Die bekannte Welt - Edward P. Jones - E-Book

Die bekannte Welt E-Book

Edward P. Jones

0,0
21,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Eines der seltenen Bücher, die Wunden aufreißen und zugleich heilen.« Oprah Magazine  Henry Townsend, ein ehemaliger Schuhmacher und Sklave, ist selbst Sklavenhalter und Besitzer einer Farm geworden. Als er stirbt, zerbricht das fragile Gefüge. Seine Witwe Caldonia erstarrt in Trauer; Sklaven entfliehen; Familien, die unter dem Gewicht der Unfreiheit zusammenhielten, beginnen einander zu betrügen; weiße Patrouillen sehen zu, wie freie Schwarze in die Sklaverei verkauft werden.   Edward P. Jones' Meisterwerk handelt davon, wie die Institution der Sklaverei ihre eigene Welt errichtet, wie sie die Gedanken, Körper und Seele eines jeden Menschen – frei oder unfrei – durchdringt. Die bekannte Welt ist einer der bedeutendsten amerikanischen Romane der vergangenen Jahrzehnte – eine bleibende, leuchtende Charakterstudie, die eine ganz und gar spezifische, glaubwürdige und komplexe Welt in vollendet schöner Prosa erschafft. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die bekannte Welt

Edward P. Jones, geboren 1950 in Washington, D.C., arbeitete 19 Jahre lang als Lektor und Korrektor für das Wirtschaftsmagazin Tax Notes. Für seinen ersten Erzählband Lost in the City erhielt er den PEN/Hemingway Award. Sein Romandebüt Die bekannte Welt, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hat, wurde u.a. mit dem Pulitzer-Preis für Literatur ausgezeichnet und von der BBC zu einem der bislang bedeutendsten Werke des 21. Jahrhunderts gewählt.Hans-Christian Oeser, geboren 1950, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. F. Scott Fitzgerald, D.H. Lawrence, Ian McEwan, Mark Twain, Oscar Wilde und Virginia Woolf übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er zuletzt mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.

Die bekannte Welt im Jahr 1855 in Virginia: Wenigen Schwarzen gelingt es, sich die Freiheit zu erkaufen. Einzelne von ihnen halten selbst Sklaven.Henry Townsend liegt in seinem Wohnhaus auf seiner Baumwollplantage im Sterben. Seinem Vater Augustus, einem begabten Tischler, war es gelungen, erst sich selbst, dann seine Frau und Jahre später auch seinen Sohn aus der Sklaverei freizukaufen. Henry entschied sich, Sklaven zu halten, um ein besserer Master zu werden, als ein Weißer es je sein könnte. Seine Sklaven sollen seine Schützlinge sein und er ihr guter Hirte, der sie mit Essen und Arbeit versorgt und ohne jede Gewalt führt. Doch das unmenschliche System der Sklaverei kann keine Menschlichkeit hervorbringen. Es bestimmt das Leben eines jeden, der darin verstrickt ist.Ausgehend von einer nahezu unbekannten historischen Fußnote erzählt Edward P. Jones eine Geschichte aus der späten Zeit der amerikanischen Sklaverei – unmittelbar, bedrückend und von beispielloser Kraft. Die bekannte Welt ist eine literarische Sensation, vielfach ausgezeichnet und in überarbeiteter Übersetzung doch noch zu entdecken.

Edward P. Jones

Die bekannte Welt

Roman

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2004unter dem Titel The Known Worldim Verlag Amistad/HarperCollins, New York.© 2003 by Edward P. Jones© der deutschsprachigen Ausgabe 2005by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg© der deutschsprachigen Übersetzung by Hans-Christian Oeser© der aktualisierten deutschsprachigen Neuausgabe 2023by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text undData Mining im Sinne von § 44 b UrhG ausdrücklich vor.Autorinfoto: © Julie ZimmermannE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3045-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Personenverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Meinem Bruder Joseph V. Jonesund, zum wiederholten Male,dem Gedächtnis unserer MutterJeanette S. M. Jones,die in einer besseren Weltso viel mehr erreicht hätte

Motto

My soul’s often wondered how I got over …

Spiritual

 

Hinweis

Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um eine durchgesehene und geringfügig korrigierte Fassung der Übersetzung aus dem Jahr 2005. Ziel ist dabei eine Sprache, die den Gewaltstrukturen des Vergangenen wie des Gegenwärtigen Rechnung trägt.

Dabei wurden, dem Autor folgend und dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend, einige rassistische Bezeichnungen beibehalten – besonders wo es sich um Figurenrede und den Ausdruck der im gesellschaftlichen Alltag vorherrschenden rassistischen Hierarchien handelt.

1

Eine Liaison. Die Wärme der Familie. Stürmisches Wetter.

Am Abend, als sein Herr starb, arbeitete er wie immer weiter, nachdem er die anderen Erwachsenen, darunter seine Frau, nach beendetem Tagwerk hungrig und erschöpft zu ihren Hütten zurückgeschickt hatte. Die Kleinen, unter ihnen auch sein Sohn, waren etwa eine Stunde vor den Erwachsenen von den Feldern geschickt worden, um das späte Abendessen vorzubereiten und, falls genügend Zeit blieb, die letzten paar Minuten in der Sonne zu spielen. Als er, Moses, sich endlich von dem uralten, brüchigen Geschirr befreite, das ihn an das älteste Maultier seines Herrn fesselte, war von der Sonne nur noch ein schmaler Saum rotoranger Erinnerung zu sehen, der zwischen zwei Bergen zur Linken und einem zur Rechten in reglosen Wellen über dem Horizont lag. Vierzehn lange Stunden hatte er auf den Feldern verbracht. Eingehüllt von der Abendstille, hielt er einen Moment inne, bevor er die Felder verließ. Das Maultier zitterte, es wollte nach Hause und sich ausruhen. Moses schloss die Augen, bückte sich, nahm eine Handvoll Erde auf und verzehrte sie ebenso gedankenlos, als wäre sie ein Stück Maisbrot. Er schob die Erde im Mund hin und her und schluckte sie hinunter, dabei neigte er den Kopf zurück und öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Sonnenstreif dunkelblau verfärbte und dann auflöste. Er war in der Gegend der einzige Mann, ob versklavt oder frei, der Erde aß; doch während die Sklavinnen, besonders die Schwangeren unter ihnen, sie aus einem unerklärlichen Bedürfnis nach dem nährenden Etwas verspeisten, das Maiskuchen, Äpfel und Rückenspeck ihren Körpern vorenthielten, aß er sie nicht nur, um die Stärken und Schwächen des Ackers zu prüfen, sondern weil ihr Verzehr ihn an das Einzige band, das ihm in seiner kleinen Welt fast ebenso viel bedeutete wie das eigene Leben.

Es war Juli, und die Juli-Erde schmeckte fast noch stärker nach gesüßtem Metall als die Erde im Juni oder Mai. In den wachsenden Feldfrüchten wurde etwas Metallisches freigesetzt, das sich erst gegen Mitte August zu verströmen begann und sich zur Erntezeit ganz verflüchtigen würde, abgelöst von einem säuerlichen Moder, den Moses mit dem Nahen von Herbst und Winter verband, dem Ende einer Beziehung, die mit dem ersten Erdgeschmack im März, vor dem ersten heftigen Frühlingsregen, begonnen hatte. Jetzt, da die Sonne untergegangen war und ihn ein mondloses Dunkel angenehm umfing, lief er, das Maultier am Schwanz haltend, bis zum Ende der Furche. Auf der Lichtung ließ er den Schwanz los und ging um das Maultier herum zum Stall.

Das Maultier folgte ihm, und als Moses das Tier für die Nacht versorgt hatte und wieder ins Freie trat, roch er den kommenden Regen. Er atmete tief ein und spürte, wie die Luft ihn durchströmte. Da er sich allein glaubte, lächelte er. Er kniete nieder, um der Erde näher zu sein, und atmete ein weiteres Mal tief ein. Als die Wirkung nachzulassen begann, stand er schließlich auf und wandte sich, nun schon zum dritten Mal in dieser Woche, von dem Pfad ab, der zu der schmalen Gasse der Sklavenquartiere und zu seiner eigenen Hütte, seiner Frau und seinem Jungen führte. Seine Frau wusste bereits, dass sie mit dem Essen nicht auf ihn zu warten brauchte. In einer Mondnacht konnte er von der Gasse, die seine Welt war – Unterkunft, Verpflegung, Nachtruhe und das, was in vielen Hütten als Familienleben galt –, einige Rauchfahnen aufsteigen sehen. Er neigte den Kopf leicht nach rechts und glaubte den Lärm spielender Kinder zu hören, doch als er ihn wieder hob, vernahm er weit deutlicher den letzten Tagesvogel, der fernab, in dem kleinen Wäldchen links von ihm, sein Abendlied zwitscherte.

Moses lief geradeaus zum äußersten Rand der Maisfelder und zu einem Waldstück, das noch keinen rechten Ertrag geliefert hatte, seit sein Herr es einem bankrotten Weißen abgekauft hatte, der nach Irland zurückgekehrt war. »Ich hab’s zu was gebracht da drüben«, hatte der Mann seine Verwandten in Irland angelogen, während seine todkranke Frau zusammengekrümmt neben ihm stand, »aber ich hab mich so nach euch gesehnt und nach dem Reichtum meiner Heimat.« Das nicht mehr als drei Morgen große Waldstück brachte weiches Blaugras hervor, das kein Tier anrührte, und zahlreiche Bäume, die niemand zu bestimmen vermochte. Kurz bevor Moses in den Wald trat, setzte der Regen ein, und während er weiterging, wurde der Regen immer stärker. Als er schon ein Stück weit im Wald war, strömte der Regen sintflutartig durch das mächtige Sommerlaub der Bäume, und nach einer Weile blieb Moses stehen, streckte die Hände aus und sammelte etwas Wasser, mit dem er sich das Gesicht wusch. Dann zog er sich splitternackt aus und legte sich hin. Damit der Regen nicht in seine Nase lief, rollte er sein Hemd zusammen und stopfte es sich unter den Kopf. Dadurch neigte sich dieser gerade so weit nach vorn, dass der Regen an Moses’ Gesicht herabfloss. Als alter Mann, wenn das Rheuma seinen Körper in Ketten legte, würde er zurückblicken und sie Abenden wie diesen anlasten, Nächten, in denen er sich vollkommen vergaß und einnickte und erst am Morgen wieder zu sich kam, vom Tau bedeckt.

Der Erdboden war fast aufgeweicht. Das Laub schien den heftigen Fall des Regens zu mildern und auf seinen Körper und sein Gesicht nicht stärker einzuprasseln als sanftes Fingergetrommel. Er öffnete den Mund: Es geschah nur selten, dass er und der Regen sich so begegneten. Die Augen behielt er offen, und nachdem er sich, ohne den Kopf zu wenden, in alle Richtungen umgeschaut hatte, nahm er sein Ding in die Hand und tat es. Als er nach nur wenigen rhythmischen Bewegungen fertig war, schloss er die Augen, legte sich auf die Seite und döste vor sich hin. Nach etwa einer halben Stunde hörte der Regen unvermittelt auf, es trat eine tiefe Stille ein, und diese Stille weckte ihn. Widerstrebend wie immer rappelte er sich auf. Um seinen Körper herum war alles Schlamm und Laub und abgebrochene Zweige, denn ein Wind hatte den Regen durch den Wald gejagt. Als er sich mit der Hose abwischte, musste er daran denken, wie er das letzte Mal so dagelegen hatte. Damals hatte der Regen lange genug angedauert, um ihn sauber zu waschen. Und er war von einem noch größeren Glücksgefühl erfasst worden, lachend war er so ungestüm herumgewirbelt, dass ein Beobachter es für eine Art Tanz hätte halten können. Er wusste es nicht, doch genau in diesem Augenblick beobachtete ihn Alice, eine Frau, von der es hieß, sie habe den Verstand verloren. Zum ersten Mal in den sechs Monaten, da sie nachts umherirrte, war sie auf ihn gestoßen. Selbst wenn er sie in der Nähe gewusst hätte – so viel Verstand, um zu durchschauen, was er da trieb, hätte er ihr nicht zugetraut; zu fest hatte, wie man sich erzählte, das Maultier sie getreten, damals auf der Pflanzung in einem fernen County, an dessen Namen nur sie sich erinnerte. In ihren lichteren Momenten, die, seit Moses’ Herr sie gekauft hatte, nur noch sehr selten waren, konnte Alice jenen Sonntag, als das Maultier ihr einen Tritt gegen den Kopf versetzt und sie um den gesunden Menschenverstand gebracht hatte, in allen Einzelheiten schildern. Niemand zog ihre Geschichte in Zweifel, da sie so anschaulich, so traurig war – eine weitere Sklavin ohne Freiheit, und jetzt war ihr Verstand so verwirrt, dass sie durch die Nacht irrte wie eine Kuh ohne Glocke. Den Ort, aus dem sie stammte, kannte niemand gut genug, um zu wissen, dass ihr früherer Herr panische Angst vor Maultieren gehabt hatte und deshalb auf seinem Hof keine hielt; sogar Bilder von Maultieren und Bücher über sie hatte er aus seiner kleinen Welt verbannt.

Moses verließ den Wald und schritt durch noch tiefere Finsternis zu den Quartieren. Er brauchte keinen Mond, der seinen Weg erhellte. Er war fünfunddreißig Jahre alt und jede Minute seines Lebens jemandes Sklave gewesen, erst der Sklave eines Weißen, dann der Sklave eines anderen Weißen und jetzt, seit nunmehr fast zehn Jahren, Sklavenaufseher eines schwarzen Herrn.

Caldonia Townsend, die Gattin seines Herrn, hatte in den vergangenen sechs Tagen und Nächten, da ihr Mann seine schwere Todesreise antrat, nur ein wenig dösen können. Ihrer Mutter zu Gefallen, die an die Zauberkunst der Weißen glaubte, war am Morgen des ersten Tages der Arzt der Weißen eingetroffen, doch der hatte lediglich verkündet, Moses’ Herr, Henry Townsend, leide unter einem schlimmen Anfall, von dem er alsbald genesen werde. Weiße und Schwarze hatten unterschiedliche Krankheiten; von jemandem, der sich auf die einen spezialisierte, wurde nicht verlangt, dass er sich auch bei den anderen auskannte, und das hätte Caldonia, wie er meinte, wissen können, auch ohne es eigens gesagt zu bekommen. Falls ihr Mann im Sterben lag, wusste der Arzt jedenfalls nichts davon. Und in der Hitze des Tages fuhr er wieder fort, nicht ohne von Caldonia 75 Cent eingestrichen zu haben, 60 Cent dafür, dass er Henry untersucht hatte, und 15 Cent für die Strapazen, die er, sein Einspänner und sein einäugiges Pferd auf sich genommen hatten.

Henry Townsend – ein Schwarzer von einunddreißig Jahren mit dreiunddreißig Sklaven und mehr als fünfzig Morgen Land, was ihn in Manchester County, Virginia, weit über viele andere, ob weiß oder schwarz, erhob – saß die letzten Tage vor seinem Tod meist im Bett, löffelte wässrige Hafergrütze und blickte aus dem Fenster auf Ländereien hinaus, die er, wie seine Frau Caldonia ihm versicherte, bald wieder zu Fuß und zu Pferde durchstreifen würde. Aber sie war jung, voll naiver Lebenskraft und hatte bis dahin nur einen Tod miterlebt, den ihres Vaters, der von der eigenen Frau heimlich vergiftet worden war. Am vierten Tag seiner Todesreise fand Henry es mühsam, aufrecht zu sitzen, und legte sich hin. Die Nacht verbrachte er damit, seine Frau zu beruhigen. »Mir tut nichts weh«, sagte er mehr als einmal an jenem Tag, einem Tag im Juli 1855. »Mir tut wirklich nichts weh.«

»Würdest du’s mir denn sagen?«, fragte Caldonia. Es war gegen drei Uhr morgens, rund zwei Stunden nachdem sie Loretta, ihre von Henry in die Ehe eingebrachte persönliche Dienerin, für den Abend entlassen hatte.

»Es war noch nie meine Art, dir die Wahrheit zu verschweigen«, sagte Henry an jenem vierten Abend. »Und jetzt fang ich damit auch nicht mehr an.« Mit zwanzig, einundzwanzig Jahren war er in den Genuss einer Ausbildung gekommen und gerade hinreichend geschult, um eine Ehefrau wie Caldonia zu würdigen, eine frei geborene Schwarze, die von klein auf Schulunterricht bekommen hatte. Eine Frau zu finden hatte auf der Liste mit Dingen, die er in seinem Leben zu tun beabsichtigte, ganz am Ende gestanden. »Warum gehst du nicht ins Bett, Schatz?«, fragte Henry. »Ich fühl, wie mich der Schlaf überkommt, und du brauchst nicht zu warten, bis er da ist.« Er lag in dem Zimmer, das die Haussklaven das »Zimmer zum Kranksein und« Wiedergesundwerden nannten und in das er am ersten Tag seiner Krankheit umgezogen war, um Caldonia nachts mehr Ruhe zu gönnen.

»Ich bin gern hier«, antwortete sie. Die Nacht war kühler geworden, und er trug frische Nachtgewänder, nachdem er die, die ihm gegen neun Uhr angezogen worden waren, durchgeschwitzt hatte. »Soll ich dir vorlesen?«, fragte Caldonia. Um die Schultern trug sie ein Tuch aus Spitze, das Henry in Richmond gesehen hatte. Er hatte einen weißen Knaben dafür bezahlt, in das Geschäft des weißen Mannes zu gehen und es an seiner statt zu kaufen, da der Laden schwarze Kunden nicht bediente. »Ein bisschen Milton? Oder die Bibel?« Sie hatte es sich in einem großen, mit Pferdehaar gepolsterten Sessel bequem gemacht, den sie an sein Bett gerückt hatte. Zu beiden Seiten des Bettes standen kleine Tischchen, gerade groß genug für ein Buch und einen Kandelaber mit drei Kerzen, die so dick waren wie das Handgelenk einer Frau. Der Kandelaber auf der rechten Seite war erloschen, in dem linken brannte nur noch eine Kerze. Der Kamin war erkaltet.

»Von Milton hab ich genug«, sagte Henry. »Und die Bibel hör ich lieber tagsüber, wenn die Sonne scheint und ich alles sehen kann, was Gott mir geschenkt hat.« Zwei Tage vorher hatte er seine Eltern nach Hause geschickt, es gehe ihm schon besser, und er hatte wirklich eine deutliche Besserung verspürt, doch schon am nächsten Tag, als seine Eltern bereits wieder zu Hause waren, hatte sein Gesundheitszustand sich erneut verschlechtert. Seinem Vater stand er schon seit über zehn Jahren nicht mehr sonderlich nahe; wenn dieser jedoch erfuhr, dass sein eigen Fleisch und Blut erkrankt war, bewies er genügend Stärke, um die Enttäuschung über seinen Sohn vorübergehend zu vergessen. Tatsächlich hatte sein Vater ihn immer nur dann auf der Plantage besucht, wenn es ihm schlecht ging. Im Lauf von etwa zehn Jahren sieben Mal. Wann immer Henrys Mutter allein zu Besuch kam, ob er nun krank war oder nicht, übernachtete sie im Haus, nur zwei Türen von Henrys und Caldonias Zimmer entfernt. An dem Tag, als Henry seine Eltern bat, wieder heimzufahren, waren sie nach oben gekommen und hatten ihm jeder einen Abschiedskuss auf das lächelnde Gesicht gedrückt, seine Mutter auf die Lippen und sein Vater auf die Stirn, so wie sie es seit Henrys Kindertagen gehalten hatten. Seine Eltern hatten noch nie gemeinsam in dem Haus genächtigt, das er mit Moses, dem Sklaven, gebaut hatte, sondern es immer vorgezogen, in irgendeiner leer stehenden Hütte in den Quartieren zu schlafen. Und so würden sie es auch halten, wenn sie kämen, ihr einziges Kind zu begraben.

»Soll ich singen?«, fragte Caldonia, streckte den Arm aus und berührte seine Hand, die auf der Bettkante ruhte. »Soll ich dir vorsingen, bis die Vögel erwachen?« Sie war von einer freigelassenen Schwarzen unterrichtet worden, die ihrerseits in Washington, D. C., und in Richmond erzogen worden war. Nach einem Besuch bei den Townsends drei Tage zuvor war diese Frau, Fern Elston, auf ihre eigene Plantage in Manchester County zurückgekehrt, um weiterhin einen Teil ihres Lebensunterhalts mit Unterricht für freigelassene schwarze Kinder zu verdienen, deren Eltern es sich leisten konnten. Caldonia sagte: »Du glaubst, du hättest alle meine Lieder schon gehört, Henry Townsend, aber das hast du nicht. Hast du wirklich nicht.« Fern Elston hatte einen Mann geheiratet, der angeblich Farmer, in Wirklichkeit jedoch mit ganzer Seele Glücksspieler war, und in jenen Augenblicken, da sie ihre Liebe zu vergessen vermochte und ihren Mann als das erkannte, was er war, sagte sich Fern, er werde sie noch einmal ins Armenhaus bringen. Fern und ihr Mann hatten zwölf Sklaven in ihrem Besitz. 1855 gab es in Manchester County, Virginia, vierunddreißig Familien freier Schwarzer, bestehend aus Mutter, Vater und einem oder mehreren Kindern; acht von diesen freien Familien besaßen Sklaven, und alle acht wussten übereinander Bescheid. Als der Krieg zwischen den Staaten ausbrach, verringerte sich die Anzahl der sklavenhaltenden Schwarzen in Manchester auf fünf. Einer von diesen war ein ausgesprochen mürrischer Mann, der, zufolge der amerikanischen Volkszählung von 1860, rechtmäßiger Besitzer seiner Frau, seiner fünf Kinder und seiner drei Enkelkinder war. Für Manchester County ergab die Volkszählung von 1860 insgesamt 2670 Sklaven, doch an dem Tag, als der Volkszähler, ein gottesfürchtiger Bundesvollzugsbeamter, seinen Bericht nach Washington, D. C., absandte, hatte er mit seiner Frau gestritten und sich völlig verrechnet, weil er versäumte, die Eins im Sinn zu behalten.

Henry sagte: »Nein. Das Singen sparst du dir lieber für ein andermal auf, Schatz.« Am liebsten hätte er mit ihr geschlafen, sich aus eigener Kraft von seinem Krankenlager aufgerafft und seine Frau zu sich in das Bett geholt, in dem sie ihr ganzes Eheleben über glücklich gewesen waren. Bei seinem Tod, am siebenten Tag spätabends, würde Fern Elston mit Caldonia in seinem Sterbezimmer weilen. »Ich habe immer gefunden, dass du recht daran getan hast, ihn zu heiraten«, würde Fern in den ersten Phasen ihrer Trauer um Henry, einen ehemaligen Schüler, sagen. Nach dem Krieg zwischen den Staaten würde sie einem Verfasser von Flugschriften, einem weißen Einwanderer aus Kanada, erzählen, Henry sei der begabteste unter ihren Schülern gewesen, weshalb sie ihn auch kostenlos unterrichtet habe. Loretta, Caldonias Dienerin, würde bei Henrys Tod ebenfalls zugegen sein, aber stumm bleiben. Nach einer Weile würde sie ihrem Herrn lediglich die Augen zudrücken und sein Gesicht mit einer Patchworkdecke verhüllen, einem Weihnachtsgeschenk dreier Sklavinnen, das diese in nur vierzehn Tagen angefertigt hatten.

Moses lief durch die Gasse der Sklavenquartiere zu seiner Hütte, die dem Haus, in dem sein Herr und seine Herrin wohnten, am nächsten lag. Auf einem feuchten Baumstumpf vor der Hütte nebenan saß Elias und schnitzte aus einem Stück Kiefernholz den Leib einer Puppe – ein Geschenk für seine Tochter, das erste, das er ihr je machen würde. An einem Nagel neben der Tür hing eine Lampe, deren Licht jedoch am Erlöschen war, und so arbeitete er fast blind. Aber seine Tochter und seine beiden Söhne, der eine erst dreizehn Monate alt, bedeuteten ihm Himmel und Erde, und irgendwie drang das Messer immer genau an der richtigen Stelle ins Kiefernholz und begann wie von selbst, das rechte Auge der Puppe zu formen.

Als er nur noch wenige Schritte von Elias entfernt war, sagte Moses: »Morgen früh musst du das Maultier holen.«

»Ich weiß«, antwortete Elias. Moses war nicht stehen geblieben. »Ich tu keiner Menschenseele was zuleide«, sagte Elias. »Ich schnitz nur ein bisschen Holz.« Jetzt blieb Moses stehen und sagte: »Von mir aus kannst du Gottes Thron schnitzen. Ich hab gesagt, morgen früh musst du das Maultier holen. Das Maultier schläft schon, vielleicht solltest du’s ihm nachtun.« Elias antwortete nicht und rührte sich nicht. Moses sagte: »Ich sitz dir dicht im Nacken, Bürschchen, das scheinst du vergessen zu wollen.« Elias war Moses ein Dorn im Auge – schon damals, als Henry Townsend mit Elias vom Sklavenmarkt zurückkam, einem eintägigen Markt am östlichen Stadtrand von Manchester, der zweimal im Jahr unter freiem Himmel abgehalten wurde, einmal im Frühjahr und einmal im Herbst nach der Ernte. Genau an dem Tag, als Elias von Henry gekauft worden war, hatten einige Weiße sich mit dem Gedanken getragen, eine feste Halle für den Sklavenmarkt zu bauen – es war das Jahr, in dem es den ganzen Frühling über geregnet hatte, auch an den Markttagen. Infolgedessen hatten viele Weiße sich eine Erkältung zugezogen. Eine Frau war sogar an Lungenentzündung gestorben. Doch im Herbst darauf hatte Gott sich großzügig gezeigt, jeder segensreiche Tag war wie geschaffen, Sklaven zu kaufen und zu verkaufen, und kein Mensch sprach mehr davon, einen festen Bau errichten zu wollen, so schön war das Dach, das der Herrgott selbst dem Markt bereitet hatte.

Jetzt sagte Moses zu Elias: »Wenn du nicht bei Sonnenaufgang hier auf mich wartest, wird dich nicht mal Massa Henry retten.« Moses ging weiter zu seiner Hütte. Er war der erste Sklave, den Henry Townsend erworben hatte: $ 325 und ein Übereignungsvertrag von William Robbins, einem Weißen. Moses brauchte mehr als zwei Wochen, bis er begriffen hatte, dass niemand einen Scherz mit ihm trieb und dass es in der Tat ein Schwarzer war, zwei Schattierungen dunkler als er, der ihn mitsamt dem Schatten, den er warf, in Besitz genommen hatte. Als er in den ersten Wochen nach seinem Kauf neben Henry in einer Hütte schlief, hatte Moses überlegt, dass eine Welt, die ihn zum Sklaven eines Weißen machte, schon sonderbar genug war, dass Gott sie jedoch vollkommen durcheinandergerüttelt und -geschüttelt hatte, als er Schwarzen zugestand, ihresgleichen zu besitzen. Kümmerte sich Gott da oben eigentlich überhaupt noch um seine Angelegenheiten?

Mit einem Fuß stupste Elias die Holzspäne von seinem anderen Fuß und fing wieder zu schnitzen an. Das rechte Bein der Puppe machte ihm Mühe. Er wollte, dass die Figur rannte, hatte das Knie aber nicht so zurechtschnitzen können, dass es angewinkelt wirkte. Jemand, der die Puppe sah, mochte denken, dass sie still stand, und das wollte er nicht. Er hatte Angst, mit einem neuen Stück Holz beginnen zu müssen, falls er das Knie nicht bald richtig hinbekam. Ein brauchbares Stück Holz zu finden wäre nicht leicht. Aber seine Frau Celeste konnte ihr Bein schließlich auch nicht richtig anwinkeln, also kam’s auf lange Sicht vielleicht auch bei der Puppe nicht darauf an. Celeste hatte von Anfang an gehinkt, von ihrem ersten Schritt in diese Welt an.

Als Moses in seine Hütte trat, erwarteten ihn Düsternis und eine kalte Feuerstelle. Elias’ Lampe draußen schwankte hin und her, und ihr Licht wurde noch trüber. Elias hatte noch nie an einen vernünftig denkenden Gott geglaubt, daher hatte er eine Welt, in der Schwarze Sklavenbesitzer sein konnten, nie hinterfragt, und wären ihm in diesem Moment, es herrschte fast völliges Dunkel, Flügel gewachsen, hätte er auch dies nicht hinterfragt. Er hätte einfach weiter an seiner Puppe herumgeschnitzt. In Elias’ Hütte schliefen seine verkrüppelte Frau und seine drei Kinder, und im Kamin war genügend Glut für die Nacht, die wieder kalt zu werden drohte. Elias ließ das rechte Bein der Puppe fürs Erste sein und wandte sich wieder dem Kopf zu, den er bereits für so vollendet gehalten hatte wie nur irgendetwas von Menschenhand Erschaffenes. Seit er den ersten Kamm für Celeste geschnitzt hatte, war er geschickter geworden. Er wollte dem Kopf der Puppe Maisfasern aufstecken, doch die dunklen, die er gerne verwendet hätte, würden nicht vor dem Frühherbst reifen. Er würde sich mit unreifen begnügen müssen.

Moses verspürte keinen Hunger, deswegen beklagte er sich weder bei seiner Frau noch bei dem Jungen über die Dunkelheit. Er legte sich neben Priscilla auf das Strohbett. Ihr Sohn lag auf der anderen Seite und schnarchte. Priscilla beobachtete, wie ihr Mann allmählich in den Schlaf glitt, und als er eingeschlafen war, nahm sie seine Hand, führte sie an ihr Gesicht und sog den Geruch der Welt ein, den er von draußen mit hereingebracht hatte. Dann versuchte auch sie zu schlafen.

An jenem letzten Tag, an dem Tag, als Henry Townsend starb, kehrte Fern Elston früh in einem Einspänner zurück, gelenkt von einem fünfundsechzigjährigen Sklaven, den ihr Mann von seinem Vater geerbt hatte.

Fern und Caldonia verbrachten ein paar Stunden im Salon und tranken warme Milch mit Honig, die Caldonias Mutter gern zubereitete. Währenddessen saß erst Zeddie, die Köchin, danach Loretta, Caldonias Dienerin, bei Henry. Gegen sieben Uhr abends forderte Caldonia ihren Gast auf, zu Bett zu gehen; Fern hatte jedoch schon seit längerer Zeit nicht gut geschlafen und erwiderte, ebenso gut könnten sie sich auch gemeinsam zu Henry setzen. Fern hatte nicht nur Caldonia, sondern auch deren Zwillingsbruder unterrichtet. In Manchester County gab es nicht viele gebildete freie Frauen, mit denen sie sich die Zeit vertreiben konnte, und so hatte Fern sich mit einer Frau angefreundet, die als Mädchen über die Worte William Shakespeares viel zu oft gekichert hatte.

Gegen acht begaben sich die beiden Frauen nach oben, Caldonia teilte Loretta mit, sie werde sie rufen, falls sie sie brauche, und Loretta nickte, verließ das Zimmer und ging hinunter zu ihrer kleinen Kammer am Ende der Diele. Die drei, Fern, Henry und Caldonia, unterhielten sich darüber, wie sehr die Hitze in Virginia ihnen zu schaffen machte. Henry war einmal in North Carolina gewesen und meinte, die Hitze Virginias sei nichts dagegen. An jenem letzten Abend war es wieder recht kalt geworden. Henry hatte die Nachtgewänder, die er um sechs übergezogen hatte, nicht wechseln müssen. Gegen neun schlief er ein und wachte nicht lange danach wieder auf. Seine Frau und Fern erörterten gerade ein Gedicht von Thomas Gray. Er glaubte das Gedicht zu kennen, von dem sie sprachen, doch als er mit den Lippen ein paar Worte formte, um sich am Gespräch zu beteiligen, trat der Tod ins Zimmer und kam auf ihn zu: Henry stieg die Treppe empor in das winzigste aller Häuser, bei jedem Schritt wusste er, dass das Haus ihm nicht gehörte, sondern er nur Mieter war. Darüber war er sehr enttäuscht; hinter sich vernahm er Fußtritte, und der Tod erklärte ihm, es sei Caldonia, die gekommen sei, um ihrerseits Enttäuschung zu bekunden. Wer immer ihm das Haus vermietet hatte, hatte ihm tausend Gemächer versprochen, doch als er durch das Haus wanderte, fand er weniger als vier Zimmer vor, sämtliche Zimmer waren identisch, und er stieß mit dem Kopf an die Decke. »Das reicht uns nicht«, sagte sich Henry, er wandte sich um und wollte den Gedanken mit seiner Frau teilen, wollte sagen: »Frau, Frau, sieh nur, was sie getan haben«, doch in diesem Augenblick sprach Gott zu ihm: »Nicht Frau, Henry, Witwe.«

Es dauerte etliche Minuten, bevor Caldonia und Fern merkten, dass Henry nicht mehr war; sie unterhielten sich weiter über eine verwitwete Weiße, Besitzerin zweier Sklavinnen auf einer Farm in einer abgelegenen Gegend Virginias, einem Ort bei Montross, deren nächste weiße Nachbarn meilenweit entfernt wohnten. Die Neuigkeit von der jungen Frau, Elizabeth Marson, war zwar schon über ein Jahr alt, jedoch erst jetzt zu den Einwohnern von Manchester County vorgedrungen, sodass die Frauen in dem Zimmer, in dem der tote Henry lag, darüber sprachen, als wäre Elizabeth das alles erst an diesem Vormittag zugestoßen. Nachdem der Mann der weißen Frau gestorben war, hatten ihre Sklavinnen Mirtha und Destiny die Gewalt an sich gerissen und die Frau über Monate hinweg gefangen gehalten. Sie schindeten sie so sehr und ließen ihr so wenige Stunden am Tag zum Ausruhen, dass ihr Haar ergraute und ihre Poren Blut schwitzten. Caldonia sagte, sie habe gehört, Mirtha und Destiny seien verkauft worden, um Elizabeth zu entschädigen, damit sie sich anderswo ansiedeln könne, weit weg von der Farm und all den Erinnerungen, doch Fern entgegnete, sie habe gehört, die Sklavinnen seien hingerichtet worden. Nachdem man Elizabeth endlich befreit hatte, konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, dass sie die Herrin war, und es dauerte lange, es ihr wieder beizubringen. Caldonia bemerkte, wie reglos ihr Mann dalag, und ging zu ihm. Sie schüttelte ihn und stieß einen Schrei aus. Loretta kam schweigend herein und nahm einen Handspiegel vom Frisiertisch. Während Caldonia ihr dabei zusah, wie sie den Spiegel vor Henrys Nase hielt, wollte es ihr vorkommen, als wäre er nur kurz fortgegangen, und wenn sie ihn nur laut genug riefe, ihren Mund ganz dicht an sein Ohr hielte und laut genug riefe, sodass jeder Sklave in den Quartieren es vernähme, würde er umkehren und wäre wieder ihr Mann. Sie nahm Henrys Hand in beide Hände und presste sie an ihre Wange. Sie spürte, dass sie noch warm war, und dachte, vielleicht wäre ja doch noch genügend Leben darin, dass er sich eines anderen besann. Caldonia war achtundzwanzig Jahre alt und kinderlos.

In der Nacht, als Henry starb, war Alice, die Frau ohne Verstand, die Moses dabei zugeschaut hatte, als er allein mit sich im Wald war, rund sechs Monate in Henrys und Caldonias Besitz gewesen. Von der ersten Woche an war Alice nachts auf dem Gelände umhergelaufen, hatte gesungen, mit sich selbst gesprochen und Dinge getan, bei denen sich den Sklaveneinfängern manchmal die Haare im Nacken aufstellten. Sie bespuckte und schlug deren Pferde, weil sie unter ihren Nachbarn Unwahrheiten über sie verbreiteten, besonders bei Elias’ Jüngstem, einem »klitzekleinen Jungen«, den sie, wie sie den Sklaveneinfängern sagte, nach der Ernte zu heiraten gedachte. Sie packte die Patrouillenreiter im Schritt und bettelte sie an, mit ihr davonzutanzen, weil ihr Zukünftiger immer so tue, als wüsste er nicht, wer sie sei. Weiße redete sie mit erfundenen Namen an und nannte ihnen den Tag und die Stunde, da Gott sie zu sich ins Himmelreich berufen, ihre sämtlichen Familienangehörigen quer über den Himmel zerren und sie ebenso gedankenlos in die Hölle hinabschleudern würde, wie eine Frau Erdbeeren in eine Tasse mit Schlagsahne gibt.

In den ersten Tagen nachdem Henry sie gekauft hatte, schleppten die Patrouillenreiter Alice immer zurück zu Henrys Plantage, weckten ihn und Caldonia, indem einer von ihnen zur Veranda vorritt und mit dem Pistolenkolben an die Eingangstür des schwarzen Mannes hämmerte. »Euer Eigentum treibt sich herum, und Ihr schlaft, als wär alles in bester Ordnung«, riefen sie ihm zu, und vor ihnen wälzte sich die kichernde Alice, die sie zurückgeschafft hatten, im Dreck. »Kommt runter und holt Euch Euer Eigentum.« Dann kam Henry herunter und musste zum wiederholten Male erklären, dass niemand, nicht einmal sein Aufseher, sie davon habe abhalten können umherzustreunen. Moses hatte vorgeschlagen, sie nachts anzubinden, doch das duldete Caldonia nicht. Um Alice brauche man sich keine Sorgen zu machen, beschied Henry die Sklaveneinfänger, wenn er in seinen Nachtgewändern die Treppe herunterkam und Alice vom Boden aufhalf. Sie sei nicht ganz bei Verstand, sagte er, aber davon abgesehen sei sie eine gute Arbeiterin. Nie erklärte er den zwei, drei weißen Patrouillenreitern, die keine Sklaven besaßen, dass eine Frau mit krankem Verstand ihn so viel billiger gekommen war als eine mit gesundem Verstand: $ 228 und zwei Scheffel Äpfel, die nicht zum Verzehr taugten, sondern bestenfalls für einen Cider, so sauer, dass es einem durch Mark und Bein ging. Daraufhin ritten die Sklaveneinfänger weiter. »Das kommt dabei raus«, sagten sie zueinander, als sie wieder auf der Straße waren, »wenn man Niggern dieselben Rechte zugesteht wie dem weißen Mann.«

Als Alice etwa zweieinhalb Wochen in Henrys und Caldonias Besitz war, gewöhnten sich die Sklaveneinfänger daran, sie umherirren zu sehen, und von da an gehörte sie zum festen Bestandteil ihrer Nächte, nicht beachtenswerter als eine schreiende Eule oder ein über die Straße hoppelndes Kaninchen. Manchmal wenn die Patrouillenreiter des eigenen Geplänkels überdrüssig geworden waren oder wenn sie sich auf den Lohn freuten, den Sheriff John Skiffington ihnen ausbezahlen würde, saßen sie auf ihren Pferden und machten sich lustig über sie, die auf der Straße Niggerlieder sang. Am besten war ihre Darbietung, wenn der Mond am hellsten schien, wenn er auf sie herableuchtete, ihnen die Furcht vor der Nacht und vor einer verrückten Sklavin nahm und die zu ihren Liedern tanzende Alice bestrahlte. Der Mond verlieh ihrem Schatten mehr Leben, dann hüpfte der Schatten mit ihr von einer Seite der Straße zur anderen, besänftigte die Pferde und brachte die Grillen zum Schweigen. Wenn sie aber schlechte Laune hatten oder der Regen herniederströmte und sie und ihre fadenscheinigen Kleider durchnässte, wenn ihre Pferde scheuten und ihre Haut bis zu den Füßen juckte, dann überschütteten sie sie mit Verwünschungen. Im Lauf der Zeit, innerhalb der ersten sechs Monate nachdem Henry Alice gekauft hatte, hörten die Sklaveneinfänger von anderen Weißen, dass eine verrückte schwarze Sklavin bei Nacht einem Hühnchen mit zwei Köpfen oder einer krähenden Henne ähnele: Sie brachte Unglück. Nichts als Unglück, und so war es wohl am besten, die Flüche für sich zu behalten.

An dem regnerischen Abend, als ihr Herr starb, trat Alice wieder einmal aus der Hütte, die sie mit Delphie und Delphies Tochter Cassandra teilte. Delphie ging auf die vierundvierzig zu und glaubte, Gott halte größere Gefahren bereit als eine Schwarze, die den Verstand verloren hatte, und das erzählte sie auch ihrer Tochter, die sich anfangs vor Alice gefürchtet hatte. Als Alice an jenem Abend heraustrat, sah sie Elias vor seiner Tür stehen, das Schnitzmesser und das Stück Kiefernholz in den Händen. Er wartete darauf, dass es zu regnen aufhörte. »Komm, geh mit mir«, sang sie Elias an. »Nun komm schon, geh mit mir. Komm, mein Junge.« Elias beachtete sie nicht.

Als sie aus dem Waldstück zurückkam, wo sie Moses beobachtet hatte, lief Alice wieder die Gasse hinunter und hinaus auf die Straße. Die schlammige Straße bereitete ihr Mühe, aber sie ließ sich nicht abhalten. Sobald sie auf der Straße war, entfernte sie sich von Henrys Haus und begann zu singen, lauter noch als auf den Ländereien ihres Herrn.

Indem sie vor dem Mond und allen Geschöpfen ihren Rock schürzte, tänzelte sie die Straße entlang und sang aus vollem Herzen:

I met a dead man layin’ in Massa laneAsk that dead man what his nameHe raised he bony head and took off his hatHe told me this, he told me that.

Als Henrys Vater Augustus Townsend zweiundzwanzig war, konnte er sich endlich aus der Sklaverei freikaufen. Er war Schreiner, ein Holzschnitzer, dessen Arbeiten, wie die Leute sagten, Sünder zu Tränen rühren konnten. Sein Herr, William Robbins, ein Weißer mit einhundertdreizehn Sklaven in seinem Besitz, hatte Augustus schon vor Langem die Genehmigung erteilt, Beschäftigungen anzunehmen, und behielt einen Teil dessen ein, was Augustus verdiente. Mit dem Rest zahlte Augustus die Raten für sich selbst ab. Nachdem er freigelassen worden war, nahm er weiter Aufträge an. Ein Himmelbett aus Eiche konnte er binnen drei Wochen anfertigen, Stühle binnen zwei Tagen, Chiffonieren in siebzehn Tagen, nicht eingerechnet die Zeit, die man brauchte, um die Spiegel zu beschaffen. Auf einem Grundstück, das ihm von einem armen Weißen, der Geld dringender nötig hatte als Land, erst verpachtet und dann verkauft worden war, baute er zunächst eine Hütte und später ein richtiges Haus. Das Grundstück, ein ziemlich breiter Streifen Land, lag am westlichen Rand von Manchester County, dort, wo das County, als hätte es genug davon, weiter nach Westen vorzustoßen, jählings nach Süden abfiel, in Richtung Amherst County. In etwa zwei Monaten würde Moses, »weltblöde«, wie Elias ihn nennen sollte, in dem Glauben, nach Norden zu gelangen, sich dort verirren. Augustus Townsend gefiel die Gegend, weil sie am äußersten Zipfel des Countys lag und der nächste Weiße mit Sklaven eine halbe Meile entfernt wohnte.

Augustus leistete die letzte Zahlung für seine Frau Mildred, als diese sechsundzwanzig war und er fünfundzwanzig, etwa drei Jahre nachdem er sich die eigene Freiheit erkauft hatte. Ein Gesetz des Abgeordnetenhauses von Virginia aus dem Jahre 1806 schrieb vor, dass ehemalige Sklaven den Bundesstaat innerhalb von zwölf Monaten nach Erwerb ihrer Freiheit zu verlassen hatten; freigelassene Schwarze könnten den Sklaven zu viele »unnatürliche Grillen« in den Kopf setzen, hatte ein Abgeordneter aus Northampton County bemerkt, bevor das Gesetz verabschiedet wurde, und ein weiterer Abgeordneter aus Gloucester hatte hinzugefügt, freigelassenen Schwarzen mangele es an der »natürlichen Zucht und Ordnung«, die einem Sklaven anstünden. Die Abgeordneten verfügten, dass jeder Freigelassene, der Virginia nicht binnen Jahresfrist verließ, wieder in die Sklaverei zurückgeführt werden durfte. In dem Jahr, in dem Augustus sein Gesuch stellte, widerfuhr dies dreizehn Personen – fünf Männern, sieben Frauen und einem Kind, einem Mädchen namens Lucinda, dessen Eltern gestorben waren, bevor die Familie aus Virginia wegziehen konnte. Vor allem aufgrund seines handwerklichen Geschicks hatte Augustus William Robbins und eine Reihe weiterer weißer Bürger dazu bewegen können, beim Abgeordnetenhaus ein Gesuch um eine Aufenthaltsgenehmigung einzureichen. »Unser County – mehr noch, unser geliebter Bundesstaat – stünde ohne die Begabung des Augustus Townsend ärmer da«, hieß es in dem Gesuch. Von dreiundzwanzig Gesuchen waren das seinige und die zweier weiterer ehemaliger Sklaven die einzigen, denen in jenem Jahr stattgegeben wurde; eine Frau aus Norfolk City, die exquisite Kuchen und Pasteten für Partys buk, und ein Friseur aus Richmond – beide hatten mehr weiße als schwarze Kunden – durften, nachdem sie ihre Freiheit errungen hatten, ebenfalls in Virginia bleiben. Als Augustus seine Frau Mildred loskaufte, reichte er kein Gesuch für sie ein, da freigelassene Sklaven laut Gesetz auf Staatsgebiet verbleiben durften, solange sie dort als jemandes Eigentum lebten, und Verwandte und Freunde machten sich diese Bestimmung häufig zunutze, um Angehörige in ihrer Nähe zu behalten. Auch für Henry, seinen Sohn, ersuchte Augustus um keine Sondergenehmigung, und da William Robbins, ihr früherer Besitzer, Henry so gut behandelte, vergaßen die Einwohner von Manchester County allmählich, dass Henry in den Akten von Manchester tatsächlich für immer als Eigentum seines Vaters eingetragen war.

Henry war neun, als seine Mutter Mildred die Freiheit erlangte. An jenem Tag, einem lauen Tag zwei Wochen nach der Ernte, lief sie mit ihrem Sohn an der Hand hinunter zur Straße, wo Augustus, sein Rollwagen und zwei Maultiere auf sie warteten. Rita, mit der Mildred sich die Hütte teilte, hielt die andere Hand des Jungen.

Vor dem Wagen sank Mildred in die Knie und drückte Henry an sich, der, als er endlich begriff, dass er von ihr getrennt werden sollte, zu weinen anfing. Augustus kniete neben seiner Frau nieder und versprach Henry, ihn holen zu kommen. »Bevor du Piep sagen kannst«, sagte er, »wirst du mit uns in unser neues Zuhause einziehen.« Augustus wiederholte sein Versprechen, und der Junge versuchte, den Sinn des Wortes »Zuhause« zu ergründen. Er kannte das Wort »Zuhause«, kannte die mit dem Wort bezeichnete Hütte, in der er mit Rita und seiner Mutter wohnte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sein Vater je zu diesem Zuhause gehört hätte. Augustus redete in einem fort, und Henry zerrte ungeduldig an Mildred, weil er wollte, dass sie wieder auf William Robbins’ Anwesen zurückging, zurück zu der Hütte, wo, wenn ein Feuer angezündet wurde, der Kamin rauchte. »Bitte«, sagte der Junge, »bitte, ich will, dass wir zurückgehen.«

In dem Augenblick kam William Robbins auf seinem geliebten Braunen, Sir Guilderham, langsam zur Straße geritten. Er war auf dem Weg in die Stadt Manchester. Er tätschelte die schwarze Mähne des Pferdes und fragte Henry, weshalb er weine, und der Junge antwortete: »Ach nichts, Massa.« Augustus stand auf und zog den Hut. Mildred drückte weiterhin ihren Sohn an sich. Der Junge kannte seinen Herrn nur von fern; so nah wie jetzt hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen. Robbins saß hoch zu Pferde, ein Berg, der den Jungen vor der prallen Sonne schützte. »Na, dann hör auf zu weinen«, sagte Robbins. Er nickte Augustus zu. »Du zählst wohl die Tage, Augustus?« Dann schaute er Rita an. »Du sorgst dafür, dass alles mit rechten Dingen zugeht«, sagte er. Damit meinte er, sie solle darauf achten, dass sich der Junge nicht zu viele Schritte über seinen Grundbesitz hinauswagte. Er hätte Rita beim Namen genannt, aber sie hatte sich bei ihm nicht so hervorgetan, dass ihm der Name eingefallen wäre, den er ihr bei ihrer Geburt gegeben hatte. Es reichte, dass der Name irgendwo in seinem großen Buch der Geburten und Todesfälle, der Zu- und Abgänge von Sklaven eingetragen war. »Auffälliger Leberfleck auf linker Wange«, hatte er fünf Tage nach Ritas Geburt notiert. »Augen grau.« Jahre später, nach Ritas Verschwinden, würde Robbins diese Kennzeichen zusammen mit ihrem Alter auf dem Plakat vermerken, mit dem er eine Belohnung auf ihre Rückkehr aussetzte.

Robbins warf Henry, dessen Namen er ebenso wenig wusste, einen letzten Blick zu und sprengte im Galopp davon, sodass der schwarze Schweif seines Hengstes mit einem hübschen Ruck erst hier-, dann dorthin schwenkte, als wäre er abgetrennt und führte ein eigenes Leben. Henry hörte auf zu weinen. Am Ende musste Augustus seine Frau von dem Kind losreißen. Er übergab den Jungen Rita, die zeit ihres Lebens mit Mildred befreundet gewesen war. Dann hob er seine Frau auf den Rollwagen, der sich unter ihrem Gewicht knarrend senkte. Der Wagen und die Maultiere waren nicht so hoch wie Robbins’ Pferd. Bevor Augustus aufstieg, versprach er seinem Sohn, ihn am Sonntag zu besuchen, dem Tag, den Robbins für Besuche festgesetzt hatte. Dann sagte er: »Ich komm dich holen«, womit er den Tag meinte, an dem er den Jungen endlich loskaufen würde. Doch Henrys Freikauf sollte länger auf sich warten lassen, als sein Vater glaubte; mit der Zeit sollte Robbins die Erfahrung machen, was für ein kluger Junge Henry war. Intelligenz hatte keinen festen Preis, und da ihr Preis nun einmal unbestimmt war, konnte man erzielen, was immer der Markt hergab, und die gesamten Kosten hatten Mildred und Augustus zu tragen.

Für ihre sonntäglichen Besuche bereitete Mildred viele Gerichte zu, von denen sie wusste, dass sie Henry schmeckten. Vor ihrem Freikauf hatte sie nur Sklavenessen gekannt: reichlich Rückenspeck, Maiskuchen und gelegentlich einen Mundvoll Raps oder Krauskohl. Doch die Freiheit und die Erträge ihrer Arbeit deckten ihnen eine üppigere Tafel. Dennoch, wenn sie daran dachte, was Henry essen musste, bekam sie in ihrem neuen Zuhause keinen Bissen hinunter. So bereitete sie ihm vor jedem Besuch ein kleines Festessen zu. Kleine Fleischpasteten, Kuchen, die er sich unter der Woche mit seinen Freunden teilen konnte, mitunter auch ein Kaninchen, das Augustus gefangen hatte und das sie einpökelte, damit es tagelang hielt. In dem von den Maultieren gezogenen Rollwagen fuhren Mutter und Vater hinüber zu Robbins’ Anwesen, um ihren Jungen zu besuchen und ihn mit ihren Mitbringseln zu locken. Sie warteten auf der Straße, bis Henry auf seinen mageren Beinen von den Quartieren zur Straße kam, hinter ihm riesig und unverrückbar Robbins’ Herrenhaus.

Henry wuchs rasch heran und brannte darauf, ihnen die kleinen Dinge zu zeigen, die er geschnitzt hatte. Pferde in gestrecktem Galopp, schwer beladene Maultiere, einen Stier, der den Kopf wandte, um hinter sich zu schauen. Dann setzten sie sich im Niemandsland gegenüber Robbins’ Plantage zu dritt auf eine Patchworkdecke. Hinter ihnen gab es einen Wasserlauf, der sich weit nach links erstreckte und in dem man noch nie einen Fisch gesehen hatte; dennoch angelten die Sklaven darin, um für den Tag zu üben, da er besseres Wasser führen würde. Nachdem die drei gegessen hatten, angelten auch Augustus und Henry, und Mildred setzte sich zwischen sie. Stets wollte sie wissen, wie Henry behandelt wurde, und seine Antwort fiel fast immer gleich aus: dass Massa Robbins und sein Aufseher ihn gut behandelten und Rita immer freundlich zu ihm war.

Von einem Tag auf den anderen ging der Herbst jenes Jahres 1834 zu Ende, und schlagartig wurde es Winter. Mildred und Augustus kamen jeden Sonntag, selbst als es kalt wurde und dann noch kälter als davor. Im Niemandsland entfachten sie ein Feuer und aßen fast schweigend. Robbins hatte ihnen befohlen, den Jungen nur so weit mitgehen zu lassen, dass sein Aufseher ihn vom Eingang zu seinem Grundbesitz im Auge behalten konnte. Die winterlichen Besuche fielen kurz aus, da der Junge häufig über die Kälte klagte. Manchmal erschien Henry auch gar nicht, selbst wenn die Kälte während eines nur wenige Minuten dauernden Besuchs auszuhalten war. Dann warteten Mildred und Augustus Stunde um Stunde zusammengekauert unter Woll- und Steppdecken auf dem Rollwagen oder liefen hoffnungsvoll die Straße auf und ab, denn Robbins hatte ihnen verboten, sein Grundstück zu betreten, außer wenn Augustus an jedem zweiten und vierten Dienstag des Monats seine Zahlungen leistete. Sie hofften darauf, dass sich ein Sklave oder eine Sklavin auf dem Weg zum oder vom Herrenhaus zu ihnen heraustrauen würde, damit sie ihnen zubrüllen konnten, ihren Henry zu holen. Doch selbst wenn es ihnen gelang, jemanden aufzuspüren und ihm von Henry zu erzählen, harrten sie auf das Erscheinen des Jungen meist vergebens.

»Ich hab’s vergessen«, sagte Henry, wenn sie ihn das nächste Mal sahen. Augustus war als Junge oft gezüchtigt worden. Henry war zwar sein Sohn, aber noch nicht sein Eigentum, und somit durfte er nicht Hand an ihn legen.

»Bemüh dich, dran zu denken, Junge. Zu wissen, was sich gehört«, sagte Augustus, doch nur am nächsten, vielleicht noch am übernächsten Sonntag tat Henry, was sich gehörte, und am dritten erschien er wieder nicht.

Einmal, Mitte Februar, nachdem sie zwei Stunden über den verabredeten Termin hinaus an der Straße gewartet hatten, packte Augustus den Jungen, als er endlich herbeigeschlurft kam, schüttelte ihn und stieß ihn zu Boden. Henry bedeckte sein Gesicht und fing an zu weinen. »Augustus!«, rief Mildred und half ihrem Sohn auf. »Ist schon gut«, beschwichtigte sie ihn und wiegte ihn in ihren Armen. »Ist schon gut.«

Augustus drehte sich um und ging über die Straße zum Rollwagen. Der Wagen hatte ein Verdeck aus dicker Juteleinwand, die Idee dazu war Augustus nicht lange nach ihrem ersten Besuch in der Kälte gekommen. Die Mutter und ihr Kind folgten ihm bald über die Straße, und zu dritt machten sie es sich unter der Plane im Wagen bequem, setzten sich um die Steine, die Augustus und Mildred erhitzt hatten. Es waren ziemlich große Steine, die sie sonntagmorgens zu Hause stundenlang erhitzten, ehe sie losfuhren, um Henry zu besuchen. Kurz bevor sie aufbrachen, wurden die Steine in Decken gewickelt und in die Mitte des Wagens platziert. Wenn die Steine keine Wärme mehr abgaben und der Junge über die Kälte klagte, wussten sie, dass es Zeit war, wieder abzufahren.

An jenem Sonntag, als Augustus Henry zu Boden gestoßen hatte, aßen die drei wieder einmal schweigend.

Am nächsten Sonntag wartete Robbins auf sie. »Ich höre, du hast meinem Jungen, meinem Eigentum, etwas getan«, sagte er, noch bevor Augustus und Mildred vom Wagen abgestiegen waren.

»Nein, Mr Robbins, ich hab nichts getan«, antwortete Augustus, der den Stoß längst vergessen hatte.

»Würden wir nie tun«, ergänzte Mildred. »Wir würden ihm um keinen Preis wehtun. Ist doch unser Sohn.«

Robbins sah sie an, als hätte sie ihm gesagt, heute sei Mittwoch. »Ich lasse nicht zu, dass ihr meinen Jungen, mein Eigentum, anrührt.« Sein Pferd, Sir Guilderham, hielt sich ein, zwei Schritte hinter seinem Herrn. Als der Hengst gerade davonzutrotten begann, wandte Robbins sich um, ergriff die Zügel und saß auf. »Einen Monat lang keine Besuche mehr«, sagte er und las eine Fussel vom Ohr des Tiers.

»Bitte, Mr Robbins«, sagte Mildred. Seit ihrem Freikauf brauchte sie ihn nicht mehr mit »Master« anzureden. »Wir sind einen weiten Weg gekommen.«

»Das ist mir gleich«, entgegnete Robbins. »Es wird einen ganzen Monat dauern, bis er sich von dem, was du ihm getan hast, erholt hat, Augustus.«

Robbins ritt davon. Henry hatte seinen Eltern nicht erzählt, dass er Robbins’ Stallbursche geworden war. Ein älterer Junge namens Toby war Stallbursche gewesen, aber Henry hatte ihn mit Mildreds Verpflegung bestochen, und der Junge hatte dem Aufseher vorgejammert, er sei seiner Aufgabe nicht gewachsen. »Henry wär besser«, hatte Toby so oft zu dem Aufseher gesagt, dass sich der Satz im Kopf des Weißen zur Wahrheit verfestigte. Jetzt war alle Verpflegung, die Mildred ihrem Sohn sonntags mitbrachte, bereits Toby versprochen.

»Wir würden ihm um nichts in der Welt wehtun«, sagte Mildred zu Robbins’ Rücken. Sie fing an zu weinen, weil sie einen Monat aus Tagen vor sich ausgebreitet sah, die sich auf mehr als tausend beliefen. Augustus nahm sie in den Arm, küsste sie auf ihre Haube und half ihr auf den Rollwagen. Die Heimreise in den Südwesten von Manchester County dauerte stets etwa eine Stunde, je nachdem, wie rau oder milde das Wetter war.

Henry war in der Tat der bessere Stallbursche, weit eifriger, als Toby je gewesen war, und es machte ihm nichts aus, lange vor Sonnenaufgang aufzustehen, um seine Pflichten zu versehen. Wenn Robbins aus der Stadt zurückkam, von Philomena, einer Schwarzen, und den beiden Kindern, die er mit ihr hatte, wartete Henry stets auf ihn. In den ersten Tagen, als er versuchte, sich Robbins’ Augen gegenüber zu beweisen, stand Henry immer vor dem Herrenhaus und beobachtete, wie Robbins und Sir Guilderham sich auf der Straße aus dem Winternebel schälten, und je größer Mann und Pferd wurden, desto schneller schlug dem Jungen das Herz im Leib. »Morgen, Massa«, sagte er dann und hob beide Hände, um die Zügel zu ergreifen. »Guten Morgen, Henry. Bist du wohlauf?« – »Ja, Massa.« – »Dann bleib auch weiter gesund.« – »Ja, Massa, das hab ich vor.«

Daraufhin trat Robbins in sein Haus, um einer weißen Ehefrau ins Auge zu sehen, die sich noch nicht damit abgefunden hatte, dass ihr Platz in seinem Herzen jetzt von Philomena eingenommen wurde. Von dem ersten Kind, das ihr Mann mit Philomena hatte, von Dora, wusste sie, von dem zweiten aber, von Louis, würde sie erst erfahren, wenn der Junge drei Jahre alt wäre. Das war noch in den Tagen, bevor Robbins’ Frau garstig und sauertöpfisch wurde und den größten Teil ihrer Zeit in einem Flügel des Herrenhauses verbrachte, den ihre Tochter, als diese noch sehr jung war und nicht wusste, was sie tat, den Osten nannte. Als die Frau garstig und sauertöpfisch wurde, rächte sie sich an den Menschen, die ihr am nächsten waren und die sie nicht zu lieben vermochte. Es sei fast so, erzählten sich die Sklaven, als hasse sie selbst den Boden, auf dem sie gehen mussten.

Henry führte Sir Guilderham in den Stall, der für jene Tiere reserviert war, die Robbins am meisten schätzte, und striegelte ihn, bis der Schweiß abgebürstet und das Tier zufrieden war, bis es die Augen schloss und allein gelassen werden wollte. Danach sorgte Henry dafür, dass der Hengst ausreichend Heu und Wasser hatte. Manchmal wenn er glaubte, sich den anderen Aufgaben des Tages entziehen zu können, stellte er sich auf einen Hocker und kämmte ihm die Mähne, bis seine Hände müde wurden. Falls das Pferd den Jungen an seiner großen Fürsorglichkeit erkannte, ließ es sich jedenfalls nichts anmerken.

Henry wartete ungeduldig am einen Ende der Landstraße, die Robbins mindestens dreimal die Woche nahm, und am anderen Ende, am äußersten Stadtrand von Manchester, der Hauptstadt des Countys, stand ein anderer Junge, Louis, der 1840, als Henry sechzehn war und ein untadeliger Stallbursche, acht Jahre zählte. Auch Louis, der Sohn von Robbins, war dessen Sklave und als solcher in der Volkszählung jenes Jahres erfasst. Im Zensus war vermerkt, dass das Haus in der Shenandoah Road, wo der Junge wohnte, von seiner Mutter Philomena geführt wurde und dass der Junge eine drei Jahre ältere Schwester namens Dora hatte. Der Zensus hielt jedoch nicht fest, dass die Kinder Robbins’ Fleisch und Blut waren, dass er nach Manchester ritt, weil er ihre Mutter über alles liebte, und dass er in ruhigeren Momenten, wenn die Stürme in seinem Kopf sich gelegt hatten, fürchtete, um dieser Liebe willen den Verstand zu verlieren. Robbins’ Großvater, der sich als Knabe auf der Jungfernfahrt der HMS Claxton’s nach Amerika heimlich an Bord geschmuggelt hatte, hätte es nicht gebilligt – nicht dass Robbins sein Herz an eine Schwarze verloren hatte, sondern dass er sein Herz überhaupt verloren hatte. Wenn er so viel Liebe verschenkte, hätte der Großvater seinem Enkel gesagt, woher wollte Robbins die Kraft nehmen, um wieder nach Hause zurückzufinden, nach Bristol, England?

Die amerikanische Volkszählung von 1840 enthielt eine Unmenge Tatsachen, weit mehr als die statistische Erhebung, die der alkoholisierte Abgeordnete im Jahre 1830 vorgenommen hatte, und alle diese Tatsachen verwiesen auf die eine große Tatsache, dass Manchester damals das größte County im Staate Virginia war, ein Bezirk mit 2191 Sklaven, 142 freigelassenen Schwarzen, 939 Weißen und 136 Indianern, die meisten von ihnen Cherokee, mit ein paar vereinzelten Choctaw. Die Volkszählung von 1840 wurde binnen siebeneinhalb Sommerwochen von einem wohlgelittenen pedantischen Gerber durchgeführt, der auch als Bundesvollzugsbeamter fungierte und dem drei Finger abgefroren waren. Eigentlich hätte er nicht so lange brauchen dürfen, aber er hatte eine Menge Probleme, angefangen mit Leuten wie Harvey Travis, der sicherstellen wollte, dass seine Kinder als Weiße eingestuft wurden, obwohl alle Welt wusste, dass seine Frau durch und durch Cherokee war. Wenn seine Kinder und die Welt ihm zu viel wurden, schimpfte Travis sie sogar Nigger oder dreckige Mestizen. Der Volkszähler, Gerber und Vollzugsbeamte versprach Travis, die Kinder als Weiße zu führen, in Wahrheit aber schrieb er in seinem Bericht an die Bundesregierung in Washington, D. C., es handele sich um Sklaven, um Eigentum ihres Vaters, was sie, vom Standpunkt des Gesetzes aus, ja auch tatsächlich waren; ehe der Volkszähler auf einem der beiden Maultiere, die die amerikanische Regierung ihm zur Durchführung der Zählung gekauft hatte, zu Travis hinausritt, hatte er dessen Kinder nie zu Gesicht bekommen. Er fand sie zu dunkelhäutig, als dass er und die Bundesregierung sie als Nichtschwarze hätten einstufen können. Seiner Regierung teilte er mit, bei den Kindern handele es sich um Sklaven, und dabei ließ er es bewenden, ohne ein Wort über ihr weißes Blut oder ihr Cherokee-Blut zu verlieren. Der Volkszähler war der festen Überzeugung, seine Regierung könne zwischen den Zeilen lesen. Und obwohl er, als er wieder wegritt, Travis’ Frau in Verdacht hatte, keine echte Cherokee zu sein, entschied er zu ihren Gunsten und führte sie als »Indianerin/reinblütige Cherokee« auf. Der Volkszähler tat sich auch damit schwer, die Fläche des Countys zu berechnen, und am Ende reichte er Zahlen ein, die nicht den Tatsachen entsprachen. Wie er einem Freund anvertraute, hatten ihn die Berge aus dem Konzept gebracht, da es unmöglich sei, das Land richtig zu vermessen, wenn einem diese verdammten Berge im Weg waren. Selbst wenn man die Berge außer Acht ließ, war Manchester immer noch halb so groß wie das nächstgrößte County im Staate.

Bis 1840 war Louis an den Tagen, an denen er Robbins’ Besuch erwartete, nicht zu halten. Er sprang in dem Haus herum, das Robbins gebaut hatte, als Philomena mit Dora schwanger war, weil er sie nicht auf seiner Plantage haben wollte, in der Nähe einer Ehefrau, die schon frühzeitig argwöhnte, dass sie ihren Mann nach zehn Jahren Ehe an eine andere verlieren werde. Dann rannte der Junge die Stiege hinauf und spähte aus den Fenstern im zweiten Stock, die auf die Straße gingen, und wenn er den von Sir Guilderham aufgewirbelten Staub nicht sah, kam er wieder heruntergerannt und luchste aus dem Wohnzimmerfenster. »Ich halt wohl nicht an der richtigen Stelle nach ihm Ausschau«, sagte er zu der Person, die sich gerade im Zimmer aufhielt, bevor er wieder die Treppe hinaufsauste. Seine Lehrerin Fern Elston hatte ihn bereits dafür getadelt, dass er immer das e am Ende des Verbs verschluckte.

Im ganzen County konnte niemand sonst sich erlauben, eine schwarze Frau und ihre zwei Kinder in einer Gegend für Weiße unterzubringen. Auf einer Seite seines Berichts an die Bundesregierung in Washington, D. C., setzte der Volkszähler ein Kreuzchen hinter William Robbins’ Namen und fügte in einer Fußnote auf Seite 113 an, dieser sei der wohlhabendste Mann im County. Er war ein entfernter Cousin von Robbins und ziemlich stolz darauf, dass seine Verwandtschaft es in Amerika so weit gebracht hatte.

Dora und Louis nannten Robbins niemals »Vater«. Sie redeten ihn mit »Mr William« an, und wenn er abwesend war, bezeichneten sie ihn als »er«. Louis mochte es, wenn Robbins ihn auf den Schoß nahm und »Hoppe, hoppe, Reiter« spielte. Manchmal nannte er ihn »mein Hottepferdchen Mr William«. Robbins nannte ihn »mein kleiner Prinz, mein kleines Prinzchen«.

Der Junge hatte, was die Leute in dieser Gegend Virginias ein Wanderauge nannten. Wenn er jemanden direkt ansah, folgte sein linkes Auge häufig irgendeinem äußeren Gegenstand, der sich seitlich von ihm bewegte: einer Staubfussel in der Nähe oder einem fliegenden Vogel in der Ferne, folgte dem sich bewegenden Gegenstand oder Tier ein paar Meter weit. Dann kehrte das Auge wieder zu der Person zurück, die vor dem Jungen stand. Louis’ rechtes Auge dagegen heftete sich ganz wie sein Verstand immer nur auf die Person, mit der er sich gerade unterhielt. Robbins wusste, bei einem weißen Jungen von einer weißen Ehefrau hätte ein Wanderauge eine Art Makel bedeutet, er hätte eine fragwürdige Zukunft vor sich gehabt und nur wenig väterliche Liebe empfangen. Bei einem Kind jedoch, dessen Mutter Schwarze war und dem Robbins’ Herz gehörte, führte das Wanderauge dazu, dass ihm die väterliche Zuneigung erst recht zuflog. Was Gott seinem Sohn zugefügt hatte, war grausam, sagte er sich auf dem Heimweg oft.

Mit der Zeit würde Louis lernen, sich das Auge nicht zum Verhängnis werden zu lassen, denn in jener Gegend Virginias fassten die Menschen ein Wanderauge als Zeichen eines unaufmerksamen und unaufrichtigen Mannes auf. Später, als er sich in der winzigen Lehranstalt für Kinder von freien Schwarzen, die Fern Elston gleich hinter ihrem Wohnzimmer betrieb, mit Caldonia und ihrem Bruder Calvin anfreundete, konnte er allein am Gesichtsausdruck seines Gegenübers den genauen Moment ablesen, da sein Auge zu wandern begann. Dann zwinkerte er, und das Auge kehrte wieder zu ihm zurück. Dies bedeutete, dass er seinem Gegenüber lange und fest in die Augen schauen musste, und das wiederum fassten die Leute als Zeichen eines Mannes auf, der sich für das Gesagte interessierte. In den Augen vieler Menschen wurde er zu einem aufrichtigen Mann, aufrichtig genug für Caldonia, um ihm ihr Jawort zu geben, als er um ihre Hand anhielt. »Ich hätte nie gedacht, dass ich deiner würdig bin«, sagte er und dachte an den toten Henry, als er um ihre Hand anhielt. »Wir alle sind einander würdig«, entgegnete sie.