Schwindel - W.G. Sebald - E-Book

Schwindel E-Book

W.G. Sebald

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Beschreibung

"Schwindel. Gefühle" ist das Buch, mit dem W.G. Sebald auf einen Schlag berühmt wurde. In vier ganz eigenständigen Kapiteln, in einer atemberaubend schönen Sprache, verknüpft W.G. Sebald Figuren und Zeiten, autobiographische Bekenntnisse, Kindheitserinnerungen und Reiseberichte zu einem faszinierenden Ganzen. Der französische Soldat Henri Beyle, der als Stendhal Weltruhm erlangte, und der Prager Angestellte Franz Kafka, der zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der Moderne wurde, das sind die Helden von Sebalds Erzählen: Helden der Melancholie, Helden der vergeblichen Liebe und Helden der Literatur.

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Das ist das Cover des Buches »Schwindel. Gefühle.« von W.G. Sebald

Über das Buch

»Schwindel. Gefühle« ist das Buch, mit dem W.G. Sebald auf einen Schlag berühmt wurde. In vier ganz eigenständigen Kapiteln, in einer atemberaubend schönen Sprache, verknüpft W.G. Sebald Figuren und Zeiten, autobiographische Bekenntnisse, Kindheitserinnerungen und Reiseberichte zu einem faszinierenden Ganzen. Der französische Soldat Henri Beyle, der als Stendhal Weltruhm erlangte, und der Prager Angestellte Franz Kafka, der zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der Moderne wurde, das sind die Helden von Sebalds Erzählen: Helden der Melancholie, Helden der vergeblichen Liebe und Helden der Literatur.

W. G. Sebald

Schwindel. Gefühle.

BEYLEODER DAS MERCKWÜRDIGE FAKTUM DER LIEBE

Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36.000 Mann über den Großen St. Bernhard, ein Unternehmen, das bis zu diesem Zeitpunkt für so gut wie ausgeschlossen gegolten hatte. Fast vierzehn Tage lang bewegte sich ein unabsehbarer Zug von Menschen, Tieren und Material von Martigny aus über Orsières durch das Tal von Entremont und sodann in endlos scheinenden Serpentinen hinauf auf die zweieinhalbtausend Meter über dem Spiegel des Meeres liegende Höhe des Passes, wobei die schweren Kanonenrohre von der Truppe in ausgehöhlten Baumstämmen teils über den Schnee und das Eis, teils über die bereits aperen Felsplatten geschleift werden mußten.

Zu den wenigen nicht namenlos gebliebenen Teilnehmern an dieser legendären Alpenüberquerung gehörte Henri Beyle. Er war damals siebzehn Jahre alt, sah das Ende seiner ihm auf das tiefste verhaßten

Kindheit und Jugend

gekommen und stand mit einiger Begeisterung im Begriff, seine Laufbahn im Dienste des Heeres anzutreten, die ihn, wie wir wissen, noch weit in Europa herumführen sollte. Die Notizen, in denen Beyle im Alter von dreiundfünfzig Jahren — er hielt sich zur Zeit ihrer Niederschrift in Civita Vecchia auf — die Strapazen jener Tage aus dem Gedächtnis heraufzuholen versucht, demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung. Einmal besteht seine Vorstellung von der Vergangenheit aus nichts als grauen Feldern, dann wieder stößt er auf Bilder von solch ungewöhnlicher Deutlichkeit, daß er ihnen nicht glaubt trauen zu dürfen, beispielsweise auf dasjenige des Generals Marmont, den er in Martigny zur Linken des Wegs, auf welchem sich der Troß voranbewegte, in dem himmel- und königsblauen Kleid eines Staatsrats gesehen zu haben meint, und das er genau so, wie er uns versichert, immer noch sieht, wenn er, die Augen schließend, sich die Szene in Erinnerung ruft, obschon Marmont ja damals, wie Beyle sehr wohl weiß, seine Generalsuniform und nicht das blaue Staatskleid getragen haben muß.

Beyle, der behauptet, um diese Zeit, aufgrund einer völlig verkehrten, allein auf die Ausbildung bürgerlicher Fertigkeiten ausgerichteten Erziehung, die Konstitution eines vierzehnjährigen Mädchens gehabt zu haben, schreibt auch, daß er von der großen Anzahl der toten Pferde am Wegrand und von dem sonstigen Kriegsgerümpel, das die sich fortwindende Armee als ihre Spur hinterließ, derart betroffen gewesen sei, daß er von dem, was ihn seinerzeit mit Entsetzen erfüllte, inzwischen keinerlei genaueren Begriff mehr habe. Die Gewalt des Eindruckes hätte diesen selber, so käme es ihm vor, zunichte gemacht. Die nachstehende Zeichnung ist darum bloß anzusehen als eine Art Hilfsmittel, durch welches Beyle versucht, sich zu vergegenwärtigen, wie es war, als der Truppenteil, mit dem er sich fortbewegte, in der Nähe des Dorfes und der Festung Bard unter Feuer kam.

B ist das Dorf Bard. Die drei C auf der Anhöhe zur Rechten bezeichnen die Kanonen der Festung, welche die Punkte L L L auf dem über dem jähen Abhang P sich hinziehenden Weg unter Beschuß nehmen. Wo das X steht, im Abgrund, liegen die in wahnsinniger Angst vom Weg unrettbar hinuntergestürzten Pferde, und H steht für Henri, die eigene Position des Erzählers. Freilich wird Beyle, als er sich auf diesem Punkt befand, die Sache so nicht gesehen haben, denn in Wirklichkeit ist, wie wir wissen, alles immer ganz anders.

Im übrigen schreibt Beyle, es sei selbst da, wo man über lebensnahere Erinnerungsbilder verfüge, auf diese nur wenig Verlaß. Nicht anders als die großartige Erscheinung des Generals Marmont in Martigny, vor Beginn des Aufstiegs, habe, unmittelbar nach der Überwindung der schwersten Strecke des Wegs, der Abstieg von der Paßhöhe und das gegen die Morgensonne sich öffnende St. Bernhardstal einen in seiner Schönheit unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht. Er sei damals aus dem Schauen überhaupt nicht mehr herausgekommen, und fortwährend seien ihm dabei die ersten italienischen Worte — quante miglia ci sono da qui a Ivrea und donna cattiva — durch den Kopf gegangen, die ihm tags zuvor ein Pfarrer, bei dem er einquartiert war, beigebracht hatte. Beyle schreibt, er habe lange Zeit in dem Glauben gelebt, sich an diesen Ritt in allen Einzelheiten erinnern zu können, insbesondere an das Bild, in dem sich, bei schon abnehmendem Licht, die Stadt Ivrea aus einer Entfernung von etwa einer dreiviertel Meile ihm zum erstenmal dargeboten habe. Wo es aus dem breiter werdenden Tal langsam in die Ebene hinausgeht, lag sie, etwas zur Rechten, während links, in die Tiefe der Entfernung hinein, sich die Berge erhoben, der Resegone di Lecco, der ihm später noch soviel bedeuten sollte, und ganz im Hintergrund wohl der Monte Rosa.

Es sei, schreibt Beyle, für ihn eine schwere Enttäuschung gewesen, als er vor einigen Jahren bei der Durchsicht alter Papiere auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure gestoßen sei und sich habe eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von ebendieser Gravure. Man sollte darum, so rät Beyle, keine Gravuren von schönen Aus- und Ansichten kaufen, die man auf Reisen sehe. Denn eine Gravure besetze bald schon den ganzen Platz der Erinnerung, die wir von etwas hätten, ja, man könne sogar sagen, sie zerstöre diese. An die wundervolle Madonna von San Sisto beispielsweise, die er in Dresden gesehen habe, könne er sich bei aller Anstrengung nicht mehr erinnern, weil sie von der Gravure, die Müller von ihr gemacht habe, überdeckt worden sei, wohingegen er nach wie vor die miserablen Pastelle von Mengs aus derselben Galerie, von denen ihm nie und nirgends eine Nachzeichnung untergekommen sei, auf das deutlichste vor Augen habe.

In Ivrea, wo sämtliche Häuser und öffentlichen Plätze von der biwakierenden Armee belegt waren, gelang es Beyle, für sich und den Capitaine Burelvillers, in dessen Gesellschaft er in die Stadt eingeritten war, im Warenlager einer Färberei zwischen allerlei Fässern und kupfernen Kesseln ein von einer eigenartig säuerlichen Luft durchwehtes Quartier aufzutun, das er, kaum war er abgestiegen, auch schon gegen eine marodierende Horde verteidigen mußte, die die Fensterläden und Türen aus ihren Angeln reißen wollte, um sie in das Lagerfeuer zu werfen, das sie in der Mitte der Hofstatt angeschürt hatte. Beyle fühlte sich, nicht allein durch diese Tat, sondern durch die Erlebnisse der letztvergangenen Tage überhaupt, großjährig geworden und begab sich, in einem Anflug von Unternehmungslust, weder seines Hungers noch seiner Übermüdung, noch des Einspruchs des Capitaines achtend, in das Emporeum, wo, wie er auf mehreren Affichen angezeigt gesehen hatte, an diesem Abend Cimarosas Il Matrimonio Segreto gegeben wurde.

Beyles Phantasie, die schon aufgrund der allseits herrschenden Irregularität stark in Bewegung war, wurde nun durch die Musik Cimarosas noch weiter aufgewühlt. Bereits an jener Stelle des ersten Aufzugs, an der die insgeheim verehelichten Paolino und Caroline ihre Stimmen zu dem angstvollen Duett Cara, non dubitar: pietade troveremo, se il ciel barbaro non è vereinigen, glaubte er, nicht nur selber auf den Brettern der primitiven Bühne, sondern tatsächlich im Hause des schwerhörigen Bologneser Handelsherrn zu stehen und dessen jüngste Tochter in den Armen zu halten. So sehr zog es ihm das Herz zusammen, daß ihm im weiteren Verlauf der Aufführung wiederholt die Tränen in die Augen traten und er beim Verlassen des Emporeums überzeugt war, daß die Actrice, die die Caroline gegeben und die, wie er mit Sicherheit bemerkt zu haben glaubte, ihren Blick mehr als einmal eigens auf ihn gerichtet hatte, ihm die von der Musik versprochene Glückseligkeit würde bieten können. Es störte ihn keineswegs, daß das linke Auge der Sopranistin bei der Bewältigung der schwierigeren Koloraturen sich ein wenig nach außen hin verdrehte, noch daß ihr der rechte obere Eckzahn fehlte; vielmehr machten sich seine exaltierten Gefühle gerade an diesen Defekten fest. Er wußte jetzt, wo das Glück zu suchen sei; nicht in Paris, wo er es vermutet hatte, als er noch in Grenoble gewesen war, und nicht in den Bergen der Dauphiné, in die er sich in Paris manches Mal zurückgesehnt hatte, sondern hier in Italien, in dieser Musik, im Angesicht einer solchen Schauspielerin. An dieser Überzeugung vermochten auch die obszönen Späße über die zweifelhaften Sitten der Damen vom Theater nichts zu ändern, mit denen ihn der Capitaine am nächsten Morgen aufzog, als sie, Ivrea hinter sich lassend, auf Mailand zu ritten und Beyle die Bewegung in seinem Herzen ausufern fühlte in die Weite der frühsommerlichen Landschaft, aus welcher ihn eine unübersehbare Vielzahl von Bäumen mit frischem Grün von überall her grüßte.

Am 23. September 1800, etwa drei Monate nach seiner Ankunft in Mailand, wird Henri Beyle, der bis dato in den Büros der Botschaft der Republik in der Casa Bovara Schreibarbeiten versehen hatte, dem 6. Dragonerregiment als Souslieutenant zugeteilt. Die zur Komplettierung seiner Uniform nötigen Anschaffungen laufen schnell ins Geld, übersteigen doch die Ausgaben für die hirschledernen Hosen, für den vom Nacken bis zum Scheitel mit gestutztem Roßhaar besetzten Helm, für die Stiefel, die Sporen, die Gürtelschnallen, Brustriemen, Epauletten, die Knöpfe und Rangabzeichen bei weitem den für seinen sonstigen Unterhalt nötigen Aufwand. Freilich fühlt Beyle sich, wenn er jetzt seine Gestalt im Spiegel betrachtet oder gar in den Augen der Mailänder Frauen den Reflex seines Eindrucks wahrzunehmen glaubt, wie verwandelt. Es ist ihm, als sei es ihm endlich gelungen, aus seinem untersetzten Körper zu fahren, als habe der hohe gestickte Stehkragen ihm den zu kurzen Hals gestreckt.

Selbst seine weit auseinanderliegenden

deretwegen er zu seinem Leidwesen oft Le Chinois genannt wird, scheinen aufeinmal kühner, mehr auf eine imaginäre Mitte zu gerichtet. Tagelang läuft der siebzehneinhalbjährige Dragoner nach seiner Einkleidung mit einer Erektion herum, ehe er es wagt, sich seiner aus Paris mitgebrachten Unschuld zu entledigen. An den Namen oder das Gesicht der donna cattiva, die ihm bei diesem Geschäft assistierte, vermag er sich später nicht mehr zu erinnern. Die gewaltsame Empfindung, schreibt er, habe jede Erinnerung daran in ihm ausgelöscht. So gründlich geht Beyle in den nachfolgenden Wochen in die Lehre, daß ihm in der Retrospektive sein Eintritt in die Welt verschwimmt mit seinen Aufenthalten in den Bordellen der Stadt und daß er noch vor Ende des Jahres die Schmerzen einer Infektion sowie der Quecksilber- und Jodkalibehandlung zu spüren bekommt. Das hindert ihn jedoch nicht, zu gleicher Zeit an der Ausbildung einer sehr viel abstrakteren Passion zu arbeiten. Das Objekt seines Anbetungsbedürfnisses ist Angela Pietragrua

die Maitresse seines Kameraden Louis Joinville, die den häßlichen jungen Dragoner aber nur ab und zu mit einem ironisch-mitleidsvollen Blick streift.

Erst elf Jahre später, als Beyle Mailand und Angela, der Unvergeßlichen, nach langer Abwesenheit wieder einen Besuch abstattet, findet er den Mut, ihr, die sich seiner kaum noch erinnert, seine hohen Gefühle zu erklären. Angela ist die Leidenschaft dieses seltsamen Liebhabers nicht recht geheuer, und sie versucht, die gespannte Lage zu entschärfen, indem sie einen Ausflug in die Villa Simonetta vorschlägt, wo ein weithin berühmtes Echo einen Pistolenschuß bis an die fünfzig Mal wiederholt. Doch die Verzögerungsstrategie verschlägt nichts. Lady Simonetta, wie Beyle Angela Pietragrua von nun an nennt, sieht sich schließlich gezwungen, vor der, wie ihr scheint, irrsinnigen Beredsamkeit, die Beyle ihr gegenüber entwickelt, zu kapitulieren. Immerhin gelingt es ihr, ihm das Versprechen abzunötigen, daß er sich, nach gewährter Gunst, ohne weiteren Verzug aus Mailand entfernen werde. Beyle akzeptiert diese Bedingung widerspruchslos und verläßt das so lange vermißte Mailand noch am selben Tag, nicht ohne das Datum und den Zeitpunkt seiner Eroberung, den 21. September, halb zwölf Uhr morgens, auf seinen Hosenträgern vermerkt zu haben. Als er, der ewig irgendwo Herumreisende, wieder in der Diligence sitzt und das schöne Gelände draußen an ihm vorbeizieht, fragt er sich, ob er je andere Siege als diesen eben errungenen davontragen wird. Beim Einnachten beschleicht ihn die ihm inzwischen wohlvertraute Melancholie, ganz ähnliche Schuld- und Inferioritätsgefühle, wie sie ihn im Ausgang des Jahres 1800 erstmals nachhaltig geplagt hatten. Den ganzen Sommer über hatte ihn die auf die Schlacht von Marengo folgende allgemeine Euphorie wie auf Schwingen getragen; mit der größten Faszination hatte er in den Intelligenzblättern die fortlaufenden Berichte von der oberitalienischen Kampagne gelesen; Freilichtaufführungen, Bälle und Illuminationen hatte es gegeben, und als der Tag gekommen war, an dem er erstmals die Uniform anlegen durfte, war es ihm, als sei sein Leben endgültig eingeordnet in ein vollendetes oder doch der Vollendung zustrebendes System, in dem Schönheit und Schrecken in einer exakten Relation zueinander standen. Der Spätherbst aber hatte die Schwermut gebracht. Der Dienst in der Garnison bedrückte ihn in zunehmendem Maße, Angela schien tatsächlich keine Augen für ihn zu haben, die Krankheit brach aus, und immer wieder untersuchte er mit einem Spiegel die

Entzündungen und Geschwüre in seiner Mundhöhle und in der Tiefe seines Rachens und die fleckigen Stellen an den Innenseiten seiner Schenkel.

Zu Beginn des neuen Säkulums sah Beyle in der Scala noch einmal Il Matrimonio Segreto, aber obgleich der theatralische Rahmen vollkommen und die Darstellerin der Caroline von großer Schönheit war, gelang es ihm nicht, wie damals in Ivrea, sich in der Gesellschaft der Handelnden zu wähnen. Vielmehr war er jetzt so weit von allem entfernt, daß ihm die Musik, wie er sicher zu spüren glaubte, beinahe das Herz gebrochen hätte. Der Applaus, der das Opernhaus am Ende der Aufführung durchtoste, kam ihm vor wie der Schlußakt einer Zerstörung, wie das von einem riesigen Brand verursachte Prasseln, und lange Zeit blieb er noch sitzen wie betäubt von der Hoffnung, daß das Feuer ihn aufzehren möge. Als einer der letzten Gäste verließ er dann die Garderobe, warf beim Hinausgehen seitwärts noch einen Blick auf sein Spiegelbild und stellte sich angesichts seiner selbst zum erstenmal jene Frage, mit der er sich die nächsten Jahrzehnte auseinandersetzen sollte — woran geht ein Schriftsteller zugrunde? Es schien ihm in Anbetracht dieser Umstände besonders bedeutungsvoll, als er ein paar Tage nach diesem denkwürdigen Abend in einer Gazette las, daß Cimarosa am 11. d. M. in Venedig über der Arbeit an seiner neuen Oper Artemisia vom Tod überrascht worden sei. Am 17. Januar wurde die Artemisia im Teatro La Fenice uraufgeführt. Es war ein ungeheurer Erfolg. Seltsame Gerüchte begannen danach zu kursieren, dahingehend, daß man Cimarosa, der in Neapel in die revolutionäre Bewegung verwickelt gewesen war, auf Anordnung der Königin Caroline vergiftet habe. Andere Mutmaßungen besagten, Cimarosa sei an den Folgen der ihm in den neapolitanischen Gefängnissen widerfahrenen Mißhandlungen gestorben. Diese Gerüchte, die Beyle wiederholt Alpträume verursachten, in denen alles, was er in den vergangenen Monaten erlebt hatte, auf die entsetzlichste Weise durcheinanderging, hielten sich mit großer Hartnäckigkeit und waren auch dann noch nicht aus der Welt geschafft, als der Leibarzt des Papstes nach einer eigens anberaumten Untersuchung des Leichnams Cimarosas erklärte, ein Wundbrand sei die Ursache des Todes gewesen.

Beyle brauchte längere Zeit, um sich über diese Ereignisse einigermaßen zu beruhigen. Das ganze Frühjahr hindurch litt er an Fieberanfállen und gastrischen Krämpfen, die teils mit Chinarinde, teils mit Ipécacuana und einer Paste aus Pottasche und Antimon behandelt wurden, was seinen Zustand so weit verschlimmerte, daß er mehr als einmal sein Ende gekommen glaubte. Erst mit Anfang des Sommers legten sich allmählich seine Befürchtungen und mit ihnen das Fieber und die grauenhaften Schmerzen des Magens. Sobald er einigermaßen wiederhergestellt war, begann Beyle, der, abgesehen von der Feuertaufe in Bard, selbst noch in keinem Gefecht gestanden hatte, die Stätten in Augenschein zu nehmen, auf denen die großen Schlachten der letzten Jahre sich zugetragen hatten. Stets aufs neue durchquerte er dabei die ihm, wie er merkte, nun schon sehr ans Herz gewachsene lombardische Landschaft, in deren Entfernung graue und blaue Farbbänder sich immer feiner voneinander absonderten, um sich zuletzt am Horizont in einer Art Höhenrauch aufzulösen.

So hält Beyle, von Tortone her kommend, in den frühen Morgenstunden des 27. September 1801 auf dem weiten und stillen Gefild — einzig die aufsteigenden Lerchen sind zu hören —, auf dem am 25. Prairial des Vorjahres, vor genau fünfzehn Monaten und fünfzehn Tagen, wie er vermerkt, die Schlacht von Marengo stattgefunden hatte. Die entscheidende Wendung dieser Schlacht, herbeigeführt von der furiosen Reiterattacke Kellermanns, die, als alles bereits verloren schien, die österreichische Hauptmacht im Licht der niedergehenden Sonne von der Seite her aufriß, war ihm aus zahllosen Erzählvarianten vertraut, und auch er selbst hatte sie sich verschiedentlich und in vielerlei Farben ausgemalt. Nun aber überblickte er die Ebene, sah vereinzelte tote Bäume aufragen, und er sah die weithin verstreuten, zum Teil schon völlig gebleichten und vom Tau der Nacht glänzenden Gebeine der vielleicht 16.000 Männer und 4000 Pferde, die hier um ihr Leben gekommen waren. Die Differenz zwischen den Bildern der Schlacht, die er in seinem Kopf trug, und dem, was er als Beweis dessen, daß die Schlacht sich wahrhaftig ereignet hatte, nun vor sich ausgebreitet sah, diese Differenz verursachte ihm ein noch niemals zuvor gespürtes, schwindelartiges Gefühl der Irritation. Möglicherweise machte aus diesem Grund die Gedenksäule, die man auf dem Schlachtfeld errichtet hatte, einen, wie er schreibt, äußerst mesquinen Eindruck auf ihn. Sie entsprach in ihrer Schäbigkeit weder seiner Vorstellung von der Turbulenz der Schlacht von Marengo noch dem riesigen Leichenfeld, auf welchem er sich nunmehr befand, mit sich allein

wie ein Untergehender.

Zurückdenkend an diesen Septembertag auf dem Feld von Marengo schien es Beyle späterhin oft, als habe er die folgenden Jahre, sämtliche Kampagnen und Katastrophen, selbst den Sturz und die Verbannung Napoleons damals vorausgesehen und als sei ihm zu diesem Zeitpunkt klar geworden, daß er sein Glück nicht im Dienst der Armee würde machen können. Jedenfalls war es in jenen Herbstwochen gewesen, daß er den Entschluß faßte, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Dezidierte Schritte zur Erfüllung dieses Wunschtraums unternahm er jedoch nicht eher, als bis die Dissolution des Kaiserreichs sich abzuzeichnen begann, und ein wirklicher Durchbruch in die Literatur gelang ihm eigentlich erst mit der Schrift De l’amour, die er im Frühjahr 1820 als eine Art Resumé der so hoffnungsvollen wie unglücklichen Zeit verfaßte, die dieser Arbeit vorangegangen war.

Beyle, in diesen Jahren wie sonst auch viel zwischen Frankreich und Italien unterwegs, machte im März 1818 die Bekanntschaft der Métilde Dembowski Viscontini in ihrem Mailänder Salon. Métilde, mit einem um nahezu dreißig Jahre älteren polnischen Offizier verheiratet, war achtundzwanzig und eine große, melancholische Schönheit. Beyle war, nach Ablauf von etwa einem Jahr, in welchem er zu den regelmäßigen Besuchern in den Häusern an der Piazza delle Galline und der Piazza Belgioioso gehörte, schon beinahe auf dem Punkt, die Zuneigung Métildes durch seine mit schweigsamer Diskretion ihr angetragene Leidenschaft zu gewinnen, als er sich selbst seine Chancen durch eine, wie er sich im nachhinein sagen mußte, nicht wiedergutzumachende gaffe durchkreuzte.

Métilde war nach Volterra gefahren, um ihre dort in der Klosterschule San Michele untergebrachten beiden Söhne zu besuchen, und Beyle, unfähig, auch nur ein paar Tage zu ertragen, ohne Métilde SEHEN zu können, war ihr inkognito nachgereist. Er hatte es einfach nicht fertiggebracht, den letzten Anblick, den er von Métilde am Vorabend ihrer Abfahrt aus Mailand noch erhascht hatte, sich aus dem Sinn zu schlagen. Sie hatte sich beim Abschied im Foyer ihres Hauses niedergebeugt, um etwas an ihrem Schuh zu richten, und plötzlich war um ihn her alles versunken, und er hatte hinter ihr, in einer tiefen Finsternis, wie durch Rauchschwaden hindurch, eine rote Wüste sich auftun sehen. Diese Vision versetzte ihn in einen tranceartigen Zustand, in welchem er sich dann zur Verkleidung seiner Person anschickte. Er kaufte sich einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen, und in dieser Aufmachung ging er in Volterra herum und versuchte, Métilde, sooft als nur möglich, wenigstens aus einiger Distanz zu sehen. Beyle glaubte sich zunächst tatsächlich unerkannt, stellte dann aber mit noch größerer Befriedigung fest, daß Métilde ihm vielsagende Blicke zuschickte. Er beglückwünschte sich selbst zu dem patenten Arrangement und brummte die ganze Zeit über nach einer selbstgefertigten Melodie die ihm irgendwie besonders originell vorkommenden Worte Je suis le compagnon secret etfamilier. Métilde hingegen, die sich, wie man sich leicht denken kann, durch diese Veranstaltung Beyles als kompromittiert empfand, bedachte ihn, als sein unerklärliches Verhalten ihr schließlich allzu lästig wurde, mit einem sehr trockenen Billett, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzte.

Beyle war untröstlich. Monatelang machte er sich Vorhaltungen, und erst als er sich entschließt, seine große Passion in eine Denkschrift über die Liebe umzusetzen, findet er wieder sein seelisches Equilibrium. Auf seiner Schreibtischplatte liegt, zum Andenken an Métilde,

ein Gipsabdruck ihrer linken Hand, den sich zu verschaffen ihm kurz vor dem Debakel, glücklicherweise, wie er beim Schreiben des öfteren denkt, noch gelungen war. Diese Hand bedeutet ihm nun beinahe ebensoviel, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere ist es die leichte Krümmung des Ringfingers, die ihm Emotionen von einer Heftigkeit verursacht, wie er sie bisher noch nicht erfahren hat.

In der Schrift Über die Liebe wird von einer Reise erzählt, die der Autor von Bologna aus in Begleitung einer Mme Gherardi, die er bisweilen auch nur la Ghita nennt, gemacht haben will. Diese Ghita, die am Rand von Beyles späterem Werk noch einige Male in Erscheinung tritt, ist eine mysteriöse, um nicht zu sagen geisterhafte Gestalt. Es gibt Grund für die Vermutung, daß Beyle ihren Namen als Chiffre für verschiedene seiner Liebhaberinnen wie Adèle Rebuffel, Angéline Bereyter und nicht zuletzt für Métilde Dembowski einsetzte und daß Mme Gherardi, deren Leben, wie Beyle an einer Stelle schreibt, leicht einen ganzen Roman ausmachte, allen dokumentarischen Angaben zum Trotz in Wirklichkeit gar nicht existiert hat und nur eine Art Phantomfigur gewesen ist, der Beyle dann jahrzehntelang die Treue gehalten hat. Unklar bleibt ferner, wann in Beyles Leben die Reise mit Mme Gherardi, sollte er sie tatsächlich gemacht haben, unternommen wurde. Da jedoch gleich eingangs der Erzählung viel vom Gardasee die Rede ist, so scheint es wahrscheinlich, daß manches von dem, was Beyle im September 1813 erlebte, als er sich zur Rekonvaleszenz an den oberitalienischen Seen aufhielt, in den Bericht von der Reise mit Mme Gherardi mit eingegangen ist.

Beyle befand sich im Herbst des Jahres 1813 in einer anhaltenden elegischen Stimmung. Im vorhergehenden Winter hatte er den grauenhaften Rückzug aus Rußland mitgemacht, und im Anschluß daran hatte er einige Zeit, mit Verwaltungsgeschäften betraut, in Sagan in Schlesien verbracht, wo er im Hochsommer von einer schweren Krankheit befallen wurde, in deren Verlauf Bilder des großen Brandes von Moskau und Bilder von der Besteigung des Schneekopfes, die er unmittelbar vor Ausbruch des Fiebers geplant hatte, ihm immer wieder die Sinne verwirrten. Mal um Mal sah Beyle sich auf dem Gipfel des Berges, abgeschnitten von aller Welt und umgeben von den waagrecht im Unwetter flatternden Fahnen des Schnees und von den Flammen, die ringsum aus den Dächern der Häuser schlugen.

Der Erholungsurlaub, den er, nach seiner Genesung, in Oberitalien antrat, war bestimmt von einem Gefühl der Schwäche und Friedfertigkeit, das ihm die umliegende Natur sowohl als die ihn fortwährend bewegende Sehnsucht nach Liebe in einem für ihn ganz neuen Licht erscheinen ließ. Eine eigenartige, nie zuvor verspürte Leichtigkeit ergriff Besitz von ihm, und es ist die Erinnerung an diese Leichtigkeit, die den sieben Jahre später geschriebenen Bericht von der möglicherweise bloß imaginären Reise mit der wahrscheinlich gleichfalls nur imaginären Begleiterin durchzieht.

Der Ausgangspunkt der Erzählung ist Bologna, wo in den ersten Juliwochen eines, wie gesagt, nicht mit Genauigkeit anzugebenden Jahres eine solch unerträgliche Hitze herrscht, daß Beyle und Mme Gherardi beschließen, einige Wochen in der frischeren Luft des Gebirges zuzubringen. Bei Tag rastend, bei Nacht reisend, durchqueren sie das Hügelland der Emilia-Romagna und die von schwefligen Schwaden überhangenen Sümpfe von Mantua, um am Morgen des dritten Tages in Desenzano am Gardasee anzulangen. In seinem ganzen Leben nicht, schreibt Beyle, habe er die Schönheit und Einsamkeit dieses Gewässers tiefer empfunden als damals. Der drückenden Hitze wegen hätten er und Mme Gherardi die Abende auf dem See draußen auf einer Barke verbracht und im Einbruch der Dunkelheit die seltensten Abstufungen der Farben gesehen und die unvergeßlichsten Stunden der Stille erlebt. An einem dieser Abende hätten sie sich, so schreibt Beyle, über das Glück unterhalten. Mme Gherardi habe dabei die Behauptung aufgestellt, daß die Liebe, wie die meisten anderen Segnungen der Zivilisation, eine Chimäre sei, nach der es uns um so mehr verlange,je weiter wir uns entfernten von der Natur. In dem Maße, in dem wir die Natur nur in einem anderen Körper noch suchten, kämen wir ab von ihr, denn die Liebe sei eine Leidenschaft, die ihre Schulden in einer von ihr selbst erfundenen Währung begleiche, ein Scheingeschäft also, das man zu seinem Glück ebensowenig brauche wie den Apparat zum Zuschneiden der Federkiele, den er, Beyle, sich in Modena gekauft habe. Oder glauben Sie etwa, so habe sie, schreibt Beyle, noch hinzugefügt, Petrarca sei unglücklich gewesen, nur weil er nie einen Kaffee trinken konnte?

Wenige Tage nach diesem Gespräch setzten Beyle und Mme Gherardi ihre Reise fort. Da die Luft über dem Gardasee um Mitternacht von Norden nach Süden, einige Stunden vor Morgengrauen aber von Süden nach Norden weht, fuhren sie zunächst das Ufer entlang nach Gargnano bis auf die halbe Höhe des Sees und nahmen dann dort eine Barke, auf der sie, eben als der Tag anbrach, in den kleinen Hafen von Riva einliefen, wo schon zwei Knaben auf der Kaimauer beim Würfelspiel saßen. Beyle machte Mme Gherardi auf einen schweren alten Kahn aufmerksam, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der anscheinend auch vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen gerade eine Bahre an Land trugen, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Mme Gherardi fühlte sich von dieser Szene derart ungut berührt, daß sie darauf bestand, ohne jeden weiteren Verzug von Riva abzureisen.

Je tiefer sie nun in die Berge hineinkamen, desto kühler und grüner wurde es um sie herum, worüber sich Mme Gherardi, die so oft unter den staubschweren Sommern ihrer Heimat zu leiden hatte, aufs äußerste entzückt zeigte. Das düstere Ereignis von Riva, das sie in der Erinnerung noch einige Male überlief wie ein Schatten, war bald vergessen und machte einem solchen Übermut Platz, daß sie sich vor lauter Freude in Innsbruck einen weitkrempigen Tirolerhut kaufte, wie wir ihn aus Abbildungen des Hoferschen Aufgebots kennen, und Beyle, der hier eigentlich hatte umkehren wollen, veranlaßte, mit ihr noch weiter das Inntal hinab über Schwaz und Kufstein bis nach Salzburg zu fahren. Dort versäumten sie es während eines mehrtägigen Aufenthalts nicht, die weithin berühmten unterirdischen Galerien des Halleiner Salzbergwerks zu besuchen, wo Mme Gherardi von einem der Mineure ein zwar toter, dafür aber von Tausenden von Kristallen überzogener Zweig zum Geschenk gemacht wurde, an welchem, als sie wieder an den Tag zurückgekehrt waren, die Strahlen der Sonne so vielfach glitzernd sich brachen wie sonst, so schreibt Beyle, nur das Licht eines hell erleuchteten Ballsaals an den Diamanten der von den Kavalieren im Kreise herumgeführten Damen.

Der langwierige Prozeß der Kristallisation, der den toten Zweig in ein wahres Wunderwerk verwandelt hatte, schien Beyle, wie er eigens ausführt, eine Allegorie für das Wachstum der Liebe in den Salzbergwerken unserer Seelen. Lange redete er, dieses Gleichnis betreffend, auf Mme Gherardi ein. Mme Gherardi aber war nicht bereit, von der kindlichen Seligkeit, die sie an diesem Tag bewegte, abzulassen, um mit Beyle den tieferen Sinn der, wie sie spöttisch anmerkte, zweifellos sehr schönen Allegorie zu erörtern. Beyle empfand dies als eine Demonstration der auf der Suche nach einer seiner Gedankenwelt entsprechenden Frau unvermittelt immer wieder auftauchenden Schwierigkeiten, und er vermerkt, er habe damals eingesehen, daß auch die extravagantesten Veranstaltungen seinerseits diese Schwierigkeiten nicht würden aus dem Weg räumen können. Damit war er bei einem Thema angelangt, das ihn als Schriftsteller auf Jahre hinaus noch beschäftigen sollte. So sitzt er etwa 1826 — er ist nun nahezu vierzig — allein auf der von zwei schönen Bäumen überschatteten und von einem Mäuerchen

umgebenen Bank im Garten des Klosters

der Minori Osservanti hoch überhalb

des Albaner Sees

und zeichnet langsam, mit dem Stock, den er jetzt meistens mit sich führt, die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Staub.

Die Initialen stehen für Virginie Kubly, Angela Pietragrua, Adèle Rebuffel, Mélanie Guilbert, Mina de Griesheim, Alexandrine Petit, Angéline (que je n’ai jamais aimé) Bereyter, Métilde Dembowski, für Clémentine, Giulia und Mme Azur, an deren Vornamen er sich nicht erinnert. So wie er die Namen dieser, wie er schreibt, ihm nun fremd gewordenen Sterne nicht mehr versteht, so schien es ihm schon, als er seine Schrift Über die Liebe verfaßte, letzten Endes unbegreiflich, weshalb Mme Gherardi immer dann, wenn er sich mühte, sie zum Glauben an die Liebe zu überreden, ihm sei es etwas melancholische, sei es scharfzüngige Antworten gab. Besonders verletzt fühlte Beyle sich jedoch vor allem, wenn Mme Gherardi, wie das oft genug geschah, zu einem Zeitpunkt, da er selbst sich von den Gründen ihrer Philosophie resignierend überzeugte, den von der Kristallisation des Salzes hervorgerufenen Illusionen der Liebe doch einen gewissen Wirklichkeitswert zusprach. Ihn entsetzte dann ein plötzliches Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit und ein schwerwiegendes Gefühl der Versäumnis. Im Herbst des Jahres ihrer gemeinsamen Reise in die Alpen war dies, wie Beyle mit großer Deutlichkeit erinnert, einmal der Fall gewesen, als sie, ausreitend auf der Cascata del Reno, die Liebesleiden des Malers Oldofredi erörterten, die damals gerade das Stadtgespräch bildeten. Beyle, der es immer noch nicht aufgegeben hatte, sich auf die Gunst Mme Gherardis, die seiner geistreichen Konversation zumeist sehr zugetan war, Hoffnungen zu machen, fühlte sich, als sie, ganz zu sich selbst, wie es ihn dünkte, von einem göttlichen Glück zu reden begann, dem nichts im Leben zu vergleichen sei, von einem furchtbaren Schrecken befallen und bezeichnete, wobei er wohl mehr an sich selbst als an Oldofredi denken mochte, diesen als einen armen Ausländer. Danach ließ er sein Pferd mehr und mehr von demjenigen Mme Gherardis, die, wie gesagt, möglicherweise ohnehin nur in seiner Vorstellung existierte, Abstand nehmen, und sie legten die drei Meilen, die sie von Bologna noch entfernt waren, ohne ein weiteres Wort zu wechseln zurück.

Beyle verfaßte seine großen Romane in den Jahren zwischen 1829 und 1842, immer wieder geplagt von den Symptomen seiner syphilitischen Erkrankung. Schlingbeschwerden, Schwellungen unter den Achseln und Schmerzen in seinen schrumpfenden Hoden machten ihm besonders zu schaffen. Als der gründliche Beobachter, der er nun geworden war, führte er aufs genauste Buch über die Schwankungen seines Gesundheitszustands