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Ernst Barlach nimmt unter den Künstlern der Moderne einen besonderen Platz ein. Über Barlachs Der tote Tag befand Thomas Mann, es sei das »Stärkste und Eigentümlichste …, was das jüngste Drama in Deutschland hervorgebracht hat«. Über seine Plastiken hielt Bertolt Brecht fest: »Sie haben viel Wesentliches und nichts Überflüssiges.« Als Neil MacGregor 2014 für seine Londoner Ausstellung »Deutschland – Erinnerungen einer Nation« nach einem ikonischen Exponat suchte, entschied er sich für Barlachs »Schwebenden« aus dem Güstrower Dom.
Anlässlich des 150. Geburtstages von Ernst Barlach erscheinen seine Briefe in einer vierbändigen Ausgabe. Sie enthält neu aus den Originalen transkribierte Texte mit einem kontextbezogenen Kommentar. Ein Viertel der gut 2200 Briefe wird hier zum ersten Mal veröffentlicht.
Mit den Briefen schrieb Barlach den Roman seines Lebens. Der Bogen reicht von Sinnsuche und Selbstaussprache über Künstlerwerdung und Meisterschaft bis hin zu Verzweiflung und Vereinsamung. Der alleinerziehende Vater gibt Nachricht, der selbstbewusste Künstler verhandelt, der Einzelgänger zieht sich zurück, der politisch interessierte Beobachter kommentiert. Der hier schreibt, ist belesen in vielen Literaturen, bewandert in der Kunst und begabt, von sich zu sagen. Er ist feinfühlig und unbescheiden, neugierig und starrsinnig, er bittet und ignoriert. In seinen Briefen wird Barlach kenntlich als Mensch.
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Seitenzahl: 1276
Veröffentlichungsjahr: 2020
ERNST BARLACH
Die BriefeKritische Ausgabe in vier Bänden
Ein Editionsvorhaben der Ernst Barlach Stiftung Güstrow und des Ernst Barlach Hauses Hamburg an der Universität Rostock
ERNST BARLACH
Die Briefe
Band I: 1888-1917
Herausgegeben von Holger Helbig, Karoline Lemke, Paul Onasch und Henri Seel unter Mitarbeit von Volker Probst, Franziska Hell und Sarah Schossner
Suhrkamp
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1898
1899
1900
1901
1902
1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
1911
1912
1913
1914
1915
1916
1917
Bildteil
Personenregister
Ortsregister
Werkregister
1 an Friedrich Düsel, Schönberg, 13. Januar 1888
Schönberg,1 den 13. Januar 1888
Mein Freund!
In dem Sturm von Gefühlen, den Ihr Brief in mir erregt hat, schreibe ich Ihnen, ohne meine Gedanken zu ordnen, sondern wie sie mir in die Feder kommen. Sollte ich wirklich in Ihnen den Freund gefunden haben, nach dem ich mich unbewußt lange gesehnt habe? Ich nehme an, daß Alles, was Sie mir schrieben, Ihre aufrichtige Meinung gewesen ist, und will daher auch ebenso offen gegen Sie sein. Ich hatte wirklich geglaubt, Sie würden, nachdem Sie mich kennen gelernt, enttäuscht sein, und freute mich daher doppelt, als ich Ihren Brief empfing; ich war so glücklich, heute Abend Anna2 die Briefe zu geben.
Es wird mir allmählich klar, daß nur das Fehlen eines Freundes die Ursache so vieler trauriger Stunden war, die ich verlebte, wenn ich mich meinen Kameraden fremd fühlte, wenn ich mich vergeblich bemüht hatte, mit ihnen über irgendeinen Punkt einig zu werden, und sie mich dann stets verkannten; daher ist es mir eine große Freude, Jemand zu kennen, dem ich ohne Rückhalt alles mitteilen kann, was mein Herz bewegt. Wenn ich darin zu weit gehe, hoffe ich, werden Sie es meinem Eifer zu Gute halten. Zunächst von einigen Gedanken, die sich mir mit Gewalt aufdrängen, wenn ich mit irgendeiner leichten Arbeit beschäftigt bin, die nur teilweise meine Geisteskräfte in Beschlag nimmt; ich habe wohl nicht nötig, Sie zu bitten, mir eine Antwort zu erteilen, die durch nichts anderes beeinflußt wird, als durch Ihr wirkliches Urteil. Oft tritt vor mein geistiges Auge ein Bild, bei dem meine Phantasie gerne und lange verweilt, eine Art Idylle. In der Gegend von Ratzeburg nämlich, in dem romantischen und ziemlich abgelegenen Tale der Bäk, in dem das kleine Flüßchen sich bald zu kleinen Seen sammelt, bald tobend durch enge Ufer schießt, durch die verfallenen und ganz der Zerstörung preisgegebenen Kupfermühlen seinen eigenmächtigen Weg nimmt, liegt ein verlassenes Haus, das Herrenhaus zu den gleichfalls verlassenen Kupfermühlen, ein mächtiges Gebäude, man könnte glauben, es hätte ein Riesengeschlecht darin gehaust; hierhin zog es mich oft mit magnetischer Gewalt. Das Haus lag da so still; so feierlich war alles, und alles stimmte dahin zusammen, diesen Platz zu dem romantischesten in der ganzen Gegend zu machen. Die weiße Farbe der Wände, war schon vom Alter zu einem versöhnenden Grau geworden, das schwarze Dach wurde von mächtigen Linden beschattet, der Garten war nicht mehr zu erkennen, eine ziemlich große Rasenfläche stieß an den Fuß einer auf einem zweiten Hügel gelegenen Anlage, die früher ein Park gewesen war, jetzt aber ein wirres Gebüsch bildete. Keine zweihundert Schritte davon, am Fuße des Hügels, auf dem das Haus stand, befand sich eine Wohnung, die gerade das Gegenteil von dem großen Gebäude war. Angelehnt, an einen waldigen Abhang, tief versteckt im Walde, der nur nach der Flußseite offen war, lag ein kleines hübsches Haus, in dem eine arme, aber doch glückliche Familie zu wohnen schien. Statt düsterer Majestät war hier heitere Fröhlichkeit und der Wald schallte wieder3 von den Stimmen der kleinen Kinder, ein Kontrast, der mich immer tief ergriff.4 – Doch ich merke, ich bin im Begriff, Sie mit Gedanken zu quälen, die ich selbst nicht einmal ganz klar fühle. Hier auf diesem Platze lasse ich in Gedanken Gestalten sich bewegen, und das ganze formt sich zu einem Ganzen, einer ruhigen Begebenheit, die mich eben wegen der Ruhe, die darin herrscht und des Einfachen ganz besonders anzieht. Ich behalte es mir vor, Ihnen in einem andern Briefe mehr davon mitzuteilen, denn eine wunderbare Scheu hält mich davon ab, dies Gebilde irgend Jemand sehen – und zerstören zu lassen.
Anbei sende ich Ihnen einige Zeichnungen von mir5 und bedaure nur, keine besseren eben zur Hand zu haben. Aber, wie gewonnen, so zerronnen; was ich an einem Tage hergestellt habe, ist am andern Tage verschenkt. Etwas möchte ich Ihnen über meine Neigung zur Kunst noch mitteilen: Es ist weniger die Malerei, als die Bildhauerei, die mich besonders anzieht und ich kann mir schmeicheln, zum mindesten nicht weniger Talent für dieses als für jenes zu besitzen. Zuerst modellierte ich aus Ton kleine Figuren,6 die aber alle verloren oder entzwei gingen, da ich nicht die mindeste Ahnung hatte wie das Material zu behandeln war. Als ich später mit einem geschickten Steinmetzen7 in Berührung kam, lernte ich von diesem die Führung des Meißels und ging einen Schritt weiter, indem ich meine, allerdings jetzt weniger künstlichen, Sachen in Stein arbeitete. Aber das Verbot des Arztes, der sah, daß ich schon von der kurzen Arbeit in staubiger Luft angegriffen wurde, verhinderte mich an der Verfolgung und Fortsetzung meiner Arbeit. Ich bin aber entschlossen, sie wieder aufzunehmen, sobald sich geeignete Gelegenheit bietet. Ich glaube indessen, daß mich das Umgehen mit Farben ohne Dilettantismus davon abbringen wird, denn schon meine ersten ernstlichen Versuche sind mir einigermaßen gelungen. Als wir nämlich im Sommer in Fjelstrup in Schleswig bei unserm Onkel8 waren, fand ich in einer Rumpelkammer alle Malutensilien meiner verstorbenen Tante9 vor und improvisierte sogleich in derselben Kammer ein Atelier. Es würde für einen geschickten Maler in der Tat kein verachtenswertes Motiv sein. Denken Sie sich die sonst von Spinngeweben vor dem Fenster verdunkelte dumpfe Stube jetzt zum Teil durch das geöffnete Fenster erhellt, vor dem meine werte Person auf einer Kiste zur Seite eines großen Koffers umgeben von Zeichnungen, Farbenkästchen, Pinselbündeln sich befindet; vor dem Fenster schwanken die Äste einer mächtigen Ulme, die vielleicht der Gegenstand des ersten Versuches sind. Man könnte alle Lichteffekte dabei beobachten. Hier saß ich dann, unbemerkt von allen und bildete mir, da ich ja keine Anleitung oder Vorbild hatte eine eigene Malweise, die denen sehr gefiel, welchen ich meine Erstlingswerke zeigte; als ich später den Entschluß faßte, Maler zu werden, gab ich es auf, weil ich einsah, daß ich das, womit ich jetzt Tage vergeudete, bei geeigneter Anleitung in wenigen Stunden lernen konnte. Nur einen Reiter habe ich, als das beste von diesen Versuchen, aufbewahrt.10
Ihr Gedicht,11 das ich mir abgeschrieben, sende ich mit bestem Dank zurück. Daß es mir sehr gefallen, kann für Sie keinen großen Wert haben, da es wohl niemand giebt, der so schlecht, wie ich, etwas beurteilen kann. Hauptsächlich ist das der Fall mit meinen eigenen Arbeiten, besonders Gedichten. Diese sind aber für niemand als für meine Brüder und Mutter12 bestimmt, und behandeln stets kleine komische Vorfälle; im übrigen ist es vielleicht Anmaßung, ihnen den Namen eines Gedichtes zu geben. Da ich mir nur sehr wenig Zeit lassen kann, vor dem Examen13 an Sie zu schreiben, und ebensowenig den Briefwechsel mit Ihnen entbehren möchte, so will ich nicht erst einen Brief von Ihnen abwarten, sondern schreiben, sobald sich die Zeit bietet, wenn auch nur jedesmal ein paar Sätze; ich werde mich aber bemühen, hinfort geordneter und – vernünftiger zu schreiben, wie es sehr nötig ist, wenn ich diesen Brief wieder durchlese.
Mit bestem Gruß verbleibe ich
Ihr Freund E. Barlach.
Brief; Standort unbekannt (Maschinenabschrift in Materialsammlung Friedrich Droß); Barlach 1952; [1]
1Nach seiner Geburtsstadt Wedel war Schönberg der zweite Wohnort EBs, in dem er mit der sechsköpfigen Familie zuerst in der Siemser Straße 208 wohnte. Bis zum Umzug nach Ratzeburg im Herbst 1876 ging der inzwischen Sechsjährige ab Ostern desselben Jahres in die Elementarklasse der Schönberger Schule. Nach dem frühen Tod des Vaters am 3. 5. 1884 zog Louise Barlach mit ihren vier Kindern nach Schönberg zurück. EB trat hier in die Untertertia der Großherzoglichen Schönberger Realschule ein.
2Anna Spiekermann. Die Korrespondenz zwischen EB und seiner Jugendliebe, der Kusine Friedrich Düsels, ist nicht überliefert. Vereinzelt lassen sich Briefe erschließen, sofern diese in Briefen an Friedrich Düsel erwähnt werden (↘ 6; ↘ 8; ↘ 85). Düsel und ehemalige Mitschüler EBs dienten beiden als Übermittler von Briefen.
3Gemäß der überlieferten Maschinenabschrift des Briefs schrieb EB »wieder«, was der Editor der Briefausgabe, Friedrich Droß, zu »wider« emendierte (Barlach 1968/69, I 12).
4Eine vergleichbare Szenerie beschreibt EB zu einem späteren Zeitpunkt erneut (↘ 18). Im Tal der Bäk standen mehrere Mühlen. Die beschriebenen Häuser sind vermutlich Teile des Kurhauses Bäk.
5Nicht überliefert.
6Nicht überliefert. Auf Vermittlung von EBs Mutter gab Emma Ringeling, die Frau des Schuldirektors der Schönberger Realschule, die Modellierung von zwölf Vogelfiguren für ein Brettspiel in Auftrag (SL, 38).
7Nicht ermittelt.
8Adolph Heinrich Strodtmann Matzen.
9Maria Dorothea Friederike Matzen.
10Nicht ermittelt.
11Nicht ermittelt.
12EBs Bruder Hans sowie die Zwillingsbrüder Nikolaus und Joseph Barlach; die Mutter Johanna Louise Barlach.
13Ostern 1888 legte EB seine Reifeprüfung an der Großherzoglichen Realschule in Schönberg ab. Auf einer Fotografie der Schulklasse von 1887 ist EB in der Mitte der oberen Reihe zu sehen (↘ Bildtafel 2).
2 an Friedrich Düsel, Schönberg, 5. Februar 1888
Schönberg den 5ten Februar 88.
Mein Freund!
Es ist wohl unnötig zu sagen, daß Ihr Brief mir sehr willkommen war, wie er es hoffentlich auch Frl. M. St.1 war, und ich will ohne Umschweife daran gehen ihn zu erwidern. Sie haben mir einen so ausführlichen Bericht über Ihren Bildungsgang gegeben, daß ich nicht umhin kann, das Gleiche zu thun, obgleich ich kaum hoffen kann, daß es Sie in gleicher Weise interessieren wird. Es war mir eigentümlich zu hören, daß meine und Ihre Lieblingsbücher in früher Jugend dieselben waren: die Grimm'schen Märchen2 und späterhin Coopers Lederstrumpf-Erzählungen.3 Besonders die letzteren waren es, die mich ganz befangen nahmen. Doch ehe ich ordentlich lesen konnte, wurde ich von etwas Anderem angeregt, das für mich auch noch lange die Quelle blieb, aus der ich einzig und allein meinen geistigen Trank schöpfte: die Geschichte und Sagen der Griechen und Römer,4 die ich von meines Vaters5 Mund auf späten, dunklen Spaziergängen wegtrank. Wie schwoll meine Brust, wenn ich die Kämpfe der Horatier u. Kuratier,6 sich vor meinen Augen abspielen sah, wie fühlte ich mich zur Nachahmung angespornt wenn sich Mucius Scävola7 die Hand abbrennen ließ, geschweige denn die Geschichten von Odysseus,8 die ich mir immer und immer wieder erzählen ließ. |
Da ganz in der Nähe unseres Hauses in Ratzeburg 2 Freunde von mir wohnten,9 die sich gleichfalls für dergleichen lebhaft interessierten, so verfielen wir natürlich bald darauf – dieses zu spielen, aufzuführen. Ebenso natürlich war es, daß es nie zur Aufführung gelangte; weiter kamen wir mit der Aufführung von Körners »Josef Heyderich«10 das schon ganz gelernt und vorbereitet war, als wir klug genug waren, einzusehen, wie wenig angemessen unser kindisches Treiben der Schönheit des Stückes war. Da ich mich mit einer förmlichen Wut über alles Lesbare stürzte, so konnte es nicht ausbleiben, daß ich viel zu früh, als mein Verständnis mich befähigte, mit den Perlen unserer Literatur bekannt wurde, und erst verhältnismäßig spät zur Einsicht gelangte, daß das wirklich Schöne nur hier zu finden sei. Inzwischen schwelgte ich in den Cooperschen, Scott'schen und Dickens'schen Romanen;11 der Gefahr, der so viele junge Leute zum Opfer fallen, sich durch Lesen schlechter, ja schmutziger Romane zu ruinieren, entging ich glücklich durch die Strenge12 meines Vaters, bis ich genug moralischen Mut besaß, dergleichen Sachen einfach zu verachten. So viel ich aber auch las, so wenig befriedigte mich das Gelesene; ich sehnte mich nach etwas Großem, Geheimnisvollen, das meine Lectüre angeregt hatte; ich weiß, daß ich zuweilen beim Dämmern des Sommerabends, wenn ich allein mit meinen Gedanken in der Veranda hinter unserm Hause saß, während alles so still um mich war, die Fledermäuse dicht an mir vorüberhuschten und die riesigen, schwarzen Tannen des Nachbargartens im leisen Abendwinde langsam ihre Häupter bewegten, mit überströmendem Herzen in den Himmel sah und nicht wußte, ob mein Herz vor Traurigkeit oder vor Entzücken springen wollte. |
Doch jetzt zu etwas Anderem! Sie wollten meine Meinung wegen der Ausstoßung aller Fremdwörter aus unserer Sprache hören, aber Sie haben mir die Überzeugung, wie notwendig das sei, so packend aufgedrängt, daß ich nur sehr wenig mehr darüber zu sagen habe. Gewiß ist das Haupterfordernis für jeden Gebildeten, seiner Muttersprache wirklich mächtig zu sein, aber leider wollen so Wenige von den sogenannten Gebildeten einsehen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich zugleich Ihre Meinung über etwas hören, was mir schon oft durch die Sinne gekreuzt ist: was nennen Sie Bildung? Ich stand oft staunend über eine solche Begriffsverirrung still und konnte nicht fassen, wie sie entstanden sein mochte. Meiner Meinung nach kann man nur den einen Menschen von wirklicher, das heißt Herzens-Bildung13 nennen, der sein Handeln auf Grundsätzen beruhen läßt und bestrebt ist, sein Denken zu veredeln.
Ihr Anerbieten, mir das genannte Buch zu schicken, nehme ich mit Dank an, da mir Storms »Immensee«14 nicht bekannt ist; da indem ich auf Ihren wie mir scheint, sehr umfassenden Überblick über unsere gesamte Literatur vertraue, hoffe 〈ich〉, von Ihnen später Auskunft zu erhalten über Mittel, meinen Wissensdurst nach einzelnem, besonders der Geschichte meines engeren Vaterlandes, Ratzeburgs, usw. zu befriedigen. Ich habe schon mehrfach Schritte gethan, aber niemals rechten Erfolg gehabt.
Sie haben in Ihrem Briefe meinen beiden Skizzen eine lange Besprechung gewidmet und mir dabei zugleich die Aussicht in eine ganz neue Welt geöffnet. Auf eine solche »Malerei der Gedanken«, wenn ich mich so ausdrücken kann, habe ich noch niemals geachtet, aber daß es kein Hervorsuchen ist, wurde mir im ersten Augenblicke klar. Ich dachte unwillkürlich daran, daß ich oft beim Lesen eines besonders spannenden Auftrittes die Augen über das Buch hingleiten ließ, fast ohne den Inhalt zu verstehen, und daß dennoch meine ganze Seele mit Sturmesgewalt fortgerissen wurde.
Diesen letzten Ausdruck muß ich auch bei Erwähnung Ihres Gedichtes15 gebrauchen, dem ich mit meinem ganzen Herzen zustimme und für welches ich Ihnen meinen innigsten Dank sage. |
Wenn dieser Brief noch vor der Absendung des Buches an Fr. M. St. bei Ihnen eintrifft, so schicken Sie es nur getrost weg, natürlich halte ich, wie Sie es wünschen Ihren Briefwechsel mit M. St. geheim. Doch da mir alles Heimlichthun, wenn es unnütz ist, stets unangenehm ist, so bitte ich Sie, die Briefe hinfort an meinen Namen zu adressieren.
Ich wollte, ich könnte einmal recht lange mit Ihnen persönlich verkehren, mit Ihnen wandern und dabei über alles sprechen, was ich denke, denn ich weiß, daß ich in Ihnen einen Menschen gefunden habe, der aufrichtig ist und freimütig, fast das Größte, was ein Mensch sein kann, aber gerade das, was am allermeisten fehlt. Was mir ganz besonders an Ihnen gefallen hat, ist Ihre Vaterlandsliebe, die ich glühend teile. Ein deutscher Mann zu werden ist mein höchster Ehrgeiz und hoffe teils, teils fürchte ich, wir werden das noch oft bethätigen müssen; und doch steht mir nichts so fest, als der Entschluß im Falle der Notwendigkeit Gut und Blut fürs Vaterland zu opfern.16 –
Montag habe ich die erste Examen-Arbeit, den deutschen Aufsatz;17 die ganze Woche wird über diesem schriftlichen Examen vergehen und ich werde dann fürs Erste Ruhe haben. – Anna war für eine Woche nach Lübeck gereist und kehrte erst d. 28ten Januar zurück. Seitdem habe ich sie fast jeden Tag gesehen und gesprochen; noch niemals habe ich so viel Glück gehabt und noch niemals bin ich so glücklich gewesen.
Wenn die beiliegende Skizze18 Ihnen nicht zu schlecht scheint, so möchte ich Sie bitten, sie zu behalten. Ich traf die alte Kapelle auf einem meiner Ausflüge und wurde durch das romantisch-traurige derselben tief ergriffen. Hinter der Kapelle, auf dem Bilde links, liegen unter einem Grabstein mehrere Glieder einer Familie, darunter Männer, die das Amt des Küsters lange Jahre verwaltet hatten. Ich versuchte auch hineinzudringen, fand aber die Thüren verschlossen. Ich habe leider das Düstre und Verwitterte des Gebäudes nur schlecht wiederzugeben vermocht. Als Entschuldigungsgrund kann ich angeben, daß ich während der Aufnahme in strömendem Regen unter einem Schirm stand. Mit bestem Gruß verbleibe ich Ihr Freund
E. Barlach.
Brief, 1 DBl. mit 4 beschriebenen Seiten, schwarze Tinte, Bearbeitungsvermerk des Empfängers, 22,2 × 14,2 cm; Privatbesitz; Barlach 1952; [2]
1Nicht ermittelt.
2Welche Ausgabe EB besaß, konnte nicht ermittelt werden. 1850 waren die 1812 erstmals herausgegebenen Kinder- und Haus-Märchen von Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) bereits in der sechsten Auflage erschienen.
3Die Lederstrumpf-Erzählungen (1823-1841, dt. 1824-1841) sind ein fünfbändiger Zyklus historischer Romane von James Fenimore Cooper.
4Vermutlich Gustav Schwabs (1792-1850) Sammlung antiker Mythen Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, die zwischen 1838 und 1840 in drei Bänden erschien.
5Georg Gottlieb Barlach.
6Antiker Mythos; in einem Stellvertreterkampf zur Entscheidung der Schlacht zwischen den Horatiern und Curiatiern traten je drei Söhne gegeneinander an, um die jeweiligen Heere für den Fall eines Angriffs durch die etruskischen Nachbarn zu schonen.
7Gaius Mucius Scaevola ist eine Legendenfigur der römischen Frühgeschichte, der die Rettung Roms 508 v. Chr. zugeschrieben wird. Während eines Attentats auf das feindliche Lager soll Scaevola die eigene Hand verbrannt haben, anstatt seine Mitstreiter zu verraten.
8Odysseus ist ein Held der griechischen Mythologie. Seine Taten wurden insbesondere von Homer (ca. 8. Jahrhundert v. Chr.) in der Ilias und der Odyssee geschildert.
9Vermutlich ist damit das Haus neben der Stadtkirche St. Petri in Ratzeburg, das ›Alte Vaterhaus‹, gemeint, das EBs Vater 1878 erwarb (SL, 25). Die beiden Freunde konnten nicht ermittelt werden.
10Das Trauerspiel Joseph Heyderich, oder: Deutsche Treue von Carl Theodor Körner wurde 1813 veröffentlicht.
11Die Autoren sind insbesondere für ihre historischen Romane bekannt. Schildern Charles Dickens und Walter Scott noch das britische Leben am Hof sowie in den Städten, ist James Fenimore Coopers Werk zwar noch der britischen Romantik verbunden, umfasst jedoch maßgeblich amerikanische Indianergeschichten (Nagler 2004, 70).
12Mögliche weitere Lesart: »Sorge« (Barlach 1968/69, I 15).
13Bildungsideal der deutschen Klassik, u. a. von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt (1767-1835) entwickelt.
14Die Novelle Immensee von Theodor Storm wurde 1850 veröffentlicht.
15Nicht ermittelt.
16Vermutlich Anspielung auf die österreichische Kaiserhymne nach Johann Gabriel Seidl (1804-1875). Im siebten und achten Vers der zweiten Strophe heißt es: »Gut und Blut für unsern Kaiser, Gut und Blut fürs Vaterland!« Vor dem Hintergrund der Bildung der Nationalstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Volkshymne als Symbol der überkommenen Ordnung verstanden.
17Der Titel des Examensaufsatzes lautet Das Meer, ein Feind und ein Freund des Menschen (Buddin 1930, 5f.).
18Die Bleistiftzeichnung Capelle Siechenhaus, Weg zwischen Lehnsdorf und Dassow (1888; Wittboldt/Laur 3).
Landstraße vor Dassow mit Siechenhauskapelle (1888)
3 an Friedrich Düsel, Schönberg, 26. März 1888
26. 3. 18881
Mein Freund!
Billig mögen Sie mir wegen meiner Saumseligkeit zürnen, und ich will auch nicht versuchen, mich zu rechtfertigen, sondern gleich alles Versäumte nachholen. Zunächst muß ich Sie von einem Unglück benachrichtigen, das so ziemlich allen Verkehr zwischen Anna und mir aufgehoben hat, obwohl wir uns darum nicht weniger stark lieben, höchstens noch mehr, wenn es möglich wäre. Ich war am Sonntag in Lübeck bei meinem Bruder2 gewesen, und auf dem Nachhausewege vom Bahnhofe traf Anna, die meine Rückkehr erwartete, mich und einen Freund, der mit Annas Freundin ein Verhältnis hat, und wir standen eine kurze Zeit im Gespräch beieinander. Wie das herausgekommen ist, weiß ich noch nicht, da Anna sich in ihrem Brief auf die Mitteilung auf einer Karte beruft, die ich nicht erhalten habe, nur so viel ist gewiß, daß ihre Eltern uns alle gesehen und teilweise erkannt haben, und da Anna zu edelmütig ist, ihre Freundin zu verraten, so meinen sie, sie habe mit uns beiden zu tun gehabt. Wenn ich nicht denken müßte, daß die ganze Sache nicht so schlimm ist, wie sie mir im ersten Augenblick schien, so täte ich natürlich, was ich anständigerweise tun müßte; aber Anna spricht in dem letzten Briefe davon, daß die ganze Geschichte im Sommer vergessen sein würde und plant neue Zusammenkünfte.
Das Examen habe ich jetzt glücklich hinter mir, und auch Sie haben hoffentlich guten Erfolg gehabt; es ist mir ein unsäglich beruhigendes Gefühl, das Reifezeugnis hinter Schloß und Riegel zu haben, und ich habe Ursache, meine Blicke in die Ferne zu richten. Die Erfahrung hat es mich gelehrt, je weniger Zeit ich habe, meinen Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen, desto größer wird der Eifer und da ich in Hamburg den ganzen Tag dem Zeichnen widmen muß,3 ja unter Umständen den ganzen Abend, und ich die Zeit für meine andern Beschäftigungen sehr weit herholen, so glaube ich, setze ich dort meine Studien auf dem Gebiete der Literatur mit dem größten Eifer fort, mit größerem jedenfalls, als hier in Schönberg. Und zwar will ich versuchen, mir das Buch über Kingsley4 ganz zu eigen zu machen. – Eben erhalte ich Ihren Brief und Glückwunsch, für den ich Ihnen danke und den ich aufs herzlichste erwidere. Ich will Ihnen auch den Grund meines langen Schweigens mitteilen. Ich hatte gedacht, unmittelbar nach der Prüfung an Sie zu schreiben, aber es war mir unmöglich, ich vermochte nicht einen vernünftigen Gedanken zu fassen und auch meine Freunde in der Not, meine Lieblingsbücher, fesselten mich nicht; ich konnte nicht zeichnen, denn alles mißglückte mir und wenn ich ausging, was mir sonst immer hilft, konnte ich mich nur mit Mühe den Weg entlang schleppen und auch meine Leidenschaft, schöne große Tannen, an denen ich mich fast täglich freute, konnten mich nicht erwärmen, kurz es war schrecklich. Heute ist es besser und ich will hoffen, bald ganz wieder der Alte zu sein.
Während ich mit Arbeiten fürs Examen beschäftigt war, las ich allerlei kleinere Sachen, unter anderen »Enoch Arden« von Alfred Tennyson. In der Voraussetzung, daß Sie es noch nicht gelesen haben, will ich ein wenig mit Ihnen darüber sprechen. Ich glaube nicht, daß die erhabene, feierliche Sprache des großen Dichters irgendetwas durch die Übersetzung gelitten hat. Als Probe mögen Ihnen folgende Verse dienen:
Der Klippen langer Zug ließ eine Schlucht;
Und in der Schlucht sind Schaum und gelber Sand;
Vorn rote Dächer längs dem schmalen Kai,
In Gruppen; dann ein Kirchlein altersgrau;
Und höher klimmt zum mächt'gen Mühlenbau
Ein langer Fahrweg auf; im Hintergrund
Ragt eine Düne himmelan,
Mit Hünengräbern, und ein Haseldickicht usw.
Aufs rührendste wird die Liebe zweier junger Menschen zu einem Mädchen beschrieben; Enoch Arden erwirbt sie, ohne daß der Andere durch irgendetwas seine Liebe oder seine Trauer zeigt. Nach mehreren Jahren zwingt die Sehnsucht nach einer besseren Stellung Enoch eine weite Seereise zu machen, auf der er Schiffbruch leidet, und lange Jahre lebt er auf einer kleinen Insel mitten im Ozean ganz allein. Wirklich ergreifend wird das Vorübergehen der Stunden, der Tage, der Jahre und sein hoffendes Warten auf Rettung beschrieben: – –
Er hörte nimmer eine liebe Stimme,
Wohl aber myriadenfach Gekreisch
Schwerfälliger Wasservögel, und den Donner
Der meilenlangen Wogen auf dem Riff;
Das rührende Geflüster hoher Bäume,
Die blütenprangend auf zum Himmel strebten, –
Des schnellen Baches Lauf zum tiefen Meer. –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Kein Segel kam,
Nicht heut' nicht morgen, doch Tag ein Tag aus
Der Sonnenaufgang mit den Flammenpfeilen
Auf Palmen, Farnkraut, Berg und Felsenwand,
Die Glut auf den Gewässern gegen Ost,
Die Glut auf seiner Insel im Zenit,
Die Glut auf den Gewässern gegen West; –
Die großen Sterne dann, am Himmel dicht
Wie Feuerklumpen, und das dumpf're Brausen
Des Donners, und wieder Flammenpfeile
Des Sonnenaufgangs, – doch ein Segel nie.5
Als er endlich, ein vor der Zeit zum abgelebten Greis gewordener Mann, zurückkehrt, fand er seine Frau in den Armen seines ehemaligen Freundes, glücklich mit seinen eigenen und seines Freundes Kindern – er will ihr Glück nicht stören und erst nach seinem Tode erfahren sie seine Rückkehr.
Noch muß ich Ihnen von einem Menschen erzählen, der mich hier in Schönberg gewaltig anzieht;6 es ist lächerlich zu sagen, aber wahr, ich kenne ihn weder noch habe ich ihn jemals gesehen, aber doch kann ich mir ihn so lebhaft vorstellen und ich glaube, eine Bekanntschaft mit ihm würde sofort den romantischen Schleier zerreißen, den meine Phantasie um seine Gestalt gewoben. Es ist dies ein Mensch, der sein Lebensglück durch irgend einen Streich zerstört hat, ein Musiker, der seine Geige aber in vollkommener Gewalt hat und ihr Zaubertöne entlocken kann, deren bloßes Anklingen die Seele mitschwingen läßt, daß man sich in dem Augenblick von der Erde entrückt fühlt. Wenn der stille Mond am späten Abend in unsern Straßen scheint, dann tönen diese Klänge aus einem kleinen, dunklen Fenster so voll und innig, so wehklagend bald, bald in Tönen, die das Herz vor Wonne zittern lassen, heraus, und oft habe ich im Schatten unter diesem Fenster stehend mit angehaltenem Atem gelauscht. Ja, am Abend vor dem Examen bannten diese Töne unsere Füße, als wir im Dunkeln durch den tiefen Schnee eilend noch einige Besuche machten; ich mußte immer an die Verse von Nikolaus Lenau denken:
Scharfgenau die Saiten stimmt,
Giebt dem Bogen noch des Harzes,
Und sein Haar, sein langes, schwarzes,
Wirft er schüttelnd ins Genick,
Drückt die Fidel unters Kinn,
Und sein dunkler Feuerblick
Winkt der Bande zum Beginn.7 –
Sie haben mich aufgefordert, Ihnen alles, was ich treibe zu schreiben, und da muß ich auch mit meinen kleinen Reimereien herausrücken, an denen ich mich selbst jedenfalls am meisten freue und die meine Aurikeln sind. Ich schicke sie Ihnen aufs Gratewohl hin und mache mich darauf gefaßt, tüchtig von Ihnen ausgelacht zu werden.
Wenn ich mich nicht sehr irre, so sind Sie Derjenige, der am besten geeignet ist, durch den Tod unseres lieben Kaisers8 zu einem Gedicht bewogen zu werden, und ich denke halbwegs, daß Sie eins verfaßt haben; wenn es so ist, schicken Sie es mir.
Wenn irgend etwas geschehen sollte zwischen Anna und mir, so will ich es Ihnen sofort schreiben. Sie können garnicht begreifen, wie sehr es mich quält, zu bedenken, daß sie Alles ertragen soll, während es mir doch zukommt, und ich würde mit Freuden alles leiden, wenn ich ihr dadurch helfen könnte. Schreiben Sie mir nur bald einmal.
Mit freundl. Gruß
Ihr E. Barlach.
Brief; Standort unbekannt (Maschinenabschrift in Materialsammlung Friedrich Droß); Barlach 1968/69; [3]
1Laut Friedrich Droß eine unsichere Lesung des Datums aufgrund der Beschädigung des Briefbogens an dieser Stelle (Barlach 1968/69, I 754).
2Louise Barlach zog am 5. 4. 1888 mit den drei Brüdern EBs nach Lübeck (↘ 5). Auf welchen Bruder EB verweist, konnte nicht ermittelt werden.
3Nach seiner Reifeprüfung trat EB als Schüler in die Allgemeine Gewerbeschule in Hamburg ein, um eine Ausbildung zum gewerblichen Zeichenlehrer zu absolvieren.
4Die 1879 von seiner Ehefrau Frances Eliza Grenfell Kingsley (1814-1891) herausgegebene zweibändige Anthologie Charles Kingsley. Briefe und Gedenkblätter.
5Enoch Arden. Idylls of the Hearth (1864, dt. 1867) ist eine von Alfred Tennyson verfasste Ballade. Aufgrund des Erfolgs des Textes waren schon früh verschiedene Übersetzungen erschienen. EB gibt die Übersetzung wieder (Tennyson 1867, 131-159). Die von EB verwendete Ausgabe konnte nicht ermittelt werden.
6Nicht ermittelt.
7Auszug aus dem Gedichtzyklus Mischka (1843) von Nikolaus Lenau. Die zitierten Verse stammen aus dem ersten Teil des Zyklus, Mischka an der Theiss (Lenau 1971, 371f.).
8Kaiser Wilhelm I. verstarb am 9. März 1888 in Berlin. Ihm folgte als deutscher Kaiser und König von Preußen sein Sohn Friedrich III. (1831-1888), der noch im selben Jahr verstarb.
4 an Friedrich Düsel, Hamburg, 25./26. Mai 1888
25. 5. 1888
Lieber Freund,
heute jagte mich Ihr Brief aus dem Bett und aus dem Bereiche einer gänzlichen Mutlosigkeit, die mich nach und nach in Hamburg ergriffen hatte und mich mit eisernen Klauen festhielt. Sie war natürlich die Folge einer körperlichen Schwäche, die mich erst jetzt, nachdem ich fast eine Woche in Luft und Freiheit gelebt habe, verläßt; nun trifft Ihr Brief bei mir ein – nehmen Sie meinen besten Dank dafür. Ich kann Ihnen sagen, daß ich Ihre Kritik nicht nur sehr gerecht, sondern auch sehr milde finde. Seitdem ich in Hamburg ein wenig mehr denken gelernt habe, ist mir die vollkommene Nichtigkeit meiner »Gedichte« klargeworden; sie mögen ganz amüsant sein, um im engsten Familienkreise vorgelesen zu werden, da es einfache Gelegenheitsgedichte sind, aber weiter ist nichts von ihnen zu sagen. Wenn meine Mutter sie nicht als Erinnerung an Schönberg zu lesen liebte, so würden die sehr zahlreichen Manuskripte längst im Ofen des Todes verblichen oder vielmehr verkohlt sein. | Erlassen Sie mir daher Umarbeitungen etc., und lassen Sie mich erzählen. Ich könnte Ihnen viel sagen vom Umgang mit meistens gänzlich ungebildeten Genossen, von Lehrern, die mißgünstig jede freie Bewegung hemmen und dem Menschen nur das Schlechteste zutrauen usw., aber ich will davon schweigen, denn ich habe mich auf viel Schlimmeres gefaßt gemacht und wäre glücklich gewesen, wenn es mir nur in dem einen Fache geglückt wäre, in dem, was später mein Beruf sein soll. Die von mir ausgeübte Zeichenmethode zum Beispiel mußte ich sofort aufgeben, natürlich war »ganz von vorne anfangen« jedes zweite Wort der Lehrer, die bei oft überfüllten Klassen, von denen zwei zuweilen der Aufsicht eines Lehrers anvertraut werden, den einzelnen Schülern nicht die nötige Aufmerksamkeit erweisen können. Nur in einem einzigen Fache habe ich bis jetzt einige Erfolge zu verzeichnen, das ist das Modellieren in Ton, das ich zunächst nur anfing, um einige freie Abende auszufüllen.1 Meine Lehrer, zwei Bildhauer, von denen der eine einigen Ruf in Hamburg hat,2 sagten mir sofort, ich hätte Talent, und rieten mir, Bildhauer zu werden. Wenn es auf mich alleine ankäme, hätte ich längst die nötigen Schritte getan, allein ich muß bei meinem Vormund,3 der es übrigens sehr gut mit mir meint, andere, mehr ins Auge fallende Empfehlungen haben; um deshalb mit den andern Schülern gleichen | Schritt zu halten, will ich versuchen, es außer der eigentlichen Schulzeit auf 20-24 wöchentliche Modellierstunden zu bringen. Wenn ich nur bald meine völlige Gesundheit wiedererlangte!
den 26sten
Eben komme ich vom Arzt, der eine Rippenfellentzündung bei mir konstatierte. An Wiederaufnahme meiner Beschäftigung oder Wegreise nach Altona ist nicht zu denken. Ich muß mich in Geduld fassen – eine saure Arbeit. Sobald es mir besser geht, bekommen Sie von mir zu hören.
Ihr E. Barlach
Brief, 1 DBl. mit 3 beschriebenen Seiten, schwarze Tinte, 17,6 × 11,1 cm; Ernst Barlach Gesellschaft Wedel als Depositum der Kulturstiftung Schleswig-Holstein; Barlach 1968/69; [4]
1EB wechselte von der Ausbildung zum gewerblichen Zeichenlehrer in die Modellierklasse, um Bildhauer zu werden. Der von EB besuchte Kurs bei Theodor Richard Thiele hieß »Modellieren in Ton und Wachs«.
2EBs einflussreichste Lehrer in Hamburg waren Peter Friedrich Woldemar (1823-1902) und Theodor Richard Thiele, wobei die Zuschreibung von »einige[m] Ruf in Hamburg« Thiele galt.
3Heinrich Matthias Julius Barlach. Insbesondere in den ersten Jahren war das Zusammenleben EBs mit dem Vormund von Auseinandersetzungen geprägt, u. a. wegen der auch hier beschriebenen Bestrebungen Heinrich Barlachs, eine künstlerische Laufbahn EBs zu verhindern (K. Barlach 1960, 15-17). Die Bestrebungen waren zumeist aus Sorge um eine finanzielle Belastung der Familie Heinrich Barlachs motiviert, deren Sohn Ernst Julius Friedrich Barlach (↘ 12) bereits zehn Jahre zuvor eine akademische Ausbildung als Kunstmaler angetreten hatte.
5 an Friedrich Düsel, 〈Lübeck〉,1 4. Juli 1888
den 4ten Juli 88.
Mein Freund!
Frevelhafter Diebstahl an andern Personen und an mir selbst ist es, was ich hier treibe, aber ich beschwichtige damit mein Gewissen, das mir vorwirft, wie lange ich schon mit einem Briefe an Sie zögerte. Ihre Forderung: »recht viel und recht bald wird« allerdings nicht befriedigt, noch kann ich Ihrem Wunsche, betreffend den Inhalt dieses Briefes nachkommen, hoffe aber mich zu rechtfertigen, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich noch immer im Bette liege. Zwar durfte ich schon vor ca. 14 Tagen aufstehen, doch der Versuch mislang gänzlich, – aber den Mut habe ich nicht verloren, im Gegenteil: jede Krankheit ist mir eine Zeit der schönsten inneren Anregung, wenn ich mich auch über die Länge der Zeit, die ich nun anscheinend unbenutzt hinbringen muß, zuweilen beklage. Sobald ich soweit hergestellt bin, um reisen zu können, soll ich an die See und zwar für lange Zeit. Seit mir gestern von dem Ergusse zwischen Lunge und Rippenfell 1 Liter abgezapft wurde, fühle ich mich bedeutend besser, habe das Fieber zum Teufel |2 gejagt und nehme baldiges Aufstehen und Reisen in Aussicht; doch zunächst muß ich Ihnen von Anna erzählen; diese schrieb mir, in der Voraussetzung, daß ich wieder genesen wäre, vor einigen Wochen, sie käme am nächsten Tage nach Lübeck und würde auch an unserm Hause vorüber gehen. Natürlich konnte ich nichts thun, als den Verlauf der Sache abwarten, setzte jedoch Mutter und Bruder davon in Kenntnis. Letzterer begegnete Anna und beredete sie hinauf zu kommen – und sie kam, allerdings nicht zu mir, denn jede Aufregung sollte von mir abgehalten werden, aber zu meiner Mutter. Nun, was geschehen ist, ist geschehen, und wer glücklich darüber ist und sich freut, nennt's das Beste, was geschehen konnte. Unser Arzt hat mir als Wehr gegen die Langeweile Bücher geschickt, die mir sehr gefallen: W. Alexis: Der Roland von Berlin, der falsche Waldemar, die Hosen des Herrn von Bredow, der Wärwolf, Cabanis;3 letzteres hat mir aus sehr natürlichen Gründen am meisten zugesagt. Kennen Sie es? Über den »Trompeter von Säkkingen«4 den 〈ich〉 noch nie gelesen war ich überglücklich. Immensee hat mich gänzlich kalt gelassen. Ich werde mich hüten, zu versuchen irgend einen andern Grund anzuführen als den: Ich bin nicht dafür geeignet. |
Trotz der traurigen Umstände, die mir den Aufenthalt in Hamburg so verleidet haben, hatte ich dort manchen Genuß, ich fand einen Freund aus Ratzeburg,5 den ich seit ungefähr 7 Jahren nicht gesehen hatte wieder. Sie wissen was in der Jugend 7 Jahre auf einen Menschen ausmachen, und wir fühlten uns noch ebenso zu einander hingezogen wie sonst, aber unsere Interessen waren begreiflicherweise andere geworden. Den besuchte ich abends oft, und wir plauderten bei einem Glase Bier und qualmenden Pfeifen bis spät in die Nacht hinein. Übrigens ward ich bald nach meiner Übersiedelung nach Hamburg krank; wenn ich morgens aufstand, konnte man meinen Gang nur ein mühsames Schleppen nennen und viele, viele Nächte verbrachte 〈ich〉 unter qualvollem Wachen; jetzt muß ich für mein langes Schweigen durch eine lange Unterbrechung meiner Beschäftigung büßen.
In Hamburg zeichnete ich auch außer der Zeit sehr viel, natürlich Anderes als in der Klasse, auch setzte ich es während meiner Krankheit fort. Mein Verlangen, Bildhauer zu werden, hat sich nur noch gesteigert,6 aber wie ich das bei meinen Vormündern durchsetze, weiß ich nicht; wenn ich selbst mit ihnen persönlich sprechen könnte, getraute ich es mir es zu erreichen, aber wenn ich mich auf Briefschreibereien einlassen soll, stehe für nichts, da die Briefe durch fremde misgünstige Elemente beeinflußt werden (Nämlich die meines Vormundes). |
Verzeihen Sie, wenn ich erst jetzt dazu komme, Ihnen für die geschickten Manuscripte7 zu danken. Eben, als ich Sie wieder einmal durchlas, freute ich mich recht daran. Beim Empfang Ihres Briefes war wohl die Mißstimmung über den Rückfall in die Krankheit einerseits, sowie das mühsam langsame Entziffern, das ein Festhalten des Zusammenhangs unmöglich machte, andererseits der Grund, daß ich von Ihren herben »Waldspaziergängen eines Poeten«8 nicht sehr erbaut war. Aber, pardon! die Überschrift reimt sich nicht zum Inhalt. Sobald ich, was hoffentlich recht bald geschieht, das Bett verlassen darf, schreibe ich ausführlich. Ich sehne mich ordentlich danach, eine gute Stahlfeder zwischen die Finger zu bekommen, dieses Geschmier wird Ihnen rechte Mühe machen. Schreiben Sie bitte, wann und ob Anna nach Strelitz kommt. Wenn sie in Lübeck ist besucht sie meine Mutter. Ihrem Wunsche gemäß schicke ich die Manuscripte mit. Ihr Gedicht9 finde ich anmutig und ganz besonders wahr. Mit bestem Gruß
Ihr E. Barlach
Das Schreibpapier werden Sie einem Kranken gütigst nachsehen.10
Brief, 1 DBl. mit 4 beschriebenen Seiten, Bleistift, Bearbeitungsvermerk des Empfängers, 21,3 × 14,1 cm; Ernst Barlach Haus Hamburg; Barlach 1968/69; [5]
1Um seine Rippenfellentzündung auszuheilen, reiste EB im Juni 1888 nach Lübeck, wo seine Mutter mit den Brüdern lebte. Er blieb bis zu seiner Kur auf Norderney im August desselben Jahres (Crepon 1988, 23).
2↘ Bildtafel 1.
3Anspielung auf Willibald Alexis' sechsbändige Serie ›Vaterländischer Romane‹: Der Roland von Berlin (1840), Der falsche Woldemor (1842), Die Hosen des Herrn von Bredow (1840), Der Werwolf (1848), Cabanis (1832) und Isegrimm. Vaterländischer Roman aus der Zeit der Not und Befreiung (1854). Im besonders hervorgehobenen Cabanis stellt Alexis Preußen Österreich gegenüber.
4Der Trompeter von Säckingen. Ein Sang vom Oberrhein (1854) ist ein Roman von Joseph Victor von Scheffel. Er zählte ab 1870 zeitweise zu den meistverkauften Büchern Deutschlands.
5Vermutlich Hans Hudemann: »Wie in Ratzeburg, so empfingen mich in Hamburg Hans Hudemann und Vetter Richard« (SL, 44).
6Mögliche weitere Lesart: »immer noch gesteigert« (Barlach 1968/69, I 23).
7Nicht überliefert.
8Nicht ermittelt.
9Nicht ermittelt.
10Am linken Rand von Bl. 2v, quer zum Text: »Das Schreibpapier werden […] Kranken gütigst nachsehen.«
6 an Friedrich Düsel, Lübeck, 16. Juli 1888
d. 16ten Juli 88.
Lieber Freund!
Heute schreibe ich hoffentlich zum letzten Male an Sie als Kranker in Lübeck. Auch trägt meine Schreiberei noch immer einen krankhaften Anstrich. Dürftigkeit im Innern und Äußern, wenigstens meine Prosa. Meine Poesie, die ich eifrigst nach Ihren wohlwollenden Regeln umzugestalten strebte, hat, so wage ich mir zu schmeicheln, eine Metamorphose durchmachen müssen, wenn ich auch nicht glaube, daß Ihnen meine Machwerke jetzt schon gefallen werden. Die Lyrik hat mich ganz höflich gebeten, ihr Tür und Tor zu öffnen – zum Hinausschlüpfen; der epischen Dichtung, die schon seit langer Zeit vor dem Tor stand und teil- und zeitweise eingedrungen war, hat sich alles erschließen müssen; beim festlichen Einzug blies der Trompeter von Säkkingen den Siegesmarsch. Doch ich will nur die Schleusen meines Redestromes schließen, zumal da mich die Zeit drängt und ich eine Bitte an Sie habe; die Sie natürlich längst erraten haben: beiliegenden Brief an Anna zu geben.1 Dem folgt noch die bescheidene Bitte, sie zum Schreiben anzuhalten, wenn ich's auch nicht verdient habe; auch würde es mich sehr freuen, einige Zeilen von Ihrer Hand zu sehen. Bis Montag d. 23ten verbleibe ich in Lübeck, möglichst bald gebe ich Ihnen meine spätere Adresse.
Mit bestem Gruß
Ihr E. Barlach.
Brief; Standort unbekannt (Maschinenabschrift in Materialsammlung Friedrich Droß); Barlach 1968/69; [6]
1↘ 7*.
7* an Anna Spiekermann, 〈Lübeck, vor dem 17. Juli 1888〉
Nicht überlieferter Brief, den EB seinem Brief an Friedrich Düsel vom 16. Juli 1888 (↘ 6) beilegte.
8 an Friedrich Düsel, Norderney, 6. August 1888
Norderney1 den 6ten August 1888.
Lieber Freund!
»Sturmflut« herrscht draußen am Strande und wir haben die angenehme Aussicht, noch 2 Tage uns vor den vereinten Schrecken des Meeres und der Luft beugen zu müssen – eine Lage, die viel von ihrem Schrecken verliert, wenn man die 20 jungen Leute von 10-20 Jahren erwägt, die dann aufeinander angewiesen sind.
Ihr herzlicher Brief hat auf die Sturmflut in meinem Innern, die aus mir selbst unerklärlichen Veranlassungen entstanden ist und auf ebenso Unerklärliches hinzielt, keine beruhigende Wirkung gehabt, und ich will Sie nicht mit philosophischen Betrachtungen quälen, die zu nichts und aber nichts führen, ich will nur sagen, daß ich aus diesem »Sturm und Drang« herausfinden muß, oder darin umkommen – eine Unterredung mit einem Busenfreunde würde vielleicht viel helfen, im Übrigen beherzige ich ein Wort Carlyle's,2 des englischen Schriftstellers, eines Freundes von meinem Kingsley, das ich neulich in einem Aufsatz über diesen Schriftsteller fand: »Er erkennt endlich den rechten Lebenszweck des Menschen, die Tat«.3 Ich finde nichts so wahr geschildert als das Bild des jungen Menschen in Carlyles Sartor Resartus:4 »Auch der letzte Rest des Glaubens geht ihm verloren«. – – – – »Aber als unentreißbare Schätze sind die Liebe zur Wahrheit und ein energischer Haß gegen alle Falschheit im Handeln und Denken geblieben.«5 Doch ich will dieses unerquickliche Gespräch nicht fortsetzen, da es Ihnen nicht angenehm sein kann und mir nichts nützt. – Der Nordweststurm, der das Meer gegen die arme Insel empört, brachte mich heute Morgen auf andere Gedanken, ich eilte ans brüllende Meer, wo ich indessen den Strand, sonst Promenade für sämtliche Badegäste, nicht mehr vorfand, indem er sowohl als sämtliche Molen oder »Buhnen« von einer kochenden Gischtmasse bedeckt war; ich suchte und fand jetzt einen Beobachterposten auf einer Düne ungefähr 20 Fuß über dem Meer, obgleich noch nicht außer dem Bereich der Schaumflocken, die ganzen Dünenstrecken das Aussehen eines Schneegestöbers verliehen. Hinter der Brandung drohte die See, durch ihre tiefgrüne Farbe und die vom Lande kurz scheinenden Wogen wie ein Magazin eiserner Gewalt aussehend, dazwischen warf die Sonne hellgrüne Streifen, deren Farbe aber der Glanz der sich überstürzenden prächtig grünen Wogen übertraf; darüber standen am Himmel, der mit tiefem Blau durchs zerrissene Gewölk sah, hellgraue Wolkenballen fest und unbeweglich, während schwarze Streifen vom Sturm gepeitscht unter ihnen fortflogen. Das Auge des Zuschauers, der selbst gegen den Wind kämpfen muß, wenn er seinen Standpunkt behaupten will, folgt mit Spannung der heranfliegenden, von der schon gebrochenen Woge entsandten Schaummasse, die sich tief in das Erdreich der armen Insel einbohrt, einige Kubikmeter hat das Meer gewonnen und die zurückweichende Wassermasse führt im Triumphe Holz und Grashaufen auf ihrem Rücken mit fort, nachdem sich die Erde aufgelöst hat; nun aber kämpft das Meer gegen das Meer: die zurückweichenden Wellen prallen gegen die nachrückenden, ein Donnern, hoch aufspritzt ein weißer Sprühregen, der sich, einen herrlichen Anblick gewährend, an der Küste weithin fortpflanzt, hell gegen den sonst schmutzigen Gischt der Küstenbrandung abstechend.6 –
Hier wurde ich gezwungen, abzubrechen durch den Besuch eines Mitpensionärs, eines Juden,7 gegen die als Menschen Vorurteile zu hegen mir abgeschmackt deucht; er hat den Anschein eines Tiefsinnigen und hat auch durch übermäßig vieles Denken so gelitten, daß er gegen alle äußeren Dinge abgestumpft ist. Zuerst hielt ich ihn für wahnsinnig, da er mir als Tischnachbar so wunderliche Fragen und Bemerkungen auftischte, daß es mir kalt über den Rücken lief; jetzt, nachdem ich mehrere Stunden mit ihm gesprochen habe und wir uns, die wir beide die einsamsten Dünengegenden aufsuchen, zuweilen getroffen haben, kenne ich ihn als einen scharfen Kopf. Er begehrte, meine Zeichnungen zu sehen, unter denen auch eine war, die ihn selbst unter einem Schirm im Sonnenbrande mit dem Buch auf den Knieen eifrig lesend darstellt; dabei waren dann kleine gereimte Überschriften,8 die ihm ein sanftes Lächeln auf die strengen Lippen lockten. Nun behauptete er, ich müsse als zuletzt Angekommener, wie es in manchen Häusern unter jungen Leuten die Sitte sei, eine Erzählung schreiben, was ich denn unter der Bedingung annahm, daß er sich ebenfalls zu einer solchen Arbeit verpflichtete.
Wie ich schon sagte, haben wir von der Langenweile, die ja in den diesjährigen Bädern Platz ergriffen haben soll, nichts zu leiden, im Gegenteil, ist eine recht angenehme Abwechselung, einige Tage eingesperrt zu sein. Wenn dann der Sturm am Abend ums Haus heult, finden sich immer Mehrere zusammen und es giebt die wunderbarsten Unterhaltungen. Es sind Lutheraner, Katholiken und Juden zusammen, dann kommt die Rede sehr bald auf Religion, und Freimütigkeit ist Hauptbedingung.
Tätigkeit in meinem zukünftigen Berufe ist das einzige, über das ich Rechenschaft ablegen kann, ohne Tadel befürchten zu müssen. Ich habe viele Skizzen gezeichnet, meistens kleine Kompositionen und ich habe die Zuversicht, daß mich dieser Weg meinem Ziele näher bringt; die bildhauerische Tätigkeit allerdings habe ich während der Krankheit aufstecken müssen, aber in schlaflosen Nächten, wenn mich das Fieber gepackt hielt, bildete ich allegorische Gestalten aus Marmor, wie ich überhaupt die Gewohnheit habe, jeden Kopf, der mir gefällt, jede anziehende Gestalt plastisch im Geist auszuführen und auch selbständig zu schaffen. Es kommt jetzt (nur) (!!!) drauf an, meinen Vormund zu der Erlaubnis zu bewegen; das ist bald getan, – wenn nicht mein Onkel dahinter steckte, der von einer »bösen Tante«9 abhängt; also kommt es darauf an, diese unschädlich zu machen, was ich nächstens angreifen werde. Halten Sie es nicht für kindisch, was ich hier sage, wir haben schon manchen Kampf ausfechten müssen.
Damit Sie sich von meinen Fort- bzw. Rückschritten überzeugen können, werde ich einige Skizzen für Sie zeichnen, und den Bitten der guten Leutchen um meine Blätter Widerstand leisten. Ich hatte in Lübeck gedacht, eine Sage von dem Badedorfe an der Ostsee »Gaarz«10 wo wir vor 2 Jahren waren, die ich, nämlich die Sage, in Reime gebracht hatte, umzuarbeiten, wobei sie allerdings ein anderes Aussehen bekommen würde; wenn etwas daraus wird, werde ich sie Ihnen schicken. Das von Ihnen erwähnte Gedicht besitze ich leider nicht, werde aber nach meiner Rückkehr meine Papiere danach durchsuchen, obgleich es voraussichtlich erfolglos sein wird. Beiliegenden Brief geben Sie bitte Anna11 – aus Ihrem Brief sah ich zu meiner großen Freude, daß Sie mich nicht mehr im Verdacht haben, auf Sie eifersüchtig zu sein. Ich sehe längst ein, wie niedrig das Gefühl der Eifersucht ist – viele Kämpfe hat mirs gekostet. Ich kenne mich überhaupt selbst kaum. Früher gabs keinen heißblütigern, vorschnellern Burschen wie mich; Hamburg hat mich sehr mitgenommen und noch kann der Gedanke, wieder in diese Stadt, wo ich nichts Gutes und viel Schlechtes gefunden habe, zurückkehren zu müssen, mich für lange Zeit melancholisch machen.
Mit Gruß Ihr ergebener
Ernst Barlach.
Brief; Standort unbekannt (Maschinenabschrift in Materialsammlung Friedrich Droß); Barlach 1968/69; [7]
1Zur Behandlung seiner Rippenfellentzündung machte EB von August bis Mitte Oktober 1888 eine Kur auf Norderney in einem »Hospiz oder Internat« (SL, 45; Crepon 1988, 23).
2Thomas Carlyle.
3Nicht ermittelt.
4Der 1883-84 zuerst als Serie im Fraser's Magazine erschienene Roman von Thomas Carlyle (dt. Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdröckh) ist eine Herausgeberfiktion über einen jungen Philosophen namens Diogenes Teufelsdröckh.
5Nicht ermittelt.
6Friedrich Droß identifiziert hierin eine Anspielung auf das Fragment Der Strandwärter, meint aber vermutlich Der Strandwächter (Barlach 1968/69, I 755; KS, 746-751). Die Schilderungen der Nordsee weisen Ähnlichkeiten auf. Eine direkte Bezugnahme ist aber nicht nachzuweisen, zumal EBs erste Erwähnung des Textes fast vier Jahre später erfolgt (↘ 65). Ulrich Bubrowski hingegen datiert den Text erst auf das Ende der 1890er Jahre (KS, 897).
7Die Schilderungen des Mitpensionärs, insbesondere der Bericht über die wechselseitige Verpflichtung zum Verfassen einer Erzählung, weisen Parallelen zu EBs Schilderung einer Begegnung mit Salomo Friedländer auf (SL, 45f.). Auch Friedländer schildert die Begegnung mit EB in seiner Autobiografie: »In der Pension, der ein Arzt vorstand, hielt ich Kameradschaft mit einem Jüngling, der später als Bildhauer und Dramatiker berühmt wurde: Ernst Barlach. Jahrzehnte später machte mich der Dichter Theodor Däubler darauf aufmerksam, daß Barlach mich in seiner Autobiographie erwähnt hatte« (Mynona 2003, 23).
8Von EBs Kuraufenthalt auf Norderney ist eine Sammlung von dreizehn einzelnen Zeichnungen überliefert, die zusammen mit den Niendorfer Skizzen in den Einband eines ehemaligen Skizzenbuchs gelegt waren (Wittboldt/Laur 5). Die erwähnte Zeichnung ist nicht überliefert. Im Skizzenheft finden sich lediglich Landschaftsbilder.
9Minna Barlach.
10Auf welche Sage EB hier anspielt, konnte nicht ermittelt werden; zu Alt-Gaarz sind mehrere bekannt: Das Todtenduell in Alt-Gaarz, Der spukende Fischer bei Alt-Gaarz, Der schwarze Boll in Alt-Gaarz, Der Glockenguß in Gaarz (Bartsch 2013, 190, 400, 373, 374). Alt-Gaarz wurde 1938 in Rerik umbenannt.
11↘ 9*.
9* an Anna Spiekermann, 〈Norderney, vor dem 7. August 1888〉
Nicht überlieferter Brief, den EB seinem Brief an Friedrich Düsel vom 6. August 1888 (↘ 8) beilegte.
10 an Friedrich Düsel, Norderney, 25. September 1888
Norderney d. 25ten September 1888
Liebster Freund!
– »Noch immer in Nord.?« werden Sie unwillig fragen, denn die Adresse Ihres lieben Briefes sagt mir, daß Sie mich schon zu Hause wähnen. »Allerdings«, antworte ich, noch immer auf Norderney; allein nicht auf dem, von wo ich Ihnen meinen letzten Brief schrieb. Dieses Norderney bietet nicht mehr eine traurige, einfarbige Dünenlandschaft, keine Stürme umtosen es mehr und nicht mehr teilt des Meeres Gährung sich der Seele mit, lachend im Strahle der Sonne schwimmt es in der tiefblauen von leisem Windhauch bewegten See, umgeben rings von blitzenden Schaumkronen, ein wundervolles Stück Erde, auf dem im goldigen Morgenlichte die sonst so traurigen Dünen Farbe nehmen, daß das Auge des Beobachters entzückt von Hügel zu Hügel eilt und voll Wonne alle Schönheiten einsaugt, die sich überall aufdrängen. Und geheilt an Leib und Seele blicke ich ins lachende Blau des Himmels und danke meinem Schöpfer, der mich gesunden ließ, als alles krank »schien«. Ja, mein Freund, hier muß der Mensch gesund werden; ich wollte, Sie könnten hier sein, um mit Ihnen und an Ihnen zu lernen, was leben heißt »im rosigen Licht«, zu wandern mit Ihnen »durch Berg und Thal«, oder in stiller Mondnacht den Silberschein in den Gräsern beobachten, oder bevor die Hähne krähen, bei Sternenschein wandern und dann den jungen Tag bewundern, wenn noch die ganze Insel im Schlaf liegt. Ich möchte Ihnen stundenlang erzählen, wie großartig die Natur hier ist, allein ich denke Sie kennen dergleichen, und wissen, was es heißt, ergriffen sein, von Gottes Allmacht und Nähe zu fühlen, und diese Schauer der Seele, der tiefste Schmerz und größte Entzücken zugleich. |
Armer Freund! Der Schluß Ihres Briefes ist unendlich traurig. Nichts ist bitterer als Selbstanklage – wie soll ich trösten, wenn ich nicht entschuldigen kann, Balsam auf die Wunde legen, wenn nicht das Gift, der Stachel daraus entfernt ist? Sie brechen Ihren Brief so plötzlich ab, wie wenn der Schmerz Sie übermannte, heraus aus Ihrer ergötzlichen Erzählung reißt Sie der Gedanke an sie, deren Anblick noch jede Fiber Ihres Herzens erbeben macht – ich bin kein Bußprediger, aber ich rate Ihnen als Freund, Ihr Leben gewissen Gesetzen und Regeln anzupassen, sich selbst als ärgsten Feind anzusehen und das eigene Ich zu zähmen. Nehmen Sie diese Worte auf, wie sie gemeint sind; ich rede nur nach meinen Ansichten, ich fühle mich nur wohl und kann denn immer auch fröhlich sein, wenn ich mir sagen kann: »ich habe mich selbst am besten in Zucht.« Daß man bei dieser Selbsterziehung niemals aufhören darf ist mir auch klar geworden. – Aber Sie werden jedenfalls selbst das rechte treffen, und ich bitte Sie mir zu schreiben, daß Sie meine Worte nicht etwa für Anmaßung halten.
Ich hoffe täglich auf einen Brief, der mir die Nachricht bringt, daß ich recht bald fort darf – gesund bin ich, das hat mir der Arzt gesagt. Ich gehe dann erst nach Hamburg zurück – um Bildhauer zu werden. Ich möchte Ihnen gerne einige Proben meiner Kunst geben, aber plastische Arbeiten lassen sich nicht in Briefen schicken und ich kann Ihnen nur mit Zeichnungen dienen. Mein Skizzenbuch füllt sich zusehends mit großen Ansichten von der Insel Norderney,1 die mir eine liebe Erinnerung sein werden. Meine Freunde sind jetzt fast alle abgereist – der Jude schon vor 5 Wochen – er hat uns einen Glaubensgenossen zurückgelassen,2 in dem sich alle schlechten Eigen- | schaften seines Volkes vereinen. Ich Unglückswurm bin sein Stubengenosse geworden und er ist nachgerade der Gegenstand des Abscheues vom ganzen Pensionat und es vergeht selten ein Tag, an dem ihm nicht ein Schabernack zugefügt wird. Zum Exempel: Ich gebe eines schönen Abends vor, mit einem anderen in den gerade hier weilenden Cirkus zu gehen und halte mich so den ganzen Abend von ihm entfernt. Die Nacht verbringe ich auf einer andern Stube, stehe am nächsten Morgen früh um 5 Uhr auf, schwärze Gesicht, setze den Hut auf die wirren Haare und begebe mich scheu umher blickend mit einem schweren Schatz an Gold und Silbergeld in meine Stube, wo Meyer, so ist der Name dieses Ekels, sich schlafen stellt und mich dabei genau beobachtet, wie ich gierig mein Geld zähle und verstecke. Beim Kaffee erwartet ihn unser Secretär, der sich trefflich aufs Lügen versteht, mit der Nachricht, es sei in der Nacht eingebrochen, Belohnungen seien auf den Entdecker des Thäters gesetzt etc. Herr Meyer, ein 15jähriger Secundaner aus Berlin mit der Statur eines 8jährigen Knaben, denkt sogleich an mich, spricht mit dem und jenem aus dem Pensionat und findet in meiner Kommode im Tabak versteckt das rote Geld und 2 Dietriche, bei welchem Anblick er, wie die andern berichten, vor Freude fast wahnsinnig gewesen ist. Wie ein über den Fall der Seele triumphierender Teufel übergiebt er jetzt die Untersuchung der Sache unserm Oberen, einem Kandidaten der Theologie, Herrn Ziegeler,3 der natürlich eingeweiht ist. Er kommt zu mir und beginnt das Verhör, auf dem Korridor steht erwartungsvoll und ängstlich lauschend das gesamte Pensionat, darunter Herr Meyer, der vorsorglich einen großen Teil der ausgesetzten Belohnung für sich in Anspruch nimmt. Zornige Ausrufe dringen nach außen, geheimnisvoll werden Erwachsene hereingerufen, der Inspektor, um das Protokoll aufzunehmen – kurz alles geschah, was geschehen konnte: Herr Meyer sprach den Entschluß aus am Nachmittag auf die Polizei zu gehen und gleich | die Belohnung in Empfang zu nehmen. Die Ausführung dieses Planes vereitelte ich, indem ich ihm bei Tisch einen Zettel auf den Teller legte mit der Mitteilung, ich würde ihm »den Hals umdrehen«. Nun geriet er in namenlose Angst, er war bleich, aß kaum einen Bissen, und trank Wein, fürchtend, er wäre vergiftet; als ich gar anfing, zwei Tischmesser gegeneinander zu wetzen, flehte er Herr Ziegeler an, ihn zu beschützen. Nach Tisch lief er von Todesfurcht gefoltert außer dem Hause ratlos auf und ab, bis wir es für gut fanden, ihn aufzuklären, doch vergeblich – mehrere Stunden lang glaubte er nichts, und schrak bei meinem Anblick heftig zurück. Er ist bei seiner Kleinheit der unverschämteste Jude, den es giebt, einem jeden widerlich. Er denkt, für sein Geld soviel wie möglich essen zu müssen, und überißt sich bei jeder Mahlzeit, liegt dann bis zur andern ächzend mit verdorbenem und überfülltem Magen auf dem Sofa in unserer Stube, wodurch er für mich stets den Aufenthalt darin unmöglich macht, und rafft sich dann auf, um sich wieder krank zu essen – brr! glücklicherweise verduftet er Donnerstag und Niemand wierd ihm eine Thräne nachweinen.
Mein nächster Brief an Sie wird hoffentlich von Hamburg aus gehen, wo ich mich wohl besser und heimischer fühlen werde als in der Zeit von Ostern bis Pfingsten, die jedenfalls die traurigste in meinem bisherigen Leben gewesen ist. Mein vieles Arbeiten ließ mich dessen nie bewußt werden bis endlich die lange vorhandene Krankheit zum Ausbruch kam. Doch sei es endlich abgethan! Mit frischen Kräften gehe ich jetzt an die Arbeit und ich hoffe, Ihnen bald gute Nachricht senden zu können. Ehe ich nach Hamburg gehe, werde ich meine Schritte nach Schönberg richten, um meine liebe, treue Anna zu sehen. Wie ich mich darauf freue, kann ich Ihnen nicht beschreiben.
In treuer Freundschaft
Ihr Ernst
Brief, 1 DBl. mit 4 beschriebenen Seiten, schwarze Tinte, Bearbeitungsvermerk des Empfängers, 22,2 × 14,2 cm; Privatbesitz; Barlach 1968/69; [8]
1↘ 8, Anm. 8.
2Arthur Meyer.
3Nicht ermittelt.
11 an Friedrich Düsel, Hamburg, 31. Oktober 1888 bis 5. November 1888
Hamburg d. 31ten Oktob. 88.
Lieber Freund!
Endlich bin ich einigermaßen in Hamburg im neuen Quartier1 zur Ruhe gekommen und will den ersten freien Abend benutzen, einen Brief an Sie als Antwort auf die in Lübeck sehr willkommenen Zeilen von Ihnen anzufangen. – Anzufangen, denn ich weiß nicht ob ich in den nächsten 3 Tagen dazu kommen werde, ihn zu Ende zu bringen. Ich habe nämlich in den letzten 3 Tagen der Woche den ganzen Tag Modellieren und muß 6-8 Stunden dabeistehen – für einen Anfänger und besonders, wenn derselbe soeben aus dem Bade kommt, eine schwere und ungewohnte Sache. Meine bisherige 1 wöchentliche Thätigkeit auf der Gewerbeschule kann ich folgendermaßen zusammenfassen: Symbole von Ruhm und die größte Schönheit traten mir als Etwas entgegen, und zwar – die Schattenseite fehlt nicht – zeigten sie mir, wie schwer jener zu erlangen ist und daß ich von dem Wesen dieser bisher noch keine Ahnung hatte. Um kurz zu sein, ein Lorbeerkranz als Zeichnung und ein lebensgroßer Venus-Kopf als plastische Arbeiten sind meine ersten Motive.2 Diese letzten Wochentage sind trotz aller Anstrengungen wirklich schön; acht angehende junge Bildhauer sind wir den ganzen Tag uns selbst überlassen, nur am Morgen geht unser Lehrer, der Bildhauer Thiele einmal zu eines Jeden Arbeit, um sich von den Fortschritten derselben zu überzeugen.
Doch ich will Ihnen zunächst von dem Kaisertag3 und unserm herrlichen jungen Herrscher schreiben; nicht was Sie in jeder Zeitung finden können, sondern nur was ich sah, will hersetzen.
Von der eigentlichen Feier, der Schlußsteinlegung hörte und sah ich | natürlich nichts, da die Brooksbrücke, wo der Akt stattfand, von Tribüne umgeben war, zu der nur Auserwählte Zutritt erhalten konnten. Morgends 12 Uhr sah ich den Kaiser im Wagen ein paar Sekunden als er in Hamburg einen Bahnhof passierte, da bot mir ein alter Ratzeburger Freund,4 der hier im Geschäft ist und 2 Karten zu Plätzen auf den im Zollkanal liegenden Schuten5 erhalten hatte, eine davon an. Daß ich nicht lange Bedenken trug wirst Du … pardon! werden Sie erklärlich finden und sporenstreichs eilten wir zu unsern Plätzen, an denen vorbei das Kaiserboot auf der Fahrt nach der neuen Elbbrücke kommen mußte. Bis 2 Uhr, bis zu welcher Zeit des Kaisers Fahrt auf der Alster durch die Stadt nach der Brooksbrücke und die Schlußsteinlegung stattfand mußten wir warten und wir saßen »im Warten« als wir die günstige Gelegenheit benutzten, ein auch am Zollkanal liegendes Dampfschiff zu besteigen, das den Kaiser auf seiner Elbfahrt begleiten würde. Der Dampfer füllte sich bedenklich mit Menschen, dichter aber stand die Menge an beiden Ufern, auf Treppen und Brücken, in den Wanten6 der Schiffe, hing auf Steinvorsprüngen in den Mauern und hatte selbst die Dächer, die alten morschen Dächer der zum Teil sehr alten Häuser für teures Geld (wie ich hörte hatte ein ganz gewöhnlicher Mann eine Dachseite für 20 M gemietet!) für einen Augenblick in Besitz gebracht. Die Mitte des vielleicht 20 Schritte breiten Kanals wurde durch Zollkreuzer von Schiffen frei gehalten, als Symbol dafür, daß die Zollbaute7 zum Teil unter Wasser mühsam ausgeführt worden, hatten nicht weit von uns 2 Taucher mit Fahnen Posto gefaßt,8 die beim Vorbeifahren des Kaisers auftauchen sollten. Eine Stunde vor der Zeit stiegen diese lustigen Gesellen unter dem Jubelgeschrei der Menge ins Wasser, um sich am Grunde und in der Mitte des Kanals in allerlei Capriolen zu ergehen. Einmal – | wie wir später erfuhren, als der greise Feldmarschall Moltke nach dem Kaiser die 3 Hammerschläge that – hörten wir ganz in der Ferne vielstimmigen Jubelruf, endlich tönte Musik und unter einer Brücke durch, gerade auf uns zu, dampfte mit der Kaiserstandarte, begleitet von einem Dampferchen der Hafenpolizei, die weiße Dampfbarkasse des Kaisers9 heran. Endlose Hurrahs schallten von hüben und drüben und bis hoch an den Häusern hinauf war es weiß von winkenden Tüchern, daß alle bunten Fahnen und andere Dekorationen verschwanden. 6-7 Schritte fuhr das Kaiserschiff an uns vorüber, der Monarch stand ganz hinten mit mehreren Herrn im Frack und andern in großer Uniform. Er selbst war im Helm und hatte einen Mantel über die Schultern gehängt. Als wir mit unsern Demonstrationen begannen, wendete er sich zu unserm Dampfer und legte die Hand an den Helm. Er sah ernst aus, aber sein Auge war so freundlich wie das des alten Kaisers Wilhelm. Als alle Begleitdampfer, wohl 50 an der Zahl vorüber waren, schlossen wir uns an und kamen noch rechtzeitig zu der Elbbrücke, um den Kaiser im Wagen darüber fahren zu sehen, begleitet von jubelnden Kindern, dann bestieg er einen großen Raddampfer und begann, während alle Arten Dampfschiffe ihn umwogten die Elbfahrt. Die Schiffe, besonders Segelschiffe waren übersäet mit bunten Fahnen, und die Matrosen hingen hoch in den Raaen.10 Während der »Patriot« des Kaisers Schiff, in den Segelschiffhafen einbog blieben wir alle davor liegen, als er wieder zurückkam, verschaffte uns unser tölpelhafter Kapitän, der dazwischen einigemale mit andern Schiffen zusammengerammt war, ohne jedoch ein Unglück anzurichten, auf einmal den nahen Anblick des Kaisers. Der Patriot dampfte stromab, gerade auf uns zu, der Kapitän blieb mit seinem Schiff baumstill liegen und setzte sich erst in Bewegung, als schon der Dampfer der Hafenpolizei herbeischoß. | Nun fuhr der Kaiser zwischen unserm Schiffe und einem Riesendampfer, der den Waisenkindern überlassen war fast Bord an Bord durch. Er winkte und grüßte lebhaft mit der Rechten nach den Kindern zu, grüßte dann zu uns herüber und schoß vorbei; ich hatte noch eben Zeit die scharfen Züge des Feldmarschalls Moltke ins Auge zu fassen, da verhüllte der Dampf, der über allen Schiffen wogte das Schiff, daß wir es nicht wiedererblickten. – Der andere Teil des Tages war weniger erquicklich: Drängen und Stoßen in den Straßen, Jammerrufe und Flüche der von Schutzleuten Übergerittenen, wenn diese auf die Menge einritten, um die Passage frei zu halten und dann wieder die ergötzlichsten Scenen, weiter sah hörte und fühlte ich nichts, bis mich das abgebrannte Feuerwerk mit seinen Kanonenschlägen überzeugt hatte, daß der Kaiser fort war und ich mich mit gutem Gewissen der Pflege und Auffrischung meiner körperlichen Zustände überlassen könnte, was mir auch mit Hülfe von Bier und Toback in meinem »Daheim« gelang. Das war ein schöner Tag, dessen ich mich auch noch oft mit Freuden erinnern werde!
Montag, d. 5ten November
Die übersandten Scizzen von Norderney bitte ich mit nachsichtigem Auge zu betrachten und sie zurückzusenden, ich habe fürs erste so viel anderes zu thun, daß ich wohl sobald nicht dazu kommen werde, sie auszuführen, wie es meine Absicht ist. Meine Adresse ist: C. P. Pahl. Kapellenstrasse No 6IV, die Sie hoffentlich bald einmal benutzen werden. Von Anna erwarte ich täglich eine Antwort auf meinen letzten Brief.11 In Schönberg war es mir leider nur möglich, sie eine halbe Stunde zu sprechen. – Doch ich muß schon zufrieden sein, ja jede Minute eine Seligkeit war. Findet Ihr Cicero