Logis in einem Landhaus - W.G. Sebald - E-Book

Logis in einem Landhaus E-Book

W.G. Sebald

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Beschreibung

Eine Landschaft in Büchern. W. G. Sebald folgt in seinen alemannischen Dichterporträts Rousseau auf seiner Flucht bis auf die Petersinsel und er begleitet Robert Walser bei seinen einsamen Spaziergängen durch den Schnee. Ob Keller, Mörike oder Hebel, immer gelingt es W. G. Sebald, die Dichtergestalten, von denen er erzählt, so greifbar vor dem Leser erscheinen zu lassen, als wären sie nur ein wenig entrückte Zeitgenossen.

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Das ist das Cover des Buches »LOGIS IN EINEM LANDHAUS« von W.G. Sebald

Über das Buch

Eine Landschaft in Büchern. W. G. Sebald folgt in seinen alemannischen Dichterporträts Rousseau auf seiner Flucht bis auf die Petersinsel und er begleitet Robert Walser bei seinen einsamen Spaziergängen durch den Schnee. Ob Keller, Mörike oder Hebel, immer gelingt es W. G. Sebald, die Dichtergestalten, von denen er erzählt, so greifbar vor dem Leser erscheinen zu lassen, als wären sie nur ein wenig entrückte Zeitgenossen.

W. G. Sebald

LOGIS IN EINEM LANDHAUS

Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere

Carl Hanser Verlag

Vorbemerkung

Gut dreißig Jahre zurück reicht inzwischen meine Bekanntschaft mit den Schriftstellern, von denen die Aufsätze in diesem Band handeln. Genau entsinne ich mich noch, wie ich, als ich im Frühherbst 1966 von der Schweiz aus nach Manchester ging, den Grünen Heinrich, das Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds und ein halb zerfallenes Exemplar des Jakob von Gunten in den Reisekoffer legte. An meiner Wertschätzung dieser Bücher und ihrer Autoren haben die vielen zigtausend Seiten, die ich seither gelesen habe, nichts geändert, und müßte ich heute noch einmal umziehen auf eine andere Insel, so befänden sie sich gewiß wieder in meinem Gepäck. Diese immer konstant gebliebene Vorliebe für Hebel, Keller und Walser war es, die mich auf den Gedanken brachte, ihnen, eh es vielleicht zu spät wird, Habe die Ehre zu sagen. Aus anderen Anlässen kamen dann die zwei Stücke über Rousseau und Mörike hinzu, von denen es sich erwies, daß sie nicht schlecht in den Zusammenhang paßten. Beinah über zweihundert Jahre spannt sich jetzt der Bogen, und man kann an ihm sehen, daß sich im Verlauf dieser langen Zeit nicht viel geändert hat an jener sonderbaren Verhaltensstörung, die jedes Gefühl in Buchstaben verwandeln muß und mit erstaunlicher Präzision vorbeizielt am Leben. Was mich bei meinen diesbezüglichen Betrachtungen vor allem wunderte, das ist die schreckliche Ausdauer der Literaten. Es scheint kein Kraut gewachsen gegen das Laster der Schriftstellerei; die ihm Verfallenen fahren in ihm fort, sogar wenn ihnen die Lust am Schreiben schon längst vergangen ist, und auch noch in dem kritischen Alter, wo man, wie Keller gelegentlich bemerkt, jeden Tag Gefahr läuft, ein Simpel zu werden, und wo einem nach nichts so sehr der Sinn steht, als die im Kopf andauernd sich drehenden Räder endlich anhalten zu können. Rousseau, der in seinem Refugium auf der Petersinsel — dreiundfünfzig Jahre ist er da alt — bereits aufhören möchte mit dem ewigen Nachdenken, schreibt dennoch weiter bis in den Tod. Mörike bessert an seinem Roman noch herum, als es der Mühe längst nicht mehr wert ist. Keller legt mit sechsundfünfzig sein Staatsamt nieder, um sich ganz der literarischen Arbeit auszuliefern, und Walser kann sich vom Schreibzwang nur befreien, indem er sich sozusagen selber entmündigt. In Anbetracht dieser drastischen Maßnahme empfand ich es als besonders erschütternd, als ich vor ein paar Monaten einen französischen Fernsehfilm sah, in dem ein ehemaliger Krankenwärter der Herisauer Anstalt namens Josef Wehrle berichtete, daß Walser, obwohl er sich von der Literatur ganz abgewandt hatte, stets ein Bleistiftende und eigens zugeschnittene Zettel in der Westentasche bei sich geführt und öfters das eine oder andere aufnotiert habe. Allerdings, so erzählte Josef Wehrle weiter, habe Walser diese Zettel, wenn er sich beobachtet glaubte, immer geschwind wieder eingeschoben, so als habe man ihn bei etwas Unrechtem oder gar Schandbarem ertappt. Das Schriftstellern ist offenbar ein Geschäft, von dem man sich, selbst wenn es einem zuwider oder unmöglich geworden ist, nicht ohne weiteres befreit. Vom Standpunkt des schreibenden Subjekts läßt sich zu seiner Verteidigung fast nichts vorbringen, so wenig bietet es ihm an Gratifikation. Vielleicht wäre es wirklich besser, man schriebe bloß, wie Keller es ursprünglich vorhatte, einen kleinen Roman mit tragischem Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn und einem zypressendunklen Schluß, wo alles begraben wird, und legte danach die Feder beiseite. Für die Leserschaft freilich wäre damit viel verloren, denn die in ihrer Wörterwelt gefangenen armen Schriftsteller eröffnen ihr doch manchmal Ausblicke von solcher Schönheit und Intensität, wie sie das Leben selber kaum liefern kann. Und vorab als Leser entrichte ich darum im Folgenden meinen Tribut an die vorangegangenen Kollegen in Form einiger ausgedehnter und sonst keinen besonderen Anspruch erhebenden Marginalien. Daß am Ende ein Aufsatz steht über einen Maler, das hat auch seine Ordnung, nicht nur weil Jan Peter Tripp und ich eine ziemliche Zeitlang in Oberstdorf in dieselbe Schule gegangen sind und weil Keller und Walser uns beiden gleichviel bedeuten, sondern auch weil ich an seinen Bildern gelernt habe, daß man weit in die Tiefe hineinschauen muß, daß die Kunst ohne das Handwerk nicht auskommt und daß man mit vielen Schwierigkeiten zu rechnen hat beim Aufzählen der Dinge.

Es steht ein Komet am Himmel

Kalenderbeitrag zu Ehren des rheinischen Hausfreunds

In dem Feuilleton, das Walter Benjamin 1926 zum hundertsten Todestag von Johann Peter Hebel in der Magdeburgischen Zeitung veröffentlicht hat, heißt es eingangs, das 19. Jahrhundert habe sich um die Einsicht betrogen, im Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds eines der lautersten Prosawerke der deutschen Literatur zu besitzen. Aus Bildungshochmut habe man den Schlüssel zu dieser Schatulle unter Bauern und Kinder geworfen und keine Notiz genommen von dem, was verwahrt lag in ihr. Tatsächlich gab es zwischen dem Lob, das Goethe und Jean Paul dem badischen Kalendermacher zollten und der späteren Wertschätzung durch Kafka, Bloch und Benjamin kaum eine Stimme, die Hebel der bürgerlichen Leserschaft näher gebracht und ihr erklärt hätte, was sie mit ihm verloren hatte an eigenen besseren Vorstellungen von einer an den Idealen des Rechts und der Toleranz sich orientierenden Welt. Es ist auch ein Stück deutscher Geistesgeschichte, wie wenig die Fürsprache der jüdischen Autoren in den zehner und zwanziger Jahren für den Nachruhm Hebels vermochte, und wie groß im Gegensatz dazu die Wirkung gewesen ist, als die Nationalsozialisten den Heimatschriftsteller aus dem Wiesenthal für sich reklamierten. Mit welch falschem neogermanischem Zungenschlag diese Vereinnahmung sich präsentierte und wie lange sie vorhielt, das hat Robert Minder anhand von Heideggers Rede über Hebel aus dem Jahr 1957 gezeigt, die sich in ihrem ganzen Duktus in nichts von dem unterschied, was während der Faschistenherrschaft vorgebracht wurde von Josef Weinheber, Guido Kolbenheyer, Hermann Burte, Wilhelm Schäfer und anderen Hütern des deutschen Erbes, die glaubten, ihr Jargon sei unmittelbar aus der Sprache des Volks entsprungen. Als ich 1963 in Freiburg mit dem Studium begann, war das alles noch kaum unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich mich seither gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet. Jedenfalls was mich selber betraf, so hätte ich ohne die Beihilfe Blochs und Benjamins den Zugang zu dem von Heidegger umnebelten Hebel schwerlich gefunden. Jetzt aber lese ich die Kalendergeschichten immer wieder aufs neue, möglicherweise weil es, wie auch Benjamin bemerkte, ein Siegel ihrer Vollkommenheit ist, daß man sie so leicht vergißt. Aber nicht bloß aufgrund der ätherischen Flüchtigkeit der Prosa Hebels muß ich bald alle paar Wochen nachsehen, ob es den Barbier von Segringen und den Schneider von Pensa noch gibt; was mich stets zu Hebel zurückkehren läßt, das ist auch die ganz beiläufige Tatsache, daß mein Großvater, dessen Sprachgebrauch in vielem an den des Hausfreunds erinnerte, die Gewohnheit hatte, auf jeden Jahreswechsel einen Kempter Calender

zu kaufen, in welchem er dann die Namensfeste seiner Anverwandten und Freunde, den ersten Frost, den ersten Schneefall, den Einbruch des Föhns, Gewitter, Hagelschlag und ähnliches mehr mit dem Tintenblei vermerkte, sowie, auf den Notizseiten, gelegentlich auch ein Rezept zur Herstellung von Wermuth oder

Enzianschnaps. Freilich bewegten sich die von Autoren wie Franz Schrönghamer-Heimdahl und Else Eberhard-Schobacher verfaßten Geschichten, die in den fünfziger Jahren in dem auf 1773 zurückgehenden Kempter Calender abgedruckt waren und etwa von einem Hüterbuben aus dem Lechtal oder einem im Bergwald aufgefundenen Skelett handelten, nicht auf dem gleichen Niveau

wie die Hebels, aber das Grundmuster des Hauskalenders war doch weitgehend dasselbe geblieben, und die Einmaleinspyramiden, die Zinsberechnungstabellen, die hinter

jedem Datum stehenden Namen der Heiligen, die roten Sonn- und Feiertage, der ab- und zunehmende Mond, die Planetensymbole und Tierkreiszeichen und der seltsamerweise auch nach 1945 nicht relegierte

all dies konstituiert für mich bis heute ein System, von dem ich mir manchmal, wie seinerzeit in der Kindheit, noch ausmalen möchte, daß alles zum Besten geordnet sei in ihm. Nirgends wird mir darum die Idee von einer im Gleichgewicht gehaltenen Welt lebendiger als in dem, was Hebel schreibt von der Aufzucht der Obstbäume, von der Weizenblüte, von verschiedenerlei Regen oder von einem Vogelnest, nirgends faßbarer, als wenn ich ihm zusehe, wie er mit seinem untrüglichen moralischen Augenmaß zwischen Dank und Undank, Geiz und Verschwendung und den übrigen Verfehlungen und Lastern der Menschheit differenziert. Dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte hält er Begebenheiten entgegen, in denen ausgestandenes Unglück entgolten wird, auf jeden Feldzug folgt ein Friedensschluß, jedes Rätsel, das uns aufgegeben wird, hat eine Lösung, und in dem Buch der Natur, das Hebel vor uns aufschlägt, können wir studieren, daß selbst die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der aufs sorgfältigste austarierten Ordnung. Die bewundernswerte innere Sicherheit Hebels kommt allerdings weniger aus dem, was er weiß von der Natur der Dinge als aus der Anschauung dessen, was über jeden Verstand geht. Gewiß waren seine fortgesetzten Betrachtungen über das Weltgebäude gedacht, den Leser ein bißchen draußen im Universum spazierenzuführen, damit es ihm familiär wird und er sich vorstellen kann, daß auf den äußersten Sternen, die gleich den Lichtern einer fremden Stadt durch die Nacht leuchten, Leute wie wir in ihrer Stube sitzen »und lesen die Zeitung, oder den Abendsegen, oder sie spinnen und stricken, oder spielen Trumpf aus, und das Büblein macht ein Rechnungsexempel aus der Regel detri«; gewiß beschreibt Hebel für uns die Umlaufbahnen der Planeten, merkt zu unserem besseren Verständnis an, wie lang eine in Breisach abgeschossene Kanonenkugel braucht bis auf den Mars und redet vom Mond als dem uns allen vertrauten obersten Generalwächter, eigentlichen Hausfreund und ersten Kalendermacher unserer Erde, aber sein wahrer Kunstgriff ist die Umkehrung dieser das Fernste noch eingemeindenden Perspektive, wenn er nämlich vom Standpunkt eines außerirdischen Wesens in den glanzvollen Himmel hinausschaut und von dort unsere Sonne sieht als einen winzigen Stern, die Erde gar nicht und auf einmal nichts mehr davon weiß, »daß in Österreich Krieg war, und daß die Türken die Schlacht bei Silistria gewonnen haben«. Es sind letztendlich die kosmischen Dimensionen und die aus ihnen abgeleiteten Einsichten in die eigene geringe Bedeutung, aus denen die Souveränität sich ergibt, mit der Hebel die Wechselfälle des menschlichen Schicksals in seinen Erzählungen regiert. Der Augenblick des Einhaltens und des reinen Schauens ist es, dem seine tiefste Inspiration sich verdankt. »Kennen wir nicht alle die Milchstraße«, so schreibt er, »die wie ein breiter, flatternder Gürtel den Himmel umwindet. Sie gleicht einem ewigen Nebelstreif, den eine schwache Helle durchschimmert. Aber durch die Gläser des Sternsehers betrachtet, löset sich dieser ganze Lichtnebel in unzählige kleine Sterne auf, wie wenn man zum Fenster hinaus auf einen Berg schaut, und nur grüne Farbe sieht, aber schon durch ein gemeines Perspektiv erblickt man Baum an Baum, und Laub an Laub, und das Zählen läßt man auch bleiben.« Der Verstand steht still, der von Hebel sonst vertretene bürgerliche Instinkt, der immer gern Inventur machen will, rührt sich nicht mehr. Indem er des öfteren nur noch dem Staunen sich überläßt, relativiert der Hausfreund seine sonst bei diversen Gelegenheiten proklamierte Allwissenheit selber mit feiner Ironie. Überhaupt steht er trotz seiner professionellen didaktischen Neigung nie als Präzeptor in der Mitte, sondern immer ein Stückchen abseits, wie die Gespenster, von denen mehrere umgehen in seinen Geschichten, und die es bekanntlich gewohnt sind, das Leben von ihrer exzentrischen Position aus zu betrachten in stummer Verwunderung und Resignation. Wer einmal auf die Art achtet, wie Hebel als treuer Kompagnon seine Figuren begleitet, der könnte fast in seiner Anmerkung zu dem 1811 erschienenen Kometen ein Selbstporträt des Autors erkennen. »Hat er nicht alle Nacht«, schreibt Hebel, »ausgesehen wie ein heiliger Abendsegen, oder wie ein Priester, wenn er in der Kirche herumgeht und das Weihwasser aussprengt, oder zu sagen, wie ein vornehmen guter Freund der Erde, der eine Sehnsucht nach ihr hat, als wenn er hätte sagen wollen: Ich bin auch einmal eine Erde gewesen wie du, voll Schneegestöber und Gewitterwolken, voll Spitäler und rumfordischer Suppenanstalten und Kirchhöfe. Aber mein jüngster Tag ist vorüber und hat mich verklärt in himmlischer Klarheit, und ich käme gern zu dir herunter, aber ich darf nicht, daß ich nicht wieder unrein werde an dem Blut deiner Schlachtfelder. Er hat nicht so gesagt, aber es erschien so, denn er kam immer schöner und heller, je näher, immer freundlicher und fröhlicher, und als er sich entfernte, ward er wieder blaß und trübsinnig, als ob es ihm selber zu Herzen ginge.« Beide, der Komet und der Erzähler, ziehen ihre Lichtspur über unser von Gewalt entstelltes Leben, sehen alles, was drunten geschieht, aber aus der denkbar größten Distanz. Die seltsame Konstellation, in der Mitleidenschaft und Indifferenz sich solchermaßen vereinen, ist sozusagen das Berufsgeheimnis eines Chronisten, der manchmal ein ganzes Jahrhundert auf eine einzige Seite bringt und doch zugleich ein wachsames Auge auf die geringfügigsten Umstände hat, der nicht bloß von der Armut im allgemeinen redet, sondern sagt, daß den Kindern daheim die Nägel blau werden vor Hunger, und der ahnt, daß es irgendeinen unergründlichen Zusammenhang gibt beispielsweise zwischen den häuslichen Zwistigkeiten zweier Eheleute im Schwabenland und dem Untergang einer ganzen Armee in den Fluten der Beresina. Ist eine besondere seelische Aufnahmefähigkeit und Disposition die Voraussetzung für das epische Weltbild Hebels, dann ist auch dessen Mitteilung an den Leser eine Sache eigener Art. Als die französische Armee nach dem Rückzug aus Deutschland jenseits hinab am Rhein lag …, als sie auf dem Postwagen zum St. Johannistor in Basel heraus und an den Rebhäusern vorbei ins Sundgau gekommen war …, als schon die Sonne sich zu den Elsässer Bergen neigte …, so gehen die Geschichten fort. Indem ein Ding aufs andere folgt, bildet sich, sehr graduell, das epische Gefälle. Die Sprache zwar hält sich selber auf, dadurch daß sie in kleinen Umschweifen und Kringeln, dem sich anverwandelt, wovon sie erzählt und von den irdischen Gütern rettet, soviel sie nur kann. Im übrigen gehören zum epischen Stil Hebels auch die Anleihen, die er gelegentlich bei der Mundart macht, bei ihrem Vokabular und Satzbau. »Für die Fixsterne zu zählen, gibt’s nicht Finger genug auf der ganzen Erde«, heißt es zu Beginn eines Abschnitts in der ›Betrachtung des Weltgebäudes‹ in badisch-elsässischer Syntax, und in dem Stück über den großen Sanhedrin zu Paris lesen wir: »Das sah der große Kaiser Napoleon wohl ein, und im Jahr 1806, ehe er antrat die große Reise nach Jena, Berlin und Warschau, und Eylau, ließ er schreiben an die ganze Judenschaft in Frankreich, daß sie ihm sollte schicken aus ihrer Mitte verständige und gelehrte Männer aus allen Departementern des Kaisertums.« Nicht nach dem allemannischen Sprachgebrauch sind in diesem Satz die Worte angeordnet, sondern vielmehr genau so wie im Jiddischen, das die deutsche Rektion nicht mitmachen will. Das allein möchte schon hinreichen zur Desavouierung der primitiven Heideggerthese von Hebels Verwurzelung im heimatlichen Boden. Die hochentwickelte Kunstsprache, die er sich eigens für den Kalender schuf, bedient sich dialektaler und demodierter Wendungen und Strukturen immer nur dort, wo es der prosodische Rhythmus erfordert, und fungierte wohl zu seiner Zeit schon eher als ein Element der Verfremdung denn als ein Ausweis der Stammeszugehörigkeit. Auch Hebels spezielle Vorliebe für die parataktischen Konjunktionen ›und‹, ›oder‹ und ›aber‹ ist nicht ein Anzeichen einer im Heimatlichen verhafteten Naivität, gewinnt er doch gerade dem Einsatz dieser Partikel oft seine studiertesten Wirkungen ab. Gegen jede Über- und Unterordnung gerichtet, legen sie dem Leser auf die unaufdringlichste Weise nahe, daß in der von diesem Erzähler geschaffenen und verwalteten Welt alles nebeneinander bestehen soll mit gleichem Recht. Eine Muschel »ab dem Meeresstrand von Askalon« will der Pilgrim der Wirtin im Baselstab mitbringen, wenn er wiederkommt, oder eine Rose von Jericho. Und der Duttlinger Handwerksgeselle sagt am Grab des Amsterdamer Handelsherrn mehr zu sich selber als zu diesem: »Armer Kannitverstan, was hast du nun von all deinem Reichtum. Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht nur einen Rosmarin auf die kalte Brust, oder eine Raute.« In solchen Kadenzen und Inflexionen am Satzende, die die tiefsten emotionalen Momente in der Prosa Hebels markieren, kehrt die Sprache sich nach innen und legt der Erzähler uns beinahe spürbar seine Hand auf den Arm. Das Brüderliche, das anklingt in ihnen, erlangt seine Erfüllung, weitab von jedem Gedanken an die Verwirklichung gesellschaftlicher Egalität, erst vor dem Horizont der Ewigkeit, deren andere Seite der Goldgrund ist, auf welchen, wie Benjamin sagte, die Chronisten gern ihre Figuren malen. In seinen um einen Halbton abfallenden, gewissermaßen ins Leere gehenden Nachsätzen löst Hebel sich aus dem Zusammenhang des Lebens und begibt sich auf jene höhere Warte, von der aus man, nach einer Notiz aus dem Nachlaß Jean Pauls, hinübersieht in das entfernte gelobte Land der Menschen, jene Heimat eben, in der, nach einem anderen Diktum, noch keiner gewesen ist.

Die kosmographischen Betrachtungen Hebels sind ein Versuch, bei wachem Verstand den Vorhang zu diesem Jenseits zu lüften. Weltfrömmigkeit und die Wissenschaft von der Natur treten an die Stelle des Glaubens und der Metaphysik. Die vollendete Mechanik der Sphären gilt dem Kalendermacher als Beweis dafür, daß es ein Lichtreich gibt, in das wir dereinst eingehen können. Zweifel daran hat Hebel in sich nicht aufkommen lassen; schon von amtswegen war das für ihn ausgeschlossen. Aber in seinen der Kontrollinstanz des Bewußtseins entzogenen Träumen, von denen er eine Zeitlang Aufzeichnungen gemacht hat, finden sich nicht wenige Indizien dafür, daß auch er Angst und Verstörung kannte. »Ich lag«, so notierte er am 5. November 1805, »in dem Hause meiner Mutter in meiner ehemaligen Schlafkammer. In der Mitte derselben stand ein Eichenbaum. Die Decke des Zimmers fehlte, und er reichte unter den Dachstuhl. Auf einzelnen Punkten des Baumes ging Feuer auf, sehr schön anzusehen. Endlich geschah dies auf den obersten Ästen, und die Balken des Dachstuhls fingen an Feuer zu fangen. Als man nach geloschenem Feuer an der Stelle, wo es ausgeströmt, nachsah, fand man eine grünliche Harzmaterie, die nachher gallertartig wurde, und sehr viele, schmutzig grüne, häßliche Käfer, welche an derselben gierig fraßen.« Ähnlich bang wie diese Transformation der Kinderstube mit dem Lichterbaum in einen Ort wuselnden Grauens ist das Traumbild von den Verdammten, die in der Hölle in Gestalt heißer Fische und anderer Seetiere in einem Zimmer zwischen Buchenblättern liegen. Das Tierische überhaupt scheint Hebel nicht geheuer, das winzige, auf dem Rücken cölestinblaue Mäuslein, das ihm zwischen den Beinen herumspringt, ebensowenig wie der afrikanische Löwe, der seine Kammer betritt und ihm die von einem Ausschlag entstellten Vordertatzen auf die Schultern legt, ganz zu schweigen von den beiden Engeln, die unter anderem Geflügel in einem Hühnerhof gehalten werden und von denen das Weiblein schwanger ist. Auch um die Legitimität seiner Person ist Hebel im Traum verschiedentlich besorgt, fürchtet, als er in einer Nacht mit Christus und den Aposteln zu Tisch sitzt, daß sie ihm ansehen möchten, er sei nicht kauscher im Glauben, und wird ein anderes mal in Paris als Spion ertappt und verleugnet seine Herkunft. Die surreale Traumwelt ist nicht das sternenübersäte elysäische Feld, das Hebel bei Tag mit der Feder in der Hand sich erträumte. Die Wahllosigkeit und Willkürlichkeit, mit der da das ungereimteste zueinanderkommt, ist zu verstehen auch als ein Reflex auf eine Epoche, in der die letzten Überreste des heilsgeschichtlichen Weltbilds zerschlagen wurden, während zugleich in endlosen Revolutionen und Kriegen die profane Geschichte gewaltsam sich auszubreiten begann. Den Aberglauben, daß das Erscheinen eines Kometen am Himmel ein bevorstehendes Unglück bedeute, weist der Kalendermacher bezeichnenderweise leicht mit dem Hinweis darauf zurück, daß leider die Zahl der zwischen 1789 und 1810 eingetroffenen Kalamitäten bei weitem die der geschweiften Sterne übersteigt. »Der geneigte Leser«, so schreibt er, »darf nur an die letzten zwanzig Jahre zurück denken, an die Revolutionen und Freiheitsbäume hin und wieder, an den plötzlichen Tod des Kaisers Leopold, an das Ende des Königs Ludwig des Sechzehnten, an die Ermordung des türkischen Kaisers, an die blutigen Kriege in Deutschland, in den Niederlanden, in der Schweiz, in Italien, in Polen, in Spanien, an die Schlachten bei Austerlitz und Eylau, bei Eßlingen und Wagram, an das gelbe Fieber, an die Petechen und Viehseuchen, an die Feuersbrünste in Kopenhagen, Stockholm und Konstantinopel, an die Zucker- und Kaffeeteuerung«, um zu begreifen, daß man am frühen Morgen nie weiß, wie es vor der Nacht wird. Das Paradigma davon ist Das Unglück der Stadt Leiden