Die Ringe des Saturn - W.G. Sebald - E-Book

Die Ringe des Saturn E-Book

W.G. Sebald

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Beschreibung

Im August, dem Monat, der von alters her unter dem Einfluss des Saturn steht, wandert W. G. Sebald durch die einsame Heidelandschaft der englischen Grafschaft Suffolk, besichtigt verfallene Landschlösser, spricht mit alten Gutsbesitzern und stößt immer wieder auf die Spuren wundersamer Geschichten. So erzählt er von den Glanzzeiten viktorianischer Schlösser, berichtet aus dem Leben Joseph Conrads, erinnert an die unglaubliche Liebe des Vicomte de Chateaubriand oder spürt dem europäischen Seidenhandel bis China nach. Mit klarer und präziser Sprache protokolliert er jedoch auch die stillen Katastrophen, die sich mit dem gewaltsamen Eingriff der Menschen in diesen abgelegenen Landstrich vollzogen. So verwandelt sich der Fußmarsch letztlich in einen Gang durch eine Verfallsgeschichte von Kultur und Natur.

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Das ist das Cover des Buches »DIE RINGE DES SATURN« von W.G. Sebald

Über das Buch

Im August, dem Monat, der von alters her unter dem Einfluss des Saturn steht, wandert W. G. Sebald durch die einsame Heidelandschaft der englischen Grafschaft Suffolk, besichtigt verfallene Landschlösser, spricht mit alten Gutsbesitzern und stößt immer wieder auf die Spuren wundersamer Geschichten. So erzählt er von den Glanzzeiten viktorianischer Schlösser, berichtet aus dem Leben Joseph Conrads, erinnert an die unglaubliche Liebe des Vicomte de Chateaubriand oder spürt dem europäischen Seidenhandel bis China nach. Mit klarer und präziser Sprache protokolliert er jedoch auch die stillen Katastrophen, die sich mit dem gewaltsamen Eingriff der Menschen in diesen abgelegenen Landstrich vollzogen. So verwandelt sich der Fußmarsch letztlich in einen Gang durch eine Verfallsgeschichte von Kultur und Natur.

W. G. Sebald

DIE RINGE DES SATURN

Eine englische Wallfahrt

Carl Hanser Verlag

INHALT

Erster Teil

Im Spital — Nachruf — Irrfahrt des Schädels Thomas Brownes — Anatomische Vorlesung — Levitation — Quincunx — Fabelwesen — Feuerbestattung

Zweiter Teil

Der Dieseltriebwagen — Morton Petos Palast — Als Besucher in Somerleyton — Die deutschen Städte in Flammen — Der Niedergang von Lowestoft — Kannitverstan — Das Seebad von einst — Frederick Farrar und der kleine Hof Jakobs des Zweiten

Dritter Teil

Strandfischer — Zur Naturgeschichte des Herings — George Wyndham Le Strange — Eine große Herde Säue — Die Verdoppelung des Menschen — Orbis Tertius

Vierter Teil

Die Seeschlacht von Sole Bay — Einfall der Nacht — Stationsweg Den Haag — Mauritshuis — Scheveningen — Grab des hl. Sebald — Flughafen Schiphol — Unsichtbarkeit der Menschen — Sailors’ Reading Room — Bilder aus dem ersten Krieg — Das Lager von Jasenovac an der Sava

Fünfter Teil

Conrad und Casement — Der Knabe Teodor — Exil in Vologda — Novofastov — Tod und Beisetzung Apollo Korzeniowskis — See- und Liebesleben — Winterliche Heimkehr — Das Herz der Dunkelheit — Panorama von Waterloo — Casement, die Sklavenwirtschaft und die irische Frage — Hochverratsprozeß und Hinrichtung

Sechster Teil

Die Brücke über den Blyth — Der chinesische Hofzug — Aufstand der Taiping und Öffnung des Reiches der Mitte — Zerstörung des Gartens Yuan Ming Yuan — Ende des Kaisers Hsien-feng — Die Kaiserinwitwe Tz’u-hsi — Geheimnisse der Macht — Die versunkene Stadt — Der arme Algernon

Siebter Teil

Die Heide von Dunwich — Marsh Acres, Middleton — Berliner Kindheit — Englisches Exil — Träume, Wahlverwandtschaften, Korrespondenzen — Zwei sonderbare Geschichten — Durch den Regenwald

Achter Teil

Gespräch über den Zucker — Boulge Park — Die FitzGeralds — Kinderstube von Bredfield — Edward FitzGeralds literarischer Zeitvertreib — A Magic Shadow Show — Verlust eines Freundes — Ausgang der Jahre — Letzte Reise, Sommerlandschaft, Tränen des Glücks — Eine Partie Domino — Irische Erinnerung — Zur Geschichte des Bürgerkriegs — Feuerbrände, Verarmung und Zerfall — Catharina von Siena — Fasanenkult und Unternehmertum — Durch die Wüste — Geheime Vernichtungswaffen — In einem anderen Land

Neunter Teil

Der Tempel von Jerusalem — Charlotte Ives und der Vicomte de Chateaubriand — Memoiren von jenseits des Grabs — Auf dem Kirchhof von Ditchingham — Ditchingham Park — Der Orkan vom 16. Oktober 1987

Zehnter Teil

Thomas Brownes Musaeum Clausum — Der Seidenvogel Bombyx mori — Ursprung und Ausbreitung des Seidenbaus — Die Seidenweber von Norwich — Gemütskrankheiten der Weber — Stoffmuster: Natur und Kunst — Der Seidenbau in Deutschland — Das Tötungsgeschäft — Trauerseide

Good and evil we know in the field of this world grow up together almost inseparably.

John Milton, Paradise Lost

Il faut surtout pardonner à ces âmes malheureuses qui ont élu de faire le pèlerinage à pied, qui côtoient le rivage et regardent sans comprendre l’horreur de la lutte et le profond désespoir des vaincus.

Joseph Conrad an Marguerite Poradowska

Die Ringe des Saturn bestehen aus Eiskristallen und vermutlich meteoritischen Staubteilchen, die den Planeten in dessen Äquatorebene in kreisförmigen Bahnen umlaufen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Bruchstücke eines früheren Mondes, der, dem Planeten zu nahe, von dessen Gezeitenwirkung zerstört wurde (→ Roch’sche Grenze).

Brockhaus Enzyklopädie

I

Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können. Diese Hoffnung erfüllte sich auch bis zu einem gewissen Grad, denn selten habe ich mich so ungebunden gefühlt wie damals bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern durch die teilweise nur spärlich besiedelten Landstriche hinter dem Ufer des Meers. Andererseits jedoch erscheint es mir jetzt, als ob der alte Aberglaube, daß bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers sich mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat. Jedenfalls beschäftigte mich in der nachfolgenden Zeit sowohl die Erinnerung an die schöne Freizügigkeit als auch die an das lähmende Grauen, das mich verschiedentlich überfallen hatte angesichts der selbst in dieser entlegenen Gegend bis weit in die Vergangenheit zurückgehenden Spuren der Zerstörung. Vielleicht war es darum auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn meiner Reise, daß ich, in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit, eingeliefert wurde in das Spital der Provinzhauptstadt Norwich, wo ich dann, in Gedanken zumindest, begonnen habe mit der Niederschrift der nachstehenden Seiten. Genau entsinne ich mich noch, wie ich, gleich nach der Einlieferung, in meinem im achten Stockwerk des Krankenhauses gelegenen Zimmer überwältigt wurde von der Vorstellung, die in Suffolk im Vorsommer durchwanderten Weiten seien nun endgültig zusammengeschrumpft auf einen einzigen blinden und tauben Punkt. Tatsächlich war von meiner Bettstatt aus von der Welt nichts anderes mehr sichtbar als das farblose Stück Himmel im Rahmen des Fensters.

Der im Laufe des Tages des öfteren schon in mir aufgestiegene Wunsch, der, wie ich befürchtete, für immer entschwundenen Wirklichkeit durch einen Blick aus diesem sonderbarerweise mit einem schwarzen Netz verhängten Krankenhausfenster mich zu versichern, wurde bei Einbruch der Dämmerung so stark, daß ich mich, nachdem es mir irgendwie, halb bäuchlings, halb seitwärts gelungen war, über den Bettrand auf den Fußboden zu rutschen und auf allen vieren die Wand zu erreichen, trotz der damit verbundenen Schmerzen aufrichtete, indem ich mich an der Fensterbrüstung mühsam emporzog. In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum erstenmal von der ebenen Erde erhoben hat, stand ich dann gegen die Glasscheibe gelehnt und mußte unwillkürlich an die Szene denken, in der der arme Gregor, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickt in undeutlicher Erinnerung, wie es heißt, an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Und genau wie Gregor mit seinen trübe gewordenen Augen die stille Charlottenstraße, in der er mit den Seinen seit Jahren wohnte, nicht mehr erkannte und sie für eine graue Einöde hielt, so schien auch mir die vertraute Stadt, die sich von den Vorhöfen des Spitals bis weit gegen den Horizont hin erstreckte, vollkommen fremd. Ich konnte mir nicht denken, daß in dem ineinanderverschobenen Gemäuer dort unten noch irgend etwas sich regte, sondern glaubte, von einer Klippe aus hinabzublicken auf ein steinernes Meer oder ein Schotterfeld, aus dem wie riesige Findlingsblöcke die finsteren Massen der Parkhäuser herausragten. Passanten waren in dieser fahlen Abendstunde im näheren Umkreis keine zu sehen, bis auf eine Krankenschwester, die gerade die trostlose Grünanlage vor der Einfahrt durchquerte auf ihrem Weg zum Nachtdienst. Eine Ambulanz mit Blaulicht bewegte sich, langsam um mehrere Ecken biegend, von der Stadtmitte her auf die Notfallstation zu. Das Martinshorn drang nicht bis zu mir herauf. Ich war, in der Höhe, in der ich mich befand, umgeben von einer beinahe völligen, sozusagen künstlichen Lautlosigkeit. Nur die Luftströmung, die über das Land hinwegstrich, hörte man auflaufen draußen am Fenster und manchmal, wenn auch dieses Geräusch sich legte, das nie ganz nachlassende Sausen in den eigenen Ohren.

Heute, wo ich meine Notizen anfange ins reine zu schreiben, mehr als ein Jahr nach der Entlassung aus dem Spital, kommt mir zwangsläufig der Gedanke, daß damals, als ich vom achten Stockwerk aus hinabschaute auf die in der Dämmerung versinkende Stadt, in seinem schmalen Haus in der Portersfield Road Michael Parkinson noch am Leben gewesen ist, beschäftigt wahrscheinlich wie zumeist mit der Vorbereitung eines Seminars oder mit seiner viele Jahre lang ihn schon in Anspruch nehmenden Studie über Ramuz. Michael war Ende Vierzig, Junggeselle und, wie ich glaube, einer der unschuldigsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Nichts lag ihm ferner als Eigennutz, nichts kümmerte ihn so sehr wie die aufgrund der seit einiger Zeit herrschenden Verhältnisse immer schwieriger werdende Erfüllung seiner Pflicht. Mehr als alles andere aber zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist Michael praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Jahraus, jahrein trug er, seit ich ihn kannte, abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchgewetzt waren, hat er selber zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Ja, sogar die Kragen an seinen Hemden soll er gewendet haben. In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland, manchmal auch durch den Jura oder durch die Cevennen. Oft, wenn er von einer solchen Reise zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er, auf seine Weise, das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit. Doch dann hieß es im vergangenen Mai mit einem Mal, daß Michael, den seit ein paar Tagen niemand gesehen hatte, in seinem Bett tot aufgefunden worden sei, auf der Seite liegend und ganz starr schon und mit einem eigenartig rotfleckig verfärbten Gesicht. Die gerichtliche Untersuchung ergab that he had died of unknown causes, ein Urteil, dem ich für mich selber hinzusetzte: in the dark and deep part of the night. Der Entsetzensschauer, der uns nach dem von niemandem erwarteten Ableben Michael Parkinsons durchlief, erfaßte schlimmer wohl als alle anderen die gleichfalls ledige Romanistikdozentin Janine Rosalind Dakyns, ja man darf sagen, daß sie den Verlust Michaels, mit dem sie eine Art von Kinderfreundschaft verband, so wenig verschmerzen konnte, daß sie ein paar Wochen nach seinem Tod selber einer ihren Körper in der kürzesten Zeit zerstörenden Krankheit erlag. Janine Dakyns, die in einer kleinen Gasse in unmittelbarer Nähe des Spitals wohnte, hatte wie Michael in Oxford studiert und im Verlauf ihres Lebens eine von jeglicher Intellektuelleneitelkeit freie, stets vom obskuren Detail, nie vom Offenkundigen ausgehende, gewissermaßen private Wissenschaft von der französischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts entwickelt, insbesondere im Hinblick auf den von ihr weitaus am höchsten geschätzten Gustave Flaubert, aus dessen Tausende von Seiten umfassender Korrespondenz sie bei den verschiedensten Gelegenheiten lange, mich jedesmal von neuem in Erstaunen versetzende Passagen zitierte. Im übrigen hat sie, die beim Vortragen ihrer Gedanken oft in Zustände einer fast besorgniserregenden Begeisterung geriet, mit dem größtmöglichen persönlichen Interesse die schriftstellerischen Skrupel Flauberts zu ergründen versucht, eine Angst vor dem Falschen, die ihn, wie sie sagte, manchmal wochen- und monatelang an sein Kanapee fesselte und fürchten ließ, daß er nie mehr auch nur eine halbe Zeile würde zu Papier bringen können, ohne sich auf das peinlichste zu kompromittieren. Zu solchen Zeiten, sagte Janine, schien ihm nicht nur jedes zukünftige Schreiben völlig ausgeschlossen, sondern er war darüber hinaus davon überzeugt, daß alles bisher von ihm Geschriebene nur aus einer Aneinanderreihung der unverzeihlichsten, in ihren Auswirkungen unabsehbaren Fehler und Verlogenheiten bestehe. Janine behauptete, die Skrupel Flauberts seien zurückzuführen auf die von ihm beobachtete, unaufhaltsam fortschreitende und, wie er glaubte, bereits auf seinen eigenen Kopf übergreifende Verdummung. Es sei, soll er einmal gesagt haben, als versinke man im Sand. Wahrscheinlich aus diesem Grunde, meinte Janine, käme dem Sand in sämtlichen Werken Flauberts so viel Bedeutung zu. Der Sand erobere alles. Immer wieder, sagte Janine, seien durch die Tag- und Nachtträume Flauberts ungeheure Staubwolken getrieben, die, aufgewirbelt über den dürren Ebenen des afrikanischen Kontinents, nach Norden zogen, über das Mittelmeer und über die iberische Halbinsel, bis sie irgendwann sich niedersenkten wie Feuerasche, über dem Tuileriengarten, über einem Vorort von Rouen oder einem Landstädtchen in der Normandie, und eindrangen in die winzigsten Zwischenräume. In einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary, sagte Janine, hat Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog für ihn soviel wie das Atlasgebirge. Oft, zu Ende des Tages, habe ich mich mit Janine über die Weltauffassung Flauberts unterhalten in ihrem Büro, in dem solche Mengen von Vorlesungsnotizen, Briefen und Schriftstücken jeder Art herumlagen, daß man meinte, mitten in einer Papierflut zu stehen. Auf dem Schreibtisch, dem ursprünglichen Ausgangsbeziehungsweise dem Sammelpunkt der wundersamen Papiervermehrung, war im Verlaufe der Zeit eine richtige Papierlandschaft mit Bergen und Tälern entstanden, die inzwischen an den Rändern, so wie ein Gletscher, wenn er das Meer erreicht, abbrach und auf dem Fußboden ringsum neue, ihrerseits unmerklich gegen die Mitte des Raumes sich bewegende Ablagerungen bildete. Vor Jahren bereits war Janine von den immerzu weiterwachsenden Papiermassen auf ihrem Schreibtisch gezwungen gewesen, an andere Tische auszuweichen. Diese Tische, auf denen sich in der Folge ähnliche Akkumulationsprozesse vollzogen hatten, repräsentierten sozusagen spätere Zeitalter in der Entwicklung des Papieruniversums Janines. Auch der Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden, auf den es fortwährend aus halber Höhe hinabsank, wieder die Wände emporzusteigen, die bis zum oberen Türrand bedeckt waren mit einzelnen, jeweils nur an einer Ecke mit einem Reißnagel befestigten, teilweise dicht übereinandergehefteten Papierbögen und Dokumenten. Auch auf den Büchern in den Regalen lagen, wo es nur ging, Stapel von Papier, und all dieses Papier versammelte auf sich in der Stunde der Dämmerung den Widerschein des vergehenden Lichts, wie vordem, so habe ich mir einmal gedacht, unter dem tintenfarbenen Nachthimmel der Schnee auf den Feldern. Janines letzter Arbeitsplatz ist ein mehr oder weniger in die Mitte ihres Büros gerückter Sessel gewesen, auf dem man sie, wenn man an ihrer stets offenen Tür vorbeikam, sitzen sah, entweder vornübergebeugt kritzelnd auf einer Schreibunterlage, die sie auf den Knien hielt, oder zurückgelehnt und in Gedanken verloren. Als ich gelegentlich zu ihr sagte, sie gleiche, zwischen ihren Papieren, dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie, da antwortete sie mir, daß die scheinbare Unordnung in ihren Dingen in Wahrheit so etwas wie eine vollendete oder doch der Vollendung zustrebende Ordnung darstelle. Und tatsächlich wußte sie, was immer sie in ihren Papieren, in ihren Büchern oder in ihrem Kopf suchte, in der Regel auf Anhieb zu finden. Janine ist es auch gewesen, die mich sogleich an den ihr aus der Oxford Society bekannten Chirurgen Anthony Batty Shaw verwies, als ich, bald nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, mit meinen Nachforschungen über Thomas Browne begann, der im 17. Jahrhundert in Norwich als Arzt praktiziert und eine Reihe von Schriften hinterlassen hat, denen kaum etwas Vergleichbares sich an die Seite stellen läßt. Ich war damals in der Encyclopaedia Britannica auf einen Eintrag gestoßen, in dem es hieß, der Schädel Brownes werde im Museum des Norfolk & Norwich Hospital aufbewahrt. So zweifelsfrei diese Behauptung mich dünkte, so wenig erfolgreich waren meine Versuche, den Schädel dort, wo ich selbst bis vor kurzem gelegen hatte, in Augenschein zu nehmen, denn unter den Damen und Herren der heutigen Krankenhausverwaltung war niemand, der etwas wußte von der Existenz eines solchen Museums. Nicht nur sah man mich voller Unverständnis an, als ich mein seltsames Anliegen vorbrachte, sondern ich hatte sogar den Eindruck, daß ich von einigen der von mir Befragten für einen lästigen Sonderling gehalten wurde. Nun gab es aber bekanntermaßen in der Zeit, in der man im Zuge der allgemeinen Sanierung der Gesellschaft die sogenannten Bürgerspitäler einrichtete, in vielen dieser Häuser ein Museum oder, genauer gesagt, ein Gruselkabinett, in dem Früh- und Mißgeburten, Wasserköpfe, hypertrophe Organe und ähnliches mehr in Formalingläsern zu medizinischen Demonstrationszwecken aufbewahrt und gelegentlich der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurden. Es fragte sich nur, wo diese Dinge hingekommen waren. Was das Krankenhaus in Norwich und den Verbleib des Browneschen Schädels betraf, konnte mir auch die lokalhistorische Abteilung der durch einen Brand seither zerstörten Zentralbibliothek keinerlei Auskunft geben. Erst der durch Janine vermittelte Kontakt mit Anthony Batty Shaw brachte mir die gewünschte Aufklärung. Thomas Browne war, so Batty Shaw in einem mir von ihm übersandten, soeben im Journal of Medical Biography erschienenen Artikel, nach seinem 1682 an seinem siebenundsiebzigsten Geburtstag erfolgten Tod in der Stadtpfarrkirche St. Peter Mancroft begraben worden, wo seine sterblichen Reste dann ruhten bis zum Jahr 1840, als der Sarg, bei den Vorbereitungen zu einer Beisetzung an nahezu derselben Stelle des Chors, beschädigt und sein Inhalt teilweise ans Licht gebracht wurde. Infolge dieses Vorfalls gelangte der Schädel Brownes und eine Locke von seinem Haupthaar in den Besitz des Arztes und Kirchenvorstehers Lubbock, der die Reliquien seinerseits testamentarisch dem Spitalmuseum vermachte, wo sie zwischen allerhand anatomischen Absonderlichkeiten unter einem eigens gefertigten Glassturz bis 1921 zu sehen waren. Erst dann nämlich war der von der Pfarrei St. Peter Mancroft wiederholt gestellten Forderung einer Rückführung des Schädels Brownes nachgegeben und, beinahe ein Vierteljahrtausend nach dem ersten Begräbnis, mit aller Feierlichkeit ein zweites anberaumt worden. Browne selbst hat in seinem berühmten, halb archäologischen, halb metaphysischen Traktat über die Praxis der Feuer- und Urnenbestattung zu der späteren Irrfahrt seines eigenen Schädels den besten Kommentar geliefert an der Stelle, wo er schreibt, aus dem Grabe gekratzt zu werden, das sei eine Tragödie und Abscheulichkeit. Aber wer, so fügt er hinzu, kennt das Schicksal seiner Gebeine und weiß, wie oft man sie beerdigen wird.

Thomas Browne kam am 19. Oktober 1605 in London als Sohn eines Seidenhändlers zur Welt. Über seine Kindheit ist wenig bekannt, und in den Beschreibungen seines Lebens gibt es auch kaum einen Aufschluß über die Art seiner an das Magisterstudium in Oxford sich anschließenden medizinischen Ausbildung. Verbürgt ist nur, daß er von seinem fünfundzwanzigsten bis zu seinem achtundzwanzigsten Jahr die in den hippokratischen Wissenschaften damals herausragenden Akademien von Montpellier, Padua und Wien besuchte und daß er zuletzt, kurz vor seiner Rückkehr nach England, in Leiden den Grad eines Doktors der Medizin erwarb. Im Januar 1632, während des Aufenthalts in Holland und somit zu einer Zeit, da Browne mehr als jemals zuvor vertieft war in die Geheimnisse des menschlichen Körpers, wurde im Amsterdamer Waagebouw eine öffentliche Prosektur vorgenommen an der Leiche des wenige Stunden zuvor wegen Diebstahls gehenkten Stadtgauners Adriaan Adriaanszoon alias Aris Kindt. Obzwar nirgends eindeutig belegt, ist es mehr als wahrscheinlich, daß Browne die Ankündigung dieser Prosektur nicht entgangen war und daß er dem spektakulären, von Rembrandt in seiner Porträtierung der Chirurgengilde festgehaltenen Ereignis beigewohnt hat, zumal die alljährlich in der Tiefe des Winters stattfindende anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp nicht nur für einen angehenden Mediziner von größtem Interesse, sondern darüber hinaus auch ein bedeutendes Datum im Kalender der damaligen, aus dem Dunkel, wie sie meinte, ins Licht hinaustretenden Gesellschaft gewesen ist. Zweifellos handelte es sich bei dem vor einem zahlenden Publikum aus den gehobenen Ständen gegebenen Schauspiel einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründlichere Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten — die Chirurgen sind in ihrem besten Staat, und Dr. Tulp hat sogar seinen Hut auf dem Kopf — ebenso wie die Tatsache, daß nach der Vollendung der Prozedur ein feierliches, in gewissem Sinne symbolhaftes Bankett abgehalten wurde. Stehen wir heute im Mauritshuis vor dem gut zwei mal eineinhalb Meter messenden Anatomiegemälde Rembrandts, so stehen wir an der Stelle derer, die im Waagebouw seinerzeit dem Vorgang der Sezierung gefolgt sind, und meinen zu sehen, was diese gesehen haben: den grünlichen, im Vordergrund daliegenden Leib Aris’ Kindts mit dem gebrochenen Nacken und der in der Todesstarre furchtbar hervorgewölbten Brust. Und doch ist es fraglich, ob diesen Leib je in Wahrheit einer gesehen hat, denn die damals gerade aufkommende Kunst der Anatomisierung diente nicht zuletzt der Unsichtbarmachung des schuldhaften Körpers. Bezeichnenderweise sind ja die Blicke der Kollegen des Doktors Tulp nicht auf diesen Körper als solchen gerichtet, sondern sie gehen, freilich haarscharf, an ihm vorbei auf den aufgeklappten anatomischen Atlas, in dem die entsetzliche Körperlichkeit reduziert ist auf ein Diagramm, auf ein Schema des Menschen, wie es dem

passionierten, an jenem Januarmorgen im Waagebouw angeblich gleichfalls anwesenden Amateuranatomen René Descartes vorschwebte. Bekanntlich lehrte Descartes in einem der Hauptkapitel der Geschichte der Unterwerfung, daß man absehen muß von dem unbegreiflichen Fleisch und hin auf die in uns bereits angelegte Maschine, auf das, was man vollkommen verstehen, restlos für die Arbeit nutzbar machen und, bei allfälliger Störung, entweder wieder instand setzen oder wegwerfen kann. Der seltsamen Ausgrenzung des doch offen zur Schau gestellten Körpers entspricht es auch, daß die vielgerühmte Wirklichkeitsnähe des Rembrandtschen Bildes sich bei genauerem Zusehen als eine nur scheinbare erweist. Entgegen jeder Gepflogenheit nämlich beginnt die hier dargestellte Prosektur nicht mit der Öffnung des Unterleibs und der Entfernung der am ehesten in den Verwesungszustand übergehenden Eingeweide, sondern (und auch das deutet möglicherweise auf einen Akt der Vergeltung) mit der Sezierung der straffälligen Hand.

Und mit dieser Hand hat es eine eigenartige Bewandtnis. Nicht nur ist sie, verglichen mit der dem Beschauer näheren, geradezu grotesk disproportioniert, sie ist auch anatomisch gänzlich verkehrt. Die offengelegten Sehnen, die, nach der Stellung des Daumens, die der Handfläche der Linken sein sollten, sind die des Rückens der Rechten. Es handelt sich also um eine rein schulmäßige, offenbar ohne weiteres dem anatomischen Atlas entnommene Aufsetzung, durch die das sonst, wenn man so sagen kann, nach dem Leben gemalte Bild genau in seinem Bedeutungszentrum, dort, wo die Einschnitte schon gemacht sind, umkippt in die krasseste Fehlkonstruktion. Daß Rembrandt sich hier irgendwie vertan hat, ist wohl kaum möglich. Vorsätzlich erscheint mir vielmehr die Durchbrechung der Komposition. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren cartesischen Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht den Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.

Aus welcher Perspektive Thomas Browne, wenn er sich, wie ich glaube, tatsächlich unter den Zuschauern in dem Amsterdamer Anatomietheater befand, den Seziervorgang mitverfolgt und was er gesehen hat, dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Vielleicht war es der weiße Dunst, von dem er in einer späteren Notiz über den am 27. November 1674 über weiten Teilen Englands und Hollands liegenden Nebel behauptet, daß er aufsteige aus der Höhle eines frisch geöffneten Körpers, während er, so Browne im selben Zug, zu unseren Lebzeiten unser Gehirn umwölke, wenn wir schlafen und träumen. Ich entsinne mich deutlich, wie mein eigenes Bewußtsein von solchen Dunstschleiern verhangen gewesen ist, als ich, nach der in den späten Abendstunden an mir vorgenommenen Operation, wieder auf meinem Zimmer im achten Stockwerk des Krankenhauses lag. Unter dem wundervollen Einfluß der Schmerzmittel, die in mir kreisten, fühlte ich mich in meinem eisernen Gitterbett wie ein Ballonreisender, der schwerelos dahingleitet durch das rings um ihn her sich auftürmende Wolkengebirge. Bisweilen teilten sich die wallenden Tücher, und ich sah hinaus in die indigofarbenen Weiten und hinab auf den Grund, wo ich, unentwirrbar und schwarz, die Erde erahnte. Droben aber am Himmelsgewölbe waren die Sterne, winzige Goldpunkte, in die Öde gestreut. An mein Ohr drangen durch die dröhnende Leere die Stimmen der beiden Schwestern, die mir den Puls maßen und ab und zu die Lippen netzten mit einem kleinen, rosaroten, an einem Stäbchen befestigten Schwamm, der mich an die würfelförmigen Lutscher aus türkischem Honig erinnerte, die man vormals auf dem Jahrmarkt kaufen konnte. Katy und Lizzie hießen die Wesen, die mich umschwebten, und ich glaube, daß ich nur selten so glücklich gewesen bin wie unter ihrer Obhut in dieser Nacht. Von den Alltäglichkeiten, über die sie miteinander redeten, verstand ich kein Wort. Ich hörte nur die auf und ab gehenden Töne, Naturlaute, wie sie hervorgebracht werden von den Kehlen der Vögel, ein vollendetes Klingen und Flöten, halb Engelsmusik, halb Sirenengesang. Nur ein äußerst absonderliches Bruchstück von all dem, was Katy zu Lizzie und Lizzie zu Katy gesagt hat, ist mir in Erinnerung geblieben. Es gehörte, glaube ich, zu einer Erzählung von einem Ferienaufenthalt auf der Insel Malta, und Katy beziehungsweise Lizzie behauptete, daß die Malteser mit unbegreiflicher Todesverachtung nicht links fahren und nicht rechts, sondern stets auf der schattigen Seite der Straße. Erst als im Morgengrauen die Nachtschwestern abgelöst wurden, da ging es mir wieder auf, wo ich war. Ich begann meinen Körper zu spüren, den tauben Fuß, die schmerzende Stelle in meinem Rücken, registrierte das Tellergeklapper, mit dem draußen auf dem Gang der Krankenhaustag anhob, und sah, als das erste Frühlicht die Höhe erhellte, wie, anscheinend aus eigener Kraft, ein Kondensstreifen quer durch das von meinem Fenster umrahmte Stück Himmel zog. Ich habe diese weiße Spur damals für ein gutes Zeichen gehalten, fürchte aber jetzt in der Rückschau, daß sie der Anfang gewesen ist eines Risses, der seither durch mein Leben geht. Die Maschine an der Spitze der Flugbahn war so unsichtbar wie die Passagiere in ihrem Inneren. Die Unsichtbarkeit und Unfaßbarkeit dessen, was uns bewegt, das ist auch für Thomas Browne, der unsere Welt nur als das Schattenbild einer anderen ansah, ein letzten Endes unauslotbares Rätsel gewesen. In einem fort hat er darum denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt eines Außenseiters, ja man könnte sagen, mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten. Und um den dafür notwendigen Grad von Erhabenheit zu erreichen, gab es für ihn nur das einzige Mittel eines gefahrvollen Höhenfluges der Sprache. Wie die anderen Schriftsteller des englischen 17. Jahrhunderts führt auch Browne ständig seine ganze Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz und die Namen aller ihm voraufgegangenen Autoritäten, arbeitet mit weit ausufernden Metaphern und Analogien und baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit. Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung, nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht. Mit der größtmöglichen Deutlichkeit erblickt man die winzigsten Details. Es ist, als schaute man zugleich durch ein umgekehrtes Fernrohr und durch ein Mikroskop. Und doch, sagte Browne, ist jede Erkenntnis umgeben von einem undurchdringlichen Dunkel. Was wir wahrnehmen, sind nur vereinzelte Lichter im Abgrund des Unwissens, in dem von tiefen Schatten durchwogten Gebäude der Welt. Wir studieren die Ordnung der Dinge, aber was angelegt ist in ihr, sagt Browne, erfassen wir nicht. Darum dürfen wir unsere Philosophie bloß in kleinen Buchstaben schreiben, in den Kürzeln und Stenogrammen der vergänglichen Natur, auf denen allein der Abglanz der Ewigkeit liegt. Dem eigenen Vorsatz getreu, verzeichnet Browne die in der anscheinend unendlichen Vielfalt der Formen Mal für Mal wiederkehrenden Muster, beispielsweise in seiner Abhandlung über den Garten des Cyrus dasjenige des sogenannten Quincunx,

das gebildet wird von den Eckpunkten eines regelmäßigen Vierecks und dem Punkt, an dem dessen Diagonalen sich überschneiden. Überall an der lebendigen und toten Materie entdeckt Browne diese Struktur, in gewissen kristallinischen Formen, an Seesternen und Seeigeln, an den Wirbelknochen der Säugetiere, am Rückgrat der Vögel und Fische, auf der Haut mehrerer Arten von Schlangen, in den Spuren der über Kreuz sich fortbewegenden Vierfüßler, in den Konfigurationen der Körper der Raupen, Schmetterlinge, Seidenspinner und Nachtfalter, in der Wurzel des Wasserfarns, den Samenhülsen der Sonnenblumen und Schirmpinien, im Innern der jungen Triebe der Eichen oder der Stengel des Schachtelhalms und in den Kunstwerken der Menschen, in den ägyptischen Pyramiden und im Mausoleum des Augustus ebenso wie in dem mit Granatapfelbäumen und weißen Lilien nach der Richtschnur bestückten Garten des Königs Salomon. Endlos viel ließe sich hier zusammentragen, sagt Browne, und endlos ließe sich zeigen, mit welch eleganter Hand die Natur geometrisiert, aber — so beschließt er mit einer schönen Wendung seine Schrift — das Sternbild der Hyaden, die Quincunx des Himmels senkt sich bereits hinter den Horizont and so it is time to close the five ports of knowledge We are unwilling to spin out our thoughts into the phantasmes of sleep, making cables of cobwebs and wildernesses of handsome groves. Ganz abgesehen davon, fügt er nachdenklich noch an, daß Hippokrates in seinen Bemerkungen über die Schlaflosigkeit so wenig gesprochen habe vom Wunder der Pflanzen, daß man sich kaum getraut, zu träumen vom Paradies, zumal unsereinen in der Praxis vornehmlich die Abnormitäten beschäftigen, welche die Natur in einem fort hervorbringt, sei es in Form krankhafter Auswüchse, sei es vermittels des kaum weniger krankhaften Erfindungsreichtums, mit dem sie jede leere Stelle in ihrem Atlas mit allerhand Groteskerien ausfüllt. In der Tat will ja auch unser heutiges Naturstudium einerseits hinaus auf die Beschreibung eines vollkommen gesetzmäßigen Systems, andererseits jedoch richtet sich unser Augenmerk mit Vorliebe auf Kreaturen, die sich vor allen auszeichnen durch ihre abstruse Gestalt oder durch ihr aberwitziges Verhalten. Dementsprechend kamen bereits in Brehms Thierleben die Ehrenplätze dem Krokodil und dem Känguruh, dem Ameisenbär, dem Armadillo, dem Seepferdchen und dem Pelikan zu, und heutzutage erscheint auf dem Bildschirm etwa ein Heer von Pinguinen, das die ganze Winterfinsternis hindurch unbeweglich in den Eisstürmen der Antarktis steht mit dem in der wärmeren Jahreszeit gelegten Ei auf den Füßen. Zweifellos sieht man in dergleichen, Nature Watch oder Survival genannten und für besonders lehrreich geltenden Programmen viel eher irgendein Monstrum auf dem Grunde des Baikalsees bei seinem Paarungsgeschäft als eine gewöhnliche Amsel. Auch Thomas Browne ist von der Erforschung der isomorphen Linie der Quincunx-Signatur immer wieder abgelenkt worden durch das neugierige Verfolgen singulärer Phänomene und die Arbeit an einer umfassenden Pathologie. Unter anderem soll er sich in seinem Studierzimmer lange eine Rohrdommel gehalten haben, weil er herausfinden wollte, wie der in der ganzen Natur einmalige, den tiefsten Tönen eines Fagotts gleichende Ruf dieses schon rein äußerlich überaus seltsamen Federtiers zustande kommt, und in seinem mit der Ausräumung weit verbreiteter Vorurteile und Legenden befaßten Kompendium Pseudodoxia Epidemica handelt er von allerlei teils wirklichen, teils imaginären Wesen wie dem Chamäleon, dem Salamander, dem Vogel Strauß, dem Greif und dem Phoenix, dem Basilisk, dem Einhorn und der zweiköpfigen Schlange Amphisbaena. Zwar widerlegt Browne die Existenz der Fabelwesen in den meisten Fällen, aber die verwunderlichen Ausgeburten, von denen man weiß, daß es sie tatsächlich gibt, lassen es irgendwie als möglich erscheinen, daß die von uns erfundenen Bestien nicht nur aus der Luft gegriffen sind. Jedenfalls geht aus den Beschreibungen Brownes hervor, daß die Vorstellung von den unendlichen, über jede Vernunftgrenze sich hinwegsetzenden Mutationen der Natur beziehungsweise die aus unserem Denken entstehenden Chimären ihn ebenso fasziniert haben wie dreihundert Jahre später Jorge Luis Borges, den Herausgeber des in vollständiger Fassung erstmals 1967 in Buenos Aires erschienenen Libro de los seres imaginarios. Unter den in diesem Werk in alphabetischer Ordnung versammelten Phantasiewesen findet sich, wie mir unlängst erst aufgefallen ist, auch der sogenannte Baldanders, dem Simplicius Simplicissimus im sechsten Buch seiner Lebensgeschichte begegnet. Der Baldanders liegt als ein steinernes Bild mitten im Wald, hat das Ansehen eines alten deutschen Helden und trägt ein romanisches Soldatenkleid mit einem großen Schwabenlatz. Er, Baldanders, so erklärt er sich, habe seinen Ursprung im Paradies, sei unerkannt alle Zeit und Tage bei Simplicius gewesen und könne ihn erst verlassen, wenn Simplicius wieder zu dem, wovon er hergekommen, geworden sei. Dann verwandelt sich Baldanders vor den Augen des Simplicius der Reihe nach in einen Schreiber, der folgende Zeilen schreibt

und dann in einen großen Eichenbaum, in eine Sau, in eine Bratwurst, in einen Bauerndreck, in einen Kleewasen, in eine weiße Blume, in einen Maulbeerbaum und einen seidenen Teppich. Ähnlich wie in diesem fortwährenden Prozeß des Fressens und des Gefressenwerdens hat auch für Thomas Browne nichts Bestand. Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der Zerstörung. Es verläuft nämlich die Geschichte jedes einzelnen, die jedes Gemeinwesens und die der ganzen Welt nicht auf einem stets weiter und schöner sich aufschwingenden Bogen, sondern auf einer Bahn, die, nachdem der Meridian erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit. Die eigene Wissenschaft vom Verschwinden in der Obskurität ist für Browne untrennbar verbunden mit dem Glauben, daß am Tag der Auferstehung, wenn, so wie auf einem Theater, die letzten Revolutionen vollendet sind, die Schauspieler alle noch einmal auf der Bühne erscheinen, to complete and make up the catastrophe of this great piece. Der Arzt, der die Krankheiten in den Körpern wachsen und wüten sieht, begreift die Sterblichkeit besser als die Blüte des Lebens. Ihn dünkt es ein Wunder, daß wir uns halten auch bloß einen einzigen Tag. Gegen das Opium der verstreichenden Zeit, schreibt er, ist kein Kraut gewachsen. Die Wintersonne zeigt an, wie bald das Licht erlischt in der Asche, wie bald uns die Nacht umfängt. Stunde um Stunde wird an die Rechnung gereiht. Sogar die Zeit selber wird alt. Pyramiden, Triumphbögen und Obelisken sind Säulen von schmelzendem Eis. Nicht einmal diejenigen, die einen Platz gefunden haben unter den Bildern des Himmels, konnten auf immer ihren Ruhm sich erhalten. Nimrod ist im Orion verloren, Osiris im Hundsstern. Kaum drei Eichen haben die größten Geschlechter überdauert. Den eigenen Namen auf irgendein Werk zu setzen, sichert niemandem das Anrecht auf Erinnerung, denn wer weiß, ob nicht gerade die besten spurlos verschwunden sind. Der Mohnsamen geht überall auf, und wenn an einem Sommertag unversehens das Elend wie Schnee über uns kommt, wünschen wir nurmehr, vergessen zu werden. In solchen Kreisen drehen sich die Gedanken Brownes, am unausgesetztesten vielleicht in seinem 1658 unter dem Titel Hydriotaphia veröffentlichten Diskurs über die damals gerade in einem Feld in der Nähe des Wallfahrtsortes Walsingham in Norfolk aufgefundenen Urnengefäße. Unter Zuhilfenahme der verschiedensten historischen und naturhistorischen Quellen verbreitet er sich hier über die Anstalten, die wir treffen, wenn einer aus unserer Mitte sich anschickt zu seiner letzten Reise. Beginnend mit einigen Anmerkungen zu den Friedhöfen der Kraniche und Elefanten, zu den Begräbniszellen der Ameisen und der Gewohnheit der Bienen, ihren Toten das Trauergeleit zu geben aus dem Stock, beschreibt er in der Folge die Beisetzungsrituale mehrerer Völker bis hin zu dem Punkt, wo die christliche Religion, die den sündigen Leib als Ganzes bestattet, die Leichenfeuer endgültig ausgehen läßt. Daß aus der in vorchristlicher Zeit so gut wie universalen Praxis der Einäscherung nicht, wie oft geschieht, zu schließen ist auf die Unwissenheit der Heiden von dem bevorstehenden jenseitigen Leben, dafür nimmt Browne das wortlose Zeugnis der Tannen, Eiben, Zypressen, Zedern und anderen immergrünen Bäume, aus deren Ästen zum Zeichen ewiger Hoffnung man zumeist die Totenfeuer entfachte. Im übrigen, sagt Browne, sei es, entgegen der allgemeinen Vermutung, nicht schwer, einen Menschen zum Brennen zu bringen. Für Pompeius habe ein alter Kahn gereicht, und dem König von Kastilien sei es gelungen, fast ohne Feuerholz eine weithin sichtbare Lohe zu machen aus einer größeren Anzahl von Sarazenen. Ja, so setzt Browne noch hinzu, wenn wirklich die dem Isaak aufgeladene Bürde gelangt hätte für einen Holocaust, dann könnte jeder von uns den eigenen Scheiterhaufen auf seiner Schulter tragen. Wiederholt kehrt die Betrachtung zurück zu dem, was tatsächlich zutage kam an der Ausgrabungsstätte auf dem Acker bei Walsingham. Staunenswert ist es, sagt Browne, welch lange Zeiten die dünnwandigen Tongefäße unbeschadet erhalten geblieben sind zwei Fuß unter der Erde, während Pflugscharen und Kriege hinweggingen über sie, und große Häuser und Paläste und wolkenhohe Türme in sich zusammensanken und zerfielen. Genau werden die in den Urnen enthaltenen Überreste der Verbrennung untersucht; die Asche, die losen Zähne, die von den blassen Wurzeln des Hundsgrases wie von einem Kranz umwundenen Bruchstücke der Gebeine, die für den elysäischen Fährmann bestimmten Münzen. Sorgsam registrierte Browne auch, wovon er sonst weiß, daß es den Toten beigegeben wurde als Rüstzeug und Schmuck. Allerlei Seltenheiten umfaßt der von ihm aufgestellte Katalog: das Beschneidungsmesser Josuas, den Ring der Geliebten des Propertius, aus Achat geschliffene Grillen und Echsen, einen Schwarm goldener Bienen, blaue Opale, silberne Gürtelspangen und Schnallen, Kämme, Zangen und Nadeln aus Eisen und Horn und eine Maultrommel aus Messing, die zuletzt bei der Fahrt über das schwarze Wasser erklang. Das wunderbarste Stück aber, aus einem römischen Aschengefäß der Sammlung des Kardinals von Farese, ist ein vollkommen unversehrtes Trinkglas, so hell, als habe man es soeben geblasen. Dergleichen von der Strömung der Zeit verschonte Dinge werden in der Anschauung Brownes zu Sinnbildern der in der Schrift verheißenen Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele, an der der Leibarzt, so befestigt er sich weiß in seinem christlichen Glauben, insgeheim vielleicht zweifelt. Und weil der schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen Ende unserer Natur, sucht Browne unter dem, was der Vernichtung entging, nach den Spuren der geheimnisvollen Fähigkeit zur Transmigration, die er an den Raupen und Faltern so oft studiert hat. Das purpurfarbene Fetzchen Seide aus der Urne des Patroklus, von dem er berichtet, was also bedeutet es wohl?

II

Es war ein tief mit Wolken verhangener Tag, als ich, im August 1992, mit dem alten, bis an die Fensterscheiben hinauf mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen, der damals zwischen Norwich und Lowestoft verkehrte, an die Küste hinunterfuhr. Meine wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten lilafarbenen Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. Die meiste Zeit rollte der unsicher auf den Schienen schwankende Wagen im Leerlauf dahin, denn es geht dem Meer zu fast immer leicht bergab. Nur zwischendurch, wenn mit einem das ganze Gehäuse erschütternden Schlag das Triebwerk in Gang gesetzt wurde, war eine Weile das Mahlen der Zahnräder zu hören, ehe wir unter gleichmäßigem Pochen weiterrollten wie zuvor, an Hinterhöfen und Schrebergartenkolonien und Schutthalden und Lagerplätzen vorbei in das vor der östlichen Vorstadt sich ausdehnende Marschland hinaus. Über Brundall, Brundall Gardens, Buckenham und Cantley, wo eine Zuckerrübenraffinerie mit qualmendem Schornstein am Ende einer Stichstraße in einem grünen Feld liegt wie ein Dampfer an einer Mole, folgt die Strecke dem Lauf des Yare-Flusses, bis sie in Reedham das Wasser überquert und in einem weiten Bogen hineinführt in eine südostwärts bis an das Ufer des Meers sich erstreckende Ebene. Nichts ist hier zu sehen als ab und zu ein einsames Flurwächterhaus, als Gras und wogendes Schilf, ein paar niedergesunkene Weidenbäume und zerfallende, wie Mahnmale einer zugrundegegangenen Zivilisation sich ausnehmende Ziegelkegel, die Überreste der ungezählten Windpumpen