Die Chaos-Götter 1: Die Götter sind los - Maz Evans - E-Book
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Die Chaos-Götter 1: Die Götter sind los E-Book

Maz Evans

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Beschreibung

Krawumms! Bruchlandung im Kuhstall – so hatte Virgo sich ihre Mission auf der Erde nicht vorgestellt. Auch bei Elliot läuft es nicht gerade optimal: Seine Mum ist krank, das Geld ist knapp und sein Lehrer hat es auf ihn abgesehen. Da hat er Besseres zu tun, als sich um ein durchgeknalltes Sternbild-Mädchen zu kümmern. Doch dann befreien Elliot und Virgo aus Versehen den Todesdämon Thanatos. Jetzt müssen sie bei der Weltrettung gemeinsame Sache machen. Zum Glück bekommen sie göttliche Unterstützung. Nur sind Zeus, Hermes, Aphrodite und Athene zwar unsterblich, aber nicht immer sooooooooooo hilfreich.   Alle Bände der sagenhaft komischen Chaos-Götter-Serie: Die Götter sind los (Band 1) Götter allein zu Haus (Band 2) Götter an Bord (Band 3) Götter mit Schuss (Band 4)

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Für IanDer Ausgang ist ungewiss.Aber es wird schon werden …

Es begann an einem Freitag, wie viele seltsame Dinge im Leben. Aber dieser spezielle Freitag übertraf alles, obwohl er ganz normal anfing. Elliot Hooper stand um 7:30 Uhr auf und machte seiner Mum um 8:15 Frühstück, so wie immer. Dann ging er um 8:55 in die Schule, ebenfalls wie immer, und stand um 9:30 im Büro des Schulleiters – das war allerdings etwas später als sonst.

»Oh, Elliot«, seufzte der Direktor der Brysmore Grammar School. Er hieß Graham Sopweed und war genauso schwammig wie sein Name. »Was machen wir nur mit dir?«

Elliot kratzte sich an seinem blonden Wuschelkopf. »Sie könnten mich die restlichen Klassen überspringen lassen und direkt zum Herrscher des Weltalls machen« konnte er nicht gut sagen, also hielt er den Mund.

»Du bist in letzter Zeit so … abwesend«, fuhr Mr Sopweed fort, um das Schweigen zu brechen. »Ist alles in Ordnung? Oder stimmt etwas in der Schule nicht? Oder vielleicht zu Hause?«

Elliot wich dem besorgten Blick des Direktors aus. Die Schule war … na ja, wie immer. Langweilig, nervtötend, sinnlos. In dieser Hinsicht gab es nichts Neues. Aber zu Hause? Das war eine andere Geschichte …

»Mir geht’s gut«, sagte er nach einer langen Pause. »Danke, Sir.«

»Ähm, was ich dir noch sagen wollte, Elliot.« Mr Sopweed seufzte erneut und strich sich nervös die fransigen grauen Haare aus der Stirn. »Nenn mich Graham. Wozu haben unsere Mütter uns so schöne Vornamen gegeben, wenn wir sie nicht benutzen?«

Die Schüler hatten weitaus kreativere Namen für ihn als der, den ihm seine Mutter gegeben hatte. »Nenn mich Graham« war noch der höflichste.

Draußen schrie jemand und der nervöse Direktor sprang fast an die Decke vor Schreck. Manchmal tat er Elliot beinah leid. In der Schule kursierten verschiedene Theorien, warum er so ein Nervenbündel war, und nicht alle kamen von Elliot. Weil seine Frau ihn verlassen hatte, behaupteten die einen, weil sie ihn nicht verlassen hatte, die anderen. Und Elliots Lieblingstheorie: Nenn-mich-Graham war in Wahrheit ein entflohener Serienkiller. Elliot stellte sich vor, wie die Polizei in Crimewatch einen Aufruf an die Bevölkerung richtete: Leider befindet sich Graham Sopweed, der berüchtigte Strickwesten-Killer, noch immer auf freiem Fuß. Der Mann ist gefährlich. Bitte wenden Sie sich sofort an Ihre nächste Polizeidienststelle, falls Graham Sopweed eine Person in Ihrer Umgebung zu Tode gelangweilt haben sollte …

»Die … die Sache ist nämlich die, Elliot, dass jeder hier an der Brysmore dir helfen will, dein Potenzial voll zu entfalten …«

»Mmmh. Nicht jeder, Sir«, murmelte Elliot.

»Wie meinst du das?«, rief Nenn-mich-Graham alarmiert und riss vor Aufregung beinahe einen Knopf von seiner Strickjacke. »Für die Lehrer hier ist es Ehrensache, alle ihnen anvertrauten Schüler nach besten Kräften zu fördern, zu ermutigen und anzuleiten. Wir sind jederzeit für euch da, stehen euch mit einem freundlichen Wort oder einem guten Rat oder …«

»WOZUMTEUFEL steckt dieser GOTTVERDAMMTE, ELENDENICHTSNUTZ von einem Schüler, falls man ihn überhaupt so nennen kann?«

Die Bürotür flog krachend auf und der Direktor stieß einen hohen, wimmernden Schrei aus, wie ein Kätzchen, das nach seiner Mama ruft.

Elliot war die verhasste Stimme nur allzu vertraut.

»Ah … hallo«, fiepte Nenn-mich-Graham. »Wie Sie sehen, bin ich mitten in einem Gespräch mit Elliot …«

»Hooper«, keifte die Stimme, dann stampfte jemand hinter Elliots Stuhl und verpestete die Luft mit einem Körpergeruch, der Chemiewaffenrang besaß.

Nur eine Person brachte es fertig, Elliots Nachnamen wie ein Schimpfwort klingen zu lassen. Und diese Person war Mr Boil, Leiter der Geschichtsabteilung und stellvertretender Direktor der Brysmore Grammar School. Aber vor allem war Boil – was so viel wie Tobsüchtiger bedeutete – der schlechteste Lehrer der Welt. Es sei denn, irgendwo auf der Welt existierte einer, der seine Schüler direkt zu Mettwurst verarbeitete.

Boil war klein und speckig wie ein Schweinchen – der einzige Mensch mit »fetten« Augen, den Elliot je gesehen hatte. Diese Augen blinzelten so angewidert durch eine dicke, dunkle Hornbrille auf die Schüler, wie andere Leute auf ein verdrecktes Katzenklo starren. Der Mann machte ein Gesicht, als hätte er ständig einen schlechten Geruch in der Nase (hatte er ja auch – seinen eigenen).

Die paar Haare, die ihm noch blieben, hatte er kunstvoll über seinen Schädel drapiert. Sie waren fettig und dunkel und nur die Hoffnung hielt sie dort. Boil hatte drei schwabbelige Kinne, die mit bloßem Auge erkennbar waren, aber niemand wusste, wie viele noch unter seinem Hemd lauerten, das nach vier Tage alter Gemüsesuppe roch. Boil hasste alle Schüler und ganz besonders Elliot, der ihn im letzten Jahr mehr als einmal zur Weißglut gebracht hatte.

»Sir?«, sagte Elliot mit Unschuldsmiene.

»Spar dir den Sir, Hooper«, fauchte Boil und brachte sein verschwitztes Gesicht millimeterdicht vor Elliots. »Was du dir in der Versammlung geleistet hast, ist ungeheuerlich – nicht nur respektlos, sondern einfach ekelhaft.«

»Ja, das wollten wir gerade …«, stotterte Graham.

»Er hat den Namen der Schule entehrt«, brüllte Boil. »Er hat Schande über sich gebracht! Und über die Schule! Er hat meine brillante PowerPoint-Präsentation über Napoleons Lieblingssocken ruiniert! Er …«

»Er ist eingeschlafen«, sagte Nenn-mich-Graham leise und schaute in Elliots blasses Gesicht mit den tiefen Augenringen. »Wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen, Mr Boil. Und Elliot, es ist nicht das erste Mal, dass dir das in letzter Zeit passiert ist. Warum bist du so müde?«

»Pah!«, fauchte Boil. »Weil er Tag und Nacht hilflose alte Frauen terrorisiert, nehme ich an. Oder bis zum frühen Morgen am Computer sitzt und sich mit Ballerspielen vergnügt. Oder meine Unterhose an der Fahnenstange in der Schule hochzieht! Wieder mal!«

Elliot unterdrückte ein Grinsen. Das war sein absoluter Lieblingsstreich: Boil wusste genau, dass er dahintersteckte, konnte es ihm aber nie beweisen. Mit den Streichen war es jetzt allerdings vorbei. Elliot konnte sich keinen Ärger mehr leisten.

»Hooper!«, brüllte Boil. »Der Direktor hat dich etwas gefragt! Sei nicht so respektlos!«

»Schon gut«, wisperte Nenn-mich-Graham, »Elliot soll sich alle Zeit der Welt lassen.«

»Ach, halten Sie den Mund, Graham!«, brüllte Boil über die Schulter, ohne seine fetten Augen von Elliots Gesicht zu nehmen. »Schau dich nur mal an, Hooper!«, zischte er. »Wann hat dein Hemd zum letzten Mal ein Bügeleisen gesehen? Und in diesen Schuhen würde nicht mal ein Obdachloser herumlaufen. Ah, und die Taschenuhr – hab ich dir nicht gesagt, dass Schmuck an dieser Schule verboten ist? Na was ist? Fällt dir nichts dazu ein? Keine von deinen jämmerlichen Ausreden?«

»Ja, bitte sprich mit uns, Elliot«, warf Graham freundlich ein. »Vielleicht können wir dir helfen. Du bist schließlich erst zwölf. Niemand kann verlangen, dass du alles richtig machst.«

Elliots Finger verkrampften sich unwillkürlich um die alte Taschenuhr in seiner Jeans. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die Wahrheit zu erzählen. Vielleicht konnte der Schulleiter ihm tatsächlich helfen? Elliot wusste wirklich nicht mehr weiter. Wenn er ihm einfach erklären würde, was …

Aber Elliot würgte den Gedanken ab, sobald er ihm in den Kopf schoss. Was zu Hause vorging, musste ein Geheimnis bleiben. Es war viel zu riskant, mit anderen Leuten darüber zu reden.

»Mr Boil hat Recht, Sir«, sagte Elliot und die Lüge schnürte ihm die Kehle zu. »Ich sitze nachts sehr lange vor meinen Computerspielen. Es ist alles meine Schuld.«

»Na bitte!«, schnaubte Boil triumphierend. Er boxte einen Arm, der ungefähr den Umfang einer fetten Lammkeule hatte, in die Luft und stieß dabei Nenn-mich-Graham rücklings von seinem Stuhl. »Wusste ich’s doch!«

»Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen, Elliot?«, seufzte Nenn-mich-Graham vom Boden aus. »Gibt es etwas, das wir wissen sollten?«

»Nein, Sir«, murmelte Elliot.

»Dann sag ich Ihnen jetzt, was er wissen sollte«, zischte Boil mit einem Grinsen, das einen Pudding hätte gerinnen lassen. »Er schafft es nicht an der Brysmore. Seine Noten sind in den Keller gesackt. Und wenn er nicht in sämtlichen Halbjahrsprüfungen 85 Prozent erreicht, fliegt er endgültig von der Schule. Am Montag ist mein Probetest in Geschichte fällig, Hooper. Dann kriegst du deinen wohlverdienten Tritt in den …«

»D-danke, Mr B-Boil«, stotterte Nenn-mich-Graham.

Elliot sackte das Herz in die Hose, als er an die Prüfungen dachte, die er mit Sicherheit vermasseln würde. Dabei wollte er ja lernen. Aber wie sollte er das zu Hause schaffen, wo doch …

»Bitte, Elliot«, sagte Nenn-mich-Graham. »Lass dir von uns helfen.«

Elliot sah in die warmen Augen seines feigen Direktors und spielte erneut mit dem Gedanken, ihm die Wahrheit über zu Hause zu sagen. Wie lange konnte er noch so weitermachen? Es wurde einfach zu viel.

»Ich … es ist nur … manchmal …«, fing er an und suchte vergeblich nach Worten.

»Nachsitzen!«, bellte Boil und trottete voller Genugtuung aus dem Büro. »Hooper, du kommst nach der Schule zu mir.«

Als Elliot um halb fünf seine Strafe abgesessen und für Boil alle Bücher alphabetisch geordnet hatte, kam er endlich an die frische Luft. Es wurde bereits dunkel, aber der Abend war immer noch mild. Vor der Schule warteten längst keine stolzen Eltern mehr auf ihren Nachwuchs, doch Elliot wurde sowieso nie abgeholt und jetzt erst recht nicht mehr. Er rannte die Einfahrt runter, sprang über den Schulzaun auf die Felder dahinter und trat seinen langen Heimweg an.

Der Fußmarsch nach Hause zu seiner geliebten Home Farm war Elliots schönster Moment am Tag. Jedenfalls bei trockenem Wetter. Wenn der Regen herunterprasselte, verging ihm die Freude daran. Aber der Winterabend heute war so mild, dass man sich nichts Besseres wünschen konnte, als einfach über die Felder zu wandern, während am Himmel oben die ersten Sterne hervorkamen.

Elliot hob den Kopf und ließ sich die frische Luft ins Gesicht wehen. Aber die Ruhe hielt nicht lange an, denn plötzlich liefen ihm ein paar Mädchen aus der Schule über den Weg. Sie zeigten mit dem Finger auf ihn, starrten ihn an und kicherten hinter vorgehaltener Hand.

Elliot hörte nicht hin, so wie er auch in der Schule die kichernden Mädchen ignorierte und daher nicht mitbekam, dass er zu den besser aussehenden Jungs zählte. Aber ihm war egal, was sie über ihn sagten oder von ihm hielten. Er schlug sich allein durch den Schulalltag – und durch sein ganzes Leben. Früher, in einer anderen Zeit, hatte er viel mit seinen Freunden unternommen. Aber dann war alles anders gekommen und jetzt blieb ihm keine Zeit mehr. Außerdem – Freunde hatten Eltern. Und Eltern stellten zu viele Fragen.

Als Elliot den Hof erreichte, beherrschten die Sterne allmählich den Nachthimmel. An diesem Abend leuchteten sie besonders hell und warfen ihren Glanz über den alten Steinkreis von Stonehenge, den man von Elliots Vorgarten aus gerade noch erkennen konnte. Die mythischen Steine schimmerten und Elliot saugte den vertrauten Anblick ein. Er hob das Seil hoch, mit dem das verwitterte Hoftor versperrt wurde, und schleppte seine müden Füße den Weg entlang. Die Steine hatte er zusammen mit Mum gelegt. Bei jedem holprigen Schritt erinnerte er sich daran, wie sie bei der Arbeit herumgeblödelt und einander Schlamm ins Gesicht geschleudert hatten, bis sie sich vor Lachen am Boden wälzten.

Der Hof war seit Generationen im Besitz von Elliots Familie. Er schaute auf die Löcher im Dach, dort, wo der Wind die Ziegel heruntergerissen hatte – es sah aus wie ein Mund voller Zahnlücken –, auf die schmutzigen Fenster, die mehr Licht aussperrten als hereinließen, und die abblätternde rote Tür, die kaum die Zugluft abhalten konnte, geschweige denn einen Einbrecher. Aber Elliot liebte jeden einzelnen bröckelnden Backstein.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss – was ziemlich absurd war, weil man die Tür praktisch aufpusten konnte –, doch dann wurde er von einem hässlichen Kreischen hinter sich unterbrochen.

»Huuu-huuu! Hast du mal ein klitzekleines Sekündchen für mich, Schnuckelmöpschen?«

Der Satz enthielt mehr ätzende Wörter, als Elliot momentan verkraften konnte, aber das Schlimmste war die Person, von der sie kamen. Mit einem gequälten Lächeln drehte er sich zu ihr um.

»Hallo, Mrs Porshley-Plum«, sagte er in einem Ton, der vor Unaufrichtigkeit nur so triefte.

»Hallo, Zuckergürkchen«, kreischte Patricia Porshley-Plum, die lieber mit irgendwelchen bescheuerten Kosenamen um sich warf, statt einen beim richtigen Namen zu nennen. »Na, was ist? Hast du ein Sekündchen?«

»Aber wirklich nur ganz kurz – ich muss …«

»Suu-huper!«, trällerte Patricia und kam zum Haus heraufgestöckelt. Sie schwankte leicht, weil sie sich nicht nur auf dem holprigen Weg aufrecht halten, sondern auch noch ihr dickes Hinterteil hinaufwuchten musste. »Du willst mich sicher zu einem Tässchen Tee hereinbitten?«

»Im Prinzip gern«, log Elliot und stellte sich schützend vor die Tür. »Aber Mum geht’s nicht gut … wieder so eine scheußliche Magengrippe.«

»O nein, Zuckerpfläumchen!« Mrs Porshley-Plum spitzte in geheuchelter Anteilnahme ihren knallrot geschminkten Mund, bis er wie ein Pavianhintern aussah. »Soll ich kurz reinkommen und nach ihr sehen?«

»Es ist ansteckend«, sagte Elliot schnell. Ihm gingen langsam die imaginären Krankheiten aus, die Mum vor der aufdringlichen Nachbarin bewahren sollten. »Und ähm … schmutzig. Und es riecht nicht gut.«

»Ah, ich verstehe«, sagte Patricia mit schmalen Augen. Sie musterte ihren minderjährigen Nachbarn von Kopf bis Fuß, als könnte sie die Lüge an seiner Jeans ablesen. Patricias Mund lächelte immer, aber ihre Augen nie. »Na gut«, sagte sie und zupfte ihren Blazer über ihren speckigen Hüften zurecht. »Sobald es ihr besser geht, muss ich endlich über diese Sache mit ihr sprechen«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, das Elliot erschauern ließ.

Patricia wollte schon seit Monaten über diese Sache mit Elliots Mutter sprechen. Bei Grandmas Beerdigung letztes Jahr hatte sie Josie noch am Grabesrand mit ihrem neuen Grundstückserschließungsgeschäft belästigt und ihr zugeflüstert, dass der Hof auf einem wertvollen Stück Land liege.

Als der Arzt sechs Monate später zu Grandad gekommen war, hatte Mrs Porshley-Plum gleich am nächsten Tag ihre Nase zur Tür hereingestreckt und Josie ein Kaufangebot für den Hof gemacht, damit sie Grandad »in ein anständiges Pflegeheim« geben konnte.

Gleich nach der Beerdigung rief Patricia Porshley-Plum an und teilte ihnen mit, dass sie ihnen den Hof »mit Handkuss« zu einem zügigen Weiterverkauf abnehmen würde, »weil ihr beiden Schätzchen doch sicher bald wegzieht, nachdem ihr jetzt ganz allein auf der Welt dasteht«.

»Nie und nimmer kriegt diese grässliche Mrs Pferdehintern unseren Hof in die Finger«, hatte Josie damals getobt. Und »Pferdehintern« sagte sie nur, wenn sie stocksauer war. »Die soll ihre Plastikhäuser für ihre Plastikkunden anderswo bauen! Das hier ist ein Familienhof für eine richtige Familie, und wenn sie glaubt, sie muss nur ihr Scheckbuch zücken, um uns von hier zu vertreiben, dann kann sie sich ihr verdammtes Geld in den A …«

Elliot grinste, als er an den unflätigen Ausdruck dachte, den seine Mutter gebraucht hatte. Aber Mum hatte Recht. Das hier war ihr Zuhause und Elliot musste es beschützen. Nur hatte er keine Ahnung, wie.

»Ich muss mich um Mum kümmern … war mir ein Vergnügen, Mrs Pferde … ähm … Porshley-Plum«, sagte er.

»Mir auch, Mausebäckchen«, trällerte Patricia. »Sag deiner Mumsy, sie soll mich anrufen … aaaaahh!«

Vielleicht lag es an den wackligen Pflastersteinen, vielleicht auch an Patricias unmöglichen High Heels oder an ihrer langen Nase, die sie so hoch in der Luft trug, dass sie nicht sehen konnte, wo sie hintrat – auf jeden Fall knallte sie auf ihren dicken Hintern wie ein neugeborenes Fohlen auf Rollerskates und verteilte sich selbst und den Inhalt ihrer Handtasche über den ganzen Weg.

»Kann ich Ihnen helfen?«, bot Elliot höflich an. »Ich heb das für Sie auf.« Er sammelte die geheimnisvollen Gegenstände ein, die ihre Damenhandtasche enthielt, und steckte fast alles zurück. »Hier«, sagte er und reichte der unangenehmsten Nachbarin der Welt ihre überquellende Tasche.

»Danke. Also dann bis bald.« Patricias Augen lächelten noch weniger als sonst. Abrupt drehte sie sich um und stolperte den restlichen Weg hinunter, so dass Elliot endlich reingehen konnte.

Sobald die Tür zu und die Welt ausgesperrt war, lehnte er sich an die Wand und ruhte sich einen Augenblick aus. Zu Hause. Endlich.

Er ließ seine Schultasche neben den Poststapel auf der Fußmatte fallen und hob die Briefe auf. Alles Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen. Als müsste er daran erinnert werden!

»Mum?«, rief er leise, falls sie gerade ein Nickerchen machte. »Ich bin wieder da.«

Er spähte durch die Tür in das gemütliche Wohnzimmer, aber Mum saß nicht wie gewohnt in ihrem abgewetzten Sessel vor dem Kamin. Elliot sah in der Küche und in Mums Schlafzimmer nach, klopfte vorsichtig an allen Klo- und Badezimmertüren, aber es kam keine Antwort auf seine sanften Rufe.

Eine dunkle Angst kroch in ihm hoch. Er suchte noch hektischer, riss eine Tür nach der anderen auf und rannte durch sämtliche Zimmer.

»Mum!«, brüllte er. »Mum, wo bist du?«

Verzweifelt suchte er jeden Winkel im Haus ab und schaute sogar unter die Betten. Als er zum dritten Mal an der Küche vorbeirannte, verkrampfte sich sein Magen. Die Tür stand offen. Elliot sackte das Herz in die Hose.

Mum war verschwunden. Schon wieder!

Virgo! Virgo! Wach auf!«

»Grmpf … Bleistiftspitzer!«, gurgelte Virgo. Ihr langes silbernes Haar fiel ihr übers Gesicht, als sie mitten in der Sitzung des Zodiak-Rats hochschreckte.

»Was brabbelst du denn da, Kind?«, grummelte Pisces, der große Fisch, der im Monat November die Sitzungen leitete. »Also, hast du es erledigt oder nicht?«

Virgo strich ihre Haare ordentlich hinter die Ohren und rutschte leicht auf ihrem roten Prunksessel herum, der eher die Größe einer Couch hatte. Zwölf dieser Sessel standen um den runden goldenen Tisch herum, in den die zwölf Sternbilder eingraviert waren.

Virgo hatte kaum hingehört, während die anderen elf Ratsmitglieder (zwölf, wenn man die Zwillinge einzeln zählte) darüber diskutierten, ob Dionysos’ Ausschanklizenz verlängert werden sollte oder die Zyklopen künftig nur den halben Preis beim Optiker zahlen mussten. In Gedanken war sie weit weg gewesen, wie so oft in letzter Zeit, und hatte sich ein Leben außerhalb von Elysium, ihrem himmlischen Zuhause über den irdischen Wolken, vorgestellt.

Nicht weil es ihr hier an etwas fehlte. O nein! Virgos Leben war perfekt, so wie sie selbst. Es war eine große Ehre, die Gemeinschaft der Unsterblichen zu verwalten, das wusste sie. Zeus höchstpersönlich hatte den Zodiak-Rat einberufen, als er sich mit den restlichen Olympiern zur Ruhe gesetzt hatte. Jetzt regelte der Rat alles, was das tägliche Leben der Unsterblichen ausmachte, von der Rechtsprechung bis zum Hinterhof-Flohmarkt.

Und trotzdem … Es war ja hochinteressant, dass Meeresnixen Warzensocken trugen und die Rauchmelder der Chimären vierteljährlich überprüft werden mussten, aber manchmal fragte sich Virgo, ob es nicht doch noch … etwas anderes gab? Fast zweitausend Jahre im selben Job ausharren, das machte sich gut im Lebenslauf, war aber vielleicht doch ein wenig … na ja … unspektakulär?

Das unsterbliche Leben war ein Geschenk, ein Wunder, ein Segen. Aber ein Segen, der langsam Schimmel ansetzte …

»Virgo!«, rief Pisces und riss sie erneut aus ihrem Tagtraum. »Hast du nun oder hast du nicht?«

Virgo tat so, als hätte sie aufmerksam zugehört, aber was sollte sie antworten? Beides konnte falsch sein. Und keine Antwort war in jedem Fall besser als eine unkorrekte – Virgo war nie unkorrekt! –, also zuckte sie entschuldigend mit den Schultern.

»Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Kind?«, fauchte Pisces, dem eine ärgerliche Blubberblase aus den rosa Lippen quoll. »Die Musen brauchen die Lieferung sofort! Was nützt ihnen ihre ganze Kreativität, wenn sie keine Büroklammern haben?«

»Ja, absolut richtig … natürlich«, versicherte Virgo. Sie nahm ihre goldene Feder und kritzelte »Büroklammern« auf ein Stück Pergament. Eine Aufgabe. Ausgezeichnet. Dann war sie wenigstens beschäftigt – für mindestens …

Virgo schaute aus der Glaspyramide, dem Sitz des Zodiak-Rats, hinaus auf ihr perfektes Zuhause über den Wolken. Wieder ein neuer Tag. Und wieder dasselbe perfekte Wetter draußen. Sie hatte es gut, okay – wer würde nicht gern im Paradies leben? Alles war … nun ja … perfekt. Nach der Sitzung heute würde sie vielleicht auf einem Einhorn über die Marshmallow-Wiese fliegen oder mit den Delfinen im warmen Wasser des Honigstroms schwimmen. Oder doch lieber die Achterbahnen in Wunderland testen? Nein, das hatte sie alles gestern schon gemacht. Oder vorgestern? Oder vielleicht letzte Woche? Virgo wusste es nicht mehr und es war keiner da, der es ihr sagen konnte. Aber egal. Ihr Leben war perfekt. Sie hatte keine Freunde, okay, aber sie würde ihnen genau dasselbe sagen, und nichts anderes.

»Gut, wenn alle einverstanden sind, darf Pan eine neue Stadion-Tour machen – unter der Bedingung, dass er um 11 Uhr abends aufhört, um die Furien nicht zu reizen. Dann sind wir für heute fertig …«, verkündete Pisces. »Ach nein, eines noch. Der Gefangene zweiundvierzig.«

Vielstimmiges Stöhnen hallte durch den Saal, als Pisces eine kleine goldene Phiole hervorzog.

Virgo spitzte die Ohren. Dieser Job hatte sie schon immer fasziniert. Die Ambrosia-Dosis, die einem unsterblichen Gefangenen auf der Erde zustand, musste von einem der Zodiak-Räte höchstpersönlich abgeliefert werden. Die meisten hassten den Job, weil sie ihr warmes, bequemes Elysium nicht verlassen wollten, um in die kalten, schmutzigen, sterblichen Gefilde hinabzusteigen. Nur Virgo, die Jüngste unter den Zodiak-Räten, hatte noch nie auf die Erde fliegen dürfen. Als sie die Hand hob, um sich auf den Job zu bewerben, brodelte sie innerlich vor Aufregung.

»Irgendwelche Freiwillige?«, fragte Pisces.

Virgo fuchtelte wild mit ihrer Hand in der Luft herum und vor lauter Anstrengung, nicht lauthals »Hier!« zu schreien, entwich ihr ein gequältes Grunzen.

»Na, was ist?«, sagte Pisces, ohne Virgo zu beachten, die sich vor Eifer fast überschlug.

»Wirklich niemand?«, hakte er nach.

Alle anderen Zodiak-Räte wirkten plötzlich sehr beschäftigt und schauten überallhin, nur nicht in Pisces’ glasige Fischaugen. Die einen starrten gebannt auf ihre Notizen, andere schauten aus dem Fenster oder studierten ein imaginäres Staubkörnchen (denn so was gab es natürlich nicht in Elysium) …

Virgo streckte ihren linken Arm so hoch in die Luft, wie sie nur konnte, und schob ihn mit der rechten Hand an, um die Höhe noch etwas aufzustocken.

»Einer muss es doch machen«, seufzte Pisces.

»Ich! Ich! Bitte lasst mich!«, stieß Virgo hervor. »Ich meine … ich bin sicher, dass ich diese Aufgabe hervorragend meistern würde.«

Das Gelächter ihrer Kollegen hallte im ganzen Raum wider.

»Mach dich nicht lächerlich«, schnaubte Aries, der goldene Widder. »Du bist doch noch ein Kind.«

»Ich bin eintausendneunhundertundsechsundvierzig Jahre alt!«, protestierte Virgo, was ihre älteren Kollegen mit einem herzhaften »Na, sieh an« quittierten.

»Nein«, erklärte Pisces schließlich. »Das ist ein wichtiger Job für einen erfahrenen Zodiak-Rat. Bleib du mal bei deinen Büroklammern.«

»Aber ich …«

»Schluss jetzt!«, fauchte Pisces. »Meine Entscheidung ist endgültig.«

Virgo akzeptierte diese durchaus vernünftige Entscheidung ohne jedes Murren. Seltsam war nur, dass im selben Moment die goldene Feder in ihrer Hand zersplitterte.

»Nun gut, wenn sich niemand meldet, ernenne ich Taurus zum Freiwilligen«, sagte Pisces zu dem Stier, der mit seinen Hörnern emsig an einem Schal häkelte.

»Ich?«, jammerte Taurus. »Unmöglich! Ich kann doch nicht schon wieder dran sein! Nimm Capricorn, die musste noch nie.«

»Oh, doch!« schnaubte die Halb-Ziege Capricorn entrüstet und spuckte ihren zerkauten Bleistift aus. »Ich musste sogar mitten in einer Pestepidemie runter. Das hat vielleicht gestunken! Nein, nein, die Einzige, die sich die ganze Zeit erfolgreich gedrückt hat, ist doch die alte Kneifzange dort drüben!«

»Ach, halt die Klappe, blöde Ziege!«, brüllte Cancer, der Krebs. »Ich war zur Zeit der normannischen Eroberung dort und hab so viele Pfeile abbekommen, dass ich hinterher wie ein Stachelschwein aussah. Was ist mit Castor und Pollux? Nur weil sie Zwillinge sind, heißt das noch lange nicht, dass sie nur einmal drankommen.«

»Verpiss dich!«, zischten die beiden Brüder wütend und dann entbrannte, wie so oft, ein wilder Streit am goldenen Tisch des Zodiak-Rats.

»Nimm das, du jämmerlicher Tropf!«, brüllte Scorpio und schleuderte Libras Waagschalen nach Aquarius. Der Wassermann wiederum warf seinen Krug nach dem Widder, traf aber versehentlich Cancer, und da der Krebs diesen Angriff persönlich nahm, zwickte er Aquarius schmerzhaft mit seinen Zangen.

»Halt bloß deine große Klappe, Goldlöckchen«, schrie Sagittarius, der Zentaur. Er feuerte mit seinem Bogen eine Banane auf Leo, den Löwen, und matschte dessen prachtvolle Mähne mit Bananenpampe voll.

Virgo schaute seufzend auf das Schlachtfeld.

Und dann geschah etwas Seltsames.

Virgos Dasein war in jeder Hinsicht perfekt. Sie lebte im Paradies. Aber plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass dies der perfekte Moment war, Elysium zu verlassen.

Geschickt wich sie den umherschwirrenden Beleidigungen, Obststücken und Körperteilen aus und nahm klammheimlich das goldene Fläschchen an sich. Sie versteckte es in ihrem violetten Gewand und huschte aus dem Sitzungssaal.

Sobald Virgos Füße die Wolken draußen berührten, rannte sie los, so rasend schnell, wie nur Sternbilder es konnten. Endlich hatte sie den Rand der Wolken erreicht, breitete weit die Arme aus und verwandelte sich mühelos in ihr Sternbild Jungfrau. Sie spürte die vertraute Wärme, ein überwältigendes Glücksgefühl, das sie jedes Mal durchströmte, wenn ihr Körper von den Füßen aufwärts in Myriaden funkelnder Sterne zerstob. Dann schoss sie in die Lüfte auf, bevor sie durch die Wolken in die irdischen Gefilde hinabstürzte.

Weiter war sie noch nie von zu Hause weg gewesen. Sie konnte immer noch umkehren – vielleicht war das hier ein Fehler? Aber Virgo machte nie Fehler. Sie war perfekt. Also musste es richtig sein.

Sie schoss in den Nachthimmel der Erde, so wunderbar frei und glücklich. Virgo hatte schon viel von dieser Welt gehört, und als sie jetzt hinunterschaute, blieb ihr die Luft weg, so atemberaubend … so außergewöhnlich war alles, was sie zu sehen bekam. Eben noch flog sie über dichten Dschungel, wo es von Tieren aller Art nur so wimmelte, und im nächsten Moment überquerte sie endlose Wüsten, die über Tausende von Meilen hinweg keinerlei Leben bargen. Manche Teile der Erde waren mit hohen Gebäuden und wandernden Lichtern bedeckt, während anderswo nichts als leeres, trostloses Brachland vorherrschte. Ungewohnte Gerüche drangen ihr in die Nase – frisches grünes Gras, salzige Seeluft, gefrorener Bergtau. Unzählige Male umkreiste sie die Erde und nahm jeweils verschiedene Phänomene wahr, wenn der Tag in die Nacht überging – vom Wunderbaren und Furchterregenden bis hin zum Schaurigen und Unheimlichen. Die Vielfalt schien grenzenlos. Alles war so … neu. Nicht perfekt wie ihr Zuhause über den Wolken, einfach nur anders.

Vor lauter Begeisterung über ihre Entdeckungsreise merkte Virgo zunächst nicht, dass ihr eine entscheidende Information zur Erledigung ihres Auftrags fehlte.

Sie hatte keine Ahnung, wohin sie die Ambrosia bringen sollte.

Sorgfältig rief sie sich jedes einzelne Wort in Erinnerung, das sie von den anderen Zodiak-Räten aufgeschnappt hatte. Leo hatte einmal erwähnt, dass der Gefangene zweiundvierzig auf einer kleinen Insel im Norden lebte. Eine Insel mit einer sehr eigenwilligen Kategorie von Sterblichen, die am liebsten Tee tranken und in der Schlange standen. »Man erkennt den Ort an einem großen Steinkreis namens Stonehenge«, hatte Taurus ergänzt. Aber so hoch oben in der Dunkelheit konnte Virgo gar nichts sehen. Sie flog ein wenig tiefer, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, und bald erkannte sie winzige Sterbliche, die wie Ameisen unten herumwimmelten. Wie es wohl wäre, mit einem von ihnen in Kontakt zu treten? Aber nein, das verstieß gegen die Regeln. Und Virgo hielt sich immer an die Regeln. Also fast immer …

Endlich, sie war schon stundenlang durch den Nachthimmel gezischt, tauchte der Steinkreis im Dunkeln vor ihr auf.

»Wie nett von den Sterblichen, dass sie ihn extra für uns beleuchten«, dachte sie erfreut und ging in den Sinkflug.

Bisher lief alles nach Plan. Spätestens zum Abendessen würde sie wieder in Elysium sein. Was in aller Welt sollte jetzt noch schiefgehen?

Elliot wusste nicht, was er tun sollte. Mum war nirgends zu finden und inzwischen war es stockdunkel. Ob er die Polizei alarmieren sollte? Aber wenn sie Mum vor ihm fanden … Wo steckte sie nur wieder?

Zum hundertsten Mal lief Elliot in die Küche und kämpfte gegen die Panik an, die ihm die Kehle zuschnürte. Er würde sie schon finden. Er fand sie immer.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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