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30 Jahre Mauerfall: Eine Reise auf den Spuren der Berliner Mauer Den Fall der Berliner Mauer kennt jeder als Ereignis der Weltgeschichte, und Zeitgenossen erinnern sich daran, als wäre es gestern gewesen. Dieser Tag war ein einschneidendes Erlebnis, eine Zäsur. Der Kalte Krieg endete und binnen Jahresfrist war Deutschland wiedervereinigt. Mit »Berliner Mauer für die Hosentasche« begibt sich Bernd Ingmar Gutberlet auf Spurensuche in Berlin. Seit ihrer Errichtung im August 1961 stand die Mauer symbolhaft für die Trennung zweier deutscher Staaten, für unzählige Schicksale und Tragödien. Welche Spuren hat die Mauer dreißig Jahre später hinterlassen? Wo kann man Überbleibsel sehen und erfahren, wie Berlin darunter litt oder sich arrangierte? In gewohnter »Für die Hosentasche«-Manier zeigt uns der Historiker und Berlin-Experte interessante und wissenswerte Fakten auf, die sonst in keinem Reiseführer stehen.
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Seitenzahl: 223
Bernd Ingmar Gutberlet
Die Berliner Mauer für die Hosentasche
Was Reiseführer verschweigen
FISCHER E-Books
Im Frühjahr 2018 beging Berlin einen Gedenktag, der auf den ersten Blick ein bisschen konstruiert wirkt: den Zirkeltag. Am 5. März 2018 war die Mauer so lange verschwunden, wie sie die Stadt geteilt hatte: 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage. Ein eher bemühtes Datum, fanden manche, dabei markiert es, wie weit sich Berlin vom Würgegriff der Teilung entfernt hat.
Dass das Ende der Teilung durch Mauer und Stacheldraht inzwischen dreißig Jahre zurückliegt, hat auch einen anderen Effekt: Mehr als die Hälfte der Berliner heute sind entweder nach dem Mauerfall in die Stadt gezogen oder geboren worden. Selbst den Berlinern, die die Zeit der Teilung noch erlebt haben, kommen konkrete Erinnerungen abhanden. Sich ohne Hilfsmittel zu erinnern, wo genau einst die Mauer verlief, geht schnell schief, und mancher Altberliner ist beim Herumführen seiner auswärtigen Gäste froh, dass im Zentrum eine Linie den Mauerverlauf angibt.
Berlin ist also, rein zeitlich gesehen, recht weit weg von Titeln wie »Frontstadt des Kalten Krieges« oder »Vorpostens der westlichen Welt«. Und doch ist die Mauer irgendwie immer mit dabei, denn ohne sie kann man Berlin nicht verstehen. Nicht, warum hier Freiheit in allen Lebensbereichen einen hohen Stellenwert hat. Nicht, warum Berlin eine Metropole mit Nachholbedarf ist. Nicht, warum die Stadt wirtschaftlich weiterhin weniger potent ist als etwa London oder Paris. Oder wieso es hier eigentlich zwei Zoos gibt und zwei Nationalgalerien.
Und dann ist die Mauer immer noch das, was Berlinbesucher auf jeden Fall sehen wollen. Manche finden, man hätte viel mehr davon erhalten sollen. Andere vergessen über dem Rummel, der am Checkpoint Charlie oder der East Side Gallery herrscht, dass die Mauer eine ziemlich schreckliche Wirklichkeit war, die der Stadt fast dreißig Jahre lang die Luft abdrückte. Wieder andere lassen sich zu den Schauplätzen des Mauerfalls führen und staunen, wie rasant sich Weltgeschichte abspielen kann.
Für Berlin bedeutete der Fall der Mauer, dass die Stadt wieder zu sich selbst finden konnte. In zeitgemäßem Gewand ist Berlin heute wieder, was es jahrzehntelang nicht sein konnte: eine quirlige, dynamische und spannende Weltmetropole.
Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria ist über diesen Kontinent ein Eiserner Vorhang niedergegangen.
Winston Churchill, 1946
Mauer und Teilung gelten zwar als Charakteristikum schlechthin für die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beides aber war Ergebnis des Kalten Krieges, des Ost-West-Konflikts zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Deutschland war darin weniger Akteur als Schauplatz und Objekt. Ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war der Bau der Berliner Mauer 1961. Die Maueröffnung dagegen wurde noch in derselben Nacht als Ende des Kalten Krieges begriffen.
Die Vorgeschichte der Berliner Mauer reicht zurück bis in den Zweiten Weltkrieg, zu einer Absprache, deren Konfliktpotential seinerzeit nicht abzusehen war. Denn da waren Großbritannien, Vereinigte Staaten und Sowjetunion traute Verbündete im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Hitlerdeutschland. In Sichtweite des Sieges schlug der britische Außenminister Anthony Eden im Oktober 1943 vor, eine gemeinsame Kommission der drei Kriegspartner einzusetzen und zu planen, was mit Deutschland nach dem Ende des Hitlerreiches passieren sollte. Seit September 1944 berieten Großbritannien, Sowjetunion und USA in London über die Verwaltung im besetzten Deutschland. Eine Aufteilung in zunächst drei Zonen war vorgesehen, jeweils verwaltet von einer der Siegermächte. Nach Kriegsende wurde auch Frankreich in diesen Kreis aufgenommen, so dass letztendlich vier Zonen eingerichtet wurden. Für Berlin vereinbarte man, die Reichshauptstadt in Sektoren aufzuteilen und gemeinsam zu verwalten. Später wurde eine vermeintliche Kleinigkeit zum Zankapfel: War Berlin, das geographisch inmitten der Sowjetischen Besatzungszone lag, auch ein Teil derselben? Oder handelte es sich um eine Exklave, an der die Sowjets nicht mehr Rechte hatten als die anderen Alliierten?
Doch solange der Krieg andauerte, klappte die Abstimmung der Waffenbrüder bestens. Die Alliierten Konferenzen in Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli/August 1945) bestätigten die Absprachen. Mit der deutschen Kapitulation 1945 übernahmen zunächst die Sowjets, am 11. Juli 1945 dann in der Alliierten Militärkommandantur die Siegermächte gemeinsam die Befehlsgewalt in der Stadt. Die Sektoren erhielten Kommandanten, die in der »Kommandantura« gemeinsam arbeiten sollten.
Die Aufteilung der Stadt erfolgte nach Bezirksgrenzen – und sie richtete sich nach den Erfordernissen der Besatzungsmächte, die jeweils einen Flughafen, Eisenbahnverbindungen und Naherholungsgebiete brauchten und kurze Wege in ihre jeweilige Zone bevorzugten. Berlin hatte damals 20 Bezirke, die wie folgt aufgeteilt wurden:
Sowjetischer Sektor
Pankow, Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain, Treptow, Köpenick, Lichtenberg, Weißensee
Amerikanischer Sektor
Schöneberg, Kreuzberg, Tempelhof, Neukölln, Steglitz, Zehlendorf
Britischer Sektor
Spandau, Charlottenburg, Wilmersdorf, Tiergarten
Französischer Sektor
Reinickendorf, Wedding
Nach dem gemeinsamen Sieg aber traten die Konfliktlinien zwischen Sowjets und Westmächten immer deutlicher hervor. Vor allem ging es um Demokratie in den jeweiligen Einflusssphären, aber ebenso um die Selbstbestimmung der Völker und um Reparationen. Auf Grundlage einer vorläufigen Verfassung, die die Alliierten erließen, fanden in Berlin am 13. August 1946 erstmals seit der NS-Zeit freie Wahlen statt. Interessant ist, dass dabei die SPD fast 50 Prozent der Stimmen erhielt, aber die sozialistische SED mit knapp 20 Prozent noch nach der CDU auf dem dritten Platz landete. Das entsprach nicht den Vorstellungen Stalins. Um ihre Pläne durchzusetzen und der SED Vorteile zu verschaffen, griffen die Sowjets bei jeder Gelegenheit und nicht nur in ihrem eigenen Sektor, sondern berlinweit in allen Belangen ein, zum Beispiel beim Rundfunk. Der Zwist schaukelte sich hoch. Den Amtsantritt des gewählten Oberbürgermeisters Ernst Reuter verhinderte Moskau 1947 ebenso wie eine richtige Verfassung, die die provisorische ersetzen sollte. Am 16. Juni 1948beendeten die Sowjets die Zusammenarbeit mit den Westmächten in der Alliierten Kommandantur. Kurz darauf scheiterte eine gesamtdeutsche Währungsreform: In Ost-Berlin führten die Sowjets die Ostmark ein, woraufhin die brandneue westdeutsche DM im Westteil Einzug hielt. Ergebnis war ein Währungschaos. Am 24. Juni 1948 blockierten die Sowjets über Nacht alle Verkehrsverbindungen von West-Berlin: Kein Lastwagen, kein Zug, kein Schiff aus Westdeutschland konnte mehr in die Stadt gelangen. Weil aber West-Berlin vor allem aus Westdeutschland versorgt wurde, sah sich der westliche Teil der Stadt plötzlich existentiell bedroht. Bis 1952 folgten die Teilung von Polizei und Feuerwehr, Stromversorgung und Müllabfuhr, Telefon-, Rohrpost- und Straßenbahnnetz sowie der Trinkwasserversorgung. Stalin wollte eine Lösung des Berlin-Problems nach seinen Vorstellungen erzwingen.
Ernst Reuter, Regierender Bürgermeister von West-Berlin, in einer Rede vor dem Reichstagsgebäude, 9. September 1948: Wer diese Stadt, wer dieses Volk von Berlin preisgeben würde, der würde eine Welt preisgeben (…) Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!
In dieser ersten Berlinkrise erwogen die USA, den Transit auf dem Landweg mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Dann aber antworteten Amerikaner und Briten mit der legendären Luftbrücke, als deren Vater Lucius D. Clay gilt, damals US-Militärgouverneur für Deutschland. Die sogenannten Rosinenbomber versorgten West-Berlin über das Ende der Blockade am 12. Mai 1949 hinaus von der Luft aus.
Dauer
462 Tage (25.6.1948–30.9.1949)
Anzahl der Flüge
277246
Abstand zwischen den Flugzeugen
13,5 km
Geschwindigkeit
270 km/h
Spitzenfrequenz
90 Sekunden
Landeplätze
Flughäfen Tempelhof, Gatow, Tegel; die Havel
Transportvolumen
1831200 Tonnen
Transportgut
63 % Kohle, 28 % Lebensmittel
Todesopfer
78
verlorene Flugzeuge
ca. 38
Stalin hielt zwar ein militärisches Großaufgebot in der DDR vor, wollte aber keinen Krieg riskieren. So lief seine Erpressung schließlich ins Leere. Noch während der Luftbrücke zog im Spätsommer 1948 die Stadtverordnetenversammlung, ohne die kommunistische SED, ins Westberliner Rathaus Schöneberg, womit sich die politische Spaltung vollzog. Im Ostberliner Admiralspalast erklärte am 30. November 1948 eine »außerordentliche Stadtverordnetenversammlung« den Gesamtberliner Magistrat für abgesetzt und wählte einen eigenen. Fortan hatte Berlin zwei Parlamente, zwei Bürgermeister, zwei Währungen und unterschiedliche Lebensverhältnisse – aber die Grenze zwischen den Ost- und den Westsektoren konnte man weiterhin passieren. Zehntausende Ostberliner arbeiteten in West-Berlin und verdienten DM, kauften ein und sahen Hollywoodfilme in den dortigen Kinos, die Ostgeld akzeptierten. Umgekehrt arbeiteten Westberliner im Osten oder studierten dort, besuchten Freunde und Verwandte. Bis zu 60000 »Grenzgänger«, also Ostberliner, arbeiteten im Westteil, auch ein Viertel der Westberliner Studierenden kam aus dem Osten. Dort wiederum arbeiteten mehr als 12000 Westberliner. Man versuchte sich, so gut es ging, mit den schwierigen Verhältnissen zu arrangieren, und hielt damit das Stadtleben einigermaßen aufrecht. Die Berliner konnten die Verhältnisse weder übersehen noch ignorieren, und politisch keine Position zu beziehen war schwierig. Mitten durch Familien gingen Risse, wenn politische Ansichten auseinandergingen, manche Lebenswege trennten sich schon vor dem Mauerbau für lange Zeit.
Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 wurden neue Fakten geschaffen. Geburtshelfer der Bundesrepublik im Westen mit der »provisorischen« Hauptstadt Bonn wurden im Frühjahr die Westalliierten. Im Herbst zog Moskau nach und ließ die Deutsche Demokratische Republik gründen, dessen Hauptstadt Ost-Berlin wurde. Das Ziel der Wiedervereinigung wurde auf beiden Seiten nicht aufgegeben, aber die Vorstellungen darüber blieben unvereinbar. Die Bundesrepublik weigerte sich außerdem, die DDR anzuerkennen, weil es keine freien Wahlen gab. International forcierte Bonn eine Politik, die DDR nicht anzuerkennen, während die mit Unterstützung Moskaus eben darauf beharrte. West-Berlin wurde entsprechend den alliierten Vereinbarungen kein Teil der Bundesrepublik, dagegen erklärte die DDR Ost-Berlin zu ihrer Hauptstadt.
Ab Mai 1952 sicherte die DDR die innerdeutsche Grenze immer besser, seit 1957 war sie fast unüberwindbar. Besuchsreisen in beiden Richtungen blieben möglich, wurden aber immer seltener bewilligt. Wer aus persönlichen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen in den Westen übersiedeln wollte, konnte das aber weiterhin per Sektorenübertritt von Ost- nach West-Berlin tun, entweder per U- und S-Bahn oder über einen der rund achtzig Straßenübergänge. Dabei durfte man sich nicht verdächtig machen, weil Republikflucht 1954 unter Strafe gestellt wurde. Aber ohne Koffer ließ sich eine Flucht über die Sektorengrenze bewerkstelligen.
1950
197788
1951
165648
1952
182393
1953
331390
1954
184198
1955
252870
1956
279189
1957
261622
1958
204092
1959
143917
1960
199188
1961
207026
Die Frage, wie das Schlupfloch Berlin zu stopfen war, war für die DDR-Regierung seither Dauerthema. Bereits im August 1951 informierte der Leiter der Staatlichen Planungskommission Parteichef Ulbricht darüber, dass die Abhängigkeit der DDR von West-Berlin, etwa bei der Energie- oder Wasserversorgung, recht schnell überwunden werden könne. Im Februar 1952 erhielt die Sowjetische Kontrollkommission, die die DDR-Regierung überwachte, einen 10-Punkte-Plan, um die Verbindungen West-Berlins ins Umland zu beschränken. Ein halbes Jahr später startete die DDR den Kampf gegen die Republikflucht. Sie sollte mit Propaganda, geheimdienstlicher Aufklärung und Gegenabwerbung im Westen eingedämmt werden. Im Mai 1952 wurden alle Telefonleitungen zwischen Ost- und West-Berlin gekappt, im Januar 1953 traf es den Straßenbahnverkehr sowie 200 der 277 Zufahrtswege nach West-Berlin. Ulbricht schlug außerdem bereits eine schärfere Teilung Berlins vor, was Moskau im März 1953 ablehnte. Mitte der 50er Jahre entwarf die Volkspolizei »Plan Anton«, nach dem in drei Stufen der Verkehr zwischen Ost- und Westsektoren eingeschränkt werden sollte – Stufe 3 bedeutete die komplette Einstellung des Ost-West-Verkehrs. Im Dezember 1957 wurde die Strafe bei Republikflucht auf drei Jahre erhöht und schon Planung und Vorbereitung sowie Fluchthilfe kriminalisiert. Außerdem wurde Jahre vor dem Mauerbau zweimal gewissermaßen geprobt: Im Oktober 1957 wurde anlässlich der DDR-Währungsreform West-Berlin ganz abgeriegelt und im August/September 1960 zur Einführung neuer Reisekontrollen der innerstädtische Verkehr verschärft überwacht.
Nikita Chruschtschow am 10. November 1958 in einer Rede in Moskau: … ist der Zeitpunkt für die Signatarmächte des Potsdamer Abkommens gekommen, auf die Reste des Besatzungsregimes in Berlin zu verzichten und dadurch die Möglichkeit für die Herstellung normaler Zustände in der Hauptstadt der DDR zu schaffen.
Am 10. November 1958 forderte Stalins Nachfolger Chruschtschow in einer Rede in Moskau das Ende des Viermächtestatus für Berlin und den Abzug der Alliierten, um Berlin zur entmilitarisierten »Freien Stadt« zu machen. Die US-Regierung schloss am 21.11.1958 eine Anerkennung der DDR aus. Am 27. November 1958 stellte die Sowjetunion den Westmächten ein Ultimatum: Kam nicht innerhalb von sechs Monaten ein neues Übereinkommen der vier Siegermächte zu Berlin zustande, würde Moskau einseitig einen Friedensvertrag mit der DDR abschließen und ihr damit volle Souveränität einschließlich der Kontrolle über alle Zufahrtswege nach Berlin zusprechen. Die zweite Berlinkrise hatte begonnen. In den Hauptstädten des Westens begann das Rätselraten, ob dies bloß ein weiterer Nervenkrieg war, wie man ihn aus Moskau bereits kannte, oder ob diesmal mehr dahintersteckte. Wie weit würde Chruschtschow gehen? Es roch nach Krieg, Krieg um den Status Berlins. Nicht besser machte es die Tatsache, dass Frankreich, Großbritannien und die USA durchaus uneins waren, was nun zu tun sei. Waren Verhandlungen mit der Sowjetunion ratsam? Was konnte das Ziel sein? London war zum Einlenken gegenüber Moskau und zur, wenn auch inoffiziellen, Anerkennung der DDR so bereit wie kategorisch dagegen, wegen Berlin einen Krieg zu riskieren. Was die britische Regierung als Pragmatismus verstand, musste die westdeutsche Regierung in Bonn geradezu entsetzen. Bundeskanzler Adenauer war gegen jedes Zugeständnis an Moskau, weil das den Westen schwächte und den Sowjets in die Hände spielte.
US-Außenminister Herter am 27. August 1959: Westdeutschland ist nicht bereit, für eine Berlin-Regelung Opfer zu bringen.
Berlin war der Testfall für die Glaubwürdigkeit und Standfestigkeit westlicher Politik, wie Bundeskanzler Adenauer gegenüber dem britischen Premierminister Macmillan betonte. Heute wissen wir, dass Chruschtschow bluffte und keine militärischen Vorbereitungen für den Kriegsfall traf. Er war sich sicher, selbst die USA würden wegen Berlin keinen Krieg riskieren. Gleichwohl ließ er vorübergehend nördlich von Berlin Atomwaffen stationieren, die noch vor Ablauf des Ultimatums gefechtsbereit waren. Es war ein gefährliches Pokern beider Seiten. Die Westmächte verständigten sich schließlich darauf, gegenüber Moskau nicht nachzugeben, und kalkulierten ihrerseits, auch die Sowjets würden einen Krieg nicht riskieren.
US-Präsident Eisenhower am 19.12.1959: Berlin ist das Symbol westlicher Entschlossenheit.
In der Tat: Das Ultimatum verstrich, ohne dass Moskau eine der angekündigten Maßnahmen ergriff. Stattdessen setzte überraschend eine kurze Tauwetterperiode ein. Am 11. Mai 1959 begann in Genf eine Konferenz der Außenminister unter Beteiligung der beiden deutschen Staaten. Sie blieb zwar ergebnislos, aber Mitte September stattete Chruschtschow den USA einen Besuch ab, der atmosphärisch vielversprechend verlief. Doch die Phase der Entspannung dauerte nur noch bis Mitte 1960 an, als ein Gipfeltreffen der Staatschefs in Paris per Eklat scheiterte. Chruschtschow, der kein Ergebnis nach seinen Vorstellungen erwarten konnte, nahm den Abschuss eines US-Spionageflugzeugs über der Sowjetunion, bei dem der Pilot Francis Gary Powers gefangen genommen wurde, zum Vorwand, das Treffen gleich zu Anfang, am 16. Mai 1960, geräuschvoll platzen zu lassen. Vorher schon, am 9. Mai, hatte er in Moskau erklärt, falls nach dem einseitigen Abschluss eines Friedensvertrags mit der DDR die Westmächte versuchen sollten, mit Waffengewalt nach Berlin vorzudringen, würde man darauf eben mit Gewalt antworten. Alles war wieder beim Alten. Die wiederholte Drohung mit dem Friedensvertrag schwebte wie ein Damoklesschwert über dem prekären Zustand der Ost-West-Beziehungen.
…großes Loch inmitten unserer Republik. DDR-Parteichef Ulbricht über West-Berlin auf einer Sitzung des Warschauer Pakts, 29. März 1961
Nach dem Pariser Paukenschlag fürchteten die Westmächte einen weiteren, denn Chruschtschow flog von Paris direkt nach Ost-Berlin: perfekte Gelegenheit für die immer wieder angekündigte einseitige Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit der DDR. Doch Chruschtschow ließ wissen, er werde abwarten bis zum in Paris vereinbarten erneuten Gipfel 1961, der vielleicht eine allseits akzeptierte Lösung bringe. Deutlich war allerdings für alle Seiten, dass die Positionen noch immer weit auseinanderlagen und dass einseitige Maßnahmen Moskaus zum Krieg führen konnten.
Kriegsgefahr und das Gefühl, dem Kräftemessen der Supermächte ohnmächtig ausgeliefert zu sein, zerrten an den Nerven der Berliner. Man hatte den Eindruck, der internationalen Politik ausgeliefert zu sein, weil sich jede Nachricht unmittelbar auf das eigene Leben auswirken konnte. Während man sich im Ostteil mit Meinungsäußerungen eher zurückhielt, wurde die Nachrichtenlage an den Westberliner Currywurst-Ständen lebhaft diskutiert. Für West-Berlin gab es in den nächsten Monaten eine Vielzahl an Problemen, Nadelstichen und Demütigungen:
8. Juli 1960: Chruschtschow droht Friedensvertrag mit der DDR an, falls der Bundestag eine für September in Berlin geplante Sitzung abhalte
19. Juli 1960: Ulbricht droht auf einer Pressekonferenz in derselben Angelegenheit
August 1960: Die Bundestagssitzung in Berlin wird verschoben. Die Sowjetunion protestiert gegen Berlin als Standort für den Deutschlandfunk
4. September 1960: Zum Treffen der Heimatvertriebenen in West-Berlin verabschiedet die DDR neue Reisebestimmungen und verweigert mehr als 1000 Bundesbürgern die Transitreise durch die DDR
8. September 1960: Besuche von Bundesbürgern in Ost-Berlin müssen bei der DDR-Volkspolizei beantragt werden
13. September 1960: Die DDR akzeptiert für West-Berliner bundesdeutsche Reisepässe nicht mehr als gültige Reisedokumente
26. Oktober 1960: Der Bundestag entscheidet Rundfunkgründung ohne Standort, später wird es Köln
Als aber am 30. September die Bundesregierung das Interzonen-Abkommen zum deutsch-deutschen Handel zum Jahresende kündigte, hatte sie einen Nerv getroffen, denn überraschend lenkte die DDR ein und garantierte die freie Zufahrt nach West-Berlin.
Der Konflikt der Supermächte wies der deutschen Politik die Stühle in der zweiten Reihe zu, schließlich war Deutschland darin weniger Akteur als Schauplatz. Vor allem für die DDR, die wirtschaftlich und politisch zu kämpfen hatte, war eine Lösung der Berlin-Frage jedoch überlebenswichtig. Inzwischen waren nämlich die Flüchtlingszahlen aus der DDR enorm angeschwollen, wenn auch mit einem Knick 1959 wegen schärferer Verfolgung von Fluchtplanung und -absicht. Zu viele gaben die DDR verloren, lehnten den autoritären Staat und sein Wirtschaftssystem ab, schauten neidvoll auf den Aufschwung im Westen. Als die DDR seit Oktober 1960 den Berliner »Grenzgängern« das Leben immer schwerer machte, stieg die Zahl der Flüchtlinge weiter. Bis Anfang der 60er Jahre hatten fast drei Millionen Menschen den Osten Deutschlands verlassen – von 20 Millionen 1945 waren nur noch 17 Millionen übrig, als die DDR mit dem Mauerbau die Reißleine zog. Diese Zahlen waren denkbar schlechte PR für die DDR. Ebenfalls mit Sorge beobachteten das die Westalliierten, denn welche Auswirkungen mochte eine weitere Destabilisierung der DDR auf den Westen haben?
Anfang Januar 1961 trat John F. Kennedy sein Amt als US-Präsident an. Wie schon Eisenhower 1959 betonte nun auch er mehrmals die Verantwortung der USA – allerdings nicht mehr für ganz Berlin, sondern für West-Berlin – was jedoch einstweilen keine rechte Beachtung fand. Diese Sprachregelung findet sich auch im Schlusskommuniqué des Adenauer-Besuchs in Washington vom 17. Februar 1961. Immer häufiger zog jetzt die US-Regierung intern die Möglichkeit in Betracht, die DDR könnte die Sektorengrenze abriegeln, um die Flüchtlingswelle zu stoppen.
Nikita Chruschtschow am 9. März 1961: West-Berlin ist ein Knochen im Hals der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen.
Als am 3./4. Juni 1961 Kennedy und Chruschtschow in Wien zusammenkamen, hoffte der sowjetische Parteichef, den jungen und politisch bereits angeschlagenen US-Präsidenten in der Berlin-Frage zum Einlenken zu zwingen und den, wie er sagte, größten Gefahrenherd der Welt zu beseitigen. Ein »Krebsgeschwür« sei Berlin, und Moskau entschlossen, zu dessen Beseitigung den angedrohten Friedensvertrag mit der DDR im Dezember einseitig abzuschließen. Aber Kennedy zeigte unerwartete Härte und bestand auf dem freien Zugang der Westmächte nach Berlin, den Chruschtschow ihm absprach. Für den Fall, dass die Westmächte dann den Weg nach Berlin freikämpfen wollten, kündigte Moskau Gegengewalt an. Die Gefahr eines Krieges schien größer denn je, als Kennedy abschließend sagte, es würde dann wohl ein kalter Winter werden.
Am 28. Juni 1961 bezeichnete der ehemalige US-Außenminister Acheson in seinem Berlin-Report den Konflikt als die entscheidende Machtprobe zwischen den Supermächten USA und UDSSR. Das Problem sei die mangelnde Glaubwürdigkeit der US-Politik bei nuklearer Abschreckung. Man müsse Moskau klarmachen, dass die USA entschlossen seien, ihre Atomwaffen einzusetzen, dann würde Chruschtschow schon zurückrudern.
Der bundesdeutsche Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß bei Gesprächen mit der US-Regierung in Washington, 14. Juli 1961: Wir müssen bereit sein zu pokern. Wenn wir das Risiko nicht auf uns nehmen und nicht pokern wollen, dann haben wir das Spiel schon im Voraus verloren.
Während der Westen einen Atomkrieg also nicht wollte, aber ernsthaft in Betracht zog, wandte sich Kennedy am 25. Juli 1961 in einer weltweit ausgestrahlten Fernsehrede an die Öffentlichkeit, Auftakt zu einer groß angelegten PR-Kampagne in Sachen Berlin-Politik. Er formulierte die drei Berlin-Essentials, die sich abermals nur auf West-Berlin bezogen:
Präsenz der Westmächte in West-Berlin
Freier Zugang nach West-Berlin
Freiheit für West-Berlin
John F. Kennedy am 25. Juli 1961: Wir haben unser Wort gegeben, dass wir jeden Angriff auf diese Stadt als einen gegen uns alle gerichteten Angriff ansehen werden.
Kennedy gab zu verstehen, dass der Westen zwar gesprächsbereit war, aber West-Berlin nicht aufgeben würde. Umgekehrt hieß es, dass Sowjets und DDR in Ost-Berlin freie Hand hatten.
John F. Kennedy am 31. Juli 1961: Er [Chruschtschow] muss etwas tun, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen – vielleicht eine Mauer bauen. Und wir werden das nicht verhindern können. Ich kann das Bündnis zusammenhalten, um West-Berlin zu verteidigen, aber nicht, um den Zugang nach Ost-Berlin offenzuhalten.
Chruschtschow bezeichnete Kennedys Rede als Kriegserklärung und antwortete mit Gegendrohungen. Schließlich vermittelten ihm Spionageberichte sowie Kennedys Geheimdiplomatie, die er auf diskreten Kanälen durch seinen Bruder Robert betrieb, dass Washington keineswegs bluffte. Diese Art des diplomatischen Kontakts sollte während der Kubakrise 1962 noch größte Bedeutung erlangen.
Ulbrichts »freudestrahlende« Reaktion laut Chruschtschow-Memoiren auf den Vorschlag des Mauerbaus: Dies ist die Lösung! Das hilft uns. Ich bin dafür.
DDR-Staatschef Ulbricht hatte in Moskau mit seinen Bitten, die Sektorengrenze abriegeln zu dürfen, so lange kein Gehör gefunden, wie Chruschtschow noch auf die große Lösung durch einen Abzug der Westalliierten aus West-Berlin hoffte. Ulbricht sah sich ein ums andere Mal vertröstet. Trotzdem plante die DDR-Regierung seit längerem eine Schließung der Sektorengrenze. Ende März scheint Ulbricht schließlich Chruschtschow überzeugt zu haben, aber grünes Licht zur Umsetzung der Grenzschließung bekam er weiterhin nicht. Gleichwohl ließ er am 3. Mai 1961 militärische Planungen für den Mauerbau anlaufen und am 19. Mai 1961, noch vor Chruschtschows Treffen mit Kennedy in Wien, den sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin wissen, eine Grenzschließung stehe bevor, was aber die Zustimmung Moskaus voraussetzte. In einer Sitzung in Moskau Ende Mai 1961 sprach Chruschtschow davon, »den Knoten West-Berlin« endlich zu durchschlagen und den Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Er erwog sogar, bei einer Blockade Flugzeuge der Westalliierten auf dem Weg nach West-Berlin abzuschießen. Bald darauf nahm Ulbricht auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin am 15. Juni erstmals öffentlich das Wort Mauer in den Mund. Dabei war er gar nicht explizit nach einer Mauer gefragt worden, sondern nach einer Schließung der Sektorengrenze.
Ulbricht auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin, 15. Juni 1961, auf die Frage nach einer Schließung der Sektorengrenze: Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Einstweilen plante Ulbricht sogar, die Kontrolle über den Luftverkehr von und nach Berlin zu übernehmen, was Moskau später ablehnte. Denn im Juli ließ Chruschtschow von seiner harten Haltung ab, als der KGB Dokumente vorlegte, was die Westalliierten im Falle einer Blockade planten: bewaffneten Begleitschutz und die Zerstörung von Abwehrstellungen auf dem Boden der DDR. Das Risiko einer militärischen Eskalation bis zum Atomkrieg erschien ihm zu groß, wenn nach Abschluss eines Friedensvertrags DDR und Sowjetunion die Zufahrtswege nach West-Berlin schließen würden. Ende Juni wies er die Sowjetarmee in der DDR an zu prüfen, ob man die Grenze um West-Berlin komplett schließen könne. Am 22. Juli 1961 vermerkt ein Papier des US-Außenministeriums, dass eine Abriegelung der Berliner Sektorengrenze zu erwarten sei. Wann genau Chruschtschow den Entschluss fällte, ob Anfang oder eher Ende Juli, ist unter Historikern umstritten, weil laufende Vorbereitungen immer auch dem Fall dienen konnten, den angedrohten Abschluss des Friedensvertrages umzusetzen. Bis heute sind nicht alle Akten in Moskau zugänglich. Am 7. August 1961 sagte Chruschtschow in einer Fernsehansprache, eine Blockade West-Berlins werde es nicht geben.
Januar
16697
Februar
13576
März
16094
April
19803
Mai
17791
Juni
19198
Juli
30415
August
47433
September
14821
Oktober
5366
November
3412
Dezember
2420
Unter dem Eindruck von Kriegsgefahr und stark wachsenden Flüchtlingszahlen trafen sich wenige Stunden vor der oben zitierten Rede Kennedys am 25. Juli in Ost-Berlin Stabschefs der DDR