Die Beschreibung des Unglücks - W.G. Sebald - E-Book

Die Beschreibung des Unglücks E-Book

W.G. Sebald

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Beschreibung

In diesen aufschlußreichen sowie brillant formulierten Essays zu Werken von Stifter, Schnitzler, Hofmannsthal und Kafka, von Canetti, Bernhard, Handke, Ernst Herbeck und Gerhard Roth gelingt es dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Sebald, einige bislang oft wenig beachtete Merkmale österreichischer Literatur ins Blickfeld zu rücken. Im Mittelpunkt seiner Analysen stehen die psychischen Voraussetzungen des Schreibens, insbesondere »das Unglück des schreibenden Subjekts«, mit dem Sebald die eigentümliche Schwermut in der österreichischen Literatur zu erklären versucht. Einfühlsam geht er der Frage nach, inwiefern persönliche Existenznöte, aber auch historische und politische Kalamitäten das Schreiben dieser österreichischen Autoren jeweils beeinflußt haben, und folgert: »Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein«.

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W.G. Sebald

Die Beschreibung des Unglücks

Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort[Bis an den Rand der Natur – Versuch über Stifter][Das Schrecknis der Liebe – Zu Schnitzlers Traumnovelle][Venezianisches Kryptogramm – Hofmannsthals Andreas][Das unentdeckte Land – Zur Motivstruktur in Kafkas Schloß][Summa Scientiae – System und Systemkritik bei Elias Canetti][Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht – Zu Thomas Bernhard][Unterm Spiegel des Wassers – Peter Handkes Erzählung von der Angst des Tormanns][Eine kleine Traverse – Das poetische Werk Ernst Herbecks][Der Mann mit dem Mantel – Gerhard Roths Winterreise][Helle Bilder und dunkl – Zur Dialektik der Eschatologie bei Stifter und Handke]Nachweise

Vorwort

Mit den in diesem Buch vorgelegten Arbeiten soll weder eine neue Panoramaaussicht auf die österreichische Literatur eröffnet werden, noch geht es darum, möglichst ausnahmslos alles über irgendeinen kritischen Kamm zu scheren. Vielmehr sollen in mehreren Exkursen einige jener spezifischen Komplexionen ins Blickfeld gebracht werden, die in der österreichischen Literatur – wenn es eine solche überhaupt gibt – konstitutiv zu sein scheinen. Das fallweise Verfahren, das je nach den vor ihm auftauchenden Schwierigkeiten ohne viel Skrupel seine analytische Methode wechselt, stimmt selbst zu der vorbedachten Rücksichtslosigkeit, mit der in der österreichischen Literatur traditionelle Grenzlinien etwa zwischen ihrem eigenen Bereich und dem der Wissenschaft übergangen werden. So ist die österreichische Literatur nicht nur eine Vorschule der Psychologie; um die Jahrhundertwende und in den nachfolgenden Jahrzehnten ist sie in ihren psychologischen Erkenntnissen, auch wenn sie diese nicht auf den Begriff bringt, den Einsichten der Psychoanalyse in vielem gleichwertig und in manchem voraus. Was die Werke Schnitzlers und Hofmannsthals an Material zur Erforschung psychischer Formationen und Deformationen beitragen, das hat weit mehr als bloßen Illustrationswert und befördert die Differenzierung der psychologischen Erkenntnisse, die von dem für die Wissenschaft so bezeichnenden Hang zum Doktrinären leicht unterbunden wird. Wenn es richtig ist, daß man Schnitzler nicht ohne Freud lesen sollte, so stimmt das Umgekehrte nicht minder. Ähnlich gewichtig erscheint mir Canettis Beitrag zum Verständnis paranoider Strukturen, scheinen mir Peter Handkes mikroskopisch genaue Beschreibungen schizoider Krisenzustände. Die Präzision der Beobachtung und der Sprache, mit der hier verfahren wird, vermittelt eine derart durchleuchtete Vorstellung von der Natur menschlichen Derangements, daß die Schulweisheit der Psychologie, die in erster Linie doch stets an der Rubrizierung und Administration des Leidens ihr Teil hat, sich als ein vergleichsweise oberflächliches und indifferentes Geschäft ausnimmt.

Es ist schwer zu sagen, wo das in der österreichischen Literatur zum Ausdruck kommende Interesse an Grenzübergängen sich herschreibt und ob es vielleicht damit zu tun hat, daß das nach einem langwierigen historischen Debakel noch übriggebliebene Österreich, wie Herzmanovsky-Orlando in einer kryptischen Bemerkung versichert, »das einzige Nachbarland der Welt« ist, was man wohl dahin gehend verstehen muß, daß man in Österreich, wenn nur mit dem Denken einmal ein Anfang gemacht ist, bald auch schon auf den Punkt stößt, wo man über das vertraute Milieu hinaus und mit anderen Systemen sich auseinandersetzen muß. Möglicherweise provoziert das Winkelwesen der Heimat geradezu die Auswanderung in die entferntesten Länder, die in der österreichischen Literatur seit Charles Sealsfield mit einer gewissen Vorliebe thematisiert wird. Ob die Verschollenen dann am Jacinto, als Landschaftsmaler in den Anden oder als Statisten im Naturtheater von Oklahoma verbleiben oder ob sie nach einem Aufenthalt im höchsten Norden zu einer langsamen Heimkehr über den Süden von Frankreich sich anschicken, das steht dann auf einem anderen Blatt. In jedem Fall aber geht es schon beim ersten Überschreiten der Grenze um den unwiderruflichen Verlust der Familiarität.

In diesem Zusammenhang sollte auch erinnert werden, daß nach Österreich oder zumindest nach Wien lange Zeit viel eingewandert wurde, weil es als der erste Umschlagplatz galt auf dem Weg von der Provinz in die Welt. Und noch die assimilationswilligsten Zuwanderer brachten ein Quantum von jener schwerwiegenden Fremde und Ferne mit, die nirgends ganz aufgeht, dafür aber zum Ferment wird in einem in kontinuierlicher Umschichtung begriffenen und zugleich von archaischen Tabus durchsetzten sozialen und psychischen Wertsystem.

Die Familie Kafka bewohnte in den Jahren 1896 bis 1907 eine Wohnung in der Zeltnergasse in Prag. Durch eines der Fenster dieser Wohnung blickte man nicht nach draußen hinaus, sondern in den Innenraum der Teynkirche, in welcher, wie es hieß, ein jüdischer Knabe namens Simon Abeles sein Grab hatte, der von seinem Vater ums Leben gebracht worden war, weil er zum Christentum hatte übertreten wollen. Wer versucht, sich die gemischten Gefühle zu vergegenwärtigen, mit denen der junge Franz Kafka von diesem eigenartigen Logenplatz herab beispielsweise das düstere Karfreitagsritual verfolgt haben mag, der kann vielleicht ermessen, wie akut das Gefühl der Fremdheit trotz unmittelbarster Nachbarschaft im Prozeß der Assimilation zu sein vermochte.

An Reibungsflächen dieser Art entstand sowohl die sogenannte österreichische Kultur als das Unbehagen in ihr, eine Kultur also, deren Kennzeichen darin bestand, daß sie die Kritik an sich selbst zu ihrem Prinzip erhob. Daraus ergab sich um die Jahrhundertwende ein ästhetisches und ethisches Kalkül von äußerster Komplexität, das das Defizit ausgleichen sollte, das man sich einhandelte, indem man der bürgerlichen Gesellschaft, ihrem Machtpotential, ihrem Wertsystem und ihren Kunstwerken sich anschloß. Wie schwierig die Anforderungen an die Protagonisten dieser Szene waren, das erhellt aus den kabbalistischen Verwicklungen des Kafkaschen Werks ebenso wie aus der Tatsache, daß nicht einmal Hofmannsthal, einiger gewichtiger Kompromisse zum Trotz, es wirklich zu nationaler Repräsentanz gebracht hat. Nicht anders als Kafka ist auch er, letzten Endes, draußen geblieben.

Nicht weit ab von dem hier umrissenen Problembereich liegt ein weiterer zentraler Gegenstand meiner Analysen: das Unglück des schreibenden Subjekts, das als ein charakteristischer Grundzug der österreichischen Literatur oft schon bemerkt worden ist. Nun rechnen diejenigen, die den Beruf des Schriftstellers ergreifen, in aller Regel nicht zu den unbeschwertesten Menschen. Wie kämen sie sonst dazu, sich auf das unmögliche Geschäft der Wahrheitsfindung einzulassen? Dennoch ist die Frequenz unglückseliger Lebensläufe in der Geschichte der österreichischen Literatur alles andere als geheuer. Raimunds vorzeitige Todespanik, Nestroys Angst, bei lebendigem Leib begraben zu werden, die Depressionen Grillparzers, der Fall Stifter, Schnitzlers fast auf jeder Tagebuchseite vermerkte melancholische Zustände, Hofmannsthals Fremdheitsanwandlungen, der Selbstmord des armen Weininger, Kafkas vierzigjähriges Rückzugsmanöver aus dem Leben, der Solipsismus Musils, die Trunksucht Roths, das so logisch wirkende Ende Horváths, das alles hat wiederholt Anlaß gegeben, die quasi naturgemäß negative Inklination der österreichischen Literatur herauszustreichen. Die Theorie, die schwermütige Disposition sei das Pendant eines allzu lang sich hinziehenden politischen Niedergangs und also identisch mit der Unfähigkeit, dem Wandel der Zeit stattzugeben, identisch mit dem Wunsch nach einer Verlängerung der Habsburger Herrschaft in einen Habsburger Mythos, ist zwar in vielem plausibel, aber doch auch etwas zu beckmesserisch.

Gewiß halten Autoren wie Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal, Kafka und Bernhard den Fortschritt für ein Verlustgeschäft. Es ist aber verkehrt, ihnen daraus eine moralpolitische Rechnung zu machen. Kafkas Einsicht, daß all unsere Erfindungen im Absturz gemacht werden, ist ja inzwischen nicht mehr so leicht von der Hand zu weisen. Das Eingehen der uns nach wie vor am Leben erhaltenden Natur ist davon das stets deutlicher werdende Korrelat. Melancholie, das Überdenken des sich vollziehenden Unglücks, hat aber mit Todessucht nichts gemein. Sie ist eine Form des Widerstands. Und auf dem Niveau der Kunst vollends ist ihre Funktion alles andere als bloß reaktiv oder reaktionär. Wenn sie, starren Blicks, noch einmal nachrechnet, wie es nur so hat kommen können, dann zeigt es sich, daß die Motorik der Trostlosigkeit und diejenige der Erkenntnis identische Exekutiven sind. Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein. Wo zeigte sich das deutlicher als an den beiden anscheinend so gegensätzlichen Autoren Bernhard und Handke: sie sind, ein jeder auf seine Art, guten Muts, trotz der genauesten Einsicht in die historia calamitatum. Weder der seltsame Humorismus Bernhards noch die Feierlichkeit Handkes wären als Gegengewichte zur Erfahrung des Unglücks zu erreichen ohne das Medium der Schrift. Dazu paßt die Geschichte vom Rabbi Chanoch, der sich erinnert, wie der Lehrer in der Kleinkinderschule einem Knaben, der in der Lernstunde zu weinen begann, den Rat gab: »Sieh ins Buch! Wenn man hineinguckt, weint man nicht.«

Mit dieser Parabel von der Buchstabenbrücke zwischen Unglück und Trost sind wir bei dem in der literarischen Tradition Österreichs, im Gegensatz etwa zur reichsdeutschen, so wichtigen Kategorie der Lehre und des Lernens, auf die, soviel ich weiß, noch niemand verwiesen hat, wahrscheinlich, weil sie in eklatantem Widerspruch zu der um vieles auffälligeren und, allem Anschein nach, defätistischen Schwermut steht. Stifters pädagogische Provinz, Karl Kraus, der Korrepetitor der Nation, Kafkas didaktische Wissenschaft, die wunderbare Szene im Schloß-Roman, wo K. und der kleine Hans im Schulzimmer voneinander lernen, Canetti, der ein großer Lehrer geworden und ein kleiner Schüler geblieben ist, die Hoffnungen, die Wittgenstein in die Dorfschullehrerexistenz gesetzt hat, Bernhards Erinnerungen an die Philosophie seines Großvaters und die immer wieder um ein Stück verlängerte Lehrzeit Peter Handkes, das alles sind Facetten einer Haltung, die dafür einstehen kann, daß es einen Sinn hat, etwas weiterzugeben. Unter diesem Aspekt stellt die Erklärung unseres persönlichen und kollektiven Unglücks ein Erlebnis mit bei, über das das Gegenteil von Unglück, und sei es mit knapper Not, noch zu erreichen ist.

Bleibt mir – pénétré d’amitié et de reconnaissance – all denen zu danken, die am Entstehen dieses Buchs näheren oder ferneren Anteil genommen haben. Wer gemeint ist, wird es schon wissen. Ausdrücklich registrieren möchte ich meinen Dank an die British Academy, die mir mit diversen Zuwendungen die Arbeit an diesem Buch beträchtlich erleichtert hat.

Norwich, im Frühjahr 1985

W. G. Sebald

Bis an den Rand der NaturVersuch über Stifter

Sehen und Denken sind zwei Verrichtungen,

deren eine nicht die andere erklärt.

Franz von Baader

Über Adalbert Stifter ist viel geschrieben worden, Hagiographisches und Abfälliges, ohne daß deshalb die schwierige Schönheit seines Werks zugänglicher geworden wäre. Zunächst mochte es scheinen, als sollte Stifter als biedermeierlicher Käfer- und Blumenpoet in die Literaturgeschichte eingehen. Das jedenfalls war die Rolle, die die Wiener Salons des Vormärz ihm zugedacht hatten. Nirgends wird der Tonfall sentimentalischer Reverenz deutlicher als in dem Billett, das die schwedische Nachtigall Jenny Lind zum Frühlingsanfang des Jahrs 1847 an Stifter richtete. Sie spricht darin von »die herrliche Abende bei meine geliebte Frau Jager« und philosophiert ein bißchen theatralisch: »Merkwürdiges Schicksal, daß die Menschen sich kennen und erkennen lernen müssen, sich verstehen und schätzen – und unmittelbar darauf für immer und ewig – scheiden! Bester Herr von Stifter! in mein ganzes Leben werd’ ich Sie nicht vergeßen.«[1]

Ob es dem somit geadelten Herrn von Stifter beim Lesen dieser feinsinnigen Deklaration etwas anders ums Herz wurde, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls entsprach das Gefühl der gesellschaftlichen Unvereinbarkeit, das die Zeilen Jenny Linds indirekt zum Ausdruck bringen, recht genau der inferioren Selbsteinschätzung Stifters, dem es in den Salons der gebildeten Stände nach eigenem Zeugnis immer leicht bang wurde. »So wie ich in den Kreis der vornehmen Leute trete, wiederholt sich in mir regelmäßig die Empfindung des Schulknaben, wenn der Direktor, der Pfarrer oder etwa der Bischof vor ihm steht.«[2] Die Beklemmung, die Stifter hier beschreibt, wird ein Grund gewesen sein, weshalb er in den besseren Kreisen nicht vollends zu reüssieren vermochte; sie war aber auch die Voraussetzung für den weiteren Entwurf eines Werks, das die Menschen als fremd nicht nur in der Gesellschaft, sondern selbst in ihrer früheren Heimat, der Natur, vorstellt.

Die Seriosität des Stifterschen Werks ergab sich aus der graduellen Rückzugsbewegung eines Autors, der aufgrund seiner sozialen und psychischen Konstitution den Ansprüchen der Sozietät nicht genügen konnte. Bereits während seiner Zeit in Wien und erst recht später in Linz, im bairischen Wald und auf dem Berg bei Kirchschlag arbeitet Stifter in einer Art Exil, und von daher fallen die langen Schatten in seine Prosa, schreibt sich die Trübsinnigkeit, die ihn über das Niveau der Goldschnittkunst der anhebenden spätbürgerlichen Ära so weit hinaustrug. Die affirmativen Gesten Stifters verschlugen nichts gegen das Mißtrauensvotum, das seine Erzählungen sonst beinhalten. Wenn Stifter schon gegen Ende seines Lebens und bis um die Zeit des Ersten Weltkriegs zunehmend in Vergessenheit geriet, so lag das an der Isolation, die weniger die Gesellschaft, die ihn ja gern kultiviert hätte, als er selber sich auferlegte.

Die Wiederentdeckung Stifters geschah im Zeichen eines vom eigenen Sendungsbewußtsein erfüllten Dichtertums, das den stillen Prosaisten als Heiligenfigur reklamierte. Karl Kraus machte damit 1916 – in invertierter Form, wie es sich für ihn gehörte – den Anfang, indem er den »Romansöldnern und Freibeutern der Gesinnung und des Worts« anriet, sie möchten sich auf dem Grab Stifters »auf dem angezündeten Stoß ihrer schmutzigen Papiere und Federstiele« ums Leben bringen. Bahr rückte Stifter in die Nachfolge Goethes, Hesse spricht 1923 von einer »glühenden Seele«, vom »Wesen wahrer Menschlichkeit«, vom »Suchen und Finden« und dem »Geist wahrer Ehrfurcht«; Hofmannsthal, zwei Jahre später, von »der spiegelreinen Bildung« der »zartumrissenen Gestalten« Stifters und von der »geheimen Spirale des europäischen Geisteslebens«. Der George-Schüler Bertram handelt in einer 1928 gehaltenen Rede von »Einfalt und Kraft«, »Treue und Traum«, »bäuerlich und benediktinisch«, »volkstümlich und adlig«, »stammestreu und gesamtdeutsch« und einer langen Reihe weiterer Adjektivkonjekturen.[3]

Damit ist die Rezeption Stifters eingeleitet und auf lange Sicht festgelegt. Mit ihrem sprichwörtlichen Fleiß arbeiteten die Philologen von nun an an der Kolportierung der konservativen Heiligenlegende, ein Prozeß, der sich bis in die sechziger Jahre fortsetzte und in Walter Rehms und Emil Staigers frommsinnigen Stifter-Paraphrasen letzte zweifelhafte Höhepunkte fand. Wie Peter Stern gezeigt hat[4], besteht das Paradoxe der Usurpierung Stifters durch die affirmative Kritik darin, daß sie sein Werk mit dem Anstrich der Zeitlosigkeit versieht, während sie selber dem jeweiligen Zeitgeist nur allzu hörig bleibt. Die fast schon ins Aschgraue gediehene Sekundärliteratur enthält darum auch nur wenig, das Aufschluß gäbe über das, was sich in der intentionalen Ordnung der Prosa Stifters an Konflikten zuträgt.[5] So kommt es, daß Stifter nach Jahrzehnten des Vergessenseins, nach seiner Requirierung für den Geist des deutschen Schrifttums und der deutschen Nation, nach seiner Zurichtung zum österreichischen Heimatdichter und Kronzeugen einer Kultur der Entsagung vielleicht jetzt zum erstenmal richtig gelesen werden kann.

Eine Reinterpretation Stifters wird zunächst von den ebenso irritierenden wie unumgänglichen Sinnkonstruktionen erschwert, die dieser Autor seinen ins Hermetische tendierenden Texten mit naiver Insistenz aufgesetzt hat. Auffällig dabei ist allerdings, daß die positiven Konstruktionen Stifters, also etwa seine vielzitierte christliche Demut, sein weltfrommer Pantheismus, die Behauptung der sanften Gesetzmäßigkeit des natürlichen Lebens sowie der rigide Moralismus der von ihm erzählten Geschichten, nirgends in seinem Werk entwickelt oder reflektiert werden. Letzte Rudimente einer Natur und Geschichte einbegreifenden Philosophie des Heils, sind sie vor der Desintegration nur dadurch zu bewahren, daß sie einmal ums andere invariant behauptet werden. Aber der damit explizit verkündete Sinn hat wenig mit dem Wahrheitsgehalt eines Werks zu schaffen, das ganz im Gegenteil seinen eigentlichen Schwerpunkt in einem profunden Agnostizismus und bis ins Kosmische ausgeweiteten Pessimismus hat. Von Anfang an rumort in der Weltbeschreibung Stifters der ungute Verdacht, den später der von Kafka erfundene, von einem perversen Forschungsdrang umgetriebene Hund aussprechen sollte: daß nämlich »seit jeher etwas nicht stimmte, daß eine kleine Bruchstelle vorhanden war«[6] und daß an dieser Bruchstelle der ganze Irrsinn des natürlichen und gesellschaftlichen Lebens offenbar werde. Und wenn Kafkas rastloser Protagonist gesteht, daß er noch »inmitten der ehrwürdigsten volklichen Veranstaltungen«[7] von Unbehagen befallen werde, so gilt das nicht minder für den Autor des Witiko, dem die großartige Inszenierung kollektiver Geschichte zum leersten und fremdesten aller seiner Werke geriet. Von der in den barocken Haupt- und Staatsaktionen theatralisch vorgeführten Konkordanz von Geschichte und Heilsgeschichte kann hier nicht mehr die Rede sein. Stifter schreibt zu einem Zeitpunkt, da der Versuch durchgängiger Sinngebung in die atrophische Phase überzugehen beginnt. Und sollte Stifter wirklich, wie Emil Staiger gemeint hat, ein Priester gewesen sein, der noch einmal die Liturgie einer absoluten Ordnung zelebrierte, so war er insgeheim doch schon, ähnlich dem armen Pfarrer in Kafkas Landarzt, mit dem Zerzupfen seiner Meßgewänder beschäftigt.

Der Auflösung der metaphysischen Ordnung entspricht der Stifters gesamtes Werk durchziehende erschütternde Materialismus, in dem vielleicht das bloße Anschauen der Welt etwas von ihrer früheren Bedeutung noch retten soll. Die skrupulöse Registrierung winzigster Details, die schier endlosen Aufzählungen dessen, was – seltsamerweise – tatsächlich da ist, tragen alle Anzeichen des Unglaubens und markieren den Punkt, an dem auch die bürgerliche Heilslehre von der sukzessiven Entfaltung des Weltgeistes nicht länger aufrechtzuerhalten war. Der eigenartige Objektivismus der Stifterschen Prosa, der im zeitgenössischen Werk Flauberts ein selbstbewußteres Pendant hat, verschreibt sich den Dingen in der Hoffnung auf Dauer und macht doch gerade durch solche Identifikation in ihnen den Zerfall der Zeit sichtbar. Die Häuser, das Mobiliar, die Gerätschaften, die Kleider, die vergilbten Briefe, all diese beschriebenen Dinge, die aus der kompakten Monotonie der Erzählungen Stifters herausragen, bezeugen zuletzt nichts als ihr eigenes Dasein. Und wie wenig darauf Verlaß ist, zeigt sich in der Geschichte Das alte Siegel, als Hugo, nachdem er viele Wochen hintereinander täglich die so außerordentlich schöne Frau in dem von Linden umstandenen weißen Häuschen besucht hat, den Ort seiner erotischen Traumvorstellung auf einmal verlassen vorfindet und leer. Alles steht offen, aber nichts mehr ist da. Auf der Treppe liegt Staub und Kehricht, und »durch die Zimmer … wehte die Luft des Himmels; … und die Wände, an denen sonst die Geräthe, der Marmortisch, der Spiegel und anderes gewesen waren, standen nackt«[8]. Die Allegorie der ausgeräumten Innenwelt, die nichts übrig läßt als die Bitterkeit der Enttäuschung, ist die abgewandte Seite des Stifterschen Materialismus, der in der prosaischen Beschreibung der sichtbaren Wirklichkeit die Angst mitschwingen läßt, es könne schon morgen alles verloren sein – nicht nur die Liebe zu einem anderen Menschen, sondern auch das, was wir um uns hergestellt haben, ja selbst die grüne Natur und die Berge »in ihrer alten Pracht und Herrlichkeit« und »vielleicht auch die schöne freundliche Erde, die uns jetzt so fest gegründet und für Ewigkeiten gebaut scheint«[9].

Zweifellos hatte die extreme affektive Besetzung, die Stifter schreibend an dem vornahm, was er einzubüßen fürchtete, ihren Grund in der von ihm anscheinend kaum überdachten psychischen und sozialen Vorprägung seiner Persönlichkeit. Bezeichnenderweise ist er über Ansätze zum Autobiographischen kaum hinausgekommen. Die merkwürdige Erinnerung an die Eindrücke der frühen Kindheit bleibt eine selber fragmentarische Ausnahme. Auch zu seinen immer wieder gescheiterten Versuchen, in der bürgerlichen Gesellschaft Fuß zu fassen, hat er weder kritisch, die soziale Reglementierung betreffend, noch selbstkritisch Stellung genommen. Obschon es zeitweilig scheinen mochte, als habe er sich von den Beschränkungen seiner im Verhältnis zu den kulturtragenden Schichten unterprivilegierten Herkunft emanzipiert, gelang es ihm nie, das Gespenst der Verarmung und Deklassierung zu bannen, das ihm durch die Umstände, die der frühzeitige Tod seines Vaters mit sich brachte, seit dem zwölften Lebensjahr anhing. Schwer durchschaubar ist vor allem, weshalb der ambitiöse, in vieler Hinsicht ausgesprochen talentierte und anpassungswillige junge Akademiker sein Studium zu keinem geregelten Abschluß bringen kann und weshalb er seine eigenen angestrengten Versuche, sich in der Gesellschaft zu akkreditieren, im entscheidenden Augenblick immer wieder durchkreuzt. Bis in sein fünfundvierzigstes Lebensjahr, in dem er zum Schulrat für Oberösterreich ernannt wird, blieb seine wirtschaftliche Situation derart prekär, daß er fortwährend von Gläubigern bedrängt und mehrmals gepfändet wurde. Die Dienstleistungen als Hauslehrer, die er während seiner Wiener Jahre notgedrungen verrichten mußte, werden sein Selbstgefühl nachhaltig beeinträchtigt und zugleich dafür gesorgt haben, daß er, wie so viele Literaten aus dem Kleinbürgertum, durch erlittene Demütigung und Neid an eine Schicht fixiert blieb, der er selber nicht angehörte. Stifters Ernennung zum Schulrat änderte an seiner Malaise nur wenig, hatte er doch, wie er bald schon erkannte, die Zulassung zu Amt und Würde mit einer Verbannung in die Provinz erkauft. Auch gelang es ihm wegen der jetzt nötigen größeren Aufwendungen weiterhin nicht, finanziell auf halbwegs sicheren Boden zu kommen. Die Hoffnungen, die er zeitweise in die Staatslotterie setzte, waren ebenso wie seine schlecht beratenen und verlustreichen Aktienspekulationen Zeichen einer tief verunsicherten, der Sicherheit aber bedürftigen Existenz. Bittbriefe an den Verleger und auch an Verwandte bleiben bis zuletzt ein fester Bestandteil der Korrespondenz Stifters. Daß Geld als Handlungsmotiv in seinem Werk, im Gegensatz zur bürgerlichen Erzählliteratur sonst, so gut wie keine Rolle spielt, zeigt an, wie peinlich nah ihm das mit seinem Mangel verbundene Gefühl der Inadäquatheit gegangen sein muß.

Veranschlagt man dazu noch das ganz persönliche Unglück Stifters – den tödlichen Unfall des Vaters, die Erziehung im Internat, die unerwiderte Liebe zu Fanny Greipl, die langjährige Ehe mit der fast analphabetischen Amalie, den frühzeitigen Tod der ersten Ziehtochter und den Selbstmord der zweiten, Juliane, die mit achtzehn Jahren in die Donau ging, die Frustrationen des Beamtenlebens, den endlosen Frondienst an der Kunst und die nach und nach ihn zermürbende Krankheit – veranschlagt man all das, so liegt es eigentlich in der Linie der Konsequenz, daß der Dreiundsechzigjährige schließlich Hand an sich legte. Zu lange hatte er schon versucht, den Anschein der Selbstbeherrschtheit zu wahren. Die von ihm erhaltenen Photographien zeigen einen in zunehmendem Maße melancholischen und morosen Menschen, der sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, emotional systematisch zugrunde gerichtet hat. Die längst überfällige pathographische Darstellung Stifters ist freilich nicht leicht zu leisten, weil er sich ja bis zuletzt treu an seine positiven Präzepte gehalten hat und von seinen Alpträumen kaum etwas laut werden ließ. Fest steht immerhin, daß Stifter sich – ein anderer Hungerkünstler! – durch Mahlzeiten von tatsächlich grotesker Reichhaltigkeit, deren Beschreibung und Antizipation in seiner Korrespondenz schließlich beinah ebenso viel Raum einnimmt wie die Registrierung der sich häufenden Krankheitssymptome, unbarmherzig an den Tod herangegessen hat. Welcher genaue Zusammenhang bestand zwischen diesem anscheinend unüberwindlichen Freßzwang und der Intention des zwölfjährigen Knaben, die Nahrungsaufnahme zu verweigern, als er vom Tod seines Vaters erfuhr, braucht hier nicht erörtert zu werden. Daß es sich bei Stifters exzessiven Eßgewohnheiten um eine pathologische Disposition handelte, ist sicher unabweisbar. Pathologisch aber ist ein Verhalten, das, im Versuch der Selbstheilung, die lädierten Stellen in genau denselben Umrissen immer wieder verletzt, den Entzug oder die Entfernung einer geliebten Person oder eines anderen geliebten Objekts stets neuerdings nachvollzieht und ritualisiert. Wie das im Werk Stifters literarisch sich niederschlägt, soll gezeigt werden, nachdem wir seinen Versuch einer programmatischen Transzendierung des eigenen Unglücks im Aufriß wenigstens vorgeführt haben.

In der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts bilden Konflikte und Krisen, solche finanzieller, sozialer und psychischer Art, die dynamischen Zentren der narrativen Form; Krisen und Konflikte, die »im Laufe der Zeit« sich entwickelt haben, die in akute Zustände und schließlich ins Stadium der Dissolution, sei es sozialer Strukturen, sei es einzelner Individuen übergehen. Daß sich all das in der Zeit ereignet, dieser Bestimmung der Romanform arbeitet Stifter im Nachsommer entgegen[10]. Stifter nennt zwar den Nachsommer eine Erzählung, in Wirklichkeit aber handelt es sich hier um einen utopischen Entwurf, um ein jenseits der Zeit, im Transzendenten angesiedeltes und bis ins Detail harmonisiertes Modell. Da sich der Begriff der Zeit mit demjenigen der Utopie nicht verträgt, scheint Zeit, das Maß aller Dinge, im Nachsommer auch nicht zu vergehen. Stifter löst das Problem, das ihm als Erzähler daraus erwächst, bezeichnenderweise dadurch, daß er seine Figuren von einer Mahlzeit zur anderen fortschreiten läßt. Angaben wie »Nachdem man den Nachmittagstee … Nach dem Frühmahle … Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten …« etc., die mit symptomatischer Frequenz auftreten, helfen uns über die Runde der an sich indifferenten Tage. Der Suspendierung der Zeit entspricht das mit großer Akkuratesse ins Werk gesetzte Bedürfnis nach Verräumlichung, das sich im Nachsommer durchgängig bemerkbar macht. Von den immobilen Seelen der Protagonisten über die merkwürdige Vorliebe für kalte, subjektlose Interieurs, das Museale des Marmorsaals und die scheinbar unwandelbare Innenform des Hauses bis zur Parzellierung der Natur und zu der in der Aussicht sich selber stets gleichenden Bildlichkeit fernerer Gegenden paßt alles zu der im utopischen Prospekt regelmäßig zum Ausdruck kommenden radikalen und windstillen Räumlichkeit, was natürlich die leicht paranoide Atmosphäre dieses extrem rationalistischen Erzählwerks erklärt. Nirgends im Nachsommer begegnet man einem Wesen, das nicht im Gesamtplan dieses orbis pictus seine präordinierte Form hätte. Störenfriede wie der Rotschwanz werden ausgemerzt, und in der umliegenden Landschaft scheint es so wenig Menschen und Tiere zu geben wie in den riesigen Wäldern um Hauenstein in Bernhards Erzählung Verstörung, in denen der exzentrische Industrielle, der sich in das Saurausche Jagdhaus zum Denken zurückgezogen hat, alle Tiere abschießen läßt, damit sie nicht mehr die Stille unterbrechen. Auch auf der Insel der Seligen, die Stifter für die Gestalten des Nachsommer geschaffen hat, lebt das Leben nicht mehr. Die reine Idealität kann sich nur in einem hermetischen Stil übertragen, der geeignet ist, den schönen Entwurf eines homöostatischen Gleichgewichts in den menschlichen Beziehungen sowie im Verhältnis von Mensch und Natur ontologisch ein für allemal zu fixieren. Das spezifische Stiläquivalent dieses Programms ist das Stilleben, also die nature morte, in der die Abbildungstechnik Stifters ihren Inbegriff hat.

In der liebevollen Beschreibung eines Toten liegt, wie noch genauer zu zeigen sein wird, das affektive Zentrum der Stifterschen Phantasie. In ihr entzieht sie sich dem Leiden in und an der Zeit, das vom frequentativen Imperfekt der erzählerischen Literatur ja nur perpetuiert wird. Der von Arno Schmidt und, mit Einschränkungen, auch von Claudio Magris erhobene Vorwurf, Stifter habe mit dem Nachsommer ein quietistisches Werk verfaßt, dem politisch die finstere Reaktion entspreche, zielt in Anbetracht der hier umrissenen Komplexion insofern zu kurz, als die bewußte Utopie »von der Bejahung des Bestehenden soweit entfernt ist, wie ihre hilflose Gestalt von dessen realer Aufhebung[11]«. Es ist also schon so gesehen nicht sehr sinnvoll, Stifters Prosa-Idylle mit resignativem Eskapismus gleichzusetzen, und erst recht nicht, wenn man bedenkt, daß der Nachsommer nicht bloß die sogenannte Realität, sondern sogar die Intentionen und das Verfahren des utopischen Genres hinter sich läßt. Hier soll nicht allein die bestmögliche Verfassung der Gesellschaft als Gegenstück zu ihrer tatsächlichen Korrumpiertheit bestimmt werden, vielmehr wird, weit radikaler, eine Auslösung aus der Unheimlichkeit der Zeit überhaupt angestrebt. Stifters Bilderbogen einer beruhigten domestischen Seligkeit trägt durchaus – was bisher kaum erkannt worden ist – eschatologische Züge. Die Prosa des Nachsommers liest sich wie ein Katalog letzter Dinge, denn alles erscheint in ihr unterm Aspekt des Todes beziehungsweise der Ewigkeit.

Die Kritik hat verschiedentlich auf die apokalyptische Dimension, die Wendungen ins Fürchterliche und die schlagartigen Einbrüche des Ungeheuren im Werk Stifters hingewiesen. Auf einmal verfinstert sich alles, verschwindet die Sonne, tut ein schwarzer Abgrund, eine entsetzliche Leere sich auf, fährt ein Blitzstrahl hervor aus heiterem Himmel. Solche dem ultramontanen Bewußtsein Stifters widersprechenden, um nicht zu sagen häretischen Szenarien, in denen eine indifferente, zerstörerische Gewalt beschworen wird, gehören in der spezifischen Form atmosphärischer Schilderungen zum Arsenal der erzählerischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Für Stifter aber ist bezeichnend, daß er die damit ins Spiel kommende Ungeheuerlichkeit – etwa des Wetters – ins Prinzipielle vorantreibt, wie die bengalisch ausgeleuchteten Erzählungen Der Condor und Abdias demonstrieren, wo innerhalb einer kaum noch tragfähigen positiven Konvention ein geradezu antinomisches Weltbild geliefert wird.

Aber nicht allein der damit in der Literatur erstmals wirksam werdende radikale Indifferentismus ist charakteristisch für Stifters Position; nicht weniger ausschlaggebend ist sein Versuch, gegenläufig, in ganz hellen Farben, die ins lichtvolle Monochrom, ja ins absolut Weiße hineinziehen, eine Dematerialisierung der Welt zu betreiben.[12] Der Nachsommer ist die Vision eines säkularisierten Himmels und somit eines der raren Beispiele für eine mit langem Atem durchgehaltene literarische Versinnbildlichung einer ohne Apokalypse auskommenden endzeitlichen Spekulation. Weil Angst um vieles leichter zu machen ist als Freude, war eine überzeugende Repräsentation des Himmels auch in der Theologie immer das schwierigste Geschäft. Und in der bürgerlichen Literatur vollends führen die Darstellungen der überirdischen Schönheit der Seele unweigerlich an den Rand des Kitschs. Stifter entgeht dieser Gefahr, indem er seine Farbenlehre weder kanonisch festlegt noch sie ins bloß Ornamentale absinken läßt. Die Kolorierungen, die er mit großer Umsicht und Strenge ins kalligraphische Schwarzweiß seiner Prosa einträgt, sind die abstrakten Äquivalente einer extrem subjektiven Emotionalität, die sich, unverstellt, erst in einem neuen Leben äußern könnte.

Vielleicht ist Stifters Bemühen um eine Verewigung der Schönheit am ehesten faßbar in seinen Beschreibungen der Natur. Im Landschaftsbild, das zum Betreten einlädt, verschwimmen die Grenzen zwischen objektiver Wirklichkeit und subjektiver Phantasie, ist Natur nicht mehr nur das, was wildfremd um uns herumsteht, sondern ein größeres Leben, unserem eigenen analog.

In Weite und Breite ging das schöne Land von mir hinaus. Nicht nur sah ich im Mittage und Abende die blauen und immer blaueren Bänder des großen Waldes am Himmel dahin gehen, sondern in Morgen und Mitternacht sah ich Hügel und Lehnen und Ebenen und Felder und Wiesen und Wäldchen und Gehöfte und Dörfer und Ortschaften und Silberspiegel von Teichen im Dufte dahinziehen, bis wo etwa sogar die Gefilde der Stadt Prag sein mochten.[13]

Die Poetisierung der Natur im Blick des Betrachters vermittelt einen Begriff von Landschaft, in dem sich die Zivilisation schmerzlos arrangiert mit dem, worüber sie sich erhebt. Über die lyrische Stufenfolge der blauen und immer blaueren Bänder gelangen wir bis zu den Gefilden einer Stadt in der Ferne, die so gut wie eins ist mit dem himmlischen Jerusalem. Problematisch bleibt an solchem Ewigkeitszug, daß die Natur eben nur vom Standpunkt der Zivilisation aus wirklich als ›schön‹ erscheint. Die Beschreibung der Natur, auch die literarische, entwickelte sich erst mit der kommerziellen Erschließung der Welt, und es spricht einiges dafür, daß Stifter die Kunst der prosaischen Landschaftsmalerei von Autoren wie Cooper, Sealsfield und Irving, etwa auch von Alexander von Humboldt gelernt hat, von Autoren also, in deren Werk die Ästhetisierung der Topographie ideengeschichtlich bereits dem Kolonialismus beizuordnen wäre. Stifter war freilich alles andere als ein Expansionist. Er versuchte, sich in der engsten Heimat einzurichten, und paradoxerweise gelingt es ihm gerade durch die Beschränkung, der Technik der Naturbeschreibung, die bei seinen Vorbildern noch weitgehend unreflektiert und positivistisch ist, eine entscheidende moralische Komponente zu verleihen. Stifter schrieb schon in dem Bewußtsein, daß die Identifizierung der Schönheit der Natur den ersten Schritt nicht sowohl zu ihrer Errettung als zu ihrer Expropriation darstellt. Die ganze Fichtau, Inbild eines in die Natur eingebetteten Platzes, sei früher »ein einziger Wald« gewesen, erzählt der Wirt in der Geschichte des Prokopus. Jetzt aber ändere sich alles, sagt einer der Gäste, die Wälder träten zurück und »werden noch weiter zurückmüssen«[14].

Nirgends in der bürgerlichen Literatur vor Stifter findet sich eine vergleichbare Skepsis in Anbetracht der Ausbreitung der Zivilisation. Worauf diese Skepsis zurückzuführen war, darüber lassen sich allenfalls Vermutungen anstellen. Abgesehen von einer für seine Zeit erstaunlichen Einsicht in den Funktionszusammenhang von Natur- und Wirtschaftsgeschichte, die – auch wenn sie zumeist an anachronistischen Beispielen erarbeitet wird – der Marxschen Analyse kaum nachsteht, dürfte Stifters Einstellung zur Natur tiefenpsychologisch bestimmt gewesen sein von dem ›Gefühl‹, daß es ein Verbrechen sei, sie auch nur anzuschauen. Zum einen, weil der ausgebreitet daliegende Leib der Natur den bewußtlosen Körper einer Frau evoziert, ein verborgener Topos bürgerlicher Naturbeschreibung[15], der an einer späten Bleistiftzeichnung Stifters sehr deutlich wird, einem fast ganz weißen Blatt, in das nur ein leicht geschwungener Waldrücken einschraffiert ist, eine jener »dunklen Stellen« eben, die auch dem Autor der autobiographischen Skizze aus seiner allerersten Kindheit erinnerlich sind.[16] Zum anderen, weil dem Auge als dem originären Organ der Besitzergreifung und Einverleibung[17] in dem extrem visuellen Werk Stifters eine besondere Bedeutung zukommt. Die Einverleibung und Verdauung der Natur aber war für den zwanghaften Esser Stifter, wie ich schon angedeutet habe, ein moralpsychologisches Dilemma, das er zeit seines Lebens nicht auflösen konnte. Gaston Bachelard hat die Verdauung, den Ursprung der gierigsten Habsucht, die stärkste Form des Realismus genannt.[18] Sein Urteil, der Realist sei ein Esser, trifft auf Stifters praktische Lebensführung zweifellos zu.

Daß Stifter in seinem Werk die Übergriffe des Menschen auf die Natur beklagte, mochte ihm zur Erlösung dienen. Wie sehr er mit den von seiner pathogenen Disposition bestimmten Befürchtungen auch einen im objektiven Sinn neuralgischen Punkt getroffen hat, das können wir erst heute ermessen, da sich das Abnehmen der Natur um und in uns unwiderruflich zu vollziehen scheint. Stifters Waldlandschaften sind exemplarisch nicht als Dokumente sentimentalischer Naturbeschreibung, sondern als die auch dem wissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit weit vorausgreifenden Beispiele einer diagnostischen Einsicht in die entropische Tendenz aller natürlicher Systeme. Mit wahrhaft epischen Sätzen erinnert Ursula in der Mappe meines Urgroßvaters, was sie den Doktor hat sagen hören: »Alles nimmt auf der Welt ab, der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser.« Und sie fährt fort: »Als ich ein Mädchen war, wimmelte die Glökelbergau von Kiebitzen und der Hinterhammerbach von Krebsen, und jetzt ist hie und da nur eine Feder auf der Au und ein Krebs in dem Bache. Man hört nicht mehr in den Losnächten in den Lüften über der Kehrau weinen und sieht nicht mehr den Mantel unter dem Heerwagen der Gestirne, höchstens daß auf den Mooswiesen ein Irrlicht scheint oder der Wassermann an der Moldau sitzt.«[19]

Wenn, bestimmt von einer solchen naturphilosophischen Klage über die eingehende Vielfalt und Substanz des organischen Lebens, Stifters große Erzählungen die Form restaurativ-konservativer Denkschriften angenommen haben, so ist das weniger ein Beispiel politischer Reaktion als eines paracelsischen Engagements, das sich der bloßen Vermessung, Quantifizierung und Ausbeutung der Natur entgegensetzt. Mit der Mappe meines Urgroßvaters hat Stifter den fürs Zeitalter des Hochkapitalismus allerdings schon zu spät kommenden Leitfaden einer Mensch und Natur ins gleiche Recht setzenden Praxis verfaßt. Gemeinsam arbeiten der Arzt und der Obrist im Interesse der Gesellschaft an der Bewahrung der Natur. Auf dem Geröllbühel soll ein Wald angepflanzt werden für die nachfolgenden Generationen. »Wachsen die Pflanzen, so werden fort und fort Nadeln fallen, Erde erzeugen, und einst werde auf dem Bühel ein schöner, lieblicher und nützlicher Föhrenwald stehen.«[20] Das Gleichgewicht ästhetischer und wirtschaftlicher Maßgaben, um das es hier geht, war auch für Stifter ein realiter gefährdeter Zustand. Daß das Schöne sich nicht auszahlt, wird er jedenfalls gewußt haben. Tal ob Pirling lag auch für ihn weit in der Vergangenheit, um wieviel weiter für uns.

Wie wenig Stifter im übrigen seinen Hoffnungen auf eine friedliche Fortpflanzung des Lebens getraut haben mag, läßt sich daran ablesen, daß seine Sehnsucht letztlich hinauszielte ins Anorganische. Den wahren Horizont der Landschaften Stifters stellt doch immer das Hochgebirge, das man »gleichsam wie in einem sanften Rauch schwimmend«[21] am äußersten Bildrand sehen kann, dort, wo – wie Georg Simmel in seinem Essay »Die Alpen« vermerkte – eine unhistorische Weltgegend beginnt, »wo nur noch Eis und Schnee, aber kein Grünes, kein Tal, kein Pulsschlag des Lebens mehr besteht«, und wo »die Assoziationen mit dem werdenden und vergehenden Menschenschicksal abgebrochen sind, die alle Landschaften in irgendeinem Maße begleiten«[22]. In der hellweißen Transzendenz dieses Bereichs, der über alle Naturpanoramen Stifters hereinscheint, entfaltet sich die Ahnung, daß – nochmals Simmel – »das Leben sich mit seiner höchsten Steigerung an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht«[23].

Dem durchgängigen Muster der bürgerlichen Literatur entsprechend, steht die Auffassung der Natur in den Erzählungen Stifters in genauem Bezug zur Porträtierung weiblicher Wesen. Stifters Ehrfurcht vor der unberührten Natur hat eine Parallele nicht nur in seiner erzählerischen Vorliebe für Kindergestalten, sondern deutlicher noch in seiner offenkundigen Präokkupation mit dem Zustand und mit der Verletzung der Jungfräulichkeit. Bürgerlicher Moralismus und bürgerliche Prüderie reichen als Erklärung für sein Interesse am Thema der Virginität nicht aus. Das auffällig Morbide, das Stifter in seine Liebesgeschichten einbringt, verweist vielmehr auf eine der bürgerlichen Moral entgegenstehende, aber vermittels komplizierter Vermeidungsregeln unterbundene Phantasie. Die in die eigene Subjektivität einbezogene Tabuierung erotischer Wunschbilder gehört, wie an den ›klassischen Fällen‹ Lenz und Hölderlin zu sehen ist, zur Ätiologie pathogener Strukturen, wobei der subjektiven Ausbildung innerer Deformationen stets ein objektives gesellschaftliches Korrelat zu- oder vorgeordnet ist.[24] Dieses objektive Korrelat war in der Situation Stifters, nicht anders als in der von Lenz oder Hölderlin, die Hauslehrerexistenz, aus der heraus sich die widersprüchliche Dynamik von Attraktion und Unberührbarkeit ergab. Stifter hat die Grenzlinien, die seine inferiore Stellung markierten, dem eigenen Selbstbewußtsein kommensurabel gemacht, indem er die Jungfräulichkeit, ja Kindlichkeit der für ihn unberührbaren jungen Damen zum Leitstern seiner undeklarierten Erotik erhob, was allerdings die libidinöse Bindung an die tabuisierten Wesen nur noch verstärkte.

Es ist bekannt, daß ein prononciertes pädagogisches Talent zumeist Hand in Hand geht mit unausgelebten pädophilen Wünschen. Das dürfte auch bei Stifter, der eben das zu sein schien oder zu sein hoffte, was man einen ›begnadeten Lehrer‹ nennt, nicht anders gewesen sein. Es liegt in der Natur dieser Problematik, daß Stifter sie explizit nicht gestalten konnte. Und doch steuert er immer wieder auf sie zu. Die Erzählung Der Hochwald