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Die Nacht von Paris.
Mattias Tannhäuser, ein deutscher Johanniter, macht sich nach Paris auf. Er sucht Carla, seine Frau. Dabei ist er in größter Sorge, denn Carla ist schwanger. Bei der Hochzeit zwischen Marguerite, der Tochter der Königin, und dem Hugenotten Henri, die vom französischen Königshaus arrangiert worden ist, um den Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken zu befrieden, soll sie die Gambe spielen.
Paris ist in Aufruhr. Überall gibt es Streitigkeiten und Kämpfe. Tannhäuser wird wegen seines Johanniterkreuzes häufig angefeindet und gerät schnell zwischen die Fronten. Hugenotten werden drangsaliert und schlagen zurück. Es ist die Bartholomäusnacht. Im königlichen Palast sucht Tannhäuser nach Carla. Doch sie, so hört er, soll sich bei einem Kaufmann aufhalten, der zu den Hugenotten gehört – und damit in größter Gefahr befinden. Für Tannhäuser beginnt eine wilde Jagd durch die Stadt – an seiner Seite nur ein paar Kinder, die in den Wirren unterzugehen drohen ...
Ein hochspannendes Epos über Glauben und Krieg – und die Macht der Liebe. „Willocks erzählt packend und zutiefst bewegend.“ Tanja Kinkel.
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Seitenzahl: 1198
TIM WILLOCKS
DIEBLUT- NACHT
ROMAN
Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger
Die Originalausgabe unter dem Titel
The Twelve Children of Paris
erschien 2013 bei Jonathan Cape, a part of Vintage Publishing,
London.
ISBN 978-3-8412-0689-3
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 bei Rütten & Loening,
einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© Tim Willocks, 2013
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Für meinen Freund
DAVID COX,
der jeden Schritt des Weges gegangen ist
Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
TEIL IDER SCHLUMMER DES SCHRECKENS
TEIL IIFINSTERE NÄCHTLICHE TATEN ABSCHEULICHE VERBRECHEN
TEIL III FALSCHE SCHATTEN WIRKLICHER DINGE
TEIL IVUNENDLICH FERN JEDER HILFE
TEIL VSCHRECKLICHES SCHLACHTFELD
EPILOGVON WILDNIS UMGEBEN
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor/zur Übersetzerin
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Tannhäuser ritt durch ein Land, das der Krieg verwüstet und die schwere Nachkriegszeit ausgeblutet hatte, ein Land, wo die unbezahlten Söldner pflichtvergessener Könige noch immer ihr schreckliches Handwerk ausübten, wo Freundlichkeit als Narrheit galt und Grausamkeit als Stärke, wo niemand mehr glaubte, sein Bruder wäre sein Hüter.
Er kam an Galgen vorüber, wo rotbeinige Krähen schwarz und aufgedunsen saßen. Er kam an Grüppchen von zerlumpten, halb verhungerten Kindern vorüber, die ihn schweigend anstarrten. Er kam an den dachlosen Gerippen ausgebrannter Kirchen vorüber, wo Splitter von buntem Glas wie vergessene Kostbarkeiten auf dem Boden des Altarraums lagen. Er kam an Ansiedlungen vorüber, die nur noch von abgenagten Knochen bewohnt waren und wo die gelben Augen der Wölfe aus der Dunkelheit schimmerten. Ein lodernder Heuhaufen erhellte in der Ferne einen Hügel. Im Mondlicht lagen zu Asche verbrannte Weinberge so bleich da wie Grabsteine.
Er hatte mehr Meilen in weniger Tagen zurückgelegt, als selbst er es für möglich gehalten hätte. Und hier war er nun endlich, und da lag die Stadt vor ihm. Ihre Mauern schienen in der Ferne zu beben, waren von der Hitze der Augustsonne verzerrt. Über allem hing finster ein ockergelber Dunst, als wären diese Mauern gar keine Mauern, sondern vielmehr der hochgewölbte Rand eines unendlichen Abgrundes, der in die Unterwelt führte.
Dies war sein erster Eindruck von Paris, der katholischsten aller Städte.
Der Anblick spendete ihm kaum Trost. Die unguten Vorahnungen, die ihn vorangetrieben hatten, waren nicht vergangen. Er hatte am Straßenrand geschlafen und stets lange vor der Morgendämmerung wieder im Sattel gesessen, und doch hatte ihm jeden Morgen sein Schicksal erneut vor Augen gestanden. Mattias Tannhäuser spürte, wie es hinter diesen Höllenmauern auf ihn lauerte. Hier in der Stadt Paris.
Tannhäuser preschte weiter zum Tor von Saint-Jacques. Die Mauern ragten hier dreißig Fuß in die Höhe und waren dicht mit Wachtürmen besetzt, die noch einmal so hoch waren. Das Torhaus war wie die Mauern vom Alter gezeichnet und mit Vogeldreck besudelt. Als er die Zugbrücke überquerte, trieb ihm der stechende Gestank verrottenden Mülls, der sich im Graben häufte, Tränen in die Augen. Wie im Traum sah er verschwommen und schwankend zwei Familien durch den Torbogen kommen.
Sie waren in Schwarz gekleidet, und er hielt sie für Hugenotten. Oder Calvinisten, Lutheraner, Protestanten oder sogar Reformierte. Er hatte nie herausgefunden, wie er diese Leute nennen sollte. Ihre neue Sichtweise auf die Beziehung der Menschheit zu Gott war noch jung, und doch bekämpften die verschiedenen Strömungen innerhalb dieser Bewegung einander bereits bis aufs Blut. Für Tannhäuser, der für mehr als eine Religion im Namen Gottes getötet hatte, war dies allerdings keine Überraschung.
Die Hugenotten, darunter auch Frauen und Kinder, wankten unter einer Unmenge von Beuteln und Bündeln. Tannhäuser fragte sich, wie viel mehr sie zurückgelassen hatten. Die beiden Männer, die aussahen, als wären sie Brüder, wechselten erleichterte Blicke. Ein magerer Junge verrenkte sich den Hals und starrte Tannhäuser an. Der rang sich ein Lächeln ab. Der Junge verbarg das Gesicht in den Röcken seiner Mutter. Dabei entblößte er ein großes rotes Muttermal im Nacken. Die Mutter sah, dass Tannhäuser es bemerkt hatte, und bedeckte das Mal mit der Hand.
Tannhäuser lenkte sein Pferd zur Seite, um den Leuten den Durchgang zu erleichtern. Der ältere der Brüder, den dieser Akt der Höflichkeit erstaunte, schaute auf. Als er das Malteserkreuz auf Tannhäusers schwarzem Leinenhemd sah, senkte er den Kopf wieder und eilte vorüber. Als seine Familie ihm auf dem Fuß folgte, schaute der kleine Junge erneut zu Tannhäuser auf. Seine Züge erhellten sich zu einem plötzlichen, schüchternen Grinsen. Das war für Tannhäuser der willkommenste Anblick seit vielen harten Tagen. Dann stolperte der Junge, und seine Mutter packte ihn beim Arm und zerrte ihn weiter.
Tannhäuser schaute der Gruppe nach. Die Leute waren schlecht ausgerüstet für die Straßen, auf denen beträchtliche Gefahren lauerten, aber zumindest waren sie Paris entkommen, so schien es.
»Viel Glück.«
Tannhäuser erhielt keine Antwort.
Er ritt weiter, unter dem ersten von zwei Fallgittern hindurch und ins Torhaus hinein, wo ein Zöllner zu sehr damit beschäftigt war, Münzen zu zählen, um ihm mehr als einen säuerlichen Blick zuzuwerfen. Hier wurden weitere Auswanderer geschröpft, alle schwarz gekleidet. Tannhäuser betrat die Stadt und kam im Schatten der Mauern zum Stehen. Die feuchte Luft war erdrückend. Er wischte sich die Stirn ab. Der Weg von der Garonne nach Norden hatte acht Tage gedauert, zwölf frische Pferde verbraucht und auch ihn beinahe zu Tode erschöpft. Tannhäuser hatte das Gefühl, als könnte er keine einzige weitere Meile mehr überstehen. Aber er war zum ersten Mal in der großen Hauptstadt und brachte schließlich doch genügend Energie auf, um ihre Atmosphäre ein wenig in sich aufzunehmen.
Vor ihm verlief die Grande Rue Saint-Jacques zur Seine hinunter. An kaum einer Stelle war sie mehr als fünf Schritte breit. Auf jedem Quadratfuß drängten sich Menschen und ihre Tiere. Das Rufen, das Brüllen, das Meckern, das Bellen und das Summen der Fliegen, gegen all das hätte selbst ein Schlachtfeld ruhig gewirkt. Und sogar jene Verdammten, deren Aufgabe es war, in alle Ewigkeit den Pisspott des Satans auszulecken, hätten keinen widerlicheren Geruch kennen können. All das hätte Tannhäuser erwarten können, aber unter dem alltäglichen Gewimmel auf der Straße spürte er zudem noch eine bösartigere Spannung. Es war, als hätten zu viele Menschen zu lange zu viel Angst und Wut herunterschlucken müssen. Die Pariser waren ein widerspenstiges Volk und berüchtigt für ihren Hang zum Ungehorsam und zu öffentlichem Aufruhr aller Art, aber selbst sie konnten eine so fieberhafte Stimmung gewiss nicht lange aushalten. Unter anderen Umständen hätte ihm das alles vielleicht nicht viel Sorgen bereitet. Aber er war ja nicht quer durch Frankreich gereist, um Streit zu suchen.
Er war hier, um Carla, seine Frau, zu finden und nach Hause zu holen.
Carla war tollkühn nach Paris abgereist, was ihm schmerzliche Sorgen und Verzweiflung bereitet hatte. Diese Gefühle wurden noch dadurch verstärkt, dass sie hochschwanger war. Sie erwartete ihr zweites gemeinsames Kind, das, so Gott wollte, ihr erstes Kind sein würde, das überleben würde. Und doch hatte ihn Carlas Verhalten nicht sonderlich überrascht. Sobald sie einmal einen Entschluss gefasst hatte, legte sie eherne Willensstärke an den Tag, und praktische Hindernisse, gleich welcher Art, riefen bei ihr nur Verachtung hervor. Es war eine der Eigenschaften, die er an ihr so liebte. An dieser Wand hatte er sich schon mehr als einmal den Schädel eingerannt. Wenn man dazu noch bedachte, dass eine Schwangerschaft ohnehin ein Zustand zeitweiligen Wahnsinns war, dann hätte ihn Carlas Reise nach Paris über Straßen, die seit dem Fall Roms nicht mehr ausgebessert worden waren, kaum verwundern dürfen.
Nur wenige Frauen konnten außerdem der Einladung zu einer Hochzeit widerstehen, noch dazu zu einer Hochzeit zwischen zwei Königshäusern, die weit und breit als die Verbindung des Jahrhunderts gefeiert wurde.
Durch den Unrat auf der Straße kamen Tannhäuser zwei Kinderprostituierte entgegengewankt, die Gesichter mit Bleiweiß zugekleistert, die Wangen und Lippen grotesk mit Scharlachrot beschmiert. Die Mädchen waren Zwillinge, ähnelten einander wie ein Ei dem anderen, was ohne Zweifel ihren Preis in die Höhe trieb. Das Licht, das einmal in ihren Augen geleuchtet haben musste, war längst erloschen und würde nie wieder scheinen. Als wären sie auf dieselbe Schule der Verderbtheit gegangen, setzten die beiden das gleiche lüsterne Grinsen auf, um ihn anzulocken.
Der Magen drehte sich ihm um, als er sich in der Menge nach ihrem Kuppler umschaute. Ein gedrungener halbwüchsiger Grobian starrte ihm ins Gesicht und begriff rasch, dass ihm Prügel oder Schlimmeres drohten. Er stieß einen schrillen Pfiff aus. Die elenden Kinder machten auf dem Absatz kehrt und huschten zu ihm zurück.
Tannhäuser drängte sein Pferd durch die Menge.
Sein Wissen über die Stadt war gering und stammte aus den Briefen seines Stiefsohns Orlandu, der hier am Collège d’Harcourt Mathematik und Astronomie studierte. Die südliche Hälfte der Stadt am linken Ufer wurde Université genannt. Die Insel in der Seine hieß Cité. Das rechte Ufer jenseits des Flusses war als Ville bekannt. Darüber hinaus wusste Tannhäuser nur, dass Paris die größte Stadt der Welt war, ein riesiges Gewirr von auf keiner Karte verzeichneten Straßen und namenlosen Gassen, von Palästen, Tavernen, Kirchen und Bordellen, von Märkten, Schlachthöfen und Werkstätten, von unendlich vielen jämmerlichen Hütten, die armseliger waren, als man es sich vorstellen konnte.
In Paris waren mehr Bettler, Huren und Diebe zu Hause, als es sonst im ganzen Rest von Frankreich gab. Die gedungenen Meuchelmörder waren so zahlreich, dass sie ihre eigene stolze Zunft hatten, genau wie die Goldschmiede und Handschuhmacher. Verbrecherbanden gediehen prächtig, waren im Bunde mit verschiedenen Commissaires und Sergents. Und am anderen Ende der Hierarchie benutzten die Krone und die großen Aristokraten, wenn sie gerade nicht gegeneinander intrigierten oder sinnlose Kriege anzettelten, die ihnen nach ihren Ausschweifungen noch übrig gebliebene Energie dazu, ihre Untertanen durch immer erfinderischere Steuern auszurauben.
Nach der Straße mit ihrer offenen Kloake erschien Tannhäuser der Geruch eines Mietstalls wie eine Erlösung. Er hörte, dass drinnen jemand verprügelt wurde. Das lustvolle Grunzen, das die Peitschenschläge begleitete, kam aus dem Hals des Prügelnden. Tannhäuser stieg im Hof vom Pferd und ging den Geräuschen nach, bis er zu einem Abteil gelangte, wo ein muskulöser Kerl, nackt bis zur Taille, ins Schwitzen kam, während er mit dem Metallende eines Zaumzeugs auf einen Jungen einprügelte. Tannhäuser erblickte blutige Lumpen, einen unansehnlichen Körper, der sich stumm und zusammengekrümmt auf einer Masse feuchten Strohs wand.
Tannhäuser packte das Zaumzeug bei der Trense, als der Kerl wieder weit ausholte. Dann schlang er dem Burschen den Lederriemen um den Hals und zog fest zu. Während der Mann beinahe an seiner eigenen Faust erstickte, trat ihm Tannhäuser gegen die Achillesferse, drehte ihm den freien Arm auf den Rücken und rammte ihm ein Knie in die Wirbelsäule. Dann brachte er ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Fall, bis der Kerl mit dem Gesicht auf die Steinplatten prallte. Eine in den Boden gegrabene Urinrinne verlief an den Abteilen entlang und wurde gerade von der erschrockenen Stute mit einem Schwall nachgefüllt. Tannhäuser drückte Nase und Mund des Stallknechts in den stinkenden Strom und ließ ihn einatmen. Der Mann wand sich, bis ihn die Kraft verließ. Tannhäuser ließ das Zaumzeug los und stand auf.
Inzwischen war der verprügelte Junge wieder auf den Beinen. Er war ein stämmiger Bursche, aber ansonsten war die Natur ihm wenig hold gewesen. Eine Hasenscharte entblößte sein Zahnfleisch bis zum linken Nasenloch. Sein Alter war schwer einzuschätzen, er mochte vielleicht zehn Jahre alt sein. Man musste ihm zugutehalten, dass er keine Träne vergossen hatte. Sein Unterkiefer war verformt, und Tannhäuser fragte sich, ob der Junge vielleicht schwachsinnig war.
»Meine Stute muss abgerieben werden.«
Der Junge nickte und verschwand.
Tannhäuser beförderte den Stallknecht mit einem Tritt aus dem Weg, lud sein Gepäck ab und nahm den Sattel herunter. Als der Junge mit einem Striegel kam, stolperte der Stallknecht hinkend vorbei und hielt sich die Rippen. Er taumelte auf die Straße zu. Der Junge schaute ihm nach. Tannhäuser überlegte, ob er ihm überhaupt einen Gefallen getan hatte. Zukünftige Prügel würden wahrscheinlich noch schrecklicher ausfallen. Er dachte an das Gewicht seiner Habseligkeiten und an die Aussicht, sie auf überfüllten Straßen durch die stickige Hitze schleppen zu müssen.
»Wie gut kennst du die Stadt, Junge?«
Der Bursche stieß ein seltsames, schepperndes Lachen aus. Er zog die Schultern hoch und machte merkwürdige Gesten mit seinen Schaufelhänden. Alles, was Tannhäuser daraus entnahm, war Begeisterung.
»Wie heißt du?«
Er versuchte, die gepresste, nasale Antwort zu deuten.
»Grégoire?«
Wieder das Lachen. Begeistertes Nicken. Auch Tannhäuser lachte.
»Nun, Grégoire, ich mache dich zu meinem Knappen. Und hoffentlich auch zu meinem Stadtführer.«
Grégoire fiel mit gefalteten Händen auf die Knie und sang etwas, das ein Segensspruch hätte sein können. Der Junge würde einen einzigartigen Vergil1 abgeben, nicht zuletzt, weil Tannhäuser ihn kaum verstehen konnte. Er hob ihn auf die Beine und schaute ihm in die Augen. Sie strahlten hell vor Intelligenz.
»Kümmere dich um das Pferd, Grégoire, und dann suchen wir dir was Anständiges zum Anziehen.«
Grégoire, frisch mit einem der feinen weißen Leinenhemden des Stallbesitzers namens Engel bekleidet, hielt sich tapfer unter seiner Bürde. Die bestand aus den beiden großen Satteltaschen, einem aufgerollten Tuchschlafsack, einem Wasserschlauch aus Ziegenleder und zwei Reiterpistolen im Halfter, aus denen Tannhäuser vorsichtshalber das Zündpulver geblasen hatte, damit sich der Junge nicht aus Versehen einen Fuß abschoss. Tannhäuser hielt sein Radschlossgewehr in der Armbeuge. Das Anderthalbhänder-Schwert trug er an der Seite. Als sie sich der Grande Rue Saint-Jacques näherten, tauchte Engel auf. Er war der Mann, den Tannhäuser verprügelt hatte.
Nase und Lippen waren geschwollen, und ein Auge war geschlossen. Er war in Begleitung zweier Sergents à verge, die mit Kurzbogen bewaffnet waren. Tannhäuser fragte sich, wie viel Geld Engel gezahlt hatte, um die beiden anzuheuern. Die Sergents musterten die große, gut bewaffnete Gestalt, die auf sie zuschritt, und kamen zu dem Schluss, dass die Summe jedenfalls nicht ausreichte.
»Gott sei Dank«, rief Tannhäuser. »Ihr habt ihn verhaftet.«
Die Büttel blieben stehen.
»Ich habe den Kerl erwischt, wie er mein Pferd gefickt hat.«
Engel blieb das Maul offen stehen. Blut triefte aus seinen frischen Zahnlücken.
»Der Wahrheit halber muss ich sagen, dass es zumindest eine Stute war, aber ich hoffe, dass die Strafe darum nicht weniger hart ausfällt.«
Engel holte Luft, um zu protestieren, aber Tannhäuser trat einen Schritt näher und rammte ihm den Kolben seines Gewehrs an die Stirn. Engel fiel auf einen Misthaufen, als wären seine Füße am Boden angenagelt. Tannhäuser lächelte den Bütteln zu, die zurückgewichen waren und nach ihren Schwertern griffen.
»Mein Knappe hier kann das Verbrechen bezeugen. Das kannst du doch, Grégoire?«
Grégoire brabbelte etwas Unverständliches.
»Brauchen die Herren Offiziere sonst noch etwas?«
»Das Tragen einer Feuerwaffe ist gesetzlich verboten«, sagte einer.
»Für die Ritter vom heiligen Johannes gelten eure Gesetze allerdings wohl nicht.«
Die Sergents warfen einander Blicke zu.
»Wie der letzte Dieb, den ich getroffen habe, feststellen musste, schreibt dieses Gewehr seine eigenen Gesetze«, fügte Tannhäuser hinzu.
Die beiden beschlossen, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Wie um sich zu entschädigen und mit dem Vergnügen eines Menschen, der Ungerechtigkeit im Leben durchaus genießen konnte, grinste einer der Büttel den glücklosen Stallbesitzer an.
»Keine Angst, mein Herr. Wir sorgen dafür, dass dieser Sodomit seine gerechte Strafe erhält.«
Tannhäuser und Grégoire überließen den Stallbesitzer den Sergents, die seine Taschen durchsuchten, und gingen zur Grande Rue Saint-Jacques. Irgendwo in diesem riesigen Misthaufen von Stadt war Carla und in ihrem Bauch ihr gemeinsames Kind. Tannhäuser hatte keine Ahnung, wo sie sich genau aufhielt. Seine Hoffnung, sie zu finden, stand und fiel mit der Annahme, dass ihr Sohn Orlandu mehr wissen würde.
»Grégoire, ich möchte das Collège d’Harcourt an der Rue de la Harpe finden.«
Grégoire stieß einen seiner Krächzer aus und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Tannhäuser folgte ihm. Sie machten einen weiten Bogen um zwei zusammengekettete Schwachsinnige, die Gülle auf einen Wagen schaufelten. In einer Gasse sahen sie einen Priester und eine Hure in voller Brunst bei der Sache, die Hemden um die Taille hochgeschoben. Von der Grande Rue Saint-Jacques bogen sie nach Westen ab und gerieten in ein vor Menschen nur so wimmelndes Labyrinth, wo die Gebäude so hoch aufragten, dass ihre Dächer einander über die schmalen Gassen hinweg zu berühren schienen. Endlich kamen sie in ein Viertel mit vielen Studenten und der entsprechenden Menge Huren. Tannhäuser schnappte Wörter verschiedener Sprachen auf. Sollte es hier unter dieser Elite welche geben, die tatsächlich mit metaphysischen Fragen rangen, dann hörte er die jedenfalls nicht. Allerdings sah er zwei Studenten im Dreck ringen, zur Belustigung ihrer betrunkenen Kumpane, die Englisch sprachen.
Die strenge Atmosphäre des Collège d’Harcourt ließ in Tannhäuser die Hoffnung wieder aufkeimen, doch einen Hort der akademischen Wissenschaften gefunden zu haben. Die Eingangshalle lag verlassen da. Nur ein uralter Portier hockte in einer Nische auf einem hohen Stuhl hinter einer Theke. Der Alte sah ganz so aus, als hätte er diesen Hocker seit Jahren nicht verlassen. Er trug eine kurze Rosshaarperücke, die mindestens eine Größe zu klein war und seinen von Krankheit gezeichneten Schädel nur unzureichend bedeckte. Graue Läuse huschten am Rand der Perücke über seinen Ohren herum. Seine Augen wölbten sich über den Wangenknochen aus dem Schädel und wanderten unter den geschlossenen, mit blauen Venen durchzogenen Lidern rasch hin und her. Tannhäuser klopfte laut auf die Theke.
Der Portier zog echsengleich die Lider in die Höhe, ohne sich zu regen. Die Augen waren blitzblau, als würde der uralte Körper vom Geist eines völlig anderen Wesens bewohnt. Der Alte musterte Tannhäusers Kleidung, das weiße Malteserkreuz auf dessen Brust, das in der Armbeuge gehaltene Gewehr. Er nahm Grégoire wahr, der mit Gepäck behangen war und vor Schweiß triefte. Dann kehrten die Augen zu Tannhäuser zurück. Sie sahen alles: einen Ausländer, einen Mörder aus ärmlichsten Verhältnissen, dem das Glück hold gewesen war. Der Portier verachtete ihn. Der Portier sprach kein Wort.
»Ich suche Orlandu Ludovici.«
»Das Semester ist längst vorbei, Sire.« Diese Aussage schien den Mann sehr zufrieden zu stimmen. »Nur wenige Studenten bleiben in dieser Jahreszeit hier in ihrer Unterkunft.«
»Aber Ihr kennt Orlandu Ludovici? Und gehört er zu diesen Wenigen?«
»Der Malteser wohnt hier schon seit, oh, seit Michaelis des letzten Jahres nicht mehr.«
»Wisst Ihr, warum er ausgezogen ist?«
»Ich bin in die Gedanken des jungen Herrn Ludovici nicht eingeweiht, noch viel weniger in seine Beweggründe.«
»Wisst Ihr, wo ich ihn finden kann oder wo er jetzt wohnt?«
»Leider nicht, Sire.« Auch sein Unwissen schien ihm Freude zu bereiten.
Man hatte Tannhäuser gewarnt, dass jegliche Begegnung mit Pariser Offiziellen, ganz gleich, wie niedrig und gering sie auch sein mochten, beträchtliche Beharrlichkeit erfordern würde.
»Aber er ist immer noch Mitglied des Collège?«
»Soweit ich weiß, Sire.«
»Wann habt Ihr ihn zuletzt gesehen?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern, Sire.«
»Vor einer Woche? Einem Monat?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Ihr erinnert Euch daran, dass er vor einem Jahr ausgezogen ist, aber nicht, wann Ihr ihn zuletzt gesehen habt?«
»In meinem Alter, Sire, kann einem das Gedächtnis seltsame Streiche spielen.«
Tannhäuser hatte zuletzt vor vier Monaten an Orlandu geschrieben, vor der Reise, die ihn in Velez de la Gomera und noch ferneren Gegenden aufgehalten hatte. Er deutete auf die Reihe von mit Buchstaben markierten Fächern an der hinteren Wand der Portiersloge. Im Fach mit »L« sah er eine Reihe von Papieren liegen. Er lehnte sein Gewehr an die Theke.
»Gibt es Nachrichten oder Briefe für ihn?«
»Nein, Sire.«
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr nachsehen könntet.«
»Ich bin mir jetzt schon sicher.«
Tannhäuser hob die mit einem Scharnier versehene Klappe und schritt zu den Postfächern.
»Niemand darf hinter die Theke, Sire.«
Tannhäuser blätterte die Papiere aus Fach »L« durch. Es war nichts für Orlandu dabei. Das Fach mit »O« war leer. Er drehte sich um.
In den Augen des alten Mannes lag ein Lächeln. Seine Lippen bewegten sich nicht, vermittelten aber trotzdem abgrundtiefe Verachtung. Tannhäuser hatte das ungute Gefühl, dass der Portier ihn erwartet hatte, dass jemand seinen Besuch angekündigt hatte, dass der Mann wusste, wer er war.
»Ihr wisst, wer ich bin.«
»Ein Herr von sehr großer Bedeutung, da bin ich mir sicher, Sire.«
»Orlandu muss doch Freunde haben, Tutoren.«
»Zweifellos, Sire. Aber es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Experte in derlei Fragen zu sein.«
»Gibt es sonst jemanden, den ich fragen könnte?«
»An einem Samstag, Sire?«
»Dann ist Orlandu, soweit das Collège es sieht, verschwunden?«
»In Paris gibt es zehntausend Studenten, Sire, aus ganz Europa. Wer weiß, was solche jungen Männer alles anstellen? Besonders in Zeiten wie den unseren.«
»Orlandu ist mein Stiefsohn. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen. Er ist vielleicht bei seiner Mutter, Dame Carla, Comtesse de la Penautier. Sie war Gast der Königin bei der königlichen Hochzeit. Wisst Ihr, wo ich sie finden könnte?«
»Wenn Ihr nicht wisst, wo Eure Frau ist, Sire, wie sollte ich es da wissen?«
»Falls Ihr Informationen haben solltet, die mir helfen, Orlandu oder Dame Carla zu finden, kann ich meine Dankbarkeit mit Gold unterstreichen, vielleicht eine Stiftung für das Collège machen.«
Der Portier zog eine haarlose Braue in die Höhe, als ihm der Sieg in die Hände gelegt wurde.
»Bestechung? Sie tun mir schweres Unrecht, Sire.«
Tannhäuser hatte diese Bestechung mit sehr viel Feingefühl angeboten. Die Beleidigung hatte in der Antwort des Portiers gelegen. Tannhäuser ließ die Papiere fallen und legte seinen Zeigefinger auf die Brust des alten Mannes. Er drückte den Portier von seinem Hocker herunter nach hinten. Die Arme und Beine des alten Mannes schnellten nach außen, als er auf den Boden krachte. Das Stöhnen war der erste aufrichtige Laut, der ihm über die Lippen kam. Tannhäuser ignorierte es. Er wühlte unter der Theke herum und suchte nach Papier und Tinte. Aus einem Bündel alter Schreibfedern zog er eine, die noch halbwegs brauchbar schien. Er kritzelte in seiner groben Handschrift, auf Italienisch.
Liebster Orlandu, ich bin in Paris. Ich habe noch keine Unterkunft. Hinterlasse eine Nachricht für mich hier im Collège. Sage mir, wo ich Dich und Deine Mutter finden kann.
Er hielt inne. Er glaubte nicht, dass Orlandu diese Nachricht in nächster Zukunft erhalten würde oder dass selbst dann der Portier die Antwort nicht verfälschen würde. An der gegenüberliegenden Straßenecke hatte Tannhäuser eine Taverne gesehen.
Er fügte hinzu: Hinterlasse eine Kopie Deines Schreibens im Roten Ochsen. Ich muss Carla sofort finden.
Er zermarterte sich den Kopf nach dem Datum des Tages. Morgen war das Fest des heiligen Apostels Bartholomäus. Er unterschrieb und datierte die Nachricht: Samstagnachmittag, 23. August 1572. Er wedelte die Tinte trocken und schaute zu Grégoire, der die Vorgänge mit großen Augen beobachtet hatte.
»Die Tavernen der Studenten«, sagte Tannhäuser. »Wir werden dort suchen.«
Tannhäuser faltete das Papier zweimal und schrieb »LUDOVICI« und »MATTIAS« auf die Rückseite. Die Buchstaben, mit denen die Postfächer markiert waren, waren auf Schilder gemalt, die man über die Fächer genagelt hatte. Tannhäuser hebelte das Schild »L« mit seinem Dolch weg und befestigte mit diesem die Nachricht an einer Stelle an dem Kasten, wo man die Anschrift von jenseits der Theke lesen konnte. Dann trat er dem Portier in die Rippen.
»Steht auf !«
Trotz seiner offensichtlichen Gebrechlichkeit rappelte sich der Portier mit einer Flinkheit wieder auf die Beine, um die ihn manch jüngerer Mann beneidet hätte. Tatsächlich wirkte er, seiner Perücke beraubt und mit wutverzerrtem Gesicht, eher wie fünfzig als siebzig. Seine Kopfhaut war eine Masse verschorfter, abblätternder Verletzungen. Tannhäuser trat einen Schritt zurück, falls Gefahr bestand, sich daran anzustecken. Er nahm sein Gewehr wieder auf und deutete mit dem Kopf auf die Postfächer.
»Sorgt dafür, dass meine Nachricht Master Ludovici erreicht.«
Draußen auf der Straße war die Sonne noch heißer. Tannhäuser fuhr sich durch den Bart. Schweißperlen rannen ihm über die Stirn. Er sehnte sich nach einem Bad, wenn es so etwas in Paris überhaupt gab. Grégoire deutete auf eine lange Reihe lauter, überfüllter Schweineställe.
»Die Tavernen der Studenten«, sagte er.
In den ersten drei Kneipen hallte es wider von trunkenen Stimmen und Streitgesprächen, aber die Suche verlief erfolglos. Jedes Mal bat Tannhäuser den Wirt, Orlandus Namen über das Stimmengewirr zu schreien, doch niemand antwortete. Als diese Taktik auch in der vierten Kneipe, dem Roten Ochsen, nicht fruchtete, setzte sich Tannhäuser an einen Tisch bei der Tür. Er bestellte Wein, eine kalte Gänsepastete und zwei gebratene Hühnchen. In den Gesprächen der Gäste ringsum schwang ein furchtsamer Unterton mit. Anscheinend hatte es irgendeine wichtige Nachricht gegeben. Tannhäuser versuchte, das Wesentliche mitzubekommen, aber er war müde, und sein Ohr hatte sich noch nicht an den örtlichen Akzent gewöhnt.
Er hörte, dass die Königin, Catherine de Medici, erwähnt wurde, ebenso ihr Sohn, König Charles, und dessen Bruder Henri, der Duc d’Anjou, dazu noch der Duc de Guise, der größte Unterstützer der Katholiken in Paris. Öfter als Tannhäuser lieb war, wurde der Name von Gaspard Coligny, dem hugenottischen Demagogen und Großadmiral von Frankreich, genannt. Der Mann hatte 1567 Paris ausgehungert. Seine deutschen Söldnertruppen hatten einen großen Teil des Landes verwüstet. Nun ging das Gerücht, dass ihm der Sinn nach einem Konflikt mit Spanien in den Niederlanden stand. Dieselbe Riege von Tölpeln und Schurken hatte Frankreich bereits dreimal in sinnlose Bürgerkriege gestürzt.
Tannhäuser hatte jegliche Beteiligung, ja sogar jegliches Interesse an politischen Geschäften aufgegeben, denn er konnte ohnehin nichts ausrichten, um ihren Lauf zu ändern. Die Großen und Mächtigen waren nach wie vor vom Gedanken ihrer eigenen Wichtigkeit verzaubert, und ihre niedrigsten Gefühle bewegten die Räder der Geschichte. Die Herrscher Frankreichs waren auch nicht korrupter und unfähiger als diejenigen, die anderswo regierten, aber weil Tannhäuser dieses Land lieben gelernt hatte, stürzten ihn deren Verbrechen in größere Verzweiflung. Seine Laune besserte sich ein wenig, als der Wein und die Pastete erschienen.
Die Dienstmagd war sich nicht sicher, ob Grégoire auch an der Mahlzeit teilnehmen sollte. Als Tannhäuser das kundtat, war der Junge überraschter als sie. Die Pastete war fett, saftig und köstlich. Grégoire schien nicht so gut gegessen zu haben, seit er Milch aus der Mutterbrust getrunken hatte, wenn er dieses Vergnügen überhaupt je genossen hatte. Tannhäuser hatte aus einer Laune heraus das Schicksal des Jungen gewendet. Als er selbst ein Kind gewesen war, hatte auch sein Leben durch den plötzlichen Impuls eines Mannes eine völlig andere Wendung genommen. Er hätte sich einen weniger verunstalteten Jungen auswählen können, der ihm vielleicht größeres Ansehen verschafft hätte, aber sein Herz rebellierte gegen diese Vorstellung. Er hatte diesen Jungen ausgesucht, und er würde ihn anständig behandeln.
Grégoire bekam einen gewaltigen Hustenanfall. Als er puterrot und dann beinahe schon blau anlief, stand Tannhäuser auf und schlug ihm fest mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter. Ein Brocken der Pastete flog über den Tisch, und der Junge keuchte schwer. »Nimm kleine Bissen und kaue zwölfmal. Du kannst doch bis zwölf zählen?«
»Ich kann bis fünfzig zählen.«
»Dann bist du gelehrter als die meisten, aber zwölf reicht.«
Während Grégoire diese Anweisungen befolgte, fiel sein Blick auf etwas hinter Tannhäusers Schulter. Wieder errötete er und senkte beschämt die Augen. Tannhäuser drehte sich um.
Am Nebentisch kicherten zwei Studenten und ahmten die Sprechweise eines Schwachsinnigen nach. Zwei junge Mädchen saßen bei ihnen, schienen von den Possen ihrer Begleiter allerdings wenig beeindruckt zu sein. Tannhäuser wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und starrte die Studenten an. Die jungen Leute waren wohl vom Wein schon recht angeschlagen, denn auch dies schien sie zu belustigen.
»Wenn ihr Missgeschicke lustig findet, dann kann ich euch einigen Grund zum Lachen geben.«
Auch dies rief wieder ein Kichern hervor, diesmal allerdings eher aus Nervosität. Im Nu war Tannhäuser aufgestanden und hatte einen der jungen Männer bei der Gurgel gepackt. Der andere torkelte von der Bank, aber Tannhäuser griff ihn gerade noch beim Schopf. Er zerrte sie zur Tür und auf die Straße.
Er schleppte sie zu der offenen Kloake, wo Berge von Unrat in Tümpeln lagen. Er rammte die Schädel der beiden Studenten zusammen und ließ sie ausgestreckt im Mist liegen. Dann kehrte er zur Taverne zurück. Im Türrahmen stand das größere der beiden Mädchen. Es hatte die Fäuste geballt. Tannhäuser bemerkte, dass die Finger beider Hände tintenverschmiert waren. Das Mädchen reckte das Kinn vor.
»Warum habt Ihr das gemacht?«
Die Augen des Mädchens waren dunkel und wild, ihr Haar war rabenschwarz und kurz geschnitten. Sie war mager. Tannhäuser schätzte ihr Alter auf etwa dreizehn Jahre. Sie war nicht eigentlich hübsch, aber an Temperament fehlte es ihr nicht, und das fand er viel wichtiger. Sie trug keine Schminke, die Wut hatte ihre Wangen gerötet.
Tannhäuser senkte höflich den Kopf. »Eine kleine Lektion in Benehmen kann den beiden nur guttun.«
»Benehmen?«
Sie schien damit anzudeuten, dass seine Manieren auch zu wünschen übrig ließen.
»Du vergisst, dass ich sie gebeten habe, sich zu entschuldigen.«
»Sie waren grausam zu Eurem Jungen. Aber Ihr habt sie angegriffen, ehe sie eine Möglichkeit zu antworten hatten.«
»Du wirst mir verzeihen, dass meine Erinnerung da anders ist.«
Sie blitzte ihn an, war zum Nachgeben nicht bereit. Tannhäuser schaute über die Schulter zurück. Die jungen Männer hatten sich auf alle viere hochgerappelt und betrachteten den Schaden, den ihre Kleidung gelitten hatte. Sie bemerkten, dass Tannhäuser sie beobachtete, und mussten auch das junge Mädchen gesehen haben. Sie standen auf und flohen.
»Siehst du? Kein Schaden, den ein Bad im Fluss nicht beheben würde.«
Tannhäuser wandte sich wieder dem Mädchen zu. Sie war keineswegs besänftigt.
»Auch wenn ich es selbst sage«, fuhr er fort, »so spricht es nicht gerade für ihre Ritterlichkeit, dass die beiden euch der Gesellschaft eines erwiesenen Grobians überlassen haben.«
»Ich bin nicht in Eurer Gesellschaft.«
»Dann nehmt meine Einladung an, zu uns an den Tisch zu kommen.« Er lächelte. »Mattias Tannhäuser, Duc de la Penautier, Magistralritter des Ordens vom heiligen Johannes von Jerusalem.«
Sie antwortete nicht, hatte die Hände aber nicht mehr zu Fäusten geballt.
»Ich bin seit kaum einer Stunde in dieser Stadt. Bisher waren die Einwohner alles andere als freundlich zu mir.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wundert mich nicht.«
Tannhäuser neigte den Kopf und nahm diesen Tadel hin.
»Jedenfalls entschuldige ich mich für jede Bedrängnis, die ich dir vielleicht verursacht habe.«
Sie presste die Lippen zusammen, als wäre sie nun über sich selbst mindestens so verärgert wie über ihn. Sie schaute weg und trat zur Seite. Tannhäuser verneigte sich erneut und ging in die Taverne.
Man hatte auf einer großen Platte die gebratenen Hühner gebracht. Tannhäuser tranchierte sie und bat Grégoire, sich davon auf den Teller zu laden. Der Junge stürzte sich sogleich auf das Essen. Während Tannhäuser aß, grübelte er darüber nach, was als Nächstes zu tun war.
Eigentlich war er hier, weil die Schwester des Königs, Marguerite Valois, am vergangenen Montag ihren Vetter, Henri Bourbon, den Prinzen von Navarra, geheiratet hatte. Marguerite war katholisch, die Tochter der Catherine de Medici. Catherine war Italienerin, stammte aus einem Volk, das den Franzosen im Allgemeinen verhasst war, und selbst ihre Anhänger schrieben ihr teuflische Kräfte zu. Seit dem Tod ihres Mannes im Jahre 1559 regierte sie das Land. Weil Charles I x., inzwischen zweiundzwanzig, kaum mehr als ein launisches Kind war, tat sie das entgegen den Phantasievorstellungen ihres Sohnes, des Königs, auch jetzt noch.
Viele waren der Meinung, dass Catherines aufgeklärte Politik der Toleranz gegenüber den Hugenotten drei Bürgerkriege verschuldet hatte. Marguerite und der protestantische Henri waren beide noch keine zwanzig Jahre alt, und ihre Eheschließung zeugte von Catherines neuester Bemühung, den zerbrechlichen Frieden zwischen den katholischen und den hugenottischen Kriegsherren zu festigen. Die Heirat stieß jedoch bei allen Parteien auf Ablehnung, nicht zuletzt bei den Jungvermählten. Viele hugenottische Adelige und die meisten Katholiken in Paris hielten sie für eine Schande.
Das hatte Tannhäuser auf der Reise nach Norden bereits erfahren.
Während der nun zu Ende gehenden Woche nach der königlichen Hochzeit waren zur Feier des Ereignisses zahlreiche große Bälle, Lanzenstechen, Märkte und Feste abgehalten worden. In dem Brief, den Tannhäuser vorgefunden hatte, als er von seinen Abenteuern auf See zurückkehrte, hatte Carla ihm mitgeteilt, dass sie »von der Königin« eingeladen worden war, bei der abschließenden Festveranstaltung am Freitag, dem 22. August – also am Abend des Vortags – im Palast des Louvre aufzutreten.
Carlas Meisterschaft auf der Gambe war für Tannhäuser nichts Neues. Sie hatte ihn mit ihrer Musik in den Bann gezogen, ehe er sie überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Dass ihr Ruhm sich so weit verbreitet hatte, hatte ihn jedoch überrascht. Sie hatte ihm in ihrem Schreiben beteuert, sie würde in Sicherheit sein, denn man hätte eine bewaffnete Eskorte geschickt, um sie nach Paris zu begleiten. Außerdem stand sie unter dem Schutz des einzigen Mannes, von dem Tannhäuser vermutete, dass selbst er ihn im Kampf nicht besiegen könnte, des Serben und früheren Janitscharen Altan Savas. In Carlas Brief waren keine Einzelheiten darüber enthalten, wo sie in der Stadt untergebracht sein würde. Sie hatte ihre Absicht kundgetan, sofort nach der Ankunft in Paris Verbindung mit Orlandu aufzunehmen. Jetzt, da seine Hoffnung, Orlandu zu finden, geschwunden war, blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, die er erkunden konnte.
»Zum Louvre«, sagte er zu Grégoire.
Grégoire nickte und lächelte.
Der Gedanke an den Louvre erfreute Tannhäuser keineswegs. Sobald er einmal dort hineingelangt war, würden sich unzählige Menschen, allesamt Meister in der Errichtung von Hindernissen, zwischen ihn und jeden stellen, der etwas über Carlas Aufenthalt wissen konnte.
Der königliche Haushalt, die Maison du Roi, war ein riesiges und von Schmarotzern durchsetztes Gefolge. Tausende von Würdenträgern in unzähligen verschiedenen Abteilungen wetteiferten miteinander, wer in einem wilden Wirbel von Extravaganz und Korruption den Reichtum der Nation besser verschwenden könnte. Die größte Abteilung war die Bouche du Roi, der Mund des Königs. Allem Anschein nach konnte der König kein Hemd überstreifen, ohne dass ein Dutzend Männer ihm dabei zu Diensten war, die meisten von ihnen Adelige mit ungeheuren Apanagen. Und die königlichen Fäkalien Seiner Majestät – zu deren Ausscheidung sich die Aristokraten um den königlichen Toilettenstuhl zu versammeln hatten – wurden aufs Gründlichste untersucht, obwohl Tannhäuser kaum erraten konnte, welche wohlriechenden Orakel dort vielleicht geschrieben sein mochten. Tannhäuser bezweifelte, dass Catherine de Medici vor dem Ball überhaupt gewusst hatte, dass Carla existierte. Doch jemand im Palast hatte Carlas Namen auf eine Liste gesetzt und ihre Reise und Unterkunft geplant.
Tannhäuser kämpfte gegen eine Welle der Mutlosigkeit an und trank Wein.
Er erinnerte sich, dass Carla einen Menschen in den Menus-Plaisirs du Roi, der Abteilung für die »kleineren Vergnügungen« des Königs, erwähnt hatte. Zu diesem Kreis zählten wohl die Höflinge, die für die Unterhaltung des Königs verantwortlich waren. Wie hieß der Mann doch gleich? Carlas Brief war in seiner Satteltasche.
Tannhäuser fuhr zusammen, als die beiden Mädchen an seinem Tisch auftauchten. Die zweite schien sanftmütiger zu sein. Ihr Haar schimmerte in einem sonnigen Blond. Er rappelte sich auf die Füße und verneigte sich.
»Wir nehmen Eure freundliche Einladung an«, sagte das Mädchen, das ihm entgegengetreten war.
»Ich bin hoch erfreut«, erwiderte Tannhäuser, während er sich fragte, warum zum Teufel er die Einladung ausgesprochen hatte. Er bemerkte, dass Grégoire sitzen geblieben war und immer noch Essen in sich hineinschlang. »Grégoire, ein Ehrenmann steht auf und verneigt sich, wenn eine Dame sich nähert.«
Grégoire sprang von seiner Bank auf und verbeugte sich mit solcher Begeisterung, dass er mit der Stirn auf den Tisch aufschlug. Die Mädchen lachten. Grégoire warf Tannhäuser ein Lächeln zu, als wollte er ihn wortlos bitten, sich von ihrem Gelächter nicht zu weiterer Gewalt provozieren zu lassen.
»Das ist meine ältere Schwester, Flore Malan. Ich bin Pascale Malan.«
»Höchst erfreut. Bitte esst und lasst es euch schmecken.«
Die Mädchen quetschten sich zu ihm auf die Bank und stürzten sich mit noch größerer Begeisterung auf das Essen als Grégoire. Tannhäuser verging der Appetit. Sein Auge fiel auf sein aufgehäuftes Gepäck. Die Palastwache würde ihn wohl kaum so mit Gewehren beladen in den Louvre wandern lassen.
»Ihr seid also einer von diesen katholischen Fanatikern«, meinte Pascale.
Sie deutete mit dem Kinn auf das Malteserkreuz mit den acht Zacken, das auf seiner Brust prangte.
»Meine Tage als Fanatiker habe ich längst hinter mir.«
Pascale starrte ihn an. »Jedenfalls haben die Hugenotten genauso viel Vergnügen daran, für ihre gerechte Sache Blut zu vergießen wie alle anderen. Ihre Gräueltaten sind vielleicht nicht so weit verbreitet, aber das liegt eher an ihrem Mangel an Truppen als an moralischen Bedenken. Und beide Seiten hassen die Moslems und die Juden, also ist die Welt wieder in Ordnung.«
Ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Sie hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Die verlieh ihr einen gewissen schrägen Charme.
»Martin Luther hasste die Juden aus genau den gleichen Gründen wie die Katholiken«, sagte sie, »aber er hat auch noch ein paar eigene neue erfunden. Und wenn man bedenkt, dass die Kirche Jahrhunderte lang Zeit hatte, sich welche einfallen zu lassen, ehe Luther auf der Bildfläche erschien, dann war das doch eine ziemliche Leistung, oder nicht?«
Wenn sie sich über ihn lustig machte, so genoss Tannhäuser das wirklich.
»Luther war so großartig, dass er darauf gekommen ist, dass er die Juden aus den gleichen Gründen hassen konnte, aus denen er die Katholiken hasste«, fuhr sie fort. »Er hat zum Beispiel argumentiert, dass die Katholiken und die Juden gleichermaßen glauben, die Erlösung käme daher, dass man die Gesetze Gottes befolgt und nicht vom Glauben allein. So konnten die Lutheraner den Judenhass mit dem Hass auf die Katholiken verschmelzen, ohne dabei an theologischer Stimmigkeit einzubüßen.«
»Du zwingst mich, das Genie dieses Mannes in einem völlig neuen Licht zu betrachten.«
»Ihr werdet jedoch feststellen, dass Calvins Einstellung zu den Juden sich von der Luthers sehr unterscheidet. Erstens zählt er sie zu den Auserwählten Gottes und bringt sogar Gründe dafür vor, dass alle Nachkommen Abrahams, einzigartig unter den Nationen, das ewige Leben genießen werden.«
»Haben die Juden diese frohe Kunde schon vernommen?«, fragte Tannhäuser.
»Und im Gegensatz zu Luther und Rom gibt Calvin den Juden nicht die Schuld am Tod Christi. Er gibt vielmehr allen die Schuld. Calvin sagt nämlich, dass man nicht behaupten kann, die Juden seien außerordentlich böse, weil alle Menschen gleich böse sind, und nicht nur relativ gesehen, sondern insgesamt. Gleichzeitig sind die Juden daher aber auch nicht weniger sündig oder lasterhaft als alle anderen.«
Sie lächelte, als wollte sie ihn mit leisem Spott herausfordern.
»Das ist zu hoch für mich«, gestand er. »In meinem Leben hat es bisher viel zu viel theologisches Wirrwarr gegeben.«
»Aber Calvin ist viel klarer als alle anderen. Ihr müsst nur wissen, dass alle Menschen ohne Ausnahme hoffnungslos und absolut böse und verderbt sind – Gläubige wie Ungläubige, Erlöste und Verdammte, Gute und Schlechte gleichermaßen.«
»Das weiß ich wirklich, obwohl ich selbst zu diesem Schluss gelangt bin.«
»Trotzdem werden einige in den Himmel kommen, obwohl sie genauso böse sind wie diejenigen, die in die Hölle müssen.«
»Dann habe ich wohl doch noch eine Chance.«
»Ihr seid also nicht so heilig, wie Euer Wams vermuten lässt.«
»Mein Wams täuscht die Menschen, aber Gott nicht.«
»Doch Ihr glaubt an Ihn?«
»Ich glaube an einen Gott jenseits aller Namen oder Lehren.«
Pascale wandte sich an ihre Schwester. »Er redet genau wie Vater.«
Flore nickte. Sie warf Tannhäuser einen misstrauischen Blick zu. Sie war vielleicht ein Jahr älter als Pascale, aber nicht annähernd so keck. Pascale drehte sich wieder zu Tannhäuser.
»Mein Vater ist auch ein Freidenker.«
»Ich wäre vorsichtig, uns so zu bezeichnen, es sei denn, du willst uns am Galgen baumeln sehen.«
»Er sagt, dass in zukünftigen Zeiten die Menschen nur voller Verwunderung auf das Elend blicken werden, das wir uns selbst geschaffen haben.«
»Die werden alle Hände voll damit zu tun haben, sich über das Elend zu wundern, das sie sich selbst geschaffen haben.«
»Er sagt, diese königliche Hochzeit und dieser Frieden seien nur eitler Schein. Er sagt, dass der Krieg nur schlummert und dass es nicht viel brauchen wird, um ihn wieder aufzuwecken.«
»Euer Vater sollte seinen Töchtern beibringen, sich vor Fremden in Acht zu nehmen.«
»Also muss ich mich fürchten, meine Meinung zu sagen?«
»Das müssen wir alle.«
»Sogar Ihr?«
»Ich habe nichts zu sagen, für das es sich zu sterben lohnte.«
Sie schaute ihn genau an, als versuchte sie, die Dunkelheit in seiner Seele zu deuten.
»Das ist schade.«
»Das hätte ich früher auch gedacht.«
Tannhäuser schenkte sich mehr Wein ein und trank davon.
»Was ist das Gewerbe deines Vaters?«
»Ich bin sein Lehrling.« Pascale schwenkte ihre tintenverschmierten Hände. »Ratet.«
»Er ist Drucker.«
»Verleger«, berichtigte ihn Flore. »Hauptsächlich Texte für das Collège de France.«
»Das scheint aber für einen Freidenker ein gefährlicher Beruf zu sein.« Tannhäuser fiel auf, dass Flores Hände sauber waren. »Und eure Mutter?«
»Sie ist tot«, antwortete Flore. Sie führte dies nicht weiter aus.
»Ihr seht nicht aus wie ein Ordensritter. Auch nicht wie ein Graf, wenn ich es recht bedenke. Aber ich wette, Ihr wart Soldat.«
»Ich bin Händler. Ich mache Geschäfte mit dem Orient, mit Spanien, mit Nordafrika. Als ich versucht habe, mit England Handel zu treiben, habe ich alles verloren, als Eure Glaubensgenossen einen dritten Krieg anzettelten und den niederländischen Freiheitskämpfern einen Vorwand gaben, das Schiff und all meine Waren zu beschlagnahmen.«
»Deswegen mögt Ihr uns also nicht.«
»Ich mag euch beide sehr.«
»Womit handelt Ihr?«
»Safran. Pfeffer. Opium. Glas. Was immer mir in die Hände kommt.«
»Hat Euch das nach Paris geführt?«
»Nein, ich bin hergekommen, um meine Frau zu finden und nach Hause zu holen.«
»Hat sie hier einen Liebhaber?«
Diese Möglichkeit hatte Tannhäuser nie in Erwägung gezogen, nicht wegen Carlas Tugendhaftigkeit, obwohl er ihre Treue nie in Frage stellte, sondern weil er sich schlicht nicht vorstellen konnte, dass sie einen anderen Mann ihm vorziehen könnte. Trotzdem hätte er, wenn jemand eine solche Vermutung geäußert hätte, den auf der Stelle totgeschlagen. Flore eilte zu Carlas Verteidigung.
»Schäm dich, Pascale. Er liebt sie wie ein Ritter, wie ein Adler den Wind liebt. Eine Frau, die so geliebt wird, würde niemals untreu werden.«
»Carla ist zur königlichen Hochzeit eingeladen worden. Sie erwartet unser Kind.«
Das warf so viele Fragen auf, dass Pascale verstummte.
»Sagt mir, wie könnte ich herausfinden, wo ein bestimmter Student wohnt?«
»Ist es ein guter Student?«, fragte Flore.
»Das will ich ihm geraten haben.«
»Dann könntet Ihr bei seinem Dozenten im Collège nachfragen. Euer Student wohnt vielleicht sogar bei ihm. Das ist nicht ungewöhnlich, wenn er wirklich wissbegierig ist.«
»Ein hervorragender Ratschlag. Und wo kann ich ein Zimmer mieten, in dem meine Habseligkeiten einige Stunden lang vor Dieben sicher sind? Ich habe wichtige Angelegenheiten im Louvre zu erledigen, und ihr seht, dass ich zu schwer beladen bin.«
Bei der Erwähnung des Louvre weiteten sich Pascales Augen noch mehr. Wieder sprach Flore.
»Alle Zimmer in der Stadt sind belegt mit Besuchern, die zur Hochzeit hergekommen sind. Tausende sind erschienen, und wiederum Tausende mit ihnen, die hoffen, aus den anderen ihren Gewinn zu schlagen. Und ein Gasthaus, das vor Dieben sicher ist, selbst in den besten Zeiten …«
Tannhäuser runzelte ärgerlich die Stirn. Er verfluchte diese Hochzeit.
»Wir können Eure Sachen sicher aufbewahren«, sagte da Pascale.
»Pascale«, tadelte Flore.
»Natürlich können wir das. Ihr traut uns doch, nicht wahr?«
Seltsamerweise tat er das wirklich.
»Ich hoffe, dass ich darauf bestehen darf, euch für eine solch gute Tat etwas zu bezahlen.«
»Ihr dürft«, sagte Pascale.
»Wo würdet ihr meine Sachen lagern?«
»Bei uns zu Hause. Niemand würde sie je finden, und es ist nicht weit weg.«
»Es ist nichts von großem Wert dabei. Außer einem zusätzlichen Hemd. Und einem Pfund persischem Opium. Und den Schusswaffen. Die sind das Problem.«
»Die Schusswaffen?«, fragte Flore.
»Ich bezweifle, dass man mich mit einem Gewehr und zwei Pistolen durch den Louvre spazieren lässt. Mit der Erlaubnis eures Vaters würde ich also euer Angebot für einen sehr großen Segen halten.«
Vor dem Roten Ochsen standen vier Eimer Wasser nebeneinander, von einem Gassenjungen bewacht. Anscheinend wurden in Paris sogar Eimer gestohlen. Pascale gab dem Jungen zwei Handvoll Überreste von den Hühnern, die der für eine mehr als angemessene Bezahlung hielt. Pascale und Flore hievten je zwei Eimer in die Höhe und machten sich auf den Weg.
Sie bogen um eine Ecke und trafen auf eine Prügelei auf der Straße. Vier junge Männer traten und schlugen einen fünften, der zusammengesunken und blutüberströmt an einer Mauer lehnte. Eine johlende Menge feuerte die Angreifer an. Tannhäuser schlug einen Weg ein, der sie im großen Bogen um die Menge führen würde. Er schob die Mädchen mit ihren Eimern vor sich her über die Straße.
Der Geprügelte schrie, und alle Würde war aus seiner Stimme verschwunden.
Sein Flehen trieb die anderen nur zu größerer Gewalt an. Es war seltsam, dass jemand, der um Gnade winselte, die Arbeit seiner Peiniger nur leichter zu machen schien. Tannhäuser war angewidert, vom Opfer genauso wie von den Grobianen.
»Könnt Ihr sie nicht aufhalten?«, fragte Pascale.
Die Streithähne kümmerten ihn überhaupt nicht. Die Menschenmenge dagegen schon.
»Er ist nicht mein Freund.«
Ein Krachen war zu hören, als ein Stiefel den Schädel des Opfers an die Wand schmetterte. Der Mann rutschte auf die Pflastersteine, wo das Stampfen und die Tritte unvermindert weitergingen. Inzwischen hatten die Angreifer einander wie Trunkene bei den Armen gepackt, um das Gleichgewicht zu halten, und führten einen makabren Tanz auf.
Pascale schrie: »Lasst ihn in Ruhe, ihr Schweine!«
Köpfe wandten sich zu ihr um, und obszöne Bemerkungen flogen zurück.
Tannhäuser drängte die Schwestern vorwärts, so dass das Wasser aus ihren Eimern über seine Füße schwappte. Er spürte, dass Grégoire ihnen auf den Fersen folgte. Sie ließen die Schlägerei hinter sich, erreichten eine Straßenkreuzung und bogen nach rechts ab. Tannhäuser war erleichtert. Beide Schwestern hatten bleiche Gesichter, Pascale eher aus Wut als aus Furcht. Sie setzten ihre Eimer ab, um zu verschnaufen.
»Wo ist das Hugenottenviertel?«, fragte Tannhäuser.
»Es gibt kein Hugenottenviertel«, sagte Flore. »Die Protestanten sind über die ganze Stadt verteilt, aber hier im sechzehnten wohnen mehr als in allen anderen Vierteln.«
»Und wenn sie den Kopf nicht einziehen«, ergänzte Pascale, »dann schlägt man ihnen den Schädel ein.«
Tannhäuser schaute sie an. Er war in ihrer Achtung gesunken, das sah er deutlich, aber warum ihm das so viel ausmachte, konnte er nicht begreifen.
»Ich lobe deinen Mut«, sagte er, »und auch dein Mitgefühl, aber die Welt ist nun mal so, wie sie ist, nicht so, wie du sie gern hättest. Diesem Burschen zu helfen, das hätte die Welt nicht verändert, nicht einmal die Straße. Aber unsere eigenen Umstände hätte es sehr wohl verändert, höchstwahrscheinlich zum Schlechteren.«
»Ich werde Euch nicht als Feigling bezeichnen, denn ich glaube nicht, dass Ihr einer seid, aber wenn man die Welt nicht durch kleine tugendhafte Taten verändern kann, dann lässt sie sich überhaupt nicht ändern.«
»Zweifellos, Pascale. Wiederum lobe ich deine Ideale. Aber das Verhalten einer wilden Menschenmenge lässt sich nicht vorhersagen. Vielleicht wäre die Meute zahm geworden. Aber wenn sie sich gegen uns gewandt hätte, dann wäre sie das wildeste Tier gewesen. Und dann hätte ich sie alle töten müssen.«
Pascale starrte Tannhäuser an. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er es ernst gemeint hatte. Sie blinzelte, wollte ihre Empörung noch nicht gleich aufgeben.
Er sagte: »Aus solch kleinen tugendhaften Taten sind schon Kriege entstanden.«
»In Paris werden jeden Tag Hugenotten umgebracht. Sie werden verprügelt, beraubt und beleidigt. Niemand wird je dafür bestraft. Kaum jemand wagt es auch nur, die Stimme dagegen zu erheben.«
Tannhäusers Mitgefühl mit den Hugenotten war nicht sonderlich groß. Sie hielten sich für die Auserwählten Gottes und genossen die Opferrolle, und doch hatten sie eine ebenso gesunde Vorliebe für Scheinheiligkeit und Gewalttaten wie alle anderen, die er in seiner langen Laufbahn bei Leuten ihres Schlags gesehen hatte. Sie hatten ganze Heere von holländischen und deutschen Söldnern hergebracht, sie nicht bezahlt und ihnen nach dem Ende des Kriegs erlaubt, das Land zu plündern. Tausende von ihnen waren noch immer unterwegs und richteten eine Verheerung an, die mehrere Generationen lang nicht heilen würde. In ihrer Scheinheiligkeit konnte niemand den Anführern der Hugenotten das Wasser reichen, geschweige denn sie übertreffen. Auch in den meisten anderen Formen der Ausschweifung waren sie ihren katholischen Feinden mehr als ebenbürtig.
»Dann bist du eine Hugenottin.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Pascale mit einem starren Lächeln. »Da müsst Ihr meinen Vater fragen.«
»Es wäre mir ein Vergnügen. Wo ist euer Haus?«
Pascale deutete auf einen Laden auf der anderen Straßenseite. Er war unten in einem Haus von drei Stockwerken untergebracht, das kaum mehr als fünfzehn Fuß breit war. Freigelegte Balken schauten unter bröckelndem Putz hervor.
Auf einem mit Unrat beworfenen Schild stand: »Daniel Malan … Drucker für Ihre Exzellenzen vom Collège de France.« Die Fenster waren von außen mit Läden verschlossen. Darunter bemerkte Tannhäuser Glasscherben.
Pascale sagte: »Mein Vater wird bei einer seiner Versammlungen sein.«
»Seid ihr sicher, dass meine Sachen in eurem Haus willkommen sind?«
Flore sagte: »Natürlich. Und verzeiht Pascales scharfe Zunge. Ihr habt Euch um unsere Sicherheit gesorgt, und Ihr hattet recht.«
Flore packte ihre Eimer und überquerte die Straße. Sie schloss die Haustür mit einem Schlüssel auf, den sie an einer Kordel um den Hals trug. Auf der Schwelle wandte sie sich um.
»Eure Habe wird hier sein, wann immer Ihr sie braucht.«
»Seid ihr sicher, dass euer Vater nicht da ist? Ich hätte gern seine Zustimmung zu dieser Abmachung.«
»Ihr habt seine Töchter vor einer unvorhersehbaren Menschenmenge beschützt«, sagte Pascale. »Warum sollte er seine Erlaubnis verweigern?«
Tannhäuser unterdrückte ein Lächeln. Er zog den Hahn seiner Muskete vom Rad fort, öffnete den Deckel der Pulverpfanne und blies das Zündmittel heraus. Er reichte Pascale das Gewehr. Das Gewicht überraschte sie. Sie brachte die Waffe hinter der Tür unter. Grégoire gab Flore die Pistolen im Holster. Tannhäuser wühlte in seinen Satteltaschen und fand schließlich Carlas Brief, den er in Wachstuch eingeschlagen hatte. Er schob ihn in seinen Stiefelschaft. Dann reichte er Pascale die Satteltaschen. Sie verstaute sie im Inneren des Hauses. Er schaute sich auf der Straße um.
»Versprecht mir, dass ihr die Türen verschließt und im Haus bleibt, bis entweder euer Vater zurückkommt oder ich wieder hier bin. Keine gemütlichen Treffen mit Studenten in Tavernen mehr.«
»Das waren Schauspieler«, sagte Pascale.
»Schauspieler? Dann habe ich euch ja einen noch größeren Gefallen getan, als ich dachte. Versprecht es mir.«
»Ihr habt mein Wort.«
»Lasst mich hören, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht und die Riegel vorgeschoben werden.«
Tannhäuser gab Pascale einen Ecu d’or. Sie war sehr erstaunt.
Er verneigte sich zum Abschied. Pascale zeigte ihm ihr Lächeln.
»Und Ihr seid auch vorsichtig«, sagte sie. »Beim Louvre sind viele wütende Hugenotten. Und im Gegensatz zu dem jämmerlichen Jungen, den Ihr auf der Straße im Stich gelassen habt, sind sie mit Schwertern bewaffnet.«
»Warum sollten sie schlechter gelaunt sein als sonst?«
Pascale schaute ihn an, als wäre er dumm, eine Diagnose, die ihr sogleich bestätigt wurde.
»Weil jemand auf Admiral Coligny geschossen hat.«
»Verwundet oder getötet?«
»Verwundet, durch den Schuss eines katholischen Scharfschützen. Aber anscheinend wird er überleben.«
»Wann ist das passiert?«
»Gestern Morgen. In der Stadt spricht man von nichts anderem.«
»Hat man den Attentäter schon erwischt?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Ich weiß die guten Wünsche und die Nachricht zu schätzen. Und jetzt tut, was ihr mir versprochen habt.«
Pascale machte die Tür zu. Tannhäuser horchte auf das Knirschen von Schlüssel und Riegel. Er zog den Brief aus dem Stiefel und wickelte ihn aus. Die großartigste Handschrift, die er je gesehen hatte. Beim bloßen Anblick zog sich ihm das Herz zusammen. Mit jedem Wort hörte er Carlas Stimme, und die Liebe versetzte ihm bittere Stiche. Und bei jedem Stich wuchs seine Angst. Er fand den Namen des Würdenträgers, der ihm nicht eingefallen war.
Christian Picart. Kämmerer der Menus-Plaisirs du Roi.
Tannhäuser faltete den Brief wieder zusammen und verstaute ihn sicher.
Admiral Coligny, der hugenottische Demagoge, war angeschossen, aber nicht tot.
Ein vierter Bürgerkrieg lag in der Luft, wenn er nicht bereits begonnen hatte.
Der Louvre war zweifellos ein Sumpf verzweifelter Intrigen.
Carla war im achten Monat schwanger.
Und Tannhäuser wusste nicht, wo sie war.
»Komm, Grégoire. Der Tag ist noch lange nicht zu Ende.«
Tannhäuser kehrte zum Collège d’Harcourt zurück und fand es menschenleer. Sie gingen weiter nach Norden über den Pont Saint-Michel in die Cité, an Läden vorüber, die wertlosen Plunder und schäbige Kleidung verkauften. Tannhäuser beschloss, Carla ein Zeichen seiner Zuneigung zu erstehen. Carla gab nicht viel auf weltliche Güter. Daher war er stets verwundert darüber, wie entzückt sie über seine Geschenke war.
»Grégoire, wo würde man modische Dinge finden, die einer Dame angemessen wären?«
Grégoire antwortete etwas Unverständliches.
»Sprich langsam. Ich kann dich nicht immer wieder bitten, dich zu wiederholen, also mache ich so …« Tannhäuser wedelte mit einer Hand an einem Ohr hin und her. »Dann weißt du, dass ich dich nicht verstanden habe.«
»Es tut mir leid, Herr. Niemand hört mir zu außer den Pferden.«
»Zumindest darin bin ich einem Pferd gleich. Was hast du gesagt?«
Grégoire deutete auf die Fassade. »Das ist die große Markthalle im Palais de Justice.«
In der Grande Halle wurde an Hunderten von Ständen Samt und Seide und Leinen verkauft; hier gab es Spielkarten, Schmuck, Federn, Knöpfe, Hüte und elegante Kleidung. Tannhäuser spazierte über den Markt, und plötzlich erschien es ihm beinahe als Last, dass er ein Geschenk für Carla aussuchen sollte. Die ausgestellten Seidenstoffe waren großartig. Als sie einander kennenlernten, hatte Carla sein Auge und noch weitaus mehr damit für sich gewonnen, dass sie neapolitanische Seide trug, rot und hauchdünn. Die Erinnerung an ihre Brüste unter dem feinen Stoff spukte ihm noch immer durch den Kopf. Die Stoffe erregten seine Begierde, waren aber wohl kaum das passende Geschenk für eine Hochschwangere. Oder doch? Würde der Gedanke ihr nicht schmeicheln? Hier zählte das Gefühl, das dahinter stand, aber welches Gefühl? Sein Blick fiel auf ein weißes Taufkleidchen aus Seide. Er musterte die Säume, die unsichtbaren Stiche. Carla würde es wunderbar finden.
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