwarzen. Sein Gesicht war fürchterlich zugerichtet, sein Kopf geschwollen, sein Hals zernarbt und anscheinend zusammengeflickt. Wie es schien, blutete er nicht, aber es bestand kein Zweifel, dass er tot war. Der Schwarze trug einen dunkelblauen Anzug. Delroy warf erneut einen Blick auf Junior Junior. Die entblößten Beine des Mannes wirkten seltsam lebendig.

Delroy fuhr leicht zusammen, als Brady hinter ihm auftauchte.

»Allmächtiger!«, sagte Brady. »Verdammt! Ist das Junior Junior?«

»Sieht so aus«, sagte Delroy.

»Irgendeine Ahnung, wer der Nigger ist?«

»Nein.«

»Was für eine Schweinerei«, sagte Brady. »Jesus, Maria und Josef. Nun sieh dir das an. Er hat keine Eier mehr!«

»Das sehe ich auch.«

»Ich glaube, der Nigger hat sie in der Hand.«

»Du hast recht.« Delroy beugte sich vor und sah genauer hin.

»Fass nichts an. Fass bloß nichts an. Ich glaube, wir haben hier so was wie ein Verbrechen. Du lieber Himmel.«

3

»Gottverflucht, ich hasse nichts mehr als Mord«, sagte Sheriff Red Jetty. »Das kann einem so richtig den Tag verderben.«

»Weil es so eine Vergeudung von Leben ist?«, fragte der Coroner, Reverend Cad Fondle. Er hatte Junior Junior und den unbekannten Schwarzen soeben für tot erklärt, ohne sie auch nur berührt zu haben.

»Nein, weil es eine Schweinerei ist.«

»Dieses ganze Blut«, sagte Fondle.

»Das Blut ist mir scheißegal. Der gottverfluchte Papierkram macht mich fertig.« Jetty deutete auf den Fußboden. »Was willst du mit Milams Eiern da machen?«

»Sag deinen Jungs, sie sollen sie eintüten. Hat wohl nicht viel Sinn, sie wieder anzunähen. Aber das kann der Bestatter zusammen mit der Familie entscheiden.«

Sorgsam darauf bedacht, nicht auf einem Knie zu landen, ging Sheriff Jetty in die Hocke, musterte die Leiche des Schwarzen, legte den Kopf schräg.

»Was siehst du, Red?«, fragte Fondle.

»Kommt er dir nicht auch bekannt vor?«

»Ich kann nicht sagen, wie er mir vorkommt. Er ist ganz schön zugerichtet. Außerdem sehen sie für mich alle gleich aus.«

»Meinst du, das war Junior Junior?«

Fondle schüttelte den Kopf. »Das sieht alles nicht frisch aus.«

»Na gut, schaffen wir sie in den Wagen und bringen wir sie in die Leichenhalle.« Jetty schaute nach hinten in die Küche. »Delroy! Hol die Säcke.«

»Sollen wir Fingerabdrücke sichern?«, fragte Delroy. »Wir haben nichts angefasst. Jedenfalls nicht in diesem Zimmer.«

»Wozu die Mühe? Ach, was soll’s, warum nicht. Du und Brady, ihr macht das. Dann helft ihr, das ganze Blut aufzuwischen.«

»Das steht aber nicht in meiner Jobbeschreibung«, sagte Brady.

»Willst du einen Job behalten, den du beschreiben kannst?«, fragte Jetty.

»Das Blut aufwischen«, wiederholte Brady. »Komm schon, Delroy.«

4

Sheriff Jetty parkte seinen Privatwagen, einen gut gepflegten Buick 225, der seiner Mutter gehört hatte, seither aber umlackiert worden war, auf einem schrägen Stellplatz vor dem Backstein-Bürogebäude des Coroners am Stadtrand. Es war Essenszeit, und sein Magen knurrte so laut, dass andere es hören konnten. Er ging hinein und geradewegs an dem Mann am Schreibtisch vorbei, dessen Namen er sich nie merken konnte.

Doktor Reverend Fondle saß an einem Metalltisch im Obduktionsraum. Die große Lampe brannte, war aber nicht auf ihn gerichtet.

»Was ist los, Cad? Warum bin ich hier in diesem scheiß Gefrierschrank anstatt mit meiner Familie gemütlich beim Essen?«

»Wir haben ein Problem«, sagte Fondle.

»Was für ein Problem?«

Fondle ging zu einem der vier Leichenschubfächer hinüber, die in die hintere Wand eingelassen waren. »In das hier hab ich den toten Nigger getan.«

»Ja? Und?«

Fondle öffnete die Klappe und zog eine leere Pritsche heraus.

Jetty trat näher und betrachtete die schimmernde Metallfläche. »Da ist keiner.«

»Du siehst es also auch«, sagte Fondle. »Tja, vor einer Dreiviertelstunde war der schwarze Scheißkerl noch dadrin.«

»Was soll das heißen? Willst du damit sagen, die Leiche ist weg?«

»Ich will damit sagen, ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Verflucht und zugenäht, Fondle. Tote stehen nicht einfach auf und gehen weg«, sagte Jetty. »Oder?«

»Ich weiß nur von einem«, sagte Fondle.

»Und wer war das?«

Fondle runzelte die Stirn. »Unser Herr Jesus Christus der Allmächtige, du Heide. Ab und zu musst du deinen Hintern mal in die Kirche schleppen.«

Jetty schüttelte den Kopf. »Du hast ihn nicht versaubeutelt?«

»Offenbar schon. Ich habe sogar in den anderen drei Schubfächern nachgesehen. In dem da liegt Milam. Ich habe im Schrank nachgeschaut. Ich habe im Wagen nachgeschaut. Ich sage dir, irgendwer hat die Leiche von dem Nigger geklaut.«

»Das ist ja eine schöne Scheiße«, sagte der Sheriff. »Entschuldige meine Ausdrucksweise, Pastor.«

»Wer macht denn so was?«

»Wir wissen ja noch nicht mal, wer zum Geier er war. Vielleicht ergeben ja seine Fingerabdrücke irgendwas.« Jetty warf einen Blick auf die Tür, durch die er hereingekommen war, und auf die Fenster. »Wann warst du außer Haus?«

»Gegen zwei bin ich für meine Frau Dünger holen gefahren. War höchstens zwanzig Minuten weg. Dill war allerdings an seinem Schreibtisch.«

»Gottverdammt.« Jetty zückte sein Handy und warf einen Blick darauf. »Brady, wo zum Geier steckt ihr?«

»Blut aufwischen, gemäß Ihren Anweisungen«, sagte Brady.

»Komm mir ja nicht blöd, du Furchenscheißer. Du und Delroy, macht, dass ihr ins Büro des Coroners kommt, aber pronto.«

»Und was ist mit dem Blut?«, fragte Brady.

»Vergesst das verfluchte Blut und macht, dass ihr hierherkommt.« Mit der Spitze seines dicken Fingers beendete er das Gespräch. »Weißt du noch, wie gut sich das immer angefühlt hat, den Hörer aufzuknallen? Ich hasse diese kleinen Schwuchteltelefone. Ruf mal Dill rein.«

Fondle drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Dill, komm mal rein, bitte.«

»Ist Dill ein guter Mann?«, fragte Jetty.

»Ja. Ich bin sicher, er hat keine Verwendung für einen toten Nigger.«

Dill kam herein. »Ja, Doktor Reverend, Sir?«

»Erinnerst du dich noch an die Leiche von dem Schwarzen, die wir heute Morgen hergebracht haben?«, fragte Fondle.

»Erinnern? Wie denn ›erinnern‹?«

»Die Leiche ist weg«, sagte Sheriff Jetty. »Warst du den ganzen Tag an deinem Schreibtisch?«

»Yep. Hab dort sogar meinen Lunch gegessen. Eiersalat.«

»Nicht mal aufgestanden und scheißen gegangen?«

»Das mach ich jeden Abend um sieben, pünktlich wie ein Uhrwerk. Dann schau ich mir eine Wiederholung von Maverick an, und dann mache ich mir einen Teller Grießbrei.«

»Aus irgendeinem Grund mal das Büro verlassen?«

»Nein.«

»Du willst mir erzählen, dass zu keiner Zeit irgendwer an dir vorbei in diesen Raum hätte kommen können?«

»Genau das.«

»Hintertür?«

»Klemmt schon seit zwei Jahren fest«, sagte Fondle.

»Ein verdammtes Brandrisiko«, sagte Dill.

»Wo wohnst du, Dill?«, fragte der Sheriff.

»Ich wohne bei meiner Mama, am Rand von Change.«

»Ach, du bist Mavis Dills Sohn«, sagte Jetty.

Dill nickte.

»Wie geht’s ihr?«, fragte Jetty.

»Ist dick. Zufrieden. Dick. Wollt ihr mir erzählen, dass die Leiche von hier drin verschwunden ist?«

»Sieht ganz danach aus«, sagte Fondle.

»Irgendwelche Ideen?«, fragte Jetty Dill.

»Ich hab ihn nicht geklaut.«

»Ihr sagt, die Hintertür da ist verschlossen«, sagte Jetty.

»Festgeklemmt«, sagte Dill.

»Werfen wir trotzdem mal einen Blick drauf.« Jetty folgte Dill und Fondle durch einen schmutzigen, mit Gerätschaften vollgestellten Flur.

»Der Schalter ist irgendwo da drüben an der Wand«, sagte Fondle. Er griff hinter einen hohen Metallaktenschrank, fand den Schalter und knipste das Licht an. Die Leuchtstofflampen summten und flackerten.

Die Hintertür stand offen, das Schloss war eindeutig aufgebrochen, bei einem der verrosteten Türbänder sah man die Gewindebolzen.

»Nun guck sich einer das an!«, sagte Dill. »Die Tür da war seit zehn Jahren nicht mehr offen.«

Jetty untersuchte das Schloss. In das verrostete und schmutzbedeckte Loch war kein Schlüssel eingeführt worden. »Wer hätte die aufkriegen können?«

»Das Ding war festgeklemmt, und zwar richtig«, sagte Dill.

»So ist es«, sagte Fondle. »Ich sage euch, wer hier am Werk ist.«

»Der Teufel?«, fragte Dill.

Fondle nickte. »Der Teufel höchstpersönlich. Jesus steh uns bei.«

Jetty betrachtete den kleinen Betonabsatz vor der schweren Tür. »Dill, setz dich an deinen Schreibtisch und warte dort. Fass nichts an. Und wenn ich nichts sage, meine ich nichts.«

»Und ich?«, fragte Fondle.

»Du fasst auch nichts an.« Er benutzte erneut sein Telefon. »Hattie, sag Jethro, er soll mit seinem Fingerabdruck-Koffer hierherkommen.« Er steckte sein Telefon wieder ein und schüttelte den Kopf. »Herr des Himmels.«

5

Junior Juniors frischgebackene Witwe Daisy hielt in der Einfahrt von Wheat und Charlene Bryant. Sie weinte, als Charlene herauskam, um sie zu begrüßen.

»Wo bleibt Junior Junior mit den Schweinen?«, fragte Charlene. Dann sah sie die Tränen. »Was ist los? Hat er dich wieder geschlagen, dieser dreckige Schwanzlutscher? Ich schwöre, ich trete ihm in seinen lilienweißen Arsch.«

Daisy scheuchte die Kinder hinters Haus. »Das ist es nicht, Charlene. Er ist tot«, sagte sie.

»Wer ist tot?«, fragte Charlene.

Granny C kam in dem Rollstuhl, den sie im Haus verwendete, auf die Veranda gefahren. Wheat folgte ihr.

»Hey, Granny C. Hey, Wheat«, sagte Daisy.

»Wer ist tot, Daisy?«, fragte Charlene erneut.

»Junior Junior. Junior Junior ist tot, in unserem eigenen Haus von einem Nigger umgebracht. Junior Junior ist dahingegangen.«

»Du lieber Himmel«, sagte Wheat.

»Was ist passiert, Kind?«, fragte Granny C.

»Ach, Granny C, es war schrecklich, einfach nur schrecklich.« Daisy rannte auf die Veranda und legte den Kopf in den Schoß der alten Frau. »Ich war mit den Kindern beim Flohmarkt auf dem Parkplatz vom Sam’s Club. Du weißt schon. Ich bin früh hin, weil es da diese Trägertops im Sonderangebot gab, die Charlene immer trägt, und ich wollte ein limettengrünes, aber es gab nur noch blaue, taubenblaue. Im Sam’s Club waren die Schlangen riesig lang, und Triple J hat einen Rappel gekriegt, weil ich ihm keine sauren Skittles kaufen wollte. Die Leute haben uns angeguckt, als hätten sie noch nie ein Baby weinen sehen.«

»Die Leute sind einfach schrecklich«, sagte Granny C.

»Jetzt komm doch endlich mit der verdammten Geschichte zu Potte, Daisy«, sagte Wheat.

»Halt die Klappe, Junge«, sagte Granny C. »Erzähl weiter, Kind.«

»Wir kommen also nach Hause. Sie hatten ja keine limettengrünen. Das hab ich schon gesagt. Ich hab die Kinder im Garten gelassen und bin ins Haus gegangen. Ich hab gleich gewusst, dass irgendwas nicht stimmt, sowie ich drin war. Ich konnte irgendwas riechen, es fühlen. Ich bin durch die Küche ins Hinterzimmer gegangen, und da war er. Es war schrecklich.«

»Das hast du schon gesagt«, sagte Wheat. »Was war denn schrecklich?«

Granny C bedachte Wheat mit einem drohenden Blick.

Daisy fuhr sich mit den Fingern durch die Tränen in ihrem Gesicht und wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Ihr Mascara zog Streifen über ihr Gesicht. »Es war Junior Junior. Er lag ganz verdreht auf dem Boden, wie eins von diesen Gumby-Spielzeugen, die man so verbiegen kann. Überall war Blut. Sein Kopf war komplett eingeschlagen. So richtig total zermatscht wie eine Melone, die man mit dem Traktor überfahren hat.«

»Du lieber Gott«, sagte Charlene. »Ach, Daisy.«

Daisys Fünfjähriger kam vors Haus gerannt. »Mama, ich muss mal pinkeln.«

»Dann such dir verdammt nochmal einen Busch«, schrie Daisy. »Mein Gott.«

Der Junge rannte weg.

»Dann hab ich rübergeschaut, und da war dieser, dieser …« Daisy biss sich auf den Finger.

»Dieser was?«, sagte Charlene.

»Es war ein Nigger.«

»Der hat einfach dagestanden?«, fragte Wheat.

»Nein, dagelegen. Dagelegen. Der war auch tot. Fürchterlich zugerichtet und geschwollen und so tot, wie ich noch nie einen gesehen hab.«

»Du lieber Himmel«, sagte Charlene. »Hat Junior Junior ihn umgebracht?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Da ist noch was. O Gott. Junior Juniors Eier waren abgeschnitten.«

»Ach du Scheiße!« Wheat entfernte sich ein paar Schritte und kam zurück. »Seine Eier waren abgeschnitten? Seine Eier? Du meinst seine Klöten? Also da unten?«

»Er ist tot, Wheat«, sagte Charlene. »Das ist seine geringste Sorge.«

Granny Cs Gesicht war ausdruckslos, ohne Emotion.

Daisy zog den Kopf zurück und sah der alten Frau ins Gesicht. »Granny C? Granny C, alles in Ordnung?«

»Granny C?«, sagte Wheat.

»Hast du ihn erkannt?«, fragte Granny C.

»Wen?«

»Den Nigger, du dummes Stück.«

»Nein. Den hätte keiner erkennen können, so wie sein Gesicht zugerichtet war. Nicht mal seine eigene schwarze Mama hätte den gekannt. Ich versteh nicht, wieso das einen Unterschied macht, wer das ist. War. Junior Junior ist tot.«

»Halt die Klappe, dumme Nuss«, fauchte Granny C. »Roll mich mal jemand in das gottverdammte Haus.«

Wheat tat es.

»Was war das denn?«, fragte Daisy Charlene.

»Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Ich hab Granny C noch nie fluchen hören.« Charlenes Blick ging von dem schiefergrauen Himmel zu Daisys einfältigem Gesicht. »Na, was soll’s. Was für ein Scheißtag. Ist das Blut schon alles aufgewischt?«

6

Delroy Digby und Braden Brady lehnten an einem Streifenwagen und sahen zu, wie Red Jetty seinen Zwoeinviertel ein paar Meter von ihnen entfernt hinter dem Gebäude des Coroners parkte. Die Sonne versuchte gerade durchzukommen.

»Und?«, fragte Jetty.

»Wir haben überall gesucht«, sagte Brady.

»Wir haben Fußspuren gefunden, die vom Gebäude weg und ins Flussbett runterführen.«

»Keine Ahnung, wie alt die Spuren sind, aber sie waren nicht sehr tief. Kann nicht mehr als fünfzig Kilo gewogen haben«, sagte Brady.

»Allerhöchstens«, fügte Delroy hinzu.

»Das passt überhaupt nicht zusammen. Die Leiche wiegt allein schon an die siebzig. Eine kleine Frau oder ein großes Kind hätte die nicht tragen können. Oder einfach so die Tür aufbrechen.«

»Weiß auch nicht, was ich sagen soll, Sheriff«, sagte Delroy.

Jetty warf einen Blick zurück auf das Gebäude. »Jethro schon fertig mit den Fingerabdrücken?«

»Glaub schon«, sagte Brady. »Ist allerdings noch drin.«

»Ihr beiden Clowns sucht euch was zu tun.«

»Okay, Boss«, sagte Brady.

Drinnen fand der Sheriff Jethro vor, der sich am Waschbecken im Untersuchungsraum die Hände wusch. »Bist du fertig, Tull?«

»Yessir. Hier drin hab ich überall Abdrücke gefunden. Wie nicht anders zu erwarten. Bis zur Hintertür war alles staubbedeckt.«

»Willst du mir erzählen, dass dahinten keine Abdrücke sind?«

»Nein. Bestimmt sind da ein paar Abdrücke, aber wie ich schon gesagt hab, staubbedeckt. Der Staub ist unberührt, also ist dahinten nichts angefasst worden.«

»Bist du jetzt unter die Schlaumeier gegangen?«, fragte Jetty.

»Nein, Sir.«

»Wir wissen alle, dass du auf dem Junior College warst.«

Jethro seufzte. »Jedenfalls vermute ich, dass die Abdrücke, die ich gefunden habe, von Doktor Reverend Fondle und diesem Dill stammen.«

»Tja, gibt mir Bescheid«, sagte Jetty. Er schüttelte den Kopf. »Was für eine verdammte Schweinerei. Ein einziges Scheißdurcheinander.«

»Chief, ist Scheißdurcheinander ein Wort oder zwei?«, fragte Jethro.

»Was?«

»Egal.«

»Sieh zu, dass du ins Revier zurückkommst.«

»Yessir.«

7

Die Neuigkeit von Junior Junior Milams Tod verbreitete sich wie eine Krankheit im County. Genau wie die Geschichte von der seltsamen, abhandengekommenen schwarzen Leiche. Red Jetty wusste nicht, ob ein Fahndungsaufruf sinnvoll war, und gab daher keinen heraus, jedenfalls nicht offiziell. Stattdessen wies er seine drei Deputys an, abwechselnd in größer werdenden Kreisen durch die Stadt zu fahren. Das Foto des Schwarzen, das er ihnen gab — als ob eins gebraucht würde —, schaffte es in die Lokalzeitung, den Money Clip. Von dort griffen die Nachrichtenagenturen, dann das Internet und die Fernsehnachrichten das Bild auf. Es war eine verrückte Geschichte, und sie ließ die Einwohner von Money, Mississippi, als Verrückte dastehen, und das regte Jetty auf. Genau wie den Bürgermeister, Philwort Bass.

Bass tigerte in Jettys Büro hin und her. »Ich kapiere nicht, wie du das zulassen konntest.«

»Was genau?« Jetty lehnte sich, die Stiefel auf dem Schreibtisch, in seinem spezialangefertigten Drehstuhl zurück.

»Was genau?«, fragte Bass. »Ich sag dir, was genau. Dass ein Toter aus deinem Gewahrsam entkommen ist. Offensichtlich war er nicht tot.«

»Hat Fondle aber gesagt.«

»Dieser Quacksalber? Hast du das denn nicht überprüft?«

»Ist nicht mein Job. Außerdem, wenn du ihn gesehen hättest, hättest sogar du gewusst, dass er tot ist. Du hast doch das Bild gesehen.«

»Ja, habe ich. Zusammen mit jeder anderen gottverdammten Person in diesem gottverdammten County. Er hat mausetot ausgesehen, das geb ich zu, aber offensichtlich war er’s nicht.«

»Tja, es hat ihn aber keiner zucken oder furzen sehen, als sie ihn in den Sack gesteckt haben. Obwohl er ziemlich fürchterlich gerochen hat. Wie ein Eichhörnchen, das in einer Wand verendet ist. Wenn der Mann nicht tot war, dann bin ich ein rothäutiger Indianer.«

»Ich kriege Anrufe aus dem State Capitol«, sagte Bass.

»Haben die ihn gesehen?«

»Nein, die fragen nur ständig, ob wir Hilfe brauchen, ob die Provinzjockel am Tallahatchie Hilfe brauchen. Was soll ich ihnen sagen?«

»Sag ihnen, dass die Provinzjockel überall suchen, aber den lebenden toten Neger einfach nicht finden können.«

»Das ist kein Witz. Wir sind verdammt nochmal zum Gespött des ganzen Landes geworden. Du, Sheriff, du bist in den Augen der Strafverfolgungsbehörden des Staates — was sag ich, der nationalen Strafverfolgungsbehörden — ein Clown. Was sagst du dazu?«

Jetty lächelte den trägen Deckenventilator an und tat so, als bliese er Rauchringe. »Herr Bürgermeister, wir sind hier im souveränen Staat Mississippi. Da gibt’s keine Strafverfolgungsbehörden, da gibt’s bloß Rednecks wie mich, die von Rednecks wie dir bezahlt werden.«

»Tja, diese nichtexistierenden Strafverfolgungsbehörden schicken welche, die dir bei deinen Ermittlungen helfen.«

»Das MBI?«

»Kommen aus Hattiesburg. Sind morgen Vormittag da.«

Jetty stellte die Füße auf den Boden, stützte die Ellbogen auf die Knie. »Das ist ja entzückend. Großstadtbullen kommen hierher zum Arsch der Welt, um den Hinterwäldlern zu helfen. Keine Sorge. Ich bin nett zu den Scheißern.«

8

Ed Morgan bestand darauf, mit seinem Privatwagen zu fahren. Die Autos des Bureaus hatten Normalmaße, aber seine eins siebenundneunzig große und hundertfünfunddreißig Kilo schwere Gestalt passte einfach nicht hinein. Jim Davis saß auf dem Beifahrersitz, sein Ellbogen ragte aus dem Fenster. Obwohl er von durchschnittlicher Größe war, drückten sich seine Knie gegen das Handschuhfach, weil der Sitz kaputt war und sich nicht nach hinten verschieben ließ. Er öffnete die Hand und ließ sie von der Luft bewegen.

»Du weißt schon, dass die Klimaanlage an ist«, sagte Ed.

»So nennst du das Scheißding? Der Atem von meinem Hund ist kühler als das, was aus den Lüftungsschlitzen rauskommt. Ich hasse die Scheißkarre.«

»Der Wagen ist bequem.«

»Du musst den Sitz reparieren lassen.«

»Der Wagen ist bequem.«

»Es ist ein zehn Jahre alter Toyota Sienna. Im Wörterbuch illustriert man damit das Wort unbequem. Ich komme mir vor, als fehlten bloß noch ein paar Kinder auf dem Rücksitz.« Jim blickte zurück und sah, dass sich hinter Ed tatsächlich eine Kindersitzerhöhung befand.

»Ich sitze nicht gern so beengt«, sagte Ed.

»Dann musst du dreißig Kilo abnehmen. Was ist mit mir?«

»Ist gut jetzt.«

Ed und Jim waren nicht offiziell Partner, wurden aber häufig zusammengespannt, weil es anderen schwerfiel, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Tatsächlich mochten sie einander sogar, obwohl unklar war, ob sie beide sonst noch jemanden mochten. Und, noch wichtiger, sie vertrauten einander. Jeder wusste, dass der andere nicht nur ein guter Cop, sondern auch ausgebufft war und bei brenzligen oder gefährlichen Situationen rasch in Aktion trat.

Jim steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie jedoch nicht an; er versuchte gerade aufzuhören. »Wir werden diese Weißbacken ohne Ende in Verwirrung stürzen, wenn wir mit dem Auto von deiner Mom in der Stadt aufkreuzen. Warst du schon mal in Money?«

»Ach was«, sagte Ed, »bis heute Morgen hatte ich noch nicht mal von Money, Mississippi, gehört. Und hör endlich auf, meinen verdammten Wagen runterzumachen. Er ist bequem. Mir egal, was du sagst. Die Karre hat dreihunderttausend Meilen auf dem Tacho.«

»Tausend für jedes Pfund von deinem fetten Hintern.«

Ed warf Jim einen bösen Blick zu. »Schlag mal die verdammte Akte auf und erinnere mich daran, womit wir’s hier zu tun kriegen.«

Jim zog den dünnen blauen Ordner aus seinem Aktenkoffer und schlug ihn auf. »Wie’s scheint, haben die Bauerntrampel eine Leiche verschüttgehen lassen. Mord. Alles ziemlich grausig, wenn die Fotos hier echt sind. Ein Weißer namens Milam wurde bei sich zu Hause umgebracht. Von seiner Frau gefunden. Am Tatort befand sich außerdem noch die Leiche eines Schwarzen.«

»Hat ein und dieselbe Person beide umgebracht?«

»Steht hier nicht. Hier steht allerdings, dass dem Weißen die Hoden abgetrennt worden sind und der Schwarze sie in der Hand hielt.«

Ed stieß einen Pfiff aus. »Autsch. Das ist allerdings abartig. Vielleicht haben sie sich gegenseitig umgebracht? Wessen Leiche fehlt?«

»Die des Schwarzen. Oder, wie es hier heißt, ›die Leiche der Person afroamerikanischer Abstammung scheint abhandengekommen zu sein‹.«

»Todesursache?«

»Wird nicht genannt. Für beide nicht. Beide sind übel verprügelt worden«, sagte Jim.

»Was meinst du?«, fragte Ed und betrachtete vom Fahrersitz aus die Fotos auf dem Schoß seines Partners.

»Hey, ich lese bloß den Bericht vor, Motherfucker. Und schau gefälligst auf die Straße. Die Leiche des Schwarzen ist aus der städtischen Leichenhalle verschwunden. Offenbar gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass dort jemand eingebrochen ist.«

»Offensichtlich war der Brother nicht tot«, sagte Ed. »Hatte er die Klöten von der Weißbacke noch in der Hand, als er sich vom Acker gemacht hat?«

»Steht hier nicht.«

Ed kurbelte sein Fenster ein Stück weit herunter. »Du hast recht, es ist ein bisschen stickig hier drin.«

»Gottverdammmich«, sagte Jim. »Der Schwarze war allerdings richtig übel zugerichtet. Der toteste Motherfucker, der mir je untergekommen ist, so wie der aussah.«

»Ich hoffe zu Gott, wir müssen nicht in diesem Provinzkaff übernachten«, sagte Ed, während sie an einem einstmals bunten Schild mit der Aufschrift Willkommen in Money. Es ist einen Besuch wert! vorbeifuhren.

»Drück uns die Daumen.«

Das nächste Schild war eine Reklametafel mit der Aufschrift Angel dir auf dem Little Tallahatchie einen Katzenwels! Schmeckt lecker! Schau im Dinah vorbei!

»Jesus, erbarme dich«, sagte Ed.

»Du weißt doch, dass du es willst«, sagte Jim.

»Halt dein verdammtes Maul.« Ed funkelte seinen Partner an, dann lachten sie beide. »Ja, du hast recht.«

9

»Nun mach schon, Wheat, es gibt noch andere Leute im Haus, die mal müssen!«, brüllte Charlene die geschlossene Tür an. »Was treibst du denn dadrin?«

»Sag dem Blödmann, er soll rauskommen«, sagte Granny C. Inzwischen benutzte sie ihr Gehgestell. Der Rollstuhl passte nicht durch die Badezimmertür. »Sag dem verdammten Blödmann, ich muss pinkeln und außerdem groß.«

»Hot Mama Yeller, ich muss ganz dringend pinkeln«, sagte der kleine Wheat Junior.

»Geh raus und pinkle in die Büsche«, blaffte Charlene. Wieder hämmerte sie gegen die Tür. »Wheat?«

»Ich hör nichts«, sagte Granny C.

»Da stimmt was nicht«, sagte Charlene. »Ihr Kinder geht mal raus«, sagte sie zu ihren drei Töchtern. Dann ging sie zur Garderobe an der Haustür und schnappte sich einen Kleiderbügel. »Wheat, ich komme jetzt rein.« Sie bog den Haken des Kleiderbügels gerade und führte den Draht in das Schlüsselloch im Knauf ein. Klick.

»Na bitte«, sagte Granny C.

Charlene drückte gegen die Tür, doch die gab nicht nach. »Was zum Geier?«, sagte sie. »Sie geht nicht auf.«

»Drück fester, Mädchen«, sagte Granny C.

»So viel wiege ich nicht«, sagte Charlene.

»Du wiegst mehr als genug.«

»Miststück«, stieß Charlene leise hervor.

»Wie war das?«

»Egal.« Charlene stemmte zwecks Hebelwirkung die Füße gegen die gegenüberliegende Wand und war so imstande, die Tür mehrere Zentimeter weit aufzudrücken.

»Da ist Blut auf dem Boden!«, sagte Granny C. »Du lieber Himmel!«

»Wheat!«, schrie Charlene. »Wheat, Baby.« Sie schaffte noch ein paar Zentimeter und konnte den Kopf ins Bad stecken. Sie schrie. »Ach du heilige Scheiße!«

»Na, na!«, sagte Granny C.

»Leck mich, alte Lady. Wheat ist tot!«

»Was? Du meine Güte!«

Charlene stolperte über ihre eigenen Füße, so sehr beeilte sie sich, zu dem Telefon an der Wand in der Küche zu kommen. »Mein Mann ist auf dem Scheißhaus, und er ist tot«, sagte sie. »Ich wohne am Ende der Nickel Road. Ich weiß nicht, was passiert ist. Er ist einfach tot dadrin. Ich glaube, er ist tot. Sieht jedenfalls tot aus. Da ist überall Blut!«

Eine Hand noch immer am Gehgestell, drückte Granny C gegen die Badezimmertür. »Wheat? Steh auf.«

»Was ist los, Hot Mama Yeller?«, fragte eine der Töchter, die hereingekommen war. »Ist irgendwas mit Wheat?«

»Mach, dass du rauskommst, Lulabelle!«

Charlene rannte zurück zur Badezimmertür und drückte weiter dagegen.

»Drück fester, Mädchen«, sagte Granny C.

»Warum hilfst du mir nicht?«, sagte Charlene.

Granny C ließ ihr Gehgestell los und stemmte beide Handflächen gegen die Tür, aber es half nichts. »Jesus, Maria und Josef.«

10

Delroy Digby und Braden Brady eilten aus dem Polizeirevier. Brady stieß mit Ed Morgan zusammen und prallte von ihm ab. Er wurde für einen Augenblick wütend, dann sah er, wie groß der Mann war, der ihn zu Fall gebracht hatte.

»Mach schon, Brady«, sagte Delroy. »Wir müssen los.«

Ed und Jim gingen weiter und betraten das trübe beleuchtete Polizeirevier. Sie wurden von einer großen Frau mit schmalen Schultern und einer Katzenaugen-Brille an einer Kette begrüßt. »Kann ich den Herren helfen?«, fragte sie.

»Wir hätten gern Sheriff Jetty gesprochen«, sagte Jim.

»Ich schaue mal nach, ob er da ist.« Sie ging zu der offenen Tür, die ins Büro des Sheriffs führte, und sagte: »Zwei Männer wollen Sie sprechen. Sind Sie da?«