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Im dritten Band seiner historischen Reihe befasst sich Bernd Ingmar Gutberlet mit den Rätseln, Irrtümern und Kontroversen der Geschichte und zeigt, dass nicht jede vermeintliche Wahrheit auch tatsächlich stimmt – obwohl man sie allgemein für bewiesen hält. Falsche Überlieferungen sind nämlich fest im allgemeinen Gedächtnis eingebrannt oder bieten einfach die besseren Geschichten, die man ungern gegen langweiligere Fakten austauscht. So geistern sie weiter als Bestandteil der Landeskultur oder des kollektiven Gedächtnisses durch unser Bild der Vergangenheit. Dabei ist die Geschichte ein wichtiger Teil unserer Gegenwart. Ihre Irrtümer zu benennen, über geheimnisvolle Rätsel aufzuklären und Kontroversen der Fachwelt zu verstehen ist ebenso unterhaltsam wie lehrreich. Die Beschäftigung damit macht wachsamer in einer Zeit, in der Geschichte häufig für politische Zwecke verfälscht und missbraucht wird. Und es gibt immer wieder neue Erkenntnisse, sodass vermeintliche Wahrheiten und Sachverhalte revidiert werden müssen.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2023
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BERND INGMAR GUTBERLET
Irrtümer, Rätsel und Kontroversen der Geschichte
Geschichte bleibt spannend
Irrtümer
Römische Wohlstandsverwahrlosung
Zuflucht in der heiligen Stadt
Inbegriff für Barbarei und Kulturlosigkeit
Davon geht die Welt nicht unter
Die Tücken der Statistik
Offener Anfang
Kirchlicher Verfolgungswahn
Wenn Mikroben die Welt durchschütteln
Wem es chinesisch vorkommt
Ein Jahrtausendsassa
Wer sich bewegt
Die Straßen des Führers
Der Sieg im Handumdrehen
Klägliche Reste eines Weltverbrechers
Zerrissenes Eiland
Auftakt zum Aufbau
Blick in den Abgrund
Revolution auf Rezept
Rätsel
Vereinbart oder nicht
Rechnen mit Bethlehem
Die graue Vorzeit
Fleischliche Sünden
Brennbare Kostbarkeit
Kontroversen
Leben im falschen Jahrhundert
Wahre Liebe
Wer was entdeckte
Die Ernte der Bauern
Nur eine Phase
Ein Glas Wasser
Sterben wie die Fliegen
Schlafwandelnd ins Verhängnis
Anzünden und reinwaschen
Mütter Courage
Vereint, verneint, verschoben
Literatur
Der Autor
Dieser dritte Band der Reihe über die Geschichte und ihre Tücken wendet sich den Irrtümern, Rätseln und Kontroversen über die Vergangenheit zu. Denn nicht jede vermeintlich historische Wahrheit ist wirklich eine, selbst wenn fast jeder sie für bewiesen hält. Häufiger Grund: Nichts ist hartnäckiger als ein vielfach wiederholter Irrtum. Anderes lässt sich einfach nicht (oder noch nicht) beweisen, mag noch so viel für eine bestimmte Erklärung sprechen. Und schließlich gibt es große Fragen der Geschichte, über die die Geschichtsschreibung heillos zerstritten ist. Jede Seite führt Belege für ihre These an, aber eine befriedigende Klärung zu allseitiger Zufriedenheit kann einfach nicht erreicht werden.
Immer wieder erweisen sich historische Irrtümer als höchst muntere Gesellen, selbst wenn die Fachwelt sie längst zu Grabe getragen hat. Das kann unter anderem daran liegen, dass sie schon so lange kursieren und sich daher im allgemeinen Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt haben. Manchmal liefern die falschen Überlieferungen auch einfach die besseren Geschichten und werden nur ungern durch eine vielleicht langweiligere Tatsache ersetzt. Auch als Bestandteil von Landeskultur, des kollektiven Gedächtnisses oder genutzt für politische Zwecke geistern sie als Untote durch unser Bild der Vergangenheit.
Daneben gibt es jedoch auch Fragen, die sich nicht mehr oder noch nicht befriedigend klären lassen, beispielsweise weil die Quellenlage zu dünn ist oder nicht eindeutig genug. Mitunter wartet ein Sachverhalt aber auch nur auf einen originellen neuen Zugang, weil die richtigen Fragen noch nicht gestellt wurden. Und schließlich gibt es sogar erbitterte Kontroversen unter Historikern und Historikerinnen – manche grandios und spannend, weil widerstreitende Thesen nach allen Regeln der Historikerkunst und in aller Schärfe ausgeleuchtet werden, andere kleinlich und eher beklagenswert, weil die streitenden Seiten sich mit all ihrem Können nicht einfach zusammentun, um eine offene Frage über die Geschichte gemeinsam zu beantworten.
Die Geschichte hat mit unserer Gegenwart mehr zu tun, als wir denken. Beispiele dafür finden sich in diesem Buch, etwa aus der Geschichte der Pandemien, in der uns erstaunlich vieles an unsere jüngere Erfahrung erinnert. Umso wichtiger ist es, die Irrtümer in unserem historischen Gedächtnis zu benennen, ihre Rätsel aufzuklären und die Kontroversen der Fachwelt zu verstehen. Das ist nicht nur unterhaltsam, sondern schärft unseren Blick – nicht zuletzt auf die Gegenwart. Die Beschäftigung mit den Unschärfen der Vergangenheit macht wachsamer in einer Zeit, in der Geschichte für politische Zwecke verfälscht und missbraucht wird. Und wie nebenbei wird uns bewusst, dass die Vergangenheit alles andere als tot oder langweilig ist, denn immer wieder gibt es neue Erkenntnisse und muss vermeintlich Wahres revidiert werden, weil Historiker und Historikerinnen nicht unfehlbar und ihre Erkenntnisse nicht in Stein gemeißelt sind. Manche Fragen allerdings, die wir an die Vergangenheit stellen, können einfach nicht beantwortet werden: noch nicht oder möglicherweise nie. Die Geschichte bleibt spannend.
Bei aller Pracht und Herrlichkeit hat die Gesellschaft im antiken Rom keinen allzu guten Ruf. Keineswegs nur die Kaiser und Kaiserinnen oder die Oberschicht, so eine verbreitete Ansicht, lebten in Saus und Braus, genossen den Reichtum des Imperiums und setzten sich über moralische Konventionen hinweg. Auch die Einwohner von Rom insgesamt stehen im Ruch, vergnügungssüchtig und verwöhnt gewesen zu sein. Panem et circenses, Brot und Spiele, das ist bis heute ein stehender Begriff für den vermeintlich sorglosen Alltag in der antiken Metropole und ein Synonym für die Dekadenz der römischen Stadtbevölkerung, an der, so eine weitere Ansicht, das Riesenreich schließlich zugrunde ging. »Dies Volk […] es hält nun still sich und heget allein zwei Wünsche mit Bangen im Herzen: Brot und Spiele«, schrieb der Satiriker Juvenal zu Beginn des 2. Jahrhunderts und ließ dieses Begriffspaar in das weltweite Sprachrepertoire bis heute eingehen. Andere antike Autoren übten ähnliche Kritik, während eine zeitgenössische Inschrift dem Volk vermutlich eher aus der Seele sprach: »Bäder, Weine und Liebe richten unsere Körper zugrunde, doch nur Bäder, Weine und Liebe machen das Leben aus.«
Bis heute sagt man den Römern der Antike nach, sie hätten einen Großteil ihrer Zeit im Circus verbracht, wo sie voll brutaler Sensationslust johlend zusahen, wie Gladiatoren einander oder wilde Tiere abschlachteten beziehungsweise wilde Tiere einander oder schutzlose Menschen zerfleischten. Welch verschwenderische Spektakel wurden außerdem inszeniert, welch aufwendige Seeschlachten und farbenprächtige Götterspektakel in Arenen nachgestellt, um das Volk zu zerstreuen! Und wenn die Römer dann spektakulär unterhalten nach Hause gingen, bereiteten sie sich aus Lebensmitteln, die sie kostenfrei bekamen, luxuriöse Speisen zu und schlugen sich bei Gelagen die Bäuche voll.
Aber entspricht dieses Bild der Wirklichkeit im alten Rom oder handelt es sich um ein Zerrbild? Immerhin ist den antiken Historikern schon in ihrer Darstellung der Kaiser nicht recht zu trauen – liegt also die Sache mit der Verurteilung des Juvenal vielleicht ganz ähnlich? Wie so oft in der Geschichte der Menschheit sind die einfachen Leute der römischen Antike in den zeitgenössischen Schriften deutlich unterrepräsentiert – aber kann man solchen eher spärlichen Einlassungen kritiklos folgen? Außerdem: Wenn sie denn Erwähnung finden, sprechen daraus häufig Vorurteile und Vorbehalte der »besseren« Schichten gegenüber den »niederen« – Juvenal war da keine Ausnahme. Selbst moderne Geschichtswissenschaftler müssen sich diese Kritik gefallen lassen, auch sie identifizierten sich lange Zeit mit der Oberklasse, der die Entscheidungsträger entstammten, und übernahmen voller Ressentiments und Desinteresse die alten Einschätzungen, ohne der Sache auf den Grund zu gehen. »In Rom gab es 150 000 notorische Faulenzer, die von der öffentlichen Hand großzügig unterstützt wurden«, schrieb ein Historiker Mitte des 20. Jahrhunderts, und ein anderer stellte fest: »Verführt von Demagogen und Zuwendungen, waren dem römischen Volk die Kaiserzeit und die Versorgung mit Brot und Spielen hochwillkommen.«
Die Ernährung der meisten Römer war im Grunde mediterran-bodenständig. Der viel zitierte Luxus bei Tisch kam ungefähr ab dem 2. vorchristlichen Jahrhundert auf und wurde seit Caesars Zeiten immer raffinierter – aber natürlich nur für diejenigen, die sich diesen Luxus auch leisten konnten, und das war nur eine winzige Minderheit. Die Mehrheit begnügte sich auch weiterhin mit meist drei Hauptmahlzeiten, von denen die abendliche schon damals am wichtigsten war und im Allgemeinen drei Gänge umfasste. Es gab aber auch viele Ärmere, die sich in Ermangelung eigener Möglichkeiten außer Haus in einfachen Garküchen höchst frugal versorgten. Die wichtigsten Grundnahrungsmittel waren Getreide, Olivenöl und Wein – schon wegen der guten Lagerfähigkeit. Fleisch kam für die Mehrheit der Bevölkerung selten bis nie in den Topf.
Rom war seit der Gründung 753 v. Chr. von einem Häufchen Siedlungen am Tiber zur vielleicht größten vormodernen Stadt überhaupt geworden – mit vermutlich rund einer Million Einwohner. Parallel zum Aufstieg zunächst zur mächtigsten Stadt des italienischen Stiefels und dann eines riesigen Weltreiches, das von England bis Ägypten, von Gibraltar bis Syrien reichte, wuchs Rom, zog von überallher Zuwanderer an und hatte mit dem eigenen Erfolg ebenso zu kämpfen wie das Imperium als Ganzes. Die Versorgung der Metropole stellte keine leichte Aufgabe dar, zumal ohne die Segnungen moderner Technik, Logistik oder Landwirtschaft. Spätestens im Übergang von der Republik zur Kaiserzeit konnte die Belieferung mit Lebensmitteln, aber auch mit Baumaterial und Holz nicht mehr regional bewerkstelligt werden. Was an Nahrungsmitteln für die hungrige Hauptstadt gebraucht wurde, gaben die Böden nicht einmal der weiteren Umgebung her. Für die Versorgung der Hauptstadt allein mit den drei genannten Grundnahrungsmitteln wurde bei einer Bevölkerungszahl von einer Million der Bedarf an Transportkapazität auf rund 1700 Schiffsladungen pro Jahr geschätzt – nur für diese Güter. Sie kamen nunmehr überwiegend aus Sizilien, Sardinien sowie Nordafrika, insbesondere Ägypten, das als Kornkammer des Reiches galt.
Aufgrund des schieren Umfangs und der weiten Transportwege war die Versorgungslage stets gefährdet: durch Missernten, Naturkatastrophen, Piraterie, Kriege oder Korruption. In solchen Fällen kam es in Rom immer wieder zu Revolten des einfachen Volkes, das schon bei leichten Preissteigerungen in Schwierigkeiten geriet. Da lag es im Interesse von Politik und Verwaltung, eine bessere, möglichst krisensichere Versorgung zu moderaten Preisen zu gewährleisten. Als man sich des Problems annahm, war aus dem Römischen Reich eine oligarchisch organisierte Demokratie geworden. Stabile Verhältnisse in der Hauptstadt und damit im gesamten Imperium hingen nicht zuletzt von den Lebensumständen der römischen Stadtbevölkerung ab. Volkes Stimme verfügte weiterhin über großen Einfluss, wie die Zeitzeugnisse in reichem Maß belegen. Zudem war die Staatsgewalt auch nicht so schlagkräftig, dass man Proteste und Unruhen leicht in den Griff bekommen hätte, denn es gab keine Polizei und nur wenig Militär innerhalb der Stadt. Für die Entscheidungsträger konnte es also sehr schnell heikel werden.
Dass die Lebensmittelversorgung und die Preise auf lokalen Märkten ungeahnte Folgewirkungen haben können, hat sich im Lauf der Geschichte zahllose Male erwiesen und tut es bis in unsere Gegenwart. Zur Zeit des römischen Imperiums war dem Volk schon deshalb nicht vermittelbar, dass es hungern und sich bescheiden sollte, weil die Macht Roms unumschränkt schien. Das Volk erhob verständlicherweise Anspruch auf Teilhabe an den Segnungen des Supermachtstatus; die Regierenden waren also gut beraten, möglichem Volkszorn wegen leer gefegter Märkte oder horrender Brotpreise vorzubeugen. Mehr noch, sie sahen es zunehmend als wichtige und ehrenhafte Pflicht an, die Versorgung vor allem der Millionenstadt Rom zu sichern. Noch zur Zeit der Republik, im Jahr 123 v. Chr., begann man angesichts einer ernsten Versorgungskrise, einem Großteil der Stadtrömer regelmäßig verbilligtes Getreide zur Verfügung zu stellen. Zuvor war das immer nur im konkreten Bedarfsfall geschehen, nun aber wurden die Vergünstigungen institutionalisiert. In deren Genuss kamen dennoch einstweilen nicht alle, vor allem die Ärmsten nicht, wenn das Getreide trotz subventionierter Preise unerschwinglich blieb; auch waren Freigelassene vermutlich ausgeschlossen. 58 v. Chr. ging man dazu über, einen größeren, festgelegten Personenkreis mit kostenlosem Getreide zu beliefern. Im Laufe der Zeit wuchs die Zahl der Berechtigten, schließlich standen diese Zuwendungen rund 360 000 Menschen zu. Wer ohne Bürgerrechte war, hatte allerdings das Nachsehen, profitierte aber immerhin davon, dass der Staat auf die Preise der wichtigsten Lebensmittel Einfluss nahm.
Seit Rom Kaiserreich geworden war und Augustus regierte, oblag es dem Kaiser, die Versorgung der stadtrömischen Bürger zu sichern, und der nahm diese Pflicht meist sehr ernst. Augustus begrenzte den Kreis der zu kostenlosen Getreidelieferungen Berechtigten auf bis zu 200 000 – weiterhin ausschließlich Römer mit Bürgerstatus. Alles in allem erhielt rund ein Viertel der Bevölkerung Roms solche Zuwendungen, deren Umfang aber wohl für rund die Hälfte der Einwohner ausreichte. Später ging man dazu über, auf die Bezugsscheine Brot auszugeben; im Verlauf des 3. Jahrhunderts kamen noch Olivenöl und Schweinefleisch sowie Wein zu ermäßigten Preisen auf die Liste. Insgesamt handelt es sich angesichts der begrenzten logistischen Möglichkeiten der Zeit nicht nur finanziell um eine bemerkenswerte Leistung, die über Jahrhunderte, von einigen Engpässen abgesehen, gut funktionierte.
Ein zweiter Weg, das römische Volk durch Wohltaten zu befrieden, waren die Spiele – und zwar nicht als triviale Randerscheinung oder bloße Volksbelustigung. Dem Mythos nach waren sie so alt wie die Stadt Rom selbst; Stadtgründer Romulus soll sie eingeführt haben. Außerdem hatten sie einen religiösen, die Gladiatorenspiele zumindest einen rituellen Ursprung, auch das machte sie zu einem Kulturgut. Ausgerichtet von Vertretern der regierenden Familien stellten sie eine Gegenleistung ans Volk fürs Amt dar – mit dem Mehrwert enormen Prestiges für den Veranstalter. Gleichzeitig waren auch sie eine Art Incentive, Früchte des Imperiums für den nominellen Souverän, das Volk.
Die Spiele waren die einzige Gelegenheit, bei der die Römer in großer Zahl zusammenfanden. In der Kaiserzeit, als das Volk politisch nicht mehr mitzureden hatte, äußerte es hier Gefühle und Begehr. Im Idealfall strömte es zu den grandiosen Spektakeln, huldigte dem Kaiser und stützte so seine Macht. Umgekehrt machte der Kaiser seinem Volk die Aufwartung. Es konnte aber auch unangenehm für den Veranstalter werden: Manche unpopuläre Maßnahme wurde hier im Keim erstickt, weil sich im Circus ein gefährlicher Aufruhr andeutete; manche Forderung aus dem Volk wurde lautstark artikuliert und konnte fortan nicht mehr ignoriert werden. Bekannt sind vor allem die Interventionen des Publikums, das Tod oder Leben eines Gladiatoren forderte, aber der Volkswille konnte auch andere Inhalte haben: Tiberius sah sich gezwungen, auf Protest der Zuschauermassen im Circus die Getreidepreise zu senken, Nero hielt man die hohen Steuern vor. Auch ließ das Volk manchen unpopulären Politiker über die Klinge springen; mitunter musste spontaner Volkszorn sogar blutig unterdrückt werden. Da Politiker und Kaiser um die Notwendigkeit und Bedeutung der Spiele, aber auch um ihre Gefahr wussten, kannten sie auch stets den schnellsten Weg zum gesicherten Ausgang und wurden von Leibwächtern begleitet.
Um die Spiele durchzuführen, wurde ein beträchtlicher, schließlich völlig übersteigerter Aufwand getrieben. Für die Politiker, Feldherren und Kaiser, die die immer teurer werdenden Inszenierungen finanzierten, war der Tribut ans Volk ebenso eine Frage des Prestiges. Die reichen Veranstalter wollten sich gegenseitig übertrumpfen, und natürlich erwartete auch das Publikum, dass die nächsten Spiele den vorangegangenen noch eins draufsetzen würden. Handelte es sich anfangs noch um Theateraufführungen und Wagenrennen, die auch keineswegs täglich stattfanden, wurden ab 264 v. Chr. Gladiatorenkämpfe ausgerichtet. 80 Jahre später kamen Hetzen mit exotischen Tieren hinzu, deren Herkunft nebenbei noch verdeutlichte, welche Ausdehnung das Imperium erreicht hatte. Julius Caesar ließ für seine Spiele 46 v. Chr. über tausend Tiere aus entfernten Provinzen verschiffen, darunter mehrere Dutzend Elefanten, ein Nashorn und die ersten Giraffen, die die Römer je zu Gesicht bekamen. In der Kaiserzeit wurde es immer irrwitziger. Der Zwang zur Steigerung verlangte nach immer neuem Nervenkitzel. Während schon Caesar Hunderte Gladiatoren in den Todeskampf schickte, waren es bei der Eröffnung des Kolosseums bereits Tausende, unter Kaiser Trajan angeblich sogar Zehntausende, die in der Arena um ihr Leben fochten.
Im Rückblick betrachtet, waren die Spiele, wie es der Althistoriker Karl Christ ausdrückte, »der Preis und der Ausdruck der politischen Neutralisierung der Affekte der römischen Bevölkerung«. Der berühmte Pantomime Pylades wies Kaiser Augustus einmal auf die gesellschaftliche Rolle seiner Zunft hin: »Es ist von Vorteil, Caesar, dass sich das Volk mit uns beschäftigt.« So wie der nicht sündigt, der schläft, begehrt auch nicht auf, wer gut unterhalten wird – dieses Kalkül legen Machthaber immer wieder an. Ebendas beklagte Juvenal in seiner eingangs zitierten Satire: dass das Volk sich mit schnöden Zerstreuungen stillhalten ließ. In seinen Augen war dies ein Bestandteil des betrüblichen Niedergangs Roms. Juvenals Spott ist daher weniger konkrete Darstellung als allgemeine Kulturkritik.
Es ist also zutreffend, dass die Römer von kostenlosen Lebensmitteln profitierten und mit immer aufwendigeren Spielen unterhalten wurden, die übrigens bei allen Schichten gleichermaßen beliebt waren. Wenn wir aber dem einfachen Volk der Stadt Rom Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, genügt ein wenig Mathematik: Abgesehen davon, dass weite Bevölkerungsteile gar nicht in den Genuss der Vergünstigungen kamen, ernährte das kostenlose Getreide den römischen plebs nicht allein – der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Auch der übrige Lebensunterhalt wie Kleidung und Wohnung musste irgendwie bestritten werden. Und die Lebenshaltungskosten in Rom waren exorbitant, obwohl man zumeist mit miesen Behausungen vorliebnehmen musste; Sozialleistungen wie Arbeitslosenhilfe gab es dagegen nicht. Die »kleinen Leute« gingen durchaus arbeiten und verbrachten ihre Tage keineswegs ausschließlich bei Circusspielen. Rom war alles andere als eine faule Stadt des Müßiggangs, im Gegenteil: Handel und Gewerbe florierten, die Menschen waren geschäftig, vor allem in der Baubranche. Und dann: Wären die Arenen und Theater stets voll gewesen, hätten ihre Kapazitäten gleichwohl nur für rund drei Prozent der Bevölkerung ausgereicht. Immerhin fünf Prozent passten zwar ins Kolosseum, jedoch waren 90 Prozent der dortigen Plätze für die Oberschicht reserviert. In die größte Arena schließlich, den Circus Maximus, passten beachtliche 200 000 Menschen, aber dort wurden zu Augustus’ Zeiten nur an rund 20 Tagen im Jahr Rennen ausgetragen. Selbst im 4. Jahrhundert waren von insgesamt 177 Veranstaltungstagen nur zehn für Gladiatorenspiele, 66 für Wagenrennen und 101 Tage für Theateraufführungen reserviert, und Letztere standen beim Volk nicht gerade hoch im Kurs. Die moralinsauren Vorhaltungen der älteren Geschichtsschreibung entbehren also jeder Grundlage – mit ähnlichem Recht könnte man angesichts der vielen Theater in New York räsonieren, die dortige Unterschicht müsse wohl dort ihre Tage verbringen. Sie tut es allenfalls vorm Fernseher, und auch das zumeist erst nach getaner Arbeit.
Auch die Anhänger des Christentums waren im alten Rom alles andere als privilegiert, bevor Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert die obskure Sekte zur Staatsreligion erhob. Diese Frühzeit des Christentums konnte trotz intensivster Forschungsbemühungen bisher nicht lückenlos erforscht werden. Eine aufstrebende Religion in ihren Anfängen, die noch nicht recht ernst genommen wird, konspirativ tätig ist und Verfolgungen zu gewärtigen hat, hinterlässt naturgemäß weniger Spuren als die Institution, die später in die Sphären der Macht aufstieg. Das gilt noch viel mehr für die riesige antike Metropole Rom, auch wenn sie als mutmaßlicher Wirkungs- und Todesort der Märtyrer-Apostel Petrus und Paulus sehr bald eine Sonderstellung in der jungen Christenheit erlangte und ihre Bischöfe zu einer Autorität im Streit um Glaubensinhalte wurden. Daher muss man sich eigentlich nicht wundern, dass die frühesten archäologischen Beweise zur Präsenz des Christentums in Rom erst aus dem späten 2. Jahrhundert stammen. Unser Wissen von einer zu diesem Zeitpunkt in der Hauptstadt längst bestehenden frühchristlichen Gemeinde, die bereits eine Organisationsstruktur aufgebaut hatte, stammt aus schriftlichen Quellen. Aber wo sich die ersten römischen Christen zu Gottesdiensten und Versammlungen trafen, ist unbekannt. Bestattet wurden sie zunächst wie ihre heidnischen Mitbürger auf den städtischen Friedhöfen; rein christliche oberirdische Friedhöfe wurden seit dem 3. Jahrhundert eingerichtet, aber diese Begräbnispraxis stieß mit steigender Zahl von Gläubigen an ihre Grenzen, da die Christen Einäscherung strikt ablehnten.
Zu den ältesten Bauwerken der römischen Christen gehören die Katakomben, die wohl seit dem 2. Jahrhundert eingerichtet wurden, während jüdische Katakomben schon früher belegt sind. Die christlichen Katakomben sind überaus faszinierende Zeugnisse des frühen Glaubens und in ihrer Schlichtheit und Enge höchst authentisch. Im Bewusstsein der ganz nahen Überreste von Menschen, die sich vor mehr als anderthalb Jahrtausenden von einer noch jungen Religion begeistern ließen, spürt man unwillkürlich in Gedanken der Frühzeit des Christentums nach, das hier eine Präsenz beweist, die so manches Oberirdische der inzwischen altehrwürdigen Religion in den Schatten stellt. Das unterstützt die populäre Auffassung, die Katakomben seien geheime Versammlungsorte einer unterdrückten Minderheit gewesen. In der Zeit der Christenverfolgungen seit Kaiser Nero bis Ende des 3. Jahrhunderts seien sie dafür angelegt und später aufgegeben worden, als die Verfolgungen ein Ende gefunden hatten und die Verstecke nicht mehr gebraucht wurden. Doch bei dieser verbreiteten Annahme handelt es sich um einen Irrtum. Tatsächlich dienten die Katakomben als Begräbnisorte. Die alte lateinische Bezeichnung coemeterium, die sich in vielen Sprachen bis heute als Bezeichnung für Friedhof gehalten hat, bezog sich auch auf diese unterirdischen Nekropolen. Der Begriff Katakombe stammt von der Ortsbezeichnung der ersten wiederentdeckten, aber keineswegs ältesten Grabganganlage Roms, die im 16. Jahrhundert freigelegt wurde: ad catacumbas, in der Senke. Zur Wallfahrtskirche San Sebastiano fuori le mura gehörig und rund drei Kilometer vor der antiken Stadtgrenze gelegen, sind diese namensgebenden Gräbersysteme heute als Sebastians-Katakomben bekannt.
Eine der ersten von Christen genutzten Katakomben ist die 1849 wiederentdeckte Calixtus-Katakombe unter der Via Appia vor der antiken Stadt auf dem heutigen Anwesen eines Klosters. Papst Calixtus I., zuvor Beauftragter der römischen Gemeinde für diesen Begräbnisort, ließ sie nach seiner Wahl im Jahr 217 erweitern. Oberirdisch bestand die Via Appia wie andere Ausfallstraßen aus einer endlosen Reihe von Gräbern, denn auf dem Stadtgebiet des antiken Rom war die Bestattung von Toten nicht erlaubt. Mit dem Übergang von Feuer- zu Erdbestattung im 2. Jahrhundert n. Chr. kam es zu einem Platzproblem, auch für die wachsende Zahl der Christen. Der Umfang der römischen Gemeinde wird für die Mitte des 3. Jahrhunderts auf bis zu 50000 Mitglieder geschätzt.
Das poröse Gestein der Gegend um Rom ermöglichte die Anlage eines ganzen Netzes unterirdischer Gänge. Die Calixtus-Katakombe wurde als rechtwinkliges Raster mit fünf Ebenen planmäßig auf Erweiterung angelegt. Die Hauptgänge, zu denen der Zugang von oben erfolgt, sind mit kleinen Quergängen untereinander verbunden. Insgesamt kommt das Gängenetz auf eine Gesamtlänge von mehr als zehn Kilometern. In die Gänge wurden seitlich sogenannte loculi gehauen, kleine Einzelgräber individueller Größe, die die Verstorbenen aufnahmen. Die Gräber wurden übereinander angeordnet und mit Ziegeln oder Marmorplatten verschlossen. Deren Ausführung zeigt große Unterschiede: Neben aufwendigen Gräbern betuchter Christen befinden sich hier schmucklose Begräbnisstätten von Armen, die sich nur ein bescheidenes Ruheplätzchen und die Ziegel für den Grabverschluss leisten konnten, wenn die Kosten nicht ganz von der Gemeinde getragen wurden. Die 1854 entdeckte Krypta der Calixtus-Katakombe diente auch als Grablege von neun Päpsten und verschiedenen Heiligen, und ihre Fresken gehören zu den frühesten Zeugnissen christlicher Bildkunst überhaupt: Biblische Themen, Darstellungen von Wundern, von religiösen Riten und Handlungen wie der Eucharistiefeier finden sich hier abgebildet. Die Wandmalereien erzählen viel über die Glaubenswelt der frühen Christen, vor allem ihre Hoffnungen auf ein erquickliches Jenseits sprechen daraus. Wegen ihrer regalweisen Aufbewahrung der Toten bezeichnete der Kirchenhistoriker Wilhelm Gessel die Katakomben als »gewaltige Lagerhallen zur Bereitstellung der Toten auf den Tag der allgemeinen Auferstehung«. Aufgrund des provisorischen Charakters als nur vorübergehende Unterbringung wurden die meisten Gräber achtlos und in aller Eile verschlossen.
Die christlichen Bestattungen in Katakomben begannen im 2. Jahrhundert und erreichten ihren Höhepunkt im 4. und 5. Jahrhundert; die letzte datierte Grabinschrift stammt aus dem Jahr 535 und findet sich in den Sebastians-Katakomben. Mit dem Märtyrerkult wurde seit dem 4. Jahrhundert die Bestattung in der Nähe von Märtyrergrablegen immer beliebter, wovon die Katakomben reiches Zeugnis ablegen. Die Gedenktage der Glaubenszeugen wurden festlich begangen, und man hielt in den engen Katakomben auch kleinere Feiern ab. Für größere Veranstaltungen aber waren die Gänge viel zu eng – und gänzlich unbrauchbar waren sie als Versteck. Denn wegen der wenigen Zugänge und weil die Lage der Katakomben kein Geheimnis war, hätten die Verfolger mit den dort Zuflucht suchenden Christen ein leichtes Spiel gehabt. Für einen geeigneten Zufluchtsort befanden sich die Katakomben außerdem viel zu weit außerhalb der Stadt. Auch die Chronologie entlarvt die Geschichte von den Katakomben als Zufluchtsstätten bedrängter Christen als falsch. Denn die meisten Bestattungen stammen aus der Zeit nach dem Ende der Verfolgungen, nachdem Kaiser Konstantin im Jahr 313 in der Mailänder Vereinbarung Religionsfreiheit gewährte.
Um 500 n. Chr. ging man mehr und mehr dazu über, die Toten auf Friedhöfen und in Kirchen beizusetzen, was die Blütezeit der Katakomben beendete. Die Katakomben dienten aber nach wie vor als Wallfahrtsstätten und tauchten in Romführern des Mittelalters noch lange als Attraktionen auf – man konnte sie also wohl weiterhin besuchen. Ihre Anziehungskraft für die Pilger nahm allerdings seit dem 9. Jahrhundert stetig ab, weil immer mehr Heiligenreliquien aus ihnen in oberirdische Kirchen verlegt wurden, sei es in Rom oder an anderen Orten der Christenheit. Wer also die Gebeine eines geschätzten Heiligen zum Gebet aufsuchen wollte, musste dafür immer seltener in den Untergrund hinabsteigen. Ganz aufgegeben und dann vergessen wurden sie vermutlich in der Zeit des Papsttums von Avignon im 14. Jahrhundert, der sogenannten babylonischen Gefangenschaft der Päpste unter den französischen Königen. Damals erlebte das religiöse Leben in der Ewigen Stadt seinen Tiefstand. Aber da waren auch nur noch eine Handvoll der römischen Katakomben überhaupt zugänglich. Größere Aufmerksamkeit zogen sie erstmals mehr als ein Jahrhundert später wieder auf sich und dann verstärkt durch das Interesse der Gegenreformation an den Wurzeln des Christentums. 1788 unternahm Goethe einen Besuch, sprach in seiner Italienischen Reise allerdings missvergnügt von »dumpfigen Räumen«, die er sogleich wieder verließ. Auch Stendhal und Charles Dickens schrieben darüber, aber wissenschaftlich umfassend und systematisch erforscht werden sie erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die Geschichte von den Katakomben als Zufluchtsorte bedrängter Christen, die sich darin vor den gewaltsamen Verfolgungen in Sicherheit brachten oder gar wohnten, kam zur Zeit der Wiederentdeckungen im 16. und 17. Jahrhundert auf. 1632 erschien das Buch Roma sotterranea des Archäologen Antonio Bosio, das auch Goethe studierte, um seinen hasenfüßig-überstürzten Aufbruch aus der Unterwelt zu kompensieren. Bosio hatte Ende des 16. Jahrhunderts 30 Katakomben entdeckt, einige freigelegt und schreibt von verfolgten Christen, die dort Zuflucht suchten. Der Irrtum geht unter anderem auf antike Quellen zurück, in denen von Päpsten die Rede war, die »in den Friedhöfen« wohnten, was sich aber auf den oberirdischen Teil der betreffenden Gelände bezog. Zudem hatte Kaiser Valerian (253–260) den Christen im ganzen Römischen Reich Versammlungen auf Friedhöfen verboten, was zur Vermutung Anlass gab, dass man sich nunmehr in den unterirdischen Nekropolen traf. Außerdem wurde Papst Sixtus II. im Jahr 258 im Zuge der Christenverfolgungen in einer Katakombe festgenommen, hingerichtet und dort begraben. Weil er einer der am meisten verehrten Märtyrer der frühen Christenheit war, fand die Geschichte seines Martyriums weite Verbreitung und wuchs sich aus. Und schließlich dürfte die Tatsache, dass Christen die Katakomben zum Zwecke der Märtyrerverehrung besuchten, bis schließlich deren Reliquien entnommen und in Kirchen überführt wurden, die irrige Erzählung befördert haben.
Vandalismus ist in vielen Sprachen ein gängiger Begriff, der selten hinterfragt wird. Wahllos zerstörerische Handlungen an fremdem oder öffentlichem Eigentum werden als Vandalismus bezeichnet, und häufig wird der Begriff juristisch als Tatbestand geführt – und verunglimpft die Vandalen, die sehr zu Unrecht als barbarisches, kulturloses Volk in die Weltgeschichte eingegangen sind. Erstmals erwähnt werden die Vandalen in römischen Quellen des 1. Jahrhunderts, zunächst bei Plinius dem Älteren, der sie als eine der fünf Großgruppen der Germanen führt, sodann in Tacitus’ Beschreibung der verschiedenen germanischen Völker. Grob platzierte man sie nördlich der Donau und östlich des Rheins. Heute wird vermutet, ihr Siedlungsgebiet habe in Zentral- und Südpolen gelegen; Cassius Dio schreibt von den »vandalischen Bergen«, mit denen vermutlich die Sudeten oder auch nur das Riesengebirge gemeint sind. Von dort aufbrechend, absolvierten die Vandalen eine bemerkenswerte und lange Wanderschaft: In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts rückten sie im Zuge der Markomannenkriege auf die römische Provinz Dakien an der Donau vor, wo sie sich ansiedeln wollten. Das konnten die Römer abwehren, man schloss aber Abkommen. In der Folge gab es Militärdienstleistungen der Vandalen ebenso wie Auseinandersetzungen, zumal man sich die Völker an den Reichsgrenzen gerne vom Hals hielt, indem man sie gegeneinander ausspielte oder aufhetzte. Das Imperium Romanum besaß eine zwiespältige Ausstrahlung auf die Völker, die in seiner Nachbarschaft lebten: Einerseits fühlten sie sich von Rom bedroht oder bevormundet und legten Wert auf ihren eigenen Weg; andererseits war das Römische Reich wirtschaftlich und kulturell ungeheuer attraktiv und der Wunsch groß, davon zu profitieren.
Vermutlich unter dem Druck des Hunneneinfalls oder wegen einer Hungersnot machten sich die Vandalen um 400 auf gen Westen und standen ein Jahr später am Rhein, den sie weitere fünf Jahre später überquerten. Wo und wann genau das passierte, ist unklar. Unzuverlässige Quellen sprechen vom zugefrorenen Rhein bei Mainz am Silvestertag 406, möglicherweise geschah es aber auch weiter südlich bei Straßburg. Drei Jahre blieben sie in der römischen Provinz Gallien, dem heutigen Frankreich, bis sie 409 über die Pyrenäen zogen und Spanien erreichten – auch die genaue Route vom Rhein nach Süden kennen wir nicht.
Schon die lange Wanderschaft ließ die Vandalen natürlich nicht unbeeinflusst; wie auf andere Völker wirkte auch auf sie besonders die dominierende römische Kultur ein. Unterwegs ließen sie sich zum arianischen Christentum bekehren und eigneten sich auf ihrem Zug an, was sie gebrauchen konnten, also vor allem militärisches Know-how. Die Römer ließ das nicht unbeeindruckt, und wie sie generell der Bedrohung des Reiches durch die Barbarenvölker mit allerlei Maßnahmen zu begegnen suchten, wollten sie auch die Vandalengefahr entschärfen. Zum einen erhielten die Vandalen schließlich Siedlungsgebiete in Spanien in der Hoffnung, ihre Energien auf eine andere Betätigung zu lenken. Zum anderen versuchte man abermals, verschiedene Völker gegeneinander auszuspielen: In diesem Fall sollten die Goten den Vandalen Einhalt gebieten, was allerdings fehlschlug.
In Spanien blieben die Vandalen weitere zwei Jahrzehnte, siedelten in Asturien und Galicien, in Süd- und Südwestspanien sowie dem heutigen Portugal. Dann aber drängte es sie weiter. Nach Erkundungs- und Plünderungsfahrten von der südspanischen Küste aus beschloss Vandalenkönig Geiserich 429, Spanien zu verlassen und nach Afrika überzusiedeln. Dieser Zug eines ganzen Volkes mitsamt Ausrüstung und Tausenden Pferden kommt einer logistischen Meisterleistung gleich, und eingeteilt in 80 Tausendschaften verließen die Vandalen Europa. Darunter waren rund 15 000 Krieger, die nunmehr auf unbekanntem Weg Nordafrika eroberten. Vermutlich überquerte man die Meerenge von Gibraltar und segelte sodann entlang der Mittelmeerküste Afrikas ostwärts – aber das bleiben bloße Vermutungen. Mitte des Jahres erreichten die Vandalen unter Führung Geiserichs mit römischen Schiffen ihr Ziel und eroberten dort trotz erheblichen Widerstands die Städte, darunter schließlich unter ungeklärten Umständen auch Karthago, die wichtigste Metropole des südlichen Mittelmeerraums. Für Rom bedeutete der Verlust dieser Provinzen einen schweren Schlag, denn Nordafrika war die Kornkammer des Imperiums. Da sich das Reich aber in einer Schwächephase befand – und rückblickend betrachtet längst auf seinen Untergang zusteuerte –, konnte es den germanischen Eroberern keinen ausreichenden Widerstand entgegensetzen. Eine diplomatische Lösung tat not, und so schlossen die Römer 442 einen Vertrag mit den Vandalen, die nicht nur den Kernbestand römischer Herrschaft in Nordafrika erhielten, nämlich Tunesien und den Osten Algeriens, sondern Rom verzichtete noch dazu notgedrungen auf die sonst üblichen Tributzahlungen. Das Vandalenreich war damit nicht nur souverän geworden, sondern lag in Bezug auf Macht und Einfluss gleichauf mit den beiden Kaisern West- und Ostroms. Ein Jahrhundert lang konnten die Vandalen ihre Herrschaft über Nordafrika behaupten, bis sie durch inneren Streit und unter dem Druck des Oströmisches Reiches und der Mauren zu Ende ging.
Das hundert Jahre bestehende Reich der Vandalen straft die Verwendung ihres Namens als Synonym für blinde Zerstörungswut Lügen. Keineswegs herrschten sie in Nordafrika so, wie der ihnen anhaftende Ruch vermuten ließe, im Gegenteil: Sie setzten sich sozusagen ins gemachte Nest, an das sie sich aber gekonnt anpassten, anstatt das Unterste zuoberst zu kehren. Die Kultur der römischen Provinz übernahmen sie ebenso wie deren Lebensstil. Sie gingen auf die Jagd, lernten Bade- und Esskultur zu schätzen sowie das feudale Wohnen in prachtvollen Villen, deren Grünanlagen von Gärtnern gepflegt wurden. Sogar ihre Toten bestatteten viele Vandalen auf hergebrachte römische Weise. Selbst künstlerisch knüpften sie an das Vorgefundene an, sodass man Zeugnisse ihrer Herrschaft über Nordafrika glatt für römischen Ursprung halten könnte. Besonders eindrucksvoll erzählen erhaltene Grabmosaike aus vandalischer Zeit von der künstlerischen Blüte ihres Reiches. Musik- und Theateraufführungen fanden ebenso weiterhin statt wie Wagenrennen. Nahezu bruchlos knüpft daher die Kultur der Vandalen an die der Römer an, umgekehrt akzeptierten die eben noch römischen Bürger die neuen Herren trotz deren barbarischer Herkunft und des religiösen Sektierertums, durch das sich der Arianismus auszeichnet, mochte es auch mehrmals zu Katholikenverfolgungen kommen. Gänzlich römisch werden wollten die Vandalen jedoch nicht, denn sie legten durchaus Wert auf ihre Herkunft.
Wie aber wurden die Vandalen zum Inbegriff für Kulturlosigkeit und sinnlose Zerstörungswut? Nun, es ist immer eine Frage der Perspektive, zumal die Vandalen zu den Völkern gehören, deren Perspektive auf die Welt unbekannt ist, weil Quellen dafür fehlen. Also hat der Blick von außen das Bild der Vandalen in der Geschichte geprägt, und dieser Blick ist zumeist parteiisch. Vor allem trug zum schlechten Leumund des germanischen Volkes ihr kurzer Romzug im Jahr 455 bei, als sie die stolze Hauptstadt des Römischen Reiches plünderten. Bloße Zerstörungswut war dabei allerdings nicht der Antrieb, sondern Kalkül: Man zerstörte wenig, raubte aber umso mehr, neben Kunstgütern anderes Wertvolles aus öffentlichen Gebäuden und den Villen reicher Stadtrömer. Anlass für die zweiwöchige Stippvisite war ein Abkommen mit dem römischen Kaiser Valentinian III., der seine inzwischen 16-jährige Tochter Eudocia noch als Kleinkind dem vandalischen Thronfolger als Ehefrau versprochen hatte. Nach der Ermordung des Kaisers aber wollte sein Nachfolger das Mädchen mit dem eigenen Sohn verheiraten, diesen Plan vereitelten jedoch die Vandalen durch Invasion und Entführung der Kaisertochter. Außer Eudocia wurden auch ihre Mutter und ihre Schwester verschleppt sowie weitere Angehörige der römischen Oberschicht und Männer mit Berufen, die in Nordafrika benötigt wurden. Insgesamt steht diese Demütigung Roms in Zusammenhang mit dem Ausbau vandalischen Einflusses im Mittelmeerraum zuungunsten des Weströmischen Reiches. Ein Beutezug war es also durchaus, aber kein Vandalismus im heutigen Sinne, zumal die Bevölkerung auf Betreiben des Papstes offenbar weitgehend geschont wurde. Aber natürlich war die Breitenwirkung dieser Nachricht enorm: Ein Newcomer-Völkchen hatte die ehrwürdige Stadt Rom erobert und geplündert! Die römischen Chronisten empörten sich nach Kräften und beklagten den Bruch des Vertrages von 442, den die Vandalen aber offenbar mit der Ermordung Valentinians als erloschen ansahen. Wie auch immer: Die Schlagzeile von der Plünderung der Ewigen Stadt überdauerte in den Köpfen der Menschen die Jahrhunderte, weil es das Ende der römischen Kultur nach einem glanzvollen Jahrtausend durch den Druck barbarischer Völker vortrefflich zu illustrieren schien. Und das wirkte sich fatal auf das Bild von den Vandalen aus – bis heute.
Der schlechte Leumund der Vandalen verweist zum anderen auf ihren Zug durch Gallien, wo sie sich ziemlich rabiat gebärdeten. In verschiedenen Städten Nordgalliens haben Archäologen Brandschichten im Boden lokalisiert, die von Zerstörungen durch Vandalen stammen können, wenn auch nicht müssen. In Frankreich wurde denn auch der Begriff Vandalismus für blinde Zerstörungswut geprägt: 1794, also während der Französischen Revolution. Henri Grégoire, Bischof von Blois und revolutionärer Politiker, geißelte im Pariser Nationalkonvent Mordlust und Kulturbarbarei mancher Jakobiner, die auch viele Kunstwerke als Symbole des überwundenen Ancien Régime eifrig zerstörten, als »Vandalismus«. Schon vier Jahre darauf wurde der Ausdruck ins Wörterbuch der Académie française aufgenommen. Damit war der Begriff in der Welt und sollte trotz des schiefen historischen Bezugs Karriere machen – im Wortschatz der meisten europäischen Sprachen.