Hilflose Augen - Max Herrmann-Neisse - E-Book

Hilflose Augen E-Book

Max Herrmann-Neiße

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Beschreibung

Ein Zyklus von vier Erzählungen, die der Autor vermutlich – mit einer Ausnahme – an einem Tag im Mai 1914 verfasste: Es geht um Visionen vom Untergang und des Paradieses, einen Sohn, der sich auf tragische Weise der Enge seines Elternhauses bewusst wird und einem Dichter auf der Suche nach sich selbst. Was alle Erzählungen eint ist das Streben nach Identität, doch dieses Suchen bleibt meist erfolglos...-

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Seitenzahl: 38

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Max Herrmann-Neiße

Hilflose Augen

 

Saga

Hilflose Augen Vier Geschichten: "Himmelfahrt zu 'Gott Vaterlos'", "Des Kreuzwegs letzter Stern", "Die Wunde des Ludwig Perls" und "Hilflose Augen"Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1920, 2020 Max Herrmann-Neiße und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726614596

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Hilflose Augen

Über den Jugendirrtum, daß gleiche Einsicht in die tatsächlichen Vorgänge auch gleich Handlungsweisen verbürgen müsse, war er geraume Zeit hinaus. Als ihm die Überzeugung beigebracht ist, daß für bald Gefahr droht, fühlt er sich mit dem ebenso bedrohten Nachbar keineswegs solidarisch. Die Wandelbaren der eignen Partei werden gefährlicher als die Gegner mit grundsätzlich verschiedenem Standpunkt. Am augenblicklichen Überschwang kann der Unzuverlässigen zukünftiges Renegatentum nach Spannung und Stärke sicher gemessen werden.

Nach den drei ersten, durch solch schmerzhafte Erkenntnisse verwüsteten Jahren seines Mannesalters rettete sich Gerhart in einen Staat, der den Menschen keinerlei Verleugnung ihrer gütigsten Gefühle abzuzwingen wagte. In einer endgültig letzten Rückschau durchlebte er noch einmal die ganze Qual, und das Schwerste schien ihm, daß er aus Notwehr schließlich so weit gekommen war, auf eine seiner fanatischen Wahrheitsreinlichkeit weltenfremde Art hinterhältig zu sein. In seinem Lande hatte jede Liebe zu Lügen geführt, und noch vor das Heiligtum Gott war überall eine heimliche Falle gestellt. Dort bedrängte die Stickluft so seine Seele, daß er gar nicht mehr imstande gewesen war, das Leben harmlos durch die Straßen zu tragen: immer nahm Abwehr und Sichbewahren alles in Anspruch, war ihm die bloße Funktion des Gehens schon derart mit Leistung beladen, daß für einen Blick auf den Weg oder gar zum Himmel hinauf kein Aussetzen blieb. Das Schlimme mit Vorbehalt über sich ergehen lassen, war hier noch nicht einmal der verächtlichste Ausweg, und sogar die Sanftmütigen sollten in triftigere Schuld verstrickt werden. Der Bann, unter dem sie in dieser Sphäre rettungslos gebeugt blieben, machte sie unmerklich brutal, indem er ihrer Milde eine Kämpferstellung aufnötigte, die ihrem eigenen Prinzip widersprach. Bald war ihr Tun der Sünde des Systems verfallen, das ihr Herz verwarf. Völlig damit beschäftigt, sich selbst nicht zu verlassen, merkten sie bald gar nicht, wie sehr ihr freilich berechtigter Verfolgungswahn sie das Recht der Wesen, die zufällig dieselben Pfade beschreiten mußten, mißachten ließ. Und in Wahrheit behielten sie gar nicht ihr Selbst, ja sie erkannten es nicht einmal, denn der wahnsinnige Tanz, der sie immer nur um den einen hartnäckigen Verteidigungspunkt wirbelte, war ebenso ein Raub an dem, was am meisten not tat. Mit dem Trick, mit dem sie sich der Weise der Mitwelt zu entäußern trachteten, waren sie ihr desto fester verfallen. Indem sie irgend etwas zu sich in Beziehung brachten, gaben sie ihm ein Recht auf ihre Teilnahme, und immer endete es mit dem Verbrechen, daß sie den Schmerz des Geborenwerdens mit der Hingabe des ganzen Menschen einzulösen sich nicht für gebunden hielten.