Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein schonungsloser und ehrlicher Roman über eine Frau, die trotz Widrigkeiten ihren Weg geht: Herrmann-Neiße, der aufgrund eines Unfalls kleinwüchsig blieb, stattet seine Protagonistin Paula Bernert mit denselben körperlichen Beeinträchtigungen aus, jedoch wurde Paulas Behinderung durch Schläge ihrer Mutter verursacht. Sie wird hier aber nicht (nur) als Opfer dargestellt, sondern auch als eine durchaus berechnende Frau, die es sehr wohl versteht, die Dinge zu ihrem Vorteil zu nutzen und dabei vor nichts zurückschreckt...-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 371
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Max Herrmann-Neiße
Saga
Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum VorlesenCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1918, 2020 Max Herrmann-Neiße und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726614602
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Dies ist eine Geschichte, die man überall vorlesen kann und soll. Nicht, weil sie gut anzuhören ist und besondre künstlerische Vorzüge besitzt. Sondern weil ihr Inhalt von allgemeinem Interesse sein müßte.
Stellen Sie sich eine Gasse in einer schlesischen Provinzstadt ums Jahr 1900 vor! Die ärmlichste Gasse, die in so einer behaglichen Mittelstadt möglich war, wo es noch kein Verhungern gab, höchstens die peinliche Verschlagenheit Minderbemittelter, die darauf angewiesen blieb, die offizielle Mildtätigkeit zu umschmeicheln. Schließlich bekam jeder etwas ab. Der Fonds, der für derartige Zwecke zur Verfügung stand, reichte für alle aus. Aber es ging nicht nach der Bedürftigkeit, sondern nach der Würdigkeit.
Man sah in solchen Gegenden viel Bucklige, die den Rücken vom verkrümmenden Dienern nicht mehr grade bekamen. Das Schlimmste war, daß sich solche Figuren noch bemitleideten. Da war die Bernert-Paula eine andere Person!
Sie wohnte bei dem alten Krankenhause, das inzwischen geräumt und zu einer Volksküche umgewandelt worden war. Paula Bernert war eine sogenannte Fleckel-Schneiderin: aus abgelegten Resten, Fetzen, Stoffabfällen nähte sie, je nachdem, etwas Verwendbares zusammen. Das eine Mal einen Bettvorleger, das andre Mal ein Tischdeckchen, vielleicht sogar etwas Lustiges für ein Kostümfest. Nicht für einen offiziellen Maskenball, versteht sich, wo die Frau Amtsrichter und die Frau Medizinalrat sich wochenlang vorher überlegten, womit sie Aufsehen erregen könnten, und dann doch immer wieder als Tirolerin und Spanierin kamen. Sondern für die Maurerfête oder das Regiments-Jubiläum der Maschinengewehrabteilung, und die Lubschick-Liesl machte dann wirklich Furore als leibhaftiger Zement oder die Frau vom Sergeanten Pachnicka als Mitrailleuse.
Die Bernert nahm an diesen Festen natürlich nicht teil, beneidete aber auch ihre Kunden nicht: sie kannte andere, bessere, jedenfalls für sie ersprießlichere Vergnügungen.
Sie lebte mit ihrer Mutter seit Menschengedenken in diesem Parterre-Zimmer, das früher ein Viktualien-Laden gewesen und dann, nach Vermauerung der Straßentür, zu einem dunklen und unerfreulichen Wohnloch verwandelt worden war. Aber Paula fühlte sich da wohl, denn sie kannte nichts Besseres von Kindheit an, und sie schätzte die Möglichkeit, sofort, ohne Treppensteigen, im Hausflur und auf der Gasse zu sein. Ihre Mutter war Aushilfsschneiderin und gastierte rundum bei den Familien der Stadt je eine Woche oder länger zur Ausbessrung der Garderobe, gegen ein geringes Entgelt und bei freier Verpflegung, so daß Paula an jedem Wochentag fast bis zum Abend ganz für sich allein war. Ihren Vater hatte sie nie gekannt: die Mutter wußte nicht oder wollte nicht mehr wissen, wer von den feinen Herren ihrer Putzmädchenzeit sich da verewigt hatte. Auch andere Verwandten, Tanten oder Onkel, gab es nicht: Mutter war in jungen Jahren Waise geworden, aus dem Heimatdorfe nach der Stadt gezogen und für ihre Sippe ein für allemal verschollen.
Wenn die Mutter zur Arbeit ging, hatte sie die kleine Paula in der Wohnung eingeschlossen. So war einst das Malheur geschehen. Ein Hausierer hatte angeklopft und vor der versperrten Tür die Litanei seines Warenkataloges heruntergebetet. Es klang wie die seltsam gemurmelte Beschwörung einer Zauberformel. Das Kind drinnen verging vor Angst, alle Märchenschrecknisse von Menschenfressern und bösen Geistern fielen ihm ein, und die Furcht verlieh ihm die außergewöhnliche Kraft, sich hochzurecken und den schweren Riegel vorzuschieben. Als die Mutter zurückkehrte, war die Tür nicht aufzubekommen. Die Frau konnte sich das gar nicht erklären, stemmte sich dagegen, hämmerte mit den Fäusten ans Holz, rief nach Paula. Das Kind drinnen ahnte, daß es etwas Unrechtes getan hätte, und schwieg hartnäckig. Da bekam es die Mutter mit der Angst zu tun. Ihr Gezeter lockte die Nachbarn herbei. Ein Haufen Weiber und Halbwüchsiger schnatterte bald um sie herum mit allerlei schlimmen Befürchtungen und törichten Ratschlägen. Schließlich öffnete ein Schlosser die versperrte Wohnung. Alles löste sich in Wohlgefallen auf. In angeregter Heiterkeit über den kuriosen Zwischenfall verlief sich die Schar der Hausgenossen.
Die alte Bernert raste. Lächerlich gemacht worden war sie vor den Nachbarn und hatte die unnütze Ausgabe an den Schlosser zu bezahlen. Sie riß das Kind an den Haaren und gab ihm ein paar Ohrfeigen. Das war zuerst nur ihre Art, die ausgestandene Angst loszuwerden und sich für sie zu entschädigen. Als das Mädchen aber auf alle Fragen nach einem Grund für das Türversperren weiter schwieg, witterte die Mutter eine ganz verstockte Bosheit, die gleich im Anfang gründlich ausgetrieben werden müßte, und schlug hemmungslos auf das Kind ein. Ein Hieb traf so unglücklich, daß Paula zu Boden stürzte. Von da an hatte sie ihren Körperschaden und die völlige Fremdheit dieser Frau gegenüber, die sich ihre Mutter nannte. Es war kein Haß, sondern eine große, unüberbrückbare Gleichgültigkeit. Und frühzeitig entdeckte das Mädchen das Glück der Vereinsamung und lebte neben der Mutter, als sei sie garnicht vorhanden, sein eigenes Leben.
Die andern Kinder der Gasse ließen die verkrüppelte Kleine in Ruh. Die meisten von ihnen hatten ihre leichteren oder schwereren Betriebsunfälle hinter sich: der Schmied, der Quartalssäufer, pflegte seine beiden Knaben als Fangball zu benutzen, wenn er nachts im Rausch heimkam; natürlich krochen sie nun mit verbogenen Gliedmaßen herum. Der Sohn des Flickschusters war überfahren worden und humpelte mit einem Holzbein. Der Tochter des Zeitungsausträgers Kramer war durch eine Brandwunde die linke Gesichtshälfte entstellt. Und für ästhetische Bewertung hatte man in diesem Lebensbezirk sowieso weder Zeit noch Sinn.
Überdies kam Paula nur mit wenigen und desto seltsameren Kindern ihres Alters zusammen. Denn am späten Abend erst pflegte die Mutter heimzukehren und nach überstandner Mahlzeit und Tellerwäscherei die Tochter endlich für eine halbe Stunde auf die Gasse zu lassen. Dort trieben sich dann nur noch allerlei vernachlässigte, verwahrloste, elternlose Geschöpfe herum oder solche, die sich mit ihrem auffälligen Gebresten erst bei völliger Dunkelheit ins Freie wagten. Diese Kinder hatten weder die sinnlose Fröhlichkeit der normalen, noch den verspielten Ernst, der die einträgliche Wichtigtuerei der Großen so grotesk nachahmt. Sie lachten über wirklich Lächerliches und schätzten Respektables demgemäß ein. Wurde der Klor-Karle, weil er betrunken ist und vor allem weil kein Pfennig mehr aus seinen Taschen fällt, auch wenn man ihn auf den Kopf stellt, aus dem Kaffeeschank herausgeworfen, liegt er dann im Rinnstein und bellt ohnmächtige Flüche gegen die geschlossenen Fensterläden, so verzieht sich keine Miene zu schadenfrohem Grinsen. Aber drückt sich der Stadtrat Meisel, der bekannte Meisel, der den Brunnen im Cecilienpark stiftete, die Speisung für arme Wöchnerinnen und die Instrumente für die chirurgische Abteilung des Städtischen Krankenhauses, an der Mauer entlang und will unauffällig in der Nummer 24 verschwinden, so fangen die Bälger höhnisch zu brüllen an, ohne daß sie recht wissen, welcher Art Vergnügen oder Geschäft Herr Meisel dort nachgeht. Oder der Olbrichkutscher war eines Abends unerwartet zeitig von der Bierausfahrerei auf die Dörfer zurückgekehrt und hatte sein Weib bei Unerwünschtem erwischt, nun trug er sie wie ein Paket die Treppe herunter und vertobakte ihr den nackten Hintern, indes schreckensbleich der Primaner Hanke über den Hof flüchtete. Ohne Schadenfreude und Entrüstung fand die Schar der Satansrangen dies alles in Ordnung. Die Armenpflegerin, Frau Brauereidirektor Schick, pflegte zu sagen, die Kinder dieser Gasse sähen in ihrem Leben leider Gottes nicht viel Gescheites. Fest steht, daß sie das Gesehene recht originell aufzunehmen verstanden. Und Paula Bernert bezog von hier die Anfangsgründe ihrer Weltanschauung.
Eines Morgens wurde Paula von ihrer Mutter besonders adrett hergerichtet und dann zur Schule gebracht. Die alte Bernert, die rechtzeitig an ihre Arbeitsstelle zu kommen trachtete, überließ das Kind, nach einigen Ermahnungen zu Folgsamkeit und artigem Betragen, bald sich selber. Paula war froh, daß sie endlich allein war. Sie fühlte sich erhaben über all den Muttersöhnchen und -töchterchen, die immer noch von ihren Gluckhennen behütet bänglich der Dinge harrten, die da kommen sollten. Manche heulten sogar und manche versuchten, auszureißen. Schließlich erschien ein bebrillter Mann, der zu einigen Erwachsenen viel zu demütig tat, doch allmählich die Elternschaft herauskomplimentierte, und nun war jedes Kind auf sich selbst und das, was es aus sich zu machen verstand, angewiesen. Daß ein paar Kinder schöne bunte Tüten mit Naschwerk geschenkt bekamen, das machte die Empfänger vor Paulas unerbittlicher Meinung nur minderwertig: daß sie sich nicht schämten, in so plumper Weise bevorzugt zu werden! Neben Paula saß ein schiefschultriger Junge, rothaarig, sommersprossig, mit hängender Unterlippe und zu großen Ohren, in lasterhaft saubrem Matrosenanzug. Er hatte eine besonders leckre Tüte erhalten und bot nun mit schüchterner, linkischer Höflichkeit seiner Banknachbarin daraus an. Paula ekelte sich vor ihm. Sie empfand es als eine besondre Unverschämtheit, daß der gepflegte Krüppel sich ihr gleichzusetzen wagte, riß ihm die ganze Tüte aus der Hand, warf sie auf den Boden und trampelte drauf herum. Der Knabe, der sowieso leicht zum Weinen zu bringen war, schluchzte hysterisch drauf los, verzweifelte an der Welt (und wurde später Lyriker, indem er, gleich Paula, nur auf andre Weise, aus seiner Körpernot eine Spezialität machte). Der Lehrer Timpel aber, wie die meisten Lehrer unfähig, den Sonderfall so oder so zu verstehen, hielt Paula eine lange Strafpredigt mit der kategorischen Moralvorschrift, daß man niemals einem andren sein Besitztum neiden oder gar entwenden dürfe. Dann fragte er sie nach ihren Eltern und schüttelte über den betrüblichen Bescheid bedeutsam den Kopf. Von da ab galt sie ihm als ein verwildertes, schwererziehbares Kind, mit dem bei Besichtigungen kein Staat zu machen wäre und mit dem es immer nur Verdrießlichkeit geben würde. Auch bei den andern Schulkindern hatte sie sich mit diesem Skandal schlecht eingeführt. Sie verübelten es ihr sehr, daß sie die köstlichen Süßigkeiten mit ihren schmutzigen Schuhen unbrauchbar gemacht hatte und versahen sich von ihrer gehässigen Mißgunst auch für die Zukunft nichts Gutes. Geselligkeit lag ihr ohnehin nicht. Da sie meist allein gewesen war und es abends in ihrer Gasse gewissermaßen mit Ausnahmefällen zu tun gehabt hatte, war sie den Umgang mit dieser Bande normaler Rangen nicht gewohnt. Gemeinsame Spiele, wie sie in der Schulpause gepflogen wurden, langweilten sie; es kam ihr läppisch vor, immer wieder mit stupider Begeisterung zu deklamieren: »Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann? Ich nicht!« oder »Es schlägt eins, er kommt nicht, es schlägt zwei, er kommt nicht . . .«, Spielregeln sklavisch zu befolgen und eine simple Annahme ernsthaft für längere Zeit zu ästimieren. So klar war sie sich natürlich über diese Dinge nicht, aber gefühlsmäßig widerstrebte sie ihnen. Früher hätte man gesagt: das Kind Paula Bernert ist eine rebellische Natur. Heut heißt es: ein unkollektives Geschöpf – auf alle Fälle ist so ein Wesen jeder Art Masse unangenehm, weil für ihre Zwecke nicht zu gebrauchen. Die Masse merkt das auch sofort: hier ist ein Stück, das will nicht so, wie wir wollen müssen. Dann ist jedes Mittel gegen das unbotmäßige Mitglied recht, und Kinder sind ja noch weniger wählerisch und fein als die Hammel einer parolefrommen Erwachsenen-Herde. Paula trieb es auch wirklich verwerflich, fing mitten im Spiel an, mit ihrer Nachbarin zu plauschen, oder, wenn sie ihrem Partner den Ball zurückwerfen sollte, sah sie einen Vogel auf der Hofmauer sitzen, der reizte sie so, daß sie den Ball in diese Richtung feuern mußte – ja, auch sie war ein Aas, aber ein sehr eigenwilliges, individualistisches! Kinder wählen noch hemmungsloser als Erwachsene die billigste Art, einen Gegner lächerlich zu machen und zu verunglimpfen. Paulas Mitschüler also, gepflegt und wohlgewachsen, hielten sich an das körperliche und gesellschaftliche Manko der Bernerttochter, schimpften sie »Puckelpaula« und wurden in Bosheit schöpferisch mit dem Spruch: »Die Bernert ist ein Tausendsassa, sie hat einen Puckel und keinen Papa!« Paula wurde dadurch in ihrer Menschenablehnung bestärkt, die der Vorfall mit der Mutter gefestigt hatte. Sie war fast froh, daß die Ereignisse ihrer ersten Vermutung so sehr recht gaben, und zog sich wieder ohne Groll in sich selbst zurück.
Nun fing sie zu lesen an. Nicht nur das von der Schule Gewünschte und Genehmigte. Sie mißtraute diesem Institut in jeder Beziehung. An jedem Sonnabend bekam man ein Buch aus der Schülerbibliothek, das eine Woche später gut erhalten, ohne Tinten- und Fettflecke an den nächsten im Alphabet weitergegeben werden sollte. Paula sah sich die Titel an: »Edelinde«, »Deutsche Jugend«, »Aus Tagen der Not«, »Das kleine Dummerle«, malte der Heldenjungfrau auf der farbigen Einlage einen Tintenschnurrbart, machte in die Seiten 66 bis 70 große Eselsohren und lieferte den Schmöker ungelesen ab. Dafür wußte sie sich unabhängige Lektüre zu verschaffen.
Ihre Mutter schneiderte damals grade beim Veterinär Pickert. Dieser Pickert, der eine besondere Erzählung verdiente, war der Freund des berühmten Schriftstellers, der zufällig in der gleichen Stadt wohnte. Berühmte Männer haben meist subalterne Freunde, weil die ihr geistiges Überlegenheitsgefühl nicht in Frage stellen und ihnen am wenigsten widersprechen. Pikkert war auch mit der Elendsgasse verbunden: er hatte sich mit der minderjährigen Tochter des Straßenkehrers Budich soweit eingelassen, daß er sie heiraten mußte – nachher dichtete er sich freilich die erzwungene Mesalliance in ein absichtliches Abenteuer um. Wenn die alte Bernert nun bei Pickerts schneiderte, verfiel die Frau Veterinär bald in den Jargon der Gasse. Paula wurde, sobald sie frei war, dahin mitgenommen, um die Anfangsgründe der Schneiderei zu erlernen, mit kleinen Handreichungen auszuhelfen und zu einer Gratis-Vesper zu gelangen. Sie fühlte sich auch ganz wie zu Hause, hörte sie von den beiden Weibern den ihr geläufigen Gassentratsch. In den Regalen lockte Herrn Pickerts Bibliothek, die vorwiegend aus den abgelegten Rezensionsexemplaren des berühmten Schriftstellers bestand, und Paula nahm aufs Gratewohl bei passender Gelegenheit irgendein Buch zu heimlicher Lektüre mit nach Haus. Da tat sich ihr eine andre Welt auf; aber wo die wohl gelegen sein mochte, wurde ihr nicht klar. Ein Mensch männlichen Geschlechts warb um ein Wesen weiblichen Geschlechts, das war eine schwierige Sache; manchem freilich glückte es, er heiratete, und dann begaben sich Possen von seltsamer Pikanterie. Oder Damen führten ohne Heirat ein teils verachtetes, teils beneidetes Lasterleben, dessen jähes Ende mit Schrecken ebenso unbegreiflich blieb wie, was vorher daran so vergnüglich gewesen war.
Paula sah sich in ihrer Gasse um und fand, daß auch diese Dinge in Wirklichkeit handfester und eindeutiger geschahen. An den Bretterverschlag der Geflügelhändlerin hatten unnütze Hände gewisse primitive Inschriften und Zeichnungen angebracht. Mittags klebten im Hofe zwei Hunde aneinander, man grinste, machte seine Bemerkungen dazu, bis die alte Gallus mit einem Kübel Wasser kam. Vor dem Kaffeeschank standen Soldaten, schnalzten mit der Zunge und formten mit den Fingern eine nicht mißzuverstehende Geste nach den Mädeln, die im Fenster lagen, und abends drückte sich in den Torwegen allerlei Gepaartes, das keine andre Gelegenheit hatte, japsend aneinander. Und von den Kindern schliefen die meisten mit Eltern, Geschwistern, Kostgängern in ein und derselben Stube und konnten sehr aufgeklärt erbauliche Einzelheiten berichten. Paula war in dem Alter, es verständnisinnig zu genießen.
Bald nahm sie auch praktisch daran teil. In diesem Stadtbezirk war man beizeiten mit von der Partie, schloß Unansehnlichkeit gottlob nicht vom allgemeinen Vergnügen aus. Paulas Bereitschaft drückte sich unwillkürlich in einem Blick aus, den man unverschämt zu schimpfen pflegt. Der erste, der ihn verstand, war der Militärmusiker Kusche, der im ersten Stock desselben Hauses bei der Witwe Finger logierte. Ihn reizte junges Gemüse, der kleine Körperfehler in dem Teil oberhalb des Gürtels kam dagegen nicht in Betracht. Man begegnete sich auf der dunklen Treppe, sie ließ sich in den Winkel drücken und erlaubte den Händen alles mögliche. Und einmal war seine Wirtin ausgegangen, er drängte Paula in sein Zimmer – nachher mußte sie sich gestehen, daß sie keinen Spaß dran gehabt hatte. Aber vielleicht lag es an dem ungeeigneten Partner.
Eine Art Respektsperson war in der Gasse der Herr Schuhmachermeister Hanke. Er hatte dort ein geräumiges Haus billig erworben, im Parterre sein Warenlager verstaut, im ersten Stock sich und seine Familie einquartiert – der Laden befand sich am belebteren Marktplatz. Natürlich machte man sich mit dem Gassenvolk nicht gemein, ging ins Geschäft, kam aus dem Geschäft, ohne viel nach rechts und links zu sehen, schloß das Haustor auf, riegelte es ab, war in seinen eigenen vier Wänden, dem saubren Heim des Handwerkers, der es zu etwas gebracht hatte. Da gab es einen Sohn, der nur Josef heißen konnte, aufgezogen in der Zucht und Ordnung eines christkatholischen Hauses, dennoch etwas aus der Art geschlagen, unbefangen, ohne Arg. Seine Eltern hatten vorher in Mährengasse gewohnt, dem eng benachbarten Dorfe, das allmählich zum Rang einer Vorstadt aufgerückt war. Als man jetzt hierher umzog, orientierte Josef, vierzehnjährig, sich in dem neuen Milieu – die alten Hankes hatten mit der Räumerei zu tun und achteten ausnahmsweise einmal nicht so streng auf ihn. Selbstverständlich umstand ein Kreis Neugieriger den Umzug, begutachtete, bewunderte oder bespöttelte die einzelnen Möbelstücke – das war hier ebenso gut ein Ereignis wie das Gegenteil, wenn eine Familie, die den Mietzins nicht zahlen konnte, auf die Straße gesetzt wurde. Mit ländlicher Verlegenheit lehnte der stramme Junge dabei an der Mauer des Hauses. Da erspähte ihn die Bernert-Paula, erfaßte instinktiv seine dämliche Besonderheit, Hilflosigkeit, Unverbrauchtheit, schob sich neben ihn, redete ihn an. War die erste, die ihn in dieser neuen Welt menschlich begrüßte und also auf dem ungewohnten Boden heimisch machte, veranstaltete mit ihm und der übrigen Jungmannschaft der Gasse Pfänderspiele, in deren Verlauf es ihr gelang, den wirklich keuschen Josef mehrfach zu verfänglichen Küssen zu veranlassen, tat, als ob sie fiele, griff ihm hierhin und dorthin. Er, an derlei nicht gewohnt, kicherte, quiekte, zappelte vor Lust, hätte vielleicht auch etwas gewagt, da kam sein Vater, der Umzug war beendet, der Sohn wurde ins Haus gerufen und folgte sofort, ohne sich von seinen Spielgefährten zu verabschieden. Die fingen nun an, auf ihn zu schimpfen, aber zu ihrer Verwunderung nahm Paula ihn in Schutz. Ihr gefiel Josefs Unterwürfigkeit und sie versprach sich das Beste von ihr.
Haukes versuchten dafür zu sorgen, daß ihr Sohn der Gassenjugend fernblieb. Sein Stundenplan war geregelt und überwacht, Schularbeiten, Aushelfen im Geschäft, Spaziergang im Stadtpark mit der Mutter. Desto brennender reizte ihn die verbotene Welt, und natürlich fanden sich Schleichwege, zu ihr zu gelangen. Eines Nachmittags sollte er mit seinem kleinen Bruder, dem vierjährigen Gustel, zum Kinderspielplatz der Flußpromenade gehen. Darüber war er sowieso empört, weil dieser Auftrag ihm unter seiner Schülerwürde schien und mehr als peinlich dünkte. Und während seine Mutter glaubte, er sei durch das verantwortungsvolle Aufsichtsamt genügend gebunden, nahm es ihn von vornherein gegen seinen Schutzbefohlenen ein. Gustel wurde ziemlich hart angefaßt, auf einen Sandhaufen geprellt: »Hier bäckst du Kuchen und rührst dich nicht vom Flecke, bis ich dich abhole!« und fort war Josef.
Mit Paula traf er sich auf dem Wagenplatz, wo die Geschäftsleute, die über keinen geräumigen Hof oder keinen Schuppen verfügten, ihre Fahrzeuge mietweise aufstellen durften. War man geschickt, gelang es einem, unbemerkt in den Planwagen der Hübnerbrauerei zu kriechen, und war man erst einmal drinnen, so hatte alles keine Schrecken und Bedenken mehr. Josef genoß die süße Sünde, froh, ihr nicht ins Auge schaun zu müssen, und Paula war es lieb, daß er im Dunkel der Wagenhöhle nicht durch ihren Körpermakel irritiert werden konnte.
Plötzlich ist draußen Tumult, Geschrei, Durcheinander und deutlich der Ruf »Josef« vernehmbar. Paula hört es zuerst, säubert sich von Wagenstaub und Stroh, schlüpft hinaus, während Josef noch in seliger Benommenheit liegt und sich aus Rückerinnerung und Gewissensbissen ein wollüstiges Gespinst macht. Draußen erfährt sie aus dem Lamento des Gassenklatsches, daß der Hanke-Gustel in die Neiße gefallen und ertrunken sei. Sie rast den kurzen Weg zur Promenade hinüber, schon fährt der Aufseher der Badeanstalt im Kahn und sucht mit einer Stange nach dem Leichnam. Am Ufer rennt die Frau Hanke, die sonst immer so aufreizend adrett aussieht und so unnahbar tut, zerrupft und schlampig, wie ein irres Huhn, auf und ab und wendet sich in klagendem und anklagendem Gejammer an die Volksmenge, die neugierig und wenig gerührt herumlungert. Manche nehmen sogar gegen die Schuhmacherfrau Partei: »Hätte der Geizkragen sich doch ein Kindermädchen gehalten!, hätte die Gnädige sich doch selber um ihren Jüngsten gekümmert!« Und auf einmal kommt das Gerücht auf, auch der andre Sohn, Josef, wäre ertrunken, als er sein Brüderchen zu retten versuchte.
Paula muß grinsen, sie rennt zum Wagen zurück und versucht, ihrem Liebhaber in sachlicher Form das Vorgefallene beizubringen. Da brüllt er häßlich auf, schlägt ihr ins Gesicht, stürmt hinaus.
Sie kamen nie mehr wieder zusammen. Josef jagte nach Haus, war auf bitterste Vorwürfe, Schläge, Verstoßung gefaßt, wollte das Ärgste auf sich nehmen, seine Schuld zu sühnen. Man empfing ihn als verloren geglaubten Sohn, alles ging unter in dem Glück, daß dieses Kind ihnen doch noch geblieben war, er wurde selbst noch getröstet und gehätschelt, und als er das begriff, machte er seinem katholischen Gotte zum Danke ein Gelöbnis und sagte für immer der teuflischen Paula ab, dem Gassenluder, das ihn zum Mörder gemacht hätte. Später studierte er Theologie, kniete sich mit dem ganzen Fanatismus, den keinerlei Anfechtung mehr ablenkte, in sein Fach, wurde ein berühmter Kanzelredner, schließlich eine Leuchte des rechten Flügels der Zentrumspartei, ein unerbittlicher Befürworter strengster Sittengesetze. Er ahnte nicht, daß die unbeträchtliche Fleckel-Schneiderin Paula Bernert in der schlesischen Provinzstadt seine rigorosen Reichstagsreden mit hemmungslosem Triumph las und sieghaft zynisch dabei trällerte: »Frau Wirtin hat auch ’nen Kaplan . . .«
Denn auch sie hatte sich inzwischen stilgemäß weiterentwikkelt. In der Schule war sie für den jeweiligen Lehrer das räudige Schaf geblieben; ihren perversen Reiz und das verständnisinnig zwinkernde Werben sah so ein Amtstrottel nicht, und hätte er etwas davon bemerkt, wäre eine ebenso hochnotpeinliche wie plumpe, völlig ahnungslose und überflüssige Affaire mit abgestempelter Entrüstung und Protokollierung daraus geworden.
Aber mit der andern Jugend kam Paula nach und nach ganz gut aus. Zuerst natürlich mit den Knaben, denen sie sich mit allerlei kleinen Diensten unentbehrlich machte. Auch rief sie in ihnen, ohne daß sie diese Neigung sich hätten genau erklären können, eine seltsame Erregung hervor, die als prickelnd verboten empfunden wurde. Und da Paula wegen ihres Gebrechens für den rohen Blick nichts Mädchenschönes hatte, bei jeder jungenhaften Ruppigkeit ungeniert mittat, garnicht zimperlich war, vor nichts zurückschreckte, was schmuddlig machte, Kleider zerriß, Hände und Gesicht verschmierte, galt sie bald als gleichberechtigter Kumpan der Flegelrotte, und keiner der Jungens, der Paula bei Spiel und Lausbüberei nahe war, konnte je in die peinliche Lage geraten, mit dem Schmähruf »Mädelhengst! Mädelhengst!« als verweichlicht bemakelt zu werden. Freilich machte Paula sich anfangs dadurch bei den Mädchen mißliebig, aber bald wußte sie sich auch deren Wohlwollen zu erwerben. Teils mit kleinen Geschenken: aus Mutters Schneiderabfällen stibitzten Seidenresten, Samtbändern, Spitzenstückchen, bunten Fetzen; teils mit einer Art Verbindungsdienst zum Lager der Knaben hinüber. Das begann mit geschäftlichen Transaktionen, dem üblichen Schulgekäuzel, Austausch von Federbüchsen, Abziehbildern, Murmeln, Bohnen, Feuerwerkskörpern, und wurde später Vermittlung und Begünstigung jugendlicher Poussaden, Zwischenträgerei kindischer Liebesbriefe, schlimmsten Falles Schmierestehen bei äußerst harmlosen Stelldicheins, wo es höchstens zu einem täppischen und völlig genußlosen Ehrenküßchen kam.
Paula selber war damals in ihrer Erfahrung schon viel weiter, sie belächelte überlegen das alberne Getue, aber sie beherrschte damit ihre ganze Klasse, wurde von Mädchen und Jungens gebraucht, geachtet, gefürchtet und trieb längst zu ihrem Privatvergnügen dreistere und gefährliche Dinge. Freilich klugerweise nie mit Klassengefährten und Mitschülern, sondern Leuten wie Kusche und Josef Hanke.
Die Geschichte mit dem Schuhmachermeistersohn spielte auch schon in der Zeit, da Paula aus der Schule entlassen wurde. Dabei war man beiderseits, die Lehrerschaft und ihr Zögling, froh, einander loszuwerden. Was Paula nun gegen die Schule eintauschte, war freilich nicht die ganze Freiheit, sondern ein Handlangertum bei dem schäbigen, langweiligen Schneiderberufe der Mutter. Nun mußte sie von früh bis abends in fremden Wohnungen sitzen und an fremder Leute Kleidung basteln. Zuerst machte ihr das wenig Vergnügen, aber allmählich merkte sie, daß es hier allerlei zu lernen und zu entdecken gab, was ihrer Schadenfreude unterirdische Kräfte verlieh und nicht ohne Nutzen schien. Diese vornehmen Herrschaften breiteten nämlich unbedenklich mit ihren Kleiderintimitäten die mehr oder minder anrüchigen Geheimnisse ihrer Privatalkoven vor so untergeordneten Geistern, wie es eine Hausschneiderin war, aus. Da Paula im Gegensatz zur ergeben vegetierenden Mutter die Gabe hatte, scharf und gehässig Schwächen wahrzunehmen und für ihren Vorteil auszuschlachten, machte sie eine reiche Ernte. Aß man mittags mit dem Gesinde in der Küche, gab es bösartiges Gehechel in Hülle und Fülle. Woanders half beim Nähen eine Dienstmagd, ein Hausfaktotum, eine arme Verwandte, die von der Herrschaft auf Gnadenration gesetzt war. Während der stichligen Arbeit wurde fleißig geplaudert, und solche Plauderei handelte allemal, zum Ausgleich für die eigene untergeordnete und mühselige Existenz, von den Unzulänglichkeiten der jeweiligen Arbeitgeber. Manchmal ließ sogar die gnädige Frau selbst sich herab, die Arbeit zu überwachen und an führender Stelle mitzutun. Dann ging es anfangs einsilbig und ungemütlich zu, und nur, wenn sie fragte, wurde geantwortet. Aber allmählich kam man mit solchem Frage- und Antwort-Spiel durch das gemeinsame Nadeln in einen gewissen Kontakt, die Entgegnungen flossen reichlicher, unbefangener, machten sich langsam selbständig. Schließlich verwischten sich alle Standesunterschiede, es handelte sich nur noch um Frauen, die beim Hausfrauentum auf Frauenart ihre Frauensachen besprachen. Die Madame, die so lange sachkundige, wesensgleiche Beichtiger entbehrt hatte, fing an auszupacken, sich Eheschmerzen und enttäuschungen von der Seele zu reden, und hatte sie erst einmal begonnen, lief die Litanei unaufhaltsam gewöhnlich so weit, bis nichts mehr zu enthüllen übrig blieb.
Für Paula war es eine unschätzbare Bestätigung und Steigerung ihrer Selbständigkeit der Welt gegenüber und, rein für sich genommen, ein Genuß, dem kaum etwas gleichkam. Deutlicher und handgreiflicher schien ihr jetzt bewiesen, was sie frühzeitig am Vergleich der Wirklichkeit mit der bei Pickerts erschlichenen Bücherwelt gemerkt hatte: der Gegensatz zwischen der Lebensfassade und dem, was hinter ihr getrieben wird. Nicht, daß Paula sich moralisch entrüstete – sie glaubte vielmehr, den Unsinn jeder Art von moralischer Entrüstung zu entdecken. Das ganze Getu nach außen hin war Schwindel. Kam man auf den Kern der Dinge, kümmerte sich, wer konnte, den Teufel um das, was für ehrsam, anständig, reputierlich ausgegeben wurde. Nicht einmal in dieser Stadt, die als eine Hochburg frommen, sittsamen Wandels galt! Paula glühte vor innerer Genugtuung, wenn sie dahinterkam, daß die Fabrikbesitzerin unter den Orgien litt, die ihr Gatte angeblich nachts in den Büroräumen veranstaltete, daß der Bankdirektor eigentlich zwei Frauen hatte, der allgemein geachtete, pedantische Rat der Seinen Ungeheuerliches zumutete, bei Apothekers jeder Teil, Herr und Frau seine eigenen sexuellen Wege ging, und sogar die Amtsrichterehe irgendeinen perversen Knacks besaß. Paula merkte sich haarscharf die Einzelheiten jeder Enthüllung, man ahnte nie, wozu es einmal gut sein konnte, jedenfalls sammelte sie sich einen eigenen Fonds skandalöser Mitwisserschaft. Das blieb ihr besondrer Besitz, denn die Mutter hörte zwar genau das gleiche, aber sie hörte es eben nur an, ohne eine Folgerung daraus zu ziehen oder eine Möglichkeit fruchtbarer Verwendung darin zu vermuten. Für die alte Frau waren es alltägliche Geschichten, man vertrieb sich die Zeit damit, die Welt war nun einmal so, so war sie immer gewesen, den reichen Leuten geht es im Grund eben auch nicht viel besser als unsereinem, jeder hat sein Päckchen zu tragen, vor allem, was ein Weib ist! Von dem Herrn mit dem starken Brillantineduft am Scheitel war sie damals auch schlimm angeschmiert worden, nun saß sie da mit dem Bankert, der noch dazu ein undankbares, böswillig verschlossenes Geschöpf war, obendrein schiech, ihr, der ehemals als bildschön verschrieenen Ernestine Bernert, zum Trotz! Die Mutter sah Paula mißbilligend an und hatte ganz vergessen, daß das Mädchen seinen Körperfehler ihrer sehr unmütterlichen Jähzornigkeit verdankte. Und es kam zum größten Konflikt mit der Alten, als Paula ihre Erfahrungen das erste Mal rücksichtslos auszubeuten suchte.
Mutter und Tochter schneiderten damals im Haushalt der Witwe Kausch, die in der ganzen Stadt als mürrischer Geizkragen bekannt war. Sie entstammte niedrigen Verhältnissen, der bettelarmen, mit unzähligen Kindern gestraften Häuslerfamilie eines Fabrikdorfes, war Dienstmagd hier in der Stadt gewesen und hatte den Pfefferküchlergesellen Kausch kennengelernt, als sie schon einen großen Teil ihres Lebens hinter sich gebracht, aber im Laufe ihrer Dienstjahre eine beträchtliche Summe gespart hatte. Mit dem Gelde der Frau machte Kausch sich bald nach der Hochzeit in einem kleinen Laden der Pilzgasse selbständig. Da beide sich nichts gönnten, emsige und karge Menschen waren, die so gut wie gar keine Ansprüche ans Leben stellten, auf keinerlei Vergnügen Wert legten, nur die Arbeit kannten, beständig Angst hatten, in das Elend zurückzuverfallen, das sie bei ihren Eltern gesehen hatten, wurden sie langsam, aber sicher wohlhabend. Nach einigen Jahren konnten sie das Geschäft vergrößern, der kleine Laden in der Pilzgasse wurde zur Filiale degradiert, an der Hauptverkehrsader, in der Breslauerstraße, zwischen Bahnhof und Ring, Pfarrkirche und Stadtcafé, prangte mit zwei großen Schaufenstern »Bruno Kausch, Pfefferkuchenfabrik«, schließlich gehörte ihnen das ganze weitläufige Haus.
Aber grade als der Mann, endlich reich und angesehen, schüchtern anfangen will, auch einmal an sich selbst zu denken und in bescheidener Weise etwas vom Leben zu haben, fällt ihn gleich der erste, harmlose Versuch eines Privatvergnügens. Schon immer hatte ihn das nahe Gebirge gelockt, denn er stammte aus einer hoffnungslos ebenen Gegend, war noch nie auf einem Berge gewesen. Endlich kam es so weit, daß er sich einen Ruck gab, sich zu einer viertägigen Hochtour Zeit nahm. Am zweiten Tage sollte der Altvater bestiegen werden, kein erschreckend steiler Gipfel, 1490 m, aber die Sonne brannte, Papa Kausch war schon lange unterwegs, glühte am ganzen Leibe, hatte einen unbändigen Durst. Bei einer der vielen, unablässig rieselnden Gebirgsquellen legte er sich auf die Erde und schlürfte gierig das eiskalte Wasser. Gleich danach hatte er wahrhaftig an eine lehrhafte Geschichte aus seiner Schulfibel denken müssen, die warnend von einem Knaben erzählte, der mit ähnlich unverständiger Gier sich den Tod holte. Auf den Altvater war Kausch nicht mehr gekommen, fiebernd machte er auf halber Höhe kehrt, fuhr vorzeitig nach Haus, legte sich ins Bett und starb zwei Tage später.
Seine Witwe wurde nun bis zur Wunderlichkeit sparsam, besser gesagt: knausrig. Die Art, wie ihr Mann ums Leben gekommen war, bewies ihr, daß für Menschen ihres Schlages jeder Versuch, die ihnen angemessene Kargheit zu unterbrechen, eine Überheblichkeit war, die vom Schicksal tödlich geahndet wurde. Bald galt es für eine Strafe des Himmels, bei der Haus- und Fabrikbesitzerin Kausch angestellt zu sein oder in irgendeiner Form mit ihr geschäftlich zu tun zu haben. Kein Dienstmädchen hielt es länger als einen Monat aus, schließlich mochte niemand zu Frau Kausch in Stellung gehen. Nun erledigte die Gnädige selber die peinlichen und schmutzigen Dienstleistungen, schlampte in abgewetztem, beflecktem Habit herum, lag im Hofe auf allen Vieren und besserte, den Klempner zu sparen, eigenhändig den Gulli aus. Lebte in ständigem Kleinkrieg mit den Mietern, weil immerzu der Zins gesteigerter und nichts im Hause erneuert wurde, ehe nicht der Fall unhaltbar war und die Baupolizei ein Machtwort sprach. Und sie genierte sich nicht, bei Tageslicht mitten auf dem Wege eine weggeworfene Zigarettenschachtel oder ein Stück Packpapier aufzuheben, war doch alles irgendwie zu verwerten und durfte nicht umkommen.
Ihre Tochter Elfriede aber schämte sich der Mutter und wurde in allem ihr entschiedner Widerpart.
Sie besuchte die Höhere-Töchter-Schule und war ungefähr im gleichen Alter wie Paula. Anfangs nahm sie von den Bernerts keinerlei Notiz, wenn sie zufällig einmal durchs Zimmer mußte, wo ihre Mutter aufpaßte, daß ja kein Stoffrest verlorenging, und aus einem so und so oft reparierten Kleide immer noch etwas halbwegs Verwendbares zurechtgestoppelt wurde. Wie ekelhaft Mama diesem schäbigen Schneiderweib glich! Richtig hexenhaft hockten die beiden in dem Unrat von Lappen und Fetzen; welche Schande, von so etwas abzustammen! Wenn sie an ihre Mitschülerinnen: die Bielauer Baronesse, die Tochter vom Kommerzienrat Hahn oder die Landrat-Lotte dachte, kamen ihr Tränen ohnmächtiger Wut. Krachend schlug sie die Tür hinter sich zu.
Da kramte die Witwe Kausch seufzend vor der Bernert-Alten ihre mütterlichen Bekümmernisse aus. Ganz aus der Art geschlagen sei das Mädel, die Elfriede, hochmütig, verschwenderisch, vergnügungssüchtig. Woher sie das bloß hätte, sie, die Kausch, und ihr Bruno, Gott hab’ ihn selig!, wären doch gewiß anders gewesen, von ihnen hätte sie derlei nicht lernen können! »Für nichts Ernstes hat Ihnen das Mädel Interesse, jede Arbeit ist ihr zu schwierig oder zu niedrig, nur an Putz und Bequemlichkeit denkt der Fratz, jeder Sechser muß vernascht werden, vom Sparen hält sie nichts und mit ihrer Garderobe geht sie um, als ob sie nichts koste, und immerzu möchte sie etwas andres, ein paar neue Schuhe, einen neuen Hut oder Mantel. Als ob sie nicht an mir das beste Beispiel hat, wie lange trage ich schon die Winterpelerine, und sie sieht noch immer leidlich aus, und was kann man nicht noch alles aus einem alten Stück machen! Aber nein, die Elfriede muß immer gleich alles wegschmeißen, es bleibt ein Kreuz, wie das einmal enden soll! Wenn ich die Augen zudrücke und niemand mehr da ist, der aufpaßt, wird sie bei ihrer Verschwendungssucht bald alles durchgebracht haben«, lamentiert Frau Kausch in einer ehrlichen Besorgnis, die Paula äußerst lächerlich erschien. Noch größren Spaß machte ihr das Lob, das die alte Kausch ihr selbst dann spendet: »Ja, ja, liebe Frau Bernert, ich bin recht mit meinem Kinde gestraft! Da stehen Sie anders da! Ich kann garnicht sagen, wie sehr ich Sie beneide. Ihre Paula ist jetzt schon eine zuverlässige Hilfskraft für Sie, ein so fleißiges Mädel, auf die können Sie sich verlassen, und Sie wissen, daß Sie im Alter mal eine Stütze haben werden.«
Die alte Bernert stimmte in das Lob ihrer Tochter ein, tat rührselig überzeugt und strich ihr übers Haar. Dabei war zuhause immer Zwist, Paula versuchte, wo sie nur konnte, dem Zwang zur Arbeit zu entwischen, kratzte oft aus und ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken. Jetzt machte sie zu dem Gerede der beiden Mütter ein scheinheiliges Gesicht. Innerlich war sie mit sich im reinen. Frau Kausch hätte nicht mehr nötig gehabt, unbesonnenerweise nachsichtig auf Paulas Gebresten anzuspielen. »Da sieht man eben, daß Schönheit auch nicht das vollkommene Glück bedeutet, denn ein schmuckes Mädel ist die Elfriede ja, aber das schadet in diesem Fall eher, als daß es nützt: desto mehr Nachstellungen wird sie ausgesetzt sein. Gottlob ist sie in dieser Beziehung noch das reine Kind, und sobald sie in das Alter kommt, wird es hoffentlich möglich sein, sie mit einem anständigen jungen Mann zu verheiraten. Freilich hat der dann auch seine Schwierigkeiten; bei unsereinem weiß man nie, ob nicht nur die Mitgift gemeint ist. Danken Sie Gott, Frau Bernert, daß Ihnen solche Sorgen wenigstens erspart bleiben!« Da hatte die Witwe Kausch sich jede menschliche Rücksicht Paulas verscherzt. Paulas Mutter aber war imstande, sich wirklich bei Gott zu bedanken.
Als Elfriede Kausch das nächste Mal im Korridor hochnäsig an Paula vorbeistreichen wollte, sagte Paula untergeben: »Guten Tag, gnädiges Fräulein!« Und fügte, ehe Elfriede sich von der Überraschung erholen konnte, mit einem Verschwörerflüstern, das neugierig machte, hinzu: »Ihre Mama tut Ihnen Unrecht.« Das »Sie« der Gleichaltrigen und das »Gnädige Fräulein« wirkten überwältigend. Und daß Paula gleich hinterher im Zimmer verschwunden war und, als Elfriede eintrat, wie immer bei der Schneiderarbeit mit den beiden Frauen saß und mit keinem verstohlenen Blick zu Elfriede auf das Vorgefallene Bezug nahm. Nach einigen Tagen, in denen Paula unzugänglich blieb, war Elfriedes Widerstandskraft gebrochen. Dem Schneidermädel wurde ein Papierknäuel zugeschoben, das den Termin und den Ort zu einer geheimen Aussprache angab.
Diese entscheidende Zusammenkunft der beiden Mädchen fand auf dem Dachboden statt; über den ganzen Raum waren Leinen gespannt, auf denen die Wäscheklammern wie Sperlinge auf Telegraphendrähten saßen und unter denen man geduckt durchkriechen mußte, in der Ecke standen ein paar leere Wäschekörbe, die wurden umgestülpt und auf ihnen saß man. Elfriede hatte anfangs ungefähr die reservierte Haltung, die der Audienz erteilenden Königin in den Klassikerdramen einer Schülervorstellung wohl ansteht. Trotzdem war Paula gleich die Überlegnere. Obwohl sie die Rolle der unterdrückten und schmählich vernachlässigten Waise spielte, die ihre ergebenen Dienste anbot, bestimmte und lenkte sie sofort Form und Ton des Verhältnisses zu einander. Mit berechnetem Zögern, wobei der nächste Satz den vorhergegangenen schon wieder halb zurücknahm, abschwächte und verleugnete, deutete Paula der höheren Tochter an, daß etwas mit ihrer Abstammung nicht stimme. Aber wie sich die Sache rundheraus verhalte, das war nicht herauszulocken. Sie dürfte nicht so reden, wie sie wollte, aber sie hätte es nicht übers Herz gebracht, Fräulein Elfriede (das »Fräulein« machte sich immer gut und wurde auch von einem erregten Herzen registriert) ohne Warnung zu lassen. Dies Geplänkel zog sich geraume Zeit hin. Immer mehr bekam Paula das Honoratiorenkind in die Verfassung, in der sie es haben wollte. Längst war angedeutet und allerdings nachher fast widerrufen worden, daß Herr Kausch nicht Elfriedes wirklicher Vater gewesen und daß es unverantwortlich von Frau Kausch wäre, ihre Tochter nicht endlich aufzuklären. Über den Rang des wirklichen Vaters hatte Paula nichts gesagt, aber es stand für Elfriede fest, daß er dem ihres angeblichen Papas weit überlegen sein müsse. Mit dem Hochmut einer Jugend, die sich eben erst in höhere Bildungsbezirke vortastet, kreidete sie dem alten Kausch seine Sprachverstöße als Verbrechen an: Vanille hatte er »Fahnille« ausgesprochen und hartnäckig fanatisch und phantastisch verwechselt! Als die Unterredung beendet war, war nichts Genaues ausgesagt und doch der Stachel in Elfriedes Empfinden getrieben. Paula hatte gesiegt, die andre kam von ihr nicht mehr los. Es folgten weitere heimliche Zusammenkünfte, die das unnatürliche Band noch fester knüpften. Vom ursprünglichen Thema, Elfriedes wirklichem Vater, war kaum noch die Rede. In dieser Beziehung blieb für Elfriede alles im Vagen, Rätselhaften und behielt desto dauerhafter einen verführerischen Reiz. Den vornehmen Mitschülerinnen machte Elfriede affektierte, dunkle Andeutungen, die nicht verstanden wurden. Die Bielauer Baronesse, die Tochter vom Kommerzienrat Hahn und die Landrat-Lotte kamen überein, sie nicht mehr ernst zu nehmen und sich von der fragwürdig Gewordenen in vorsichtiger Distanz zu halten. Plötzlich sah Elfriede sich aus dem kleinen Kreis der Bevorzugten ausgeschlossen, begegnete sie bei der Masse ihrer Mitschülerinnen grenzenloser Schadenfreude, denn die knapp gehaltenen Töchter von mittleren Beamten hatten von vornherein den begünstigteren Sprößling einer für ihre Begriffe schmierigen Parvenüfamilie der verachteten Tütenkrämerart gehaßt.
Wider ihren Willen wurde jetzt Elfriede in die radikale Opposition gedrängt und dem Gassenbalg Paula auf Gedeih oder Verderb verbunden. Immer noch trafen die zwei Mädchen sich heimlich, niemand wußte von dieser Freundschaft, nichts ahnten die beiden Mütter.
Inzwischen hatte Paula in Erfahrung gebracht, daß Frau Kausch damals nicht geflunkert hatte: Elfriede war, was erotische Erlebnisse oder auch nur Kenntnisse anlangte, tatsächlich das reine Schaf. Diese höheren Töchter pflegten natürlich von allerlei Dingen zu munkeln, die eine oder andre wollte das und jenes gehört haben, manche hatte einen älteren Bruder, einen Vetter, etwas Bestimmtes war jedenfalls nicht passiert, oder wer wirklich mehr wußte, der verschwieg wohlweislich seine fortgeschrittnere Erfahrung. Kurzum, Elfriede Kausch hatte keinen blassen Dunst, war aber nervös begierig, in das Geheimnis eingeweiht zu werden, und naiv lüstern wie eine Gefangene, die sich mit ausschweifenden Vorstellungen überhitzte. Ihre Phantasie wurde von Paula weiter aufgepeitscht und der Pfefferküchlerstochter das Geständnis entlockt, wie sehr sie für René Casati, den Charakterdarsteller des Stadttheaters, schwärme.
Paula versprach, die persönliche Bekanntschaft zu vermitteln. Zu diesem Zwecke kam sie noch einmal auf den Militärmusiker Kusche zurück. In der Theaterspielzeit, von Oktober bis Ostern, stellte die Infanteriekapelle allabendlich das Bühnenorchester. Ein paar geschickt vorgebrachte Drohungen machten den Musiker nicht nur gefügig, sondern überaus diensteifrig und gradezu erfinderisch. Zuerst einmal erfuhr Paula durch ihn, was an Klatschereien und Garderobengerüchten über René Casati im Umlauf war, und da blieb, zog sie auch die nötige Übertreibungsquote ab, noch genug, ihre Schadenfreude in Schwung zu setzen.
René Casati, den Elfriede sich als gefährlichen Don Juan, Frauenverbraucher, Liebeskünstler vorstellte, vor dessen rücksichtslosem Draufgängertum sie teils begehrlich, teils ängstlich erschauerte, war – wenn die Beobachtung seines Kollegen stimmte – ein phlegmatischer, abgenutzter, impotenter Lebenspensionär, der überhaupt für nichts Erotisches mehr, sondern nur noch für Sauf- und Freß-Orgien Interesse hatte. Paula frohlockte: besser hätte sie es garnicht treffen können. Die geizige Alte und der eitle Backfisch würden dort verwundet, wo es ihnen am schmerzlichsten wehtat.
Eines Mittags, nach der Probe einer Posse mit Gesang und Tanz, sprach Kusche den Mimen an. »Ich wollte dem großen Künstler schon immer mal danken, für den Genuß, den ich von ihm habe, wenn ich auch bloß unten im Orchester sitze, wo ich nicht viel mehr als die Köpfe sehn kann. Und weil ich nun endlich den Mut dazu finde, möchte ich auch gleich wagen, ein privates Anliegen vorzubringen, das freilich nicht so sehr mich selbst betrifft. Eigentlich schäme ich mich ja, es zu sagen, weiß ich doch, wie Künstler von Herrn Casatis Beliebtheit unter der gutgemeinten Zudringlichkeit ihrer Verehrer und Verehrerinnen zu leiden haben.« Als der Schauspieler geschmeichelt beteuerte, wie sehr, »im Gegenteil«, solches Interesse ihm wohltue, und den Musiker, indem er eine leutselige Exzellenz oder einen jovialen Monarchen spielte, ohne Scheu sprechen hieß, wußte Kusche ihm den Mund ordentlich wäßrig zu machen. Es existiere in dieser Stadt, die leider so klein sei, daß der Nachbar wisse, was man tue, und Vorsicht geboten bliebe, eine junge Dame aus den besten Kreisen, wo man auf die Pflege alter Eß- und Trink-Kultur noch Wert lege. Diese junge Dame, eifrige Theaterbesucherin (Elfriede hatte nur »Preziosa«, »Maria Stuart« und das Weihnachtsmärchen »König Drosselbart« sehen dürfen) möchte ihn gerne persönlich kennenlemen. Das hätte jedoch seine Schwierigkeiten, denn das Fräulein, Erbin eines kürzlich verstorbenen Großindustriellen, würde von einer habgierigen Tante bewacht. Doch gäbe es einen Umweg über eine treu ergebene Kammerzofe, die des Musikers entfernte Verwandte und, der Herr Casati sollte nicht erschrecken, ein etwas verbautes, windschiefes Möbel wäre. Unwillkürlich hatte mit alldem der Hoboist das Komödiantische in René Casati gereizt. Der sah sich in tolle Intrigen verwickelt, Held eines zeitgemäßen Abenteuerstückes, darin er die goldene Jungfrau von ihrem tantenhaften Drachen befreite und schließlich als Sieger an der reichbeladenen Tafel saß, deren Leckerbissen er jetzt schon greifbar vor sich zu haben träumte.
Es begann ein geheimer Briefwechsel, der über Kusche und Paula zu der Pfefferküchlerstochter und wieder zurück ging. Elfriede las aus der Schwärmerei, die dem erhofften Wein und Braten galt, inbrünstiges Verlangen nach ihrer Person, und nahm alle Flüche gegen den Cerberus, der sie so grausam bewache und um ihr Jugendglück bringe, für Mißbilligung des Verhaltens ihrer Mutter. Kurz: man mißverstand sich aufs beste. Und Paula vergnügte sich lange damit, als Drahtzieherin das briefliche Theater des kasperlehaften Hinüber und Herüber funktionieren zu lassen. Endlich mußte einmal etwas Handgreifliches geschehen. Paula litt es nicht mehr in ihrer anonymen Rolle der unsichtbaren Lenkerin der Geschehnisse. Sie wollte richtig mitwirken.
Die Inszenierung dieser Komödie entsprach völlig sowohl ihrer eignen Lust an koboldhaftem Mummenschanz, als auch dem kitschigen Bedürfnis des Mimen nach romantischer Situationspointe. Herrn Casati wurde mitgeteilt, des Fräuleins Vertraute, die in einem besonders heiklen Verwandtschaftsverhältnis zu der jungen Dame stehe und deren Name nicht genannt werden könne, hätte dem Schauspieler eine geheime Botschaft zu überbringen. Von dieser Zusammenkunft hänge zuguterletzt alles ab. Casati bestach den Theaterkastellan. Es war ein sonniger Frühlingsnachmittag, als die stark vermummte Paula durch den Bühneneingang ins Theater gelassen wurde. Der jähe Übergang von der deutlichen Klarheit des frühlingshaften Draußen in die panoptikumhafte Muffigkeit des verstaubten, ungelüfteten Theaterdunkels war ein aparter Genuß für ihre Nerven. Es ging eine enge Wendeltreppe empor, dann schlug eine Eisentür hinter ihr zu, sie befand sich auf der Bühne, die jetzt sonderbar genug aussah, unbeleuchtet, unaufgeräumt, durch den eisernen Vorhang vom Zuschauerraum abgesperrt. Zwischen den Resten von Kulissen, die einen Königspalast darstellen sollten, saß auf der Bank von Stein aus »Wilhelm Teil« René Casati. Als nun die vermummte Paula auf ihn zukam, zögernd, sich wie blind vorwärts tastend, weil sie sich ja in dieser Umgebung nicht auskannte, war er von dem ersten Eindruck vollkommen befriedigt. Die Vermummung unterstrich und vergröberte ihren Körperfehler noch. In der staubigen Dämmerung hatte die Mißgestalt, die da schlotternd einherwankte, etwas Gespenstisches. Casati mußte gleich an die Hexen in »Macbeth« denken, »Großartige Maske!« anerkannte er, wider seinen Willen, laut und setzte sich sofort selbst der theatralischen Situation entsprechend in Positur. Man erkannte sich im Grunde als seinesgleichen und respektierte gegenseitig seine Lüge. Kurz: man verstand sich gut und beschloß, auf Kosten jener blöden Bürgerpute sich noch besser zu verstehen. Und obwohl beide ihre Rollen bis zuletzt durchhielten, fand ihre Verhandlung, die nur noch um die möglichst ertragreiche Ausschlachtung ihres Opfers ging, bald in einem Rotwelsch statt, das sich von selbst ergeben und den Kulissenjargon mit der Gaunersprache des Gassenmädels zwanglos geeint hatte. In der Folgezeit wurde Elfriede angestiftet, ihre Mutter bei jeder Gelegenheit zu bestehlen und von dem erbeuteten Gelde Geschenke zu kaufen, die dem Schauspieler ihre Zuneigung sinnfällig beweisen sollten. Obwohl für Paula die nötigen Provisionen dabei abfielen, war auch dies auf die Dauer langweilig.