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Der Weltklassiker - Zeitgemäß, lebendig und modern wie noch nie Die ›Bhagavad Gita‹, übersetzt »Gottes Gesang«, ist ein spirituelles Lehrgespräch am Vorabend eines verheerenden Krieges. In der wohl krisenhaftesten Situation seines Lebens sucht der Krieger Arjuna Rat bei seinem Lehrer Krishna und erhält so Antworten auf zahlreiche Seinsfragen, die die Menschheit seit jeher bewegen: Wie kann es gelingen, angesichts all der Widrigkeiten und Zwänge der Welt ein gutes, glückliches Leben zu führen? Wie können wir in unserem Alltag bestehen, ohne »unter die Räder« zu kommen, und uns gleichzeitig moralisch richtig verhalten? Ein hochmodernes, psychologisches und spirituelles Lehrstück über unsere Verirrungen und Verwirrungen und über die Möglichkeit, unseren Geist zu einer Klarheit zu führen, in der unsere spirituelle Essenz aufscheinen kann.
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Seitenzahl: 242
Die Bhagavad Gita
Das Weisheitsbuch fürs 21. Jahrhundert
übertragen und erläutert von Ralph Skuban
Deutscher Taschenbuch Verlag
Neuübertragung 2013
© 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41936-9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34786-0
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www.dtv.de/ebooks
Ein kurzer Hinweis zu dieser Übertragung
Dieses Buch enthält die vollständige Übertragung der Bhagavad Gita – bis auf eine kleine Ausnahme: Im ersten Kapitel findet sich normalerweise eine Passage, in welcher viele Krieger und die Waffen, die sie führen, namentlich genannt werden. Diesen Textabschnitt habe ich weggelassen. Die bloße Aufzählung von Figuren aus dem Epos Mahabharata, die in der Gita selbst jedoch nicht auftreten, wäre eine ermüdende Lektüre und nicht von Bedeutung im Hinblick auf das Verständnis der Schrift.
Der Große Weg ist ohne Tor.
Tausend verschiedene Straßen gibt es.
Wer einmal diese Schranke durchschritt,
spaziert in Freiheit im Weltall umher.
Aus dem Mumonkan
(Zen-Schrift, Japan, 13. Jh.)
Es heißt, gut Ding will Weile haben. Für dieses Buch gilt das ganz sicher. Es ist nun schon ein paar Jahre her, dass ich mich erstmals daran wagte, die Bhagavad Gita, das heilige Buch Indiens, ins Deutsche zu übertragen und einen Kommentar dazu zu schreiben. Ich merkte bald, dass die Reise länger dauern würde, als ich zunächst angenommen hatte: dass ich nämlich einen Umweg gehen und viel tiefer noch in die Philosophie und Psychologie des Yoga eintauchen musste, um die Botschaft der Gita in einer Weise aufzuschließen, die sich in eine sinnvolle Beziehung zu unserer modernen westlichen Lebenswelt setzen ließe. Dieser Umweg führte über das Yogasutra von Patanjali, das wohl wichtigste Grundlagenwerk des Yoga. Erst in der Beschäftigung mit diesem Text, die in ein eigenes Buchprojekt mündete, begegnete ich den Herausforderungen, deren Bewältigung die Voraussetzung dafür war, die große Weisheit der Gita zu transportieren: Denn sie ist unendlich viel tiefgründiger, als es die äußerliche Leichtigkeit des Textes vermuten lässt – eben das macht einen Teil ihrer Magie aus. Auf jeder Stufe unserer Entwicklung hat sie uns etwas mitzuteilen. Und je mehr wir wachsen, desto größer wird auch sie – es ist fast so, als wäre diese alte Schrift ein lebendiges Wesen.
Die Bhagavad Gita ist ein Lebensbuch, das immer wieder gelesen werden kann und will, ein echtes Vademecum: Jeden Tag vermag sie aufs Neue zu uns zu sprechen. Und sie tut das stets auf liebevolle, tröstende, aber auch klärende Weise. Und manche Stellen sind schlicht erhebend. In ihr verschmelzen praktische Lebensweisheit, moderne Psychologie und zeitlose spirituelle Wahrheiten zu einem einzigartigen Amalgam und sichern dieser Schrift einen der vordersten Ränge unter den meistgelesenen Büchern der Menschheit.
Ralph Skuban
Penzberg, im Mai 2013
Bhagavad Gita heißt »Gesang des Herrn« oder »Gottes Lied«. Die Gita, wie diese Schrift auch gerne genannt wird, ist für Indien so wichtig wie die Heilige Schrift für das Abendland. Neben dem Tao Te King und der Bibel gehört sie zu den meistübersetzten Werken der Welt. Ihre Bedeutung geht also weit über Indien hinaus. Die etwa 700 Strophen oder Slokas der Gita sind in das große indische Epos Mahabharata eingebettet. Mit seinen 100 000 Versen ist es ungefähr achtmal so lang wie die antiken griechischen Epen Odyssee und Ilias zusammengenommen.
Die Gita ist ein spirituelles Lehrgespräch am Vorabend eines verheerenden Krieges, in einer Situation also, die man sich krisenhafter kaum vorstellen kann. Darin tritt der verzweifelte Krieger Arjuna als Schüler auf. Als solcher steht er für den Menschen an sich, das heißt: für uns alle. Krishna, sein Gesprächspartner und Lehrer, symbolisiert dagegen das Höchste: Wir mögen es Gott, das Absolute, Kosmisches Bewusstsein, Ursprung, Quelle, Tao oder auch ganz anders nennen – dies sind alles nur Namen für das, was unsagbar ist. Der wahre Name, so heißt es im Tao Te King, lässt sich nicht sagen. Wie könnte ein Wort auch das Unbegrenzte auf den Begriff bringen? Und doch hat die Gita nichts anderes zum Ziel, als auf das Unbegrenzte zu verweisen.
Die Gita ist also ein Dialog zwischen Mensch und Gott. Wenn wir östliche Weisheit, Mystik überhaupt, verstehen wollen, müssen wir uns vor Augen halten, dass Gott dort nicht als ein von uns getrenntes Wesen oder Prinzip verstanden wird, sondern als das fundamentale, unbeschreibliche und letztlich namenlose »Etwas«, das alles Sein durchdringt und sich in der ganzen Schöpfung zum Ausdruck bringt. Im Atharva Veda, der zu den Veden – einer grundlegenden Sammlung von Schriften aus Indien – gehört, heißt es: »Das eine Licht erscheint in vielfältigen Formen.« In der Gita wird Gott Brahman, das Höchste, genannt. Damit verbindet sich keine konkrete Form oder Gestalt, die sich zeitlich, örtlich oder gar persönlich festmachen ließe. Die Tatsache, dass Indien so viele Götter kennt, widerspricht dem nicht, ganz im Gegenteil: Die Götterwesen versinnbildlichen je eigene Aspekte dessen, was selbst über die Welt des Himmels hinausgeht: Brahman. Die Welt der Gottheiten oder Devas ist dabei nur die andere Seite der Unterwelt – Licht und Dunkel sind die zwei Seiten der Dualität. Der spirituelle Sucher will über beides hinaus. Im Mahabharata erreicht Yudishtira, Arjunas älterer Bruder, nach langer Pilgerschaft schließlich das Himmelstor. Indra, Gott der Götterwelt, unterzieht ihn zwei Prüfungen. Eine davon gewährt Yudishtira einen Blick in den Himmel, die andere zeigt ihm die Hölle – am Ende führt Indra ihn über beides hinaus zu Brahman – zur Befreiung.
Brahman lebt im spirituellen Denken Indiens als Atman in jedem Wesen. Im deutschen Wort »Atem« klingt noch etwas von diesem alten Sanskrit-Wort nach. Brahman, die alles umgreifende letzte Wirklichkeit, haucht uns Leben ein. Atman ist der Funke Gottes, der in uns leuchtet. Mehr noch: Atman ist das innere Licht, das wir sind. Wir sehen es nur nicht, weil wir verlernt haben hinzuschauen. Brahman ist Atman und Atman ist Brahman – Gott wohnt im Menschen und der Mensch in Gott.
Wenn Krishna zu Arjuna sagt, dass alle Wege zu ihm führen, bedeutet das: Auf welchen Wegen und wann auch immer, letztlich gelangt der Mensch zum Höchsten. Es mag länger dauern oder kürzer, nur wenige Leben lang oder viele. Es mag schmerzhaft sein oder nicht. Es kann auf dem Weg des Glaubens, des Handelns, der Meditation, der Kontemplation oder anders geschehen – die Route, die wir Menschen wählen, um den Gipfel des Bewusstseins zu erklimmen, für den die Figur des Krishna steht, ist nicht das Entscheidende. Wenn wir »oben« sind, sind wir angekommen. »Oben sein« meint: Im Zustand des Bewusstseins leben, dass wir eins sind mit allem, was ist. Dies ist Selbstverwirklichung. Das Höchste, das Absolute, Brahman oder Gott wird uns immer mit offenen Armen empfangen, egal woher wir kommen und woran wir glauben. Deshalb sagt Krishna in der Gita:
Auf welche Weise auch die Menschen mich suchen –
ich nehme sie an.
Das hat nichts von Exklusivität. Jeder hat die Möglichkeit, sich mit seiner spirituellen Essenz zu verbinden. Diese Verbindung heißt im Sanskrit Yoga. Doch auf den Weg machen müssen wir uns selber. Dabei sind »Weg« und »oben« auch schon wieder irgendwie verkehrte Worte, denn wir müssen eigentlich nirgendwohin, weil Atman, das innere Licht, ja schon immer in uns leuchtet. Wenn wir überhaupt »irgendwohin gehen« müssen, dann in unser eigenes Inneres, das ist der Weg der Mystik.
Das Wort Mystik kommt vom griechischen myein und meint: die Augen schließen. In der Meditation geschieht genau das: Wir schließen die Augen und ziehen die Sinne zurück, um uns der Weisheit unserer inneren Dimension zu öffnen. Krishna sagt im zweiten Kapitel der Gita:
Wer seine Sinne von den Objekten der Welt lösen kann,
so wie eine Schildkröte ihre Glieder einzieht,
dessen Weisheit schwankt nicht.
Wirklich große Werke sprechen zu uns auf verschiedenen Ebenen. Auch bei der Gita ist das der Fall. Der Dialog zwischen Krishna und Arjuna ist dramaturgisch angesiedelt auf einem Schlachtfeld, unmittelbar vor Beginn eines Kampfes. Der Krieger Arjuna ist vollkommen deprimiert angesichts des bevorstehenden Gemetzels, in welchem er auch gegen Freunde, Lehrer und Verwandte antreten muss. In seiner Verzweiflung wendet er sich an Krishna. Es entfaltet sich ein Gespräch, das sich als spirituelle Unterweisung zeigt, eine Unterweisung, die für Arjuna zur Offenbarung Gottes führt – obgleich er ein »ganz normaler« Mensch ist, der aktiv am Geschehen der Welt teilnimmt: Um zum Höchsten zu gelangen, müssen wir also nicht Haus, Hof und Familie verlassen, um in einem Ashram oder gar als Einsiedler zu leben. Allzu oft wird leider in der Übertragung indischer Texte in unsere Sprache die so wichtige Idee der Nichtanhaftung, Vairagya, als »Entsagung« gedeutet, was die eigentliche Botschaft völlig verkehrt. Vairagya, das Loslassen, meint viel mehr eine innere Haltung als eine äußere Handlung: Wenn wir den Dingen im Leben begegnen können und sie annehmen lernen, ohne uns gänzlich vom Wollen und Nichtwollen dominieren zu lassen, dann führt dies zu gelebter innerer Freiheit. Ein Reicher, der nicht dauernd fürchtet zu verlieren, was er besitzt, hat mehr Vairagya als ein Bettler, der sich täglich um das Grundlegendste sorgt und so im Materiellen feststeckt. Und ein Familienvater kann trotz erfüllenden Sexuallebens losgelöster leben als ein Priester, der im Zölibat seine körperliche Natur unterdrückt.
Die Tatsache, dass das Ausgangsszenario der Gita eine Schlacht ist und dass es – jedenfalls vordergründig – darum geht, ob Arjuna in diese Schlacht ziehen soll oder nicht, ob es richtig sein kann, sogar Verwandte und ehemalige Freunde zu töten, seien sie auch noch so böse, wirft die ewig aktuelle Frage des gerechten Krieges auf. Dürfen die Guten die Schlechten töten? Der gerechte Krieg – oder bellumiustum, wie man in lateinischer Sprache sagt – war immer schon ein wichtiges Thema der Philosophie. Und es ist natürlich legitim, die Gita auch so lesen zu wollen. Tragen wir diese äußere Schicht ab, dann öffnen sich weitere Ebenen.
Wir können die Dramaturgie der Gita auch als eine Metapher auf unser Leben deuten: Wie kann es gelingen, angesichts all der Schwierigkeiten, denen wir begegnen, ein gutes, mit Sinn erfülltes und beglückendes Leben zu führen? Können wir trotz der Widrigkeiten und Zwänge der Welt – die Feinde auf dem Schlachtfeld des Lebens –, trotz unserer eigenen Unvollkommenheit dennoch zum Höchsten gelangen? Was sollen wir tun? Wie können wir in diesem Leben, das so oft ein Kampf zu sein scheint, bestehen, ohne »unter die Räder« zu kommen, und dennoch unsere spirituelle Dimension entfalten?
Auf der tiefsten Ebene freilich zeigt sich, dass das Schlachtfeld Kurukshetra, das Feld der Kurus, eigentlich Dharmakshetra ist, das Feld der Wahrheit. Dieses Feld ist unser eigener Geist. Und die Feinde sind unsere eigenen mentalen Schöpfungen: Wut, Hass, Groll, Neid, Gier, Angst, Sorge, Eifersucht und die vielen anderen schmerzhaften psychologischen Zustände. Obgleich sie uns so oft leiden lassen, halten wir sie fest: Wer dem Wütenden seinen Zorn nehmen will, wird noch mehr Wut ernten.
Die Welt, in der wir leben, ist das Ergebnis unseres Denkens und der Handlungen, die diesem entspringen. Wir erleben die Welt durch das Brennglas unseres Geistes. Unsere Reaktionen sind davon bestimmt, wie wir diese Welt wahrnehmen und uns selbst darin verorten. Es wird sich zeigen, dass es diese dritte Ebene ist, auf der die Gita am meisten zu uns spricht: als ein hochmodernes, psychologisches und spirituelles Lehrstück über unseren Geist, seine Verirrungen und Verwirrungen und über die Möglichkeit, ihn zu einer Klarheit zu führen, in der unsere spirituelle Essenz aufscheinen kann.
Es geht im Kern um die Frage aller Fragen: Wer bin ich? Die 18 Kapitel der Gita sind die Antwort darauf. Sie lässt sich in letzter Konsequenz auf nur drei Worte verdichten: Tat Tvam Asi – Du bist Das.
Am Beginn der Bhagavad Gita steht die menschliche Krise. Arjuna ist verzweifelt, weil er in einen Krieg ziehen soll, der unsägliches Leid bringen wird. Die Krise war immer schon der Ausgangspunkt allen spirituellen Suchens. Solange wir gesund, munter und fröhlich sind, solange wir vor allem Spaß haben und die Welt uns als ein Ort begegnet, wo immer nur die Sonne scheint, beginnen wir nicht zu suchen. Wozu auch? Erst die Erkenntnis, dass Leid existiert – und sei es auch nur so wenig, dass zum vollkommenen Glück noch irgendetwas fehlt –, öffnet uns für Fragen nach dem Sinn des Seins.
Gautama Siddharta, der Prinz, den man später Buddha, den Erwachten, nennen sollte, hatte alles, was man sich erträumen kann: Reichtum, Gesundheit, Schönheit und Vergnügungen. Doch als er sah, dass draußen in der Welt, vor den Toren seines Palastes, Menschen und Tiere litten, alt und krank wurden, um schließlich zu sterben, da begann er Fragen zu stellen und sich auf den Weg zu machen – auf einen Weg, der ihn zu jener Selbsterkenntnis führte, die alles Leiden transzendiert. Einen Weg, den man seither den Weg der Mitte nennt. Am Beginn seiner Lehre steht die einfache Aussage, dass Leiden existiert. Es ist die schiere Endlichkeit und Verletzlichkeit aller fühlenden Wesen, die Leiden möglich macht. Auch die Geschichte Jesu ist in ihrer psychologischen und spirituellen Essenz eine Geschichte vom Leiden und seiner Überwindung durch ein Annehmen dessen, was wir nicht ändern können (das Kreuz, das wir tragen müssen), und ein Loslassen dessen, was uns den Weg zum inneren Frieden versperrt. Dieses Loslassen meinte Jesus, wenn er von Vergebung sprach.
Das älteste geschlossene philosophische System Indiens –zugleich wohl das älteste der Menschheit überhaupt – ist Sankhya, die Philosophie, die dem praktischen Weg des Yoga zugrunde liegt. Sie geht auf den legendären Kapila zurück, der vermutlich um 700 vor Christus lebte. Krishna sagt, dass Sankhya und Yoga letztlich ein und dasselbe seien. Und die Gita entfaltet in hoher Verdichtung den faszinierenden mehrdimensionalen Blick des Sankhya auf die Schöpfung im Allgemeinen und den Menschen im Besonderen als körperliches, geistiges und spirituelles Wesen. Auch die Sankhya-Philosophie beginnt mit der Feststellung, dass Leiden existiert: ob körperlich oder psychologisch, von außen verursacht oder selbst erzeugt. Und selbst das glücklichste Leben endet mit dem physischen Tod. Alles, was ist, wird geboren, gedeiht und vergeht. Doch der Mensch hat das große Glück, Fragen stellen zu können, um einen Ausweg aus den Lebensproblemen zu suchen, denn darum geht es. Das Denken der indischen Philosophie verharrt nicht bei der Feststellung, dass das Leben bloß schwierig und letztlich immer tödlich ist. Vielmehr ist die Krise nur der Ausgangspunkt, der die Suche nach Befreiung einleitet – eine Suche, deren Ziel die existenzielle Erkenntnis der eigenen Unsterblichkeit und der Verbundenheit mit allem Sein ist. In diesem Sinne wird die Krise zur Gnade. Im zweiten Kapitel der Gita sagt Krishna zu Arjuna:
Nie war eine Zeit, in der ich nicht war noch du,
noch irgendeiner dieser Könige.
Und keine Zeit wird je kommen, da wir aufhören zu sein.
Die spirituelle Philosophie Indiens ist eine Philosophie der Befreiung. Moksha, die Befreiung aller Wesen aus der Zweischneidigkeit des Lebens, in dem Freude und Schmerz, Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg die ständigen Begleiter aller Wesen sind, ist deshalb auch die Botschaft der Gita.
Die Philosophie des Abendlandes ist geboren aus dem Staunen über die Welt und bemüht sich, sie durch Beobachtung und das Sammeln von Daten zu verstehen. Daher kommt die Analyse. Wörtlich bedeutet dieser Begriff »zerlegen« oder »auflösen«. Das Problem dabei ist: Wenn wir etwas analysieren wollen, müssen wir seine Ganzheit zerstören. Wollen wir das Uhrwerk analysieren, müssen wir es auseinanderbauen. Und zerlegen wir etwas Lebendiges, so stirbt es. Etwas Ganzes kann also nicht wirklich verstanden werden, indem wir es in seine Einzelteile zerlegen, weil die Ganzheit immer mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Hoffnung der westlichen Wissenschaft ruht auf der Annahme, dass die Analyse der äußeren Welt uns ermöglicht, sie zu verstehen, damit wir sie manipulieren und somit komfortabler, sicherer und glücklicher in ihr leben können. So wird die Welt und alles Lebendige zum Objekt unseres Interesses. Die Folgen dieses Denkens zeigen sich in den Verheerungen, die der Mensch in der Welt anrichtet. Doch selbst wenn es gelingen sollte, einst ein (künstliches) Paradies auf Erden zu schaffen, wird uns das nicht von Alter, Krankheit und Tod befreien.
Die Philosophie des Ostens will nicht die Welt erklären, damit wir sie manipulieren und angenehmer in ihr leben können (wenngleich auch Krishna freilich nichts dagegen einzuwenden hätte, dass wir gut leben wollen – doch auch an das gute Sterben würde er uns erinnern!). Sie will vielmehr, dass wir über die Welt hinausgehen, noch während wir in ihr sind. Die Botschaft der Gita ist also praktische Philosophie. Sie intellektuell zu verstehen ist das eine – doch ihr eigentliches Anliegen ist es, dem Menschen einen Weg aufzuzeigen.
Die Bhagavad Gita ist Teil des Mahabharata, einer Familiensaga, in welcher die Geschichte der Nachkommen von König Bharata über mehrere Generationen hinweg erzählt wird.
Die unmittelbare Vorgeschichte der Gita beginnt mit König Pandu. Pandu hat fünf Söhne, die Pandus. Sie sind noch Kinder, als ihr Vater stirbt, und Yudishtira, der älteste Sohn, kann die legitime Thronfolge deshalb noch nicht antreten. Die Pandus leben fortan bei ihrem blinden Onkel Dhritarashtra, der bis zu Yudishtiras Thronbesteigung die Regierungsgeschäfte leiten soll. Dhritarashtra hat 100 Söhne, die Kurus. Als die Pandus zu Männern heranwachsen, offenbaren sie herausragende Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, was den Neid und die Missgunst der Kurus heraufbeschwört, besonders bei Duryodana, dem ältesten von ihnen. Er lässt nichts unversucht, um den Pandus Schaden zuzufügen.
Einmal errichtet er einen Palast aus Wachs und lädt seine fünf Cousins ein, dort während einer religiösen Feier zu wohnen. Die Pandus akzeptieren die Einladung, und Duryodana weist seine Schergen an, den Palast in Brand zu setzen. Er glaubt, die Pandus seien tot, doch tatsächlich können sie sich in die umliegenden Wälder retten.
Eines Tages sucht ein König der benachbarten Region einen Ehemann für seine Tochter. Wer einen Bogen von enormer Stärke spannen und damit ein winziges Ziel treffen kann, soll sie zur Frau gewinnen. Die Pandus wollen den Versuch wagen und machen sich als mittellose Brahmins verkleidet in die Stadt des Königs auf. Aus ganz Indien strömen die heiratswilligen Männer herbei, darunter auch der bösartige Duryodana. Alle versagen bei dem Test – bis auf einen: Arjuna, der Zweitälteste der Pandus: Er spannt den Bogen mit Leichtigkeit und trifft ins Ziel. Die Königstochter Draupadi wirft ihm den Siegeskranz zu. Die Tatsache, dass ein bettelarmer Brahmin den Sieg davonträgt, erregt die Gemüter der anwesenden Prinzen. Doch Krishna interveniert und verhindert so einen Kampf.
Die fünf Brüder bringen Arjunas zukünftige Gemahlin Draupadi in ihr neues Zuhause in den Wäldern. Von Weitem schon sieht Kunti, die Mutter der Pandus, ihre Söhne nach Hause kommen. »Mutter, wir haben ein Juwel mitgebracht!«, rufen sie ihr zu. Kunti antwortet: »Teilt es euch gut!« Sie ist schockiert, als sie erkennt, dass es sich bei dem Juwel um die Frau handelt, die Arjuna heiraten soll. Denn das Wort der Mutter, so weiß Kunti, gilt den Söhnen als heilig. Und so nehmen alle fünf Draupadi zur Frau.
Duryodana ist aufgebracht darüber, dass die Pandus seinen Mordanschlag überlebt haben. Noch dazu sind sie durch die Heirat von Draupadi nun mit einem mächtigen König alliiert. Duryodana schmiedet erneut böse Pläne, doch sein Vater Dhritarashtra hört auf den weisen Rat seines Onkels Bhishma: Er lässt nach den Pandus schicken und bietet ihnen die Hälfte des ihnen eigentlich zur Gänze zustehenden Reiches an. Die gutmütigen Pandus akzeptieren das Angebot und geben sich mit dem schlechteren Teil des Landes zufrieden, einer Wildnis entlang des Flusses Jamuna. Sie kultivieren und bewirtschaften das Land, errichten eine wunderschöne Stadt und krönen Yudishtira, den ältesten Bruder, zum rechtmäßigen König. So leben sie sehr glücklich.
Duryodanas Hass steigert sich ins Unendliche. Er kann den Gedanken nicht aufgeben, die Pandus zu vernichten. Sein Plan ist es nun, Yudishtiras bekannte Schwäche für das Würfelspiel auszunutzen. Er weiß nur zu gut, dass Spielschulden für Yudishtira Ehrenschulden sind – er wird jede Schuld begleichen, wie hoch sie auch sein mag. Tatsächlich gelingt es Duryodana, Yudishtira zu überreden, gegen einen Gauner namens Sakuni zu würfeln. Natürlich betrügt Sakuni beim Spiel. Der arglose Yudishtira verwettet alles: Geld, Besitz, sein Königreich, sogar seine Brüder, Draupadi und sich selbst. Die Pandus sind dem grausamen Treiben Duryodanas völlig ausgeliefert. Ihnen steht die Sklaverei bevor. Doch da schreitet Dhritarashtra ein, um das Unheil nochmals abzuwenden. Die Pandus erhalten ihre Freiheit und ihr Königreich zurück. Aber Duryodana lässt nicht locker. Er bearbeitet seinen Vater so lange, bis dieser schließlich einem weiteren Würfelspiel zustimmt: Die Verlierer des Spiels sollen ihr Reich abtreten und für zwölf Jahre ins Exil in die Wälder gehen. Danach sollen sie ein Jahr unentdeckt in der Stadt leben – werden sie erkannt, läuft die Zwölfjahresfrist von Neuem an. Mindestens 13 Jahre also sollen die Verlierer ein Leben in Armut führen. Yudishtira verliert auch dieses Spiel, und die Pandus ziehen für zwölf Jahre in die Wälder. Sie machen aus der Not eine Tugend, gehen intensiven spirituellen Praktiken nach und bestehen viele Abenteuer.
Bei einer ihrer Wanderungen haben sie einmal großen Durst. Nakula, der jüngste der Pandubrüder, findet einen kristallklaren See. Als er sich über ihn beugt, um vom köstlichen Nass zu trinken, sagt eine Stimme zu ihm: »Halt, mein Kind! Zuerst beantworte meine Fragen, dann darfst du trinken.« Doch Nakulas Durst ist zu groß und er hört nicht auf die Stimme. So trinkt er aus dem See und fällt tot um. Nacheinander kommen seine Brüder Sahadeva, Bhima und Arjuna ans Seeufer und allen ergeht es wie Nakula: Als sie vom klaren Wasser trinken, sterben sie. Zuletzt ist Yudishtira an der Reihe. Er sieht seine toten Brüder und bricht vom Schmerz überwältigt in Tränen aus. Eine Stimme hinter ihm sagt: »Mein Kind! Zuerst beantworte meine Fragen, dann werde ich deinen Durst stillen und deinen Schmerz heilen.« Yudishtira wendet sich um und sieht einen Kranich.
»Welche Straße führt ins Himmelreich?«, fragt der Kranich.
»Die Wahrhaftigkeit«, antwortet Yudishtira.
»Wie findet man zum Glück?«
»Indem man richtig lebt.«
»Was muss man lernen zu kontrollieren, um den Schmerz zu vermeiden?«
»Den Geist.«
»Welcher Mensch wird geliebt?«
»Wer ohne Eitelkeit ist.«
»Was ist das wundersamste von allen Dingen in der Welt?«
»Dass kein Mensch denkt, er selber könnte sterben, obgleich er doch alle Menschen um sich herum sterben sieht.«
»Wie erreicht man wirkliche Religion?«
»Nicht durch Diskussionen, nicht durch Schriften, nicht durch Regeln und Doktrinen. Nichts davon kann uns helfen. Den Pfad zur wirklichen Religion gehen die Heiligen.«
Der Kranich ist zufrieden und offenbart sich Yudishtira als Dharma, die Personifikation des Weges und der Wahrheit. Dann holt er Yudishtiras Brüder ins Leben zurück.
Als die 13 Jahre verstrichen sind, fordert Yudishtira sein Königreich zurück. Doch Duryodana verweigert die Herausgabe. Yudishtira wäre sogar mit nur einer kleinen Stadt für jeden der Brüder einverstanden, doch Duryodanas Gier und Bösartigkeit kennen keine Grenzen. Die Ältesten seiner Familie versuchen zu verhandeln, doch Duryodanas Haltung ist radikal: Nicht so viel Land, wie auf der Spitze einer Nadel Platz hätte, sollen die Pandus bekommen. Der Krieg wird unvermeidlich. Auch die benachbarten Königreiche werden mit hineingezogen und schließlich ist ganz Indien darin verwickelt.
Beide Seiten, Pandus und Kurus, bitten Krishna um seine Unterstützung. Duryodana wählt Krishnas Armee, um seine Schlachtformation zu vergrößern. Arjuna wählt Krishna selbst und bittet ihn, seinen Streitwagen zu lenken und ihn zu beraten. Krishna unternimmt noch einen letzten Versuch, um den Streit beizulegen. Ohne Erfolg. Der Krieg ist unausweichlich. Die Schlacht wird auf der Ebene von Kurukshetra ausgetragen.
An dieser Stelle nun setzt die Bhagavad Gita ein. Unmittelbar vor Beginn der Schlacht bittet Arjuna Krishna, den Streitwagen zwischen beide Armeen zu lenken, weil er noch einen letzten Blick auf die Menschen werfen will, gegen die er kämpfen soll. Als er auf dem Schlachtfeld Freunde, Lehrer und Verwandte sieht, verlässt ihn der Mut. »Ich werde nicht kämpfen!«, sagt Arjuna. Dann beginnt das Gespräch der Gita. Krishna überzeugt Arjuna, sich dem zu stellen, was unausweichlich ist. Und schließlich kämpft Arjuna. Das Schlachten dauert 18 lange Tage. Alle Kurus fallen, auch Duryodana. Die siegreichen Pandus krönen Yudishtira zum König von Indien.
Die Geschichte der Pandus geht so aus: Die fünf Brüder und Draupadi, ihre gemeinsame Ehefrau, begeben sich auf eine Pilgerschaft in die Berge des Himalaja, zur Wohnstatt Gottes. Das Unternehmen fordert einen hohen Tribut: Alle verlieren auf dem Weg ihr Leben. Nur Yudishtira und sein Hund erreichen das Himmelstor. Dort angekommen, sagt Indra, Herr des Himmels, dass der Hund nicht eintreten dürfe. Yudishtira will jedoch ohne seinen treuen Gefährten nicht in den Himmel. Nach langer Diskussion gibt Indra nach und gewährt auch dem Hund Einlass in das Himmelreich. Es ist nur ein Test: Wie rein ist Yudishtiras Seele wirklich? Der Hund offenbart sich als Dharma – jenes Wesen, das Yudishtira einst am kristallenen See als Kranich begegnete und dem seine Brüder ihr Leben verdankten.
Eine weitere Prüfung soll noch folgen: Yudishtira sieht sich im Himmelreich um. Er erkennt dort zwar alle Feinde wieder, die er auf dem Feld von Kurukshetra geschlagen hat, doch nirgendwo kann er seine Brüder und Kameraden sehen. Wo nur sind sie? Indra führt ihn an einen finsteren und furchterregenden Ort: in die Hölle selbst. Dort begegnet Yudishtira seinen Brüdern und Kameraden und er sagt: »Ich bleibe hier, denn mein Himmel ist da, wo sie sind.« Plötzlich verschwinden die Schwärze und Düsternis. Indra führt die Pandus aus der Hölle heraus, sogar hinaus über den Himmel, dahin, wo Brahman, das Höchste, sein wahres Sein hat: Er führt sie zur Unsterblichkeit.
Die Situation am Anfang der Bhagavad Gita ist folgende:
Die beiden großen Armeen sind auf dem Schlachtfeld versammelt. Der blinde König Dhritarashtra hält sich in einiger Entfernung auf. Sein Vater, der heilige Vyasa – jene legendäre Figur, die auch als Verfasser der Gita gilt –, würde Dhritarashtra zwar gern das Augenlicht zurückgeben wollen, doch der lehnt ab: Er kann den Gedanken nicht ertragen, den Tod seiner Söhne mit eigenen Augen ansehen zu müssen. So verleiht Vyasa Sanjaya, dem Vertrauten des Königs, die Fähigkeit der Hellsicht. Sanjaya berichtet nun Dhritarashtra von den Vorgängen auf dem Schlachtfeld. Der ganze Text der Gita ist also ein Bericht Sanjayas für Dhritarashtra. Das erste Kapitel wird mit Dritarashtras berühmter Eingangsfrage eröffnet:
DHRITARASHTRA
Sag mir, Sanjaya, was taten meine Söhne und die der Pandus, nachdem sie sich kampfbereit auf dem heiligen Feld der Kurus versammelt hatten?
Im Folgenden nun berichtet Sanjaya, wie Duryodana sich an Drona, seinen Lehrer, wendet. Er zeigt auf die beiden Armeen und nennt viele der besten ihrer Kämpfer beim Namen.*
Duryodana weiß zwar die zahlenmäßig größeren Truppen hinter sich, dennoch fürchtet er, dass sie schwächer sein könnten als die Armee der Pandus, die Arjuna anführt. Duryodana hat kein Vertrauen, nicht einmal in sich selbst: Seit seiner Kindheit kennt er die Pandus und ihre überragenden Fähigkeiten. Viele Versuche, sie zu schädigen oder sogar zu töten, scheiterten. »Wird es mir jetzt gelingen?«, mag er sich fragen. Das Böse fürchtet, dem Guten zu unterliegen, könnte die Botschaft der Gita hier sein. Duryodanas General, der ehrenwerte Bhishma – dessen Loyalität ihn an die Seite der Kurus bindet, obgleich er weiß, dass sie im Unrecht sind –, erkennt Duryodanas Furcht. Um ihm Mut zu machen, bläst er mit aller Kraft in sein Muschelhorn. Sofort darauf ertönt die ganze Kriegsmaschinerie der Kurus in ohrenbetäubender Lautstärke – Hörner, Kesselpauken, Trommeln und Trompeten. Doch die Pandus antworten mit noch furchterregenderem Lärm. Sanjaya berichtet:
SANJAYA
Das schreckliche Getöse ließ Himmel und Erde vibrieren und zerriss die Herzen der Kurus.
Es ist dies der Moment, an welchem Arjuna Krishna bittet, seinen prunkvollen Wagen, vor den vier weiße Pferde gespannt sind, in die Mitte des Schlachtfeldes zu lenken:
ARJUNA
Krishna, lenke meinen Wagen zwischen beide Armeen, damit ich sehen kann, wer hier alles zum Kampf bereitsteht. Jetzt, unmittelbar vor der Schlacht, lass mich wissen, gegen wen ich kämpfe. Ich will die Krieger sehen, die sich hier versammelt haben, um den bösartigen Duryodana zu unterstützen.
Krishna lenkt Arjunas Wagen in die Mitte des Schlachtfeldes und sagt:
KRISHNA
Schau sie dir an, die Kurus, die sich hier versammelt haben!
Nun sieht Arjuna, wer da alles vor ihm steht: Verwandte, Freunde, Lehrer und Kameraden. Der Mut verlässt ihn und er spricht:
ARJUNA
Krishna, jetzt, da ich all meine Verwandten und Freunde sehe, die sich hier zum Kampf versammelt haben, bin ich wie gelähmt. Mein Mund ist trocken, ich zittere am ganzen Leib und die Haare stehen mir zu Berge. Ich kann meinen Bogen nicht mehr halten und meine Haut ist so heiß, als würde sie brennen. Ich kann mich kaum noch aufrecht halten, mein Geist ist in Aufruhr.