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»Du bist ein Sirilim-Zwilling. Das bedeutet, ihr zwei teilt euch einen Körper.« Die Worte des Waldläufers Falgon treffen Twikus wie ein Schlag. Bisher kannte er seinen Bruder Ergil nur aus seinen Träumen. Die Jungen leben im »Großen Alten«, einem von Menschen gemiedenen Wald voll seltsamer Wesen. Bis jemand versucht, sie zu töten. Falgon erzählt den zwei eine unglaubliche Geschichte: Er sei einst Waffenmeister von Großkönig Torlund dem Friedsamen gewesen. Als dessen eigener Bruder ihn ermordete, floh Falgon mit den Zwillingen in den scheinbar verwunschenen Wald. Seitdem herrscht in Mirad Dunkelheit. Nun hat Wikander auch die rechtmäßigen Erben des Throns von Soodland gefunden und wird nicht ruhen, eher er die Sirilim-Zwillinge getötet hat. Denn nur Ergil und Twikus können seine Herrschaft der Finsternis noch brechen. So beginnt für die Jungen ein Kampf auf Leben und Tod, der die ganze Welt zu zerstören droht. Band 1 der Mirad-Trilogie von Ralf Isau.
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Seitenzahl: 848
Ralf Isau
Band 1:Das gespiegelte Herz
Roman
Die Chroniken von Mirad,
21. Buch, 1. Kapitel
Die Chronistin vermag nicht zu sagen, ob die Ereignisse, von denen in diesem Buch berichtet werden soll, so vorherbestimmt waren. Einige uralte Weissagungen deuten zumindest an, dass Mirad die Aufmerksamkeit höherer Mächte auf sich gezogen hatte. Unsere Welt werde in die Hand eines Kindes mit gespaltenem Herzen gelegt, sagten die Seher, denn nur ein Kind besitze die Reinheit, die einen Neuanfang ermögliche. Das einundzwanzigste Buch der Chroniken von Mirad soll davon erzählen, wie die in Bildern und Parabeln sprechenden Prophezeiungen in den Tagen Torlunds, des Sohnes Grinwalds, Gestalt annahmen.
Im achten Jahr seiner Regierung wurde der Herrscher von Soodland und Großkönig der sechs Reiche, den man den Friedlichen nannte, Vater von Zwillingen. Twikus und Ergil waren keine gewöhnlichen Kinder. Niemand, selbst ihre Mutter Vania nicht, vermochte sie voneinander zu unterscheiden, und das, wie noch zu berichten sein wird, aus gutem Grund. In ihrem Wesen konnten die beiden Jungen indes kaum ungleicher sein.
Früh zeigte sich, dass Ergil von zurückhaltender Natur war. Gleichwohl erfüllte den Knaben eine Wissbegier, die weit über die Fragenflut anderer Kinder seines Alters hinausging. Schon bevor er laufen konnte, erforschte er auf allen vieren neugierig seine Welt. Bald hielt er das Schloss vom Keller bis zu den Mauerzinnen in Atem. Oft musste das Gesinde die Sooderburg durchkämmen, weil der kleine Prinz wieder ihrer Obhut entfleucht war und irgendwelche unzugänglichen Winkel erkundete. Ergil geschah jedoch nie ein Leid, weil sein Entdeckergeist mit einer großen Vorsicht gepaart war.
Ganz anders Twikus. Bereits in Windeln war er ein Draufgänger. Kaum konnte der kleine Heißsporn laufen, da jagte er schon Katzen und Hühner über den Burghof. Ja, er bewegte sich selbst wie eine Katze, balancierte sicher auf Mauersimsen und konnte sich lautlos an die Amme anschleichen, um sie zu erschrecken. Außerdem versuchte er, sehr zum Unwillen seiner Mutter, ohne Unterlass irgendwelche Dinge in Brand zu stecken. Voll der Sorge um die Unversehrtheit ihres Sohnes wandte sich Vania an ihren Gemahl, dem die Klagen seiner Untertanen über Twikus’ Wildheit hinlänglich vertraut waren. Obwohl den Vater die unerschrockene Natur des Sohnes durchaus mit Stolz erfüllte, obsiegte am Ende seine Sorge um dessen Wohlergehen. Deshalb übergab Torlund den Knaben der Obhut seines Waffenmeisters, eines erfahrenen Recken, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Wiewohl die Aufsicht über Twikus für den kinderlosen Waffenmeister eine große Herausforderung bedeutete, trug er die neue Pflicht mit der Gelassenheit des Alters.
Die Zwillinge sorgten auf der Sooderburg unablässig für neue Gerüchte, obwohl an solchen bei Hof ohnehin kein Mangel herrschte. Seit ihrer Geburt hatte nie jemand die beiden Knaben beieinander gesehen. Entweder ertrug das Gesinde die bohrenden Fragen des sanften Ergil oder man sah, wie der Waffenmeister Twikus nachjagte. Aber zu keiner Zeit, selbst bei Tische nicht, begegnete man beiden zugleich. Dazu befragt, schwiegen Torlund und Vania, als seien ihre Lippen mit Stopfseide zugenäht. Und der Waffenmeister, der noch am ehesten den Grund für diese Trennung wissen musste, wollte dazu auch nichts sagen.
Nicht wenige in Soodland kamen zu der Überzeugung, dass Vania für das seltsame Versteckspiel verantwortlich sein musste. Trotz ihrer in vielen Liedern besungenen Schönheit besaß die Königin im Reich nicht nur Bewunderer. Sie war ja eine Sirila. Das 2. Buch der Chroniken von Mirad widmet sich fast ausschließlich dem Alten Volk und seine Geschichte wird dort gründlich dargelegt, weshalb hier nur an einige Besonderheiten der Sirilim erinnert werden soll. Sie verfügen ausnahmslos über makellose Körper mit großer Ausdauer und Widerstandskraft, womit sich – zumindest teilweise – auch ihr außergewöhnlich langes Leben erklärt. Die Behauptung, sie seien unsterblich, entbehrt hingegen jeder Grundlage. Unter Gelehrten gilt es als gesichert, dass jeder Sirilo altert und nach einigen tausend Jahren ins Haus der Toten gerufen wird. Der stärkste Beweis für ihre Vergänglichkeit ist gewiss ihr trauriges Schicksal: Der dunkle Gott Magos hat sie vom Angesicht Mirads mit grausamer Hand hinweggefegt.
Neben diesen äußeren Merkmalen berichten etliche Legenden wie auch einige glaubhafte Quellen über einen noch viel tiefgreifenderen Unterschied zwischen Menschen und Sirilim. Letztere besitzen einige geistige Fähigkeiten, die uns Menschen fremd sind und daher oft zu Missverständnissen und Anfeindungen geführt haben. Nicht selten hielt man Angehörige des Alten Volkes für Zauberer, was sie in Wirklichkeit niemals waren, denn ihre Kraft speist sich nicht aus dem Bündnis mit dunklen Mächten, sondern aus ihrem uralten Wissen sowie ihrer außergewöhnlichen Natur. Mit Begriffen unserer Sprache ist schwer zu beschreiben, was ihr besonderes Wesen ausmacht. Eigene Studien haben die Chronistin zu dem Schluss kommen lassen, dass die folgende Erklärung ihre Art am besten beschreibt.
In jedem Sirilo und jeder Sirila ist die Welt »zusammengefaltet«. Somit trägt jeder ein Abbild Mirads in sich, das ebenso wirklich ist wie die Welt als Ganzes. Zugleich sind die Sirilim ein Teil unserer Welt und damit auch ihrer selbst. Daraus erwächst eine besondere Verbundenheit, nicht nur mit ihren Brüdern und Schwestern, sondern mit jedem Geschöpf, jedem vernunftbegabten Wesen, jedem Tier, jeder Pflanze, jedem Stein, ja, mit jedem der unzähligen Sandkörnchen an sämtlichen Stränden Mirads, mit jedem Wassertropfen, der seinem ewigen Kreislauf folgt, und mit jedem Windhauch, der ein Blatt von hierhin nach dorthin treiben mag. Die Sirilim sind in allem und alles ist in ihnen.
Sobald man bereit ist, diese Einsicht demütig anzuerkennen, verliert das Alte Volk seine magische Aura und man erkennt es als Wunder der Schöpfung Dessen-der-tut-was-ihm-gefällt. Ehrfürchtig erkennen wir an, dass die Sirilim Gefäße sind, die den göttlichen Funken, der das Universum hervorbrachte, reiner in sich tragen als irgendein Mensch oder sonst jemand auf unserer Welt (vielleicht mit Ausnahme des Äonenschläfers, dem in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet werden soll). Wie jeder von uns ein verschieden großes Maß geistiger und körperlicher Fähigkeiten in sich trägt, so ist es auch bei den Sirilim. Manch einer unter ihnen muss sich damit begnügen, seinen Arm in einen Baum zu stecken und die Hand irgendwo anders wieder aus dem Stamm treten zu lassen. Ein anderer vermag den Flug eines Falken zu deuten oder das Gelege eines Schneekrokodils im Eis zu finden. Selbst unter dem Alten Volk gibt es hingegen nur wenige, denen selbst die Zeit nur wie ein zusammengefaltetes seidenes Tuch ist, und einige besonders begabte Sirilim können dieses Gewebe in jede beliebige Richtung wie mit einer Nadel durchstoßen. Das alles ist also keine Zauberei, sondern nur ein Ausdruck ihrer begnadeten Natur.
Dennoch oder gerade deshalb ist es kaum verwunderlich, dass der an und für sich atemberaubend schöne Anblick eines Sirilo oder einer Sirila so manchen abergläubischen Zeitgenossen in Angst und Schrecken versetzt hat. Auch Königin Vania machte da keine Ausnahme. Wiewohl sie eine Nachfahrin des legendären Jazzar-siril und eine Sirilimprinzessin war und man sie weithin für die letzte Überlebende des so grausam niedergemetzelten Alten Volkes hielt, brachte man ihr mehr Argwohn als Mitgefühl entgegen. Da passte es in die vorgefasste Meinung, sie für eine herzlose Mutter zu halten, die jeweils nur einem ihrer Söhne das Verlassen der privaten Gemächer gestattete, während sie den anderen behütete wie eine Glucke ihre Küken – möglicherweise, um ihn Zaubersprüche zu lehren.
Obwohl die bereits erwähnten alten Weissagungen auch behaupten, Wohl und Wehe von Soodland sei an das uralte Geschlecht der Sirilim gebunden, nimmt es kaum wunder, wenn die furchtbaren Ereignisse, die das bis dahin unbeschwerte Leben der kaum sechsjährigen Knaben wie mit dem Henkersbeil beenden sollten, ebenfalls dem »Fluch der Königin« zugesprochen wurden. Diese Deutung fand reichlich Nahrung durch die Intrigen von Wikander, dem zwei Jahre älteren Bruder des Großkönigs. Von Rechts wegen hätte der Erstgeborene Soodlands Thron besteigen müssen, aber Grinwald, sein Vater, sah in dem aufbrausenden Wesen seines Ältesten eine ernste Gefahr für das Reich und trat daher noch zu Lebzeiten die Herrschaft an Torlund, den jüngeren Sohn, ab. Dem Älteren gab er zum Ausgleich das Elderland mit seiner Hauptstadt Timmerburg, ein Fürstentum, dessen Wohlstand sich auf Holz, Fisch, edle Felle und Bernstein gründete. Obwohl diese weisen Entscheidungen den sechs Königreichen eine Epoche des Friedens bescherten, gärten in Wikander Neid und Groll. Er fühlte sich betrogen. So begann der unsägliche Bruderzwist, der einmal ganz Mirad an den Rand des Abgrundes führen sollte.
Wikander zog seine Fäden im Hintergrund. Er scharte Anhänger um sich, spann Intrigen, streute Gerüchte. Ein ums andere Mal blähte er die Schwächen seines Bruders auf oder erfand neue hinzu, um Torlund beim Volk zu verunglimpfen. Vania bezeichnete er als Hexe, die mit ihrer Brut die sechs Reiche ins Verderben stürzen würde. Geschickt benutzte er Halbwahrheiten, um seine Behauptungen zu stützen. Als nämlich die Sirilim noch zahlreich waren, fiel sogar in Soodland selten Schnee. Selbst im Winter war es angenehm mild. Aber mit dem Verschwinden der Schönen ging das Zeitalter der Wärme zu Ende und Wikander wurde nicht müde, hinter vorgehaltener Hand vom »kalten Fluch der Sirilim« zu reden, für den er Vania persönlich verantwortlich machte. An ihrem Gatten bemängelte er die Friedfertigkeit. Torlund ermutige durch seine Schwäche nur die Feinde außerhalb des Sechserbundes, über kurz oder lang werde es Krieg geben, prophezeite Wikander. Tatsächlich hatte es an den Grenzen des Stromlandes einige blutige Überfälle der Salbacken gegeben. Allerdings wurde gemunkelt, das wilde Steppenvolk sei mit dem Gold Wikanders zu den Mordbrennereien gedungen worden.
Als der Ränkeschmied merkte, dass alle Verleumdungen nicht den gewünschten Erfolg brachten, ging er zur offenen Rebellion über. Es war der Morgen nach der Frühjahrstagundnachtgleiche des Jahres 5989, als der Kampf um die Sooderburg begann. Gewöhnlich liegt die Insel mit ihren nun kurzen, heißen Sommern, den stürmischen Herbsttagen und den langen, dunklen Wintern um diese Zeit noch unter einer dichten Schneedecke. An diesem Morgen begann sich das makellose Weiß rot zu färben. Fünf Tage lang tobte der blutige Kampf um die Festung. Der Großkönig verfügte über eine starke Leibwache, die als unbezwingbar galt. Aber Wikander war auf der Sooderburg geboren und aufgewachsen. Er wusste um ihre Stärken und verwundbaren Punkte. Vor allem kannte er die unterirdischen Gänge, die von den Klippen in die Burg hinaufführten.
Mit einer kleinen Armee von Kriegern – es wird behauptet, sie seien keine Menschen, sondern grausame Geschöpfe aus den Bergen von Harim-zedojim gewesen – verschaffte er sich Zugang zum innersten Verteidigungsring der Sooderburg. Von dort aus sei er in die Gemächer des Königs eingedrungen und habe die ganze Familie umgebracht. Vania sei durch einen silbernen Dolch gestorben und der König kurz zuvor bei dem Versuch, das Leben seiner Gemahlin zu verteidigen. Ein Pfeil, abgeschossen vom eigenen Bruder, habe sein Herz durchbohrt. Torlunds leblosen Körper ließ Wikander zur Warnung für alle Aufsässigen kopfunter am Turm der Sooderburg aufhängen, bis die Krähen an seinen Knochen keinen Gefallen mehr fanden. Für die Söhne Torlunds des Friedsamen hatte sich Wikander indessen eine besondere Behandlung ausgedacht. Twikus und Ergil wurden gezwungen einen Becher mit Gift zu trinken, das seine heimtückische Wirkung sehr langsam entfaltet.
Es heißt, Wikander habe sich beim Anblick von Ergils bleichem Gesicht angewidert abgewandt, habe überstürzt das Gemach verlassen und eigenhändig einige letzte versprengte Leibwächter des Königs umgebracht. Die Richtigkeit dieser Geschichte wurde nie restlos geklärt – möglicherweise hat der Usurpator sie nur in die Welt gesetzt, um seine Unbezwingbarkeit in die Chroniken von Mirad einzuschreiben. Jedenfalls muss er die schon bewusstlosen Knaben im Privatgemach der Königin sich selbst überlassen haben, weil sie dort wenig später von einem weißhaarigen Mann gefunden worden waren, den man ob seines Alters im Kampfgetümmel wohl nicht als Bedrohung empfunden hatte. Zu Unrecht, wie wir heute wissen, denn einige erheblich jüngere Angreifer waren von seinem Schwert ins Haus der Toten geschickt worden. Der mutige Alte hob die reglosen Brüder auf und brachte sie in Sicherheit.
Der Überlieferung nach soll Wikander, nachdem der letzte Verteidiger der Sooderburg niedergemetzelt worden war, geprahlt haben: »Und nun rupfen wir die Brut des Thronräubers.« Einige schlossen daraus, er wolle den Zwillingen dieselbe herzlose Behandlung angedeihen lassen, mit der er den Leichnam des eigenen Bruders schändete. Aber Wikanders Plan schlug fehl. Ergil und Twikus waren spurlos verschwunden.
Man möchte meinen, dass die stürmische Geschichte um die Vorherrschaft in Soodland damit ein ebenso dunkles wie rätselhaftes Ende fand. Aber das ist ein Irrtum. Nun erst sollte sie richtig beginnen.
Als wenn ein Kind geboren würde. Der Kopf des Jungen tauchte aus den tosenden Fluten des Wildbaches auf und im selben Moment war der Gedanke da. Wie die allerersten Worte, die sein Verstand im Geiste formte. Hier war er nun, in einer nassen, kalten Welt, ausgespuckt aus der warmen Geborgenheit des Vergessens, und kämpfte um sein Überleben. Er hustete, spuckte Wasser und verstand nicht, was mit ihm geschah. Durch sein Bewusstsein huschten Fragen wie silberne Fische, die man nicht zu packen bekommt. Warum trieb er in den Stromschnellen? Hatte ihn jemand ins Wasser gestoßen? War es Unvorsichtigkeit beim Spielen gewesen?
Er wusste es nicht, wusste gar nichts. Möglicherweise hatte er sich ja den Schädel an einem Stein angestoßen und dabei seine Erinnerung verloren …
Prustend und spuckend kämpfte er verzweifelt mit Armen und Beinen, um sich über Wasser zu halten. Allein die Gischt reichte schon aus, um ihm den Atem zu rauben, und das Dröhnen in seinen Ohren war kaum auszuhalten. Sie schien die Todesangst wie mit einem Schmiedehammer in sein Bewusstsein zu stampfen. Er fühlte sich von kalten Klauen gepackt und nach unten gezogen. Es ist nur Wasser!, schrie sein Verstand, aber ihm fehlte der Glaube. Dieses Wasser war lebendig, eine reißende Bestie auf Beutezug, die ihr Opfer bereits gepackt hatte und es nun wütend hin- und herschlug, um es zu zerschmettern. Über kurz oder lang musste er mit dem Kopf an einen der unzähligen Steine stoßen und dann würde er mehr als nur das Gedächtnis oder das Bewusstsein verlieren.
Ein brennender Schmerz fauchte durch die linke Wade des Knaben. Er versuchte sich umzudrehen und sah für einen kurzen Moment das blutige Bein – nicht alle Steine in dem Bach waren rundgewaschen. Im nächsten Augenblick ging er wieder unter. Das Tosen des Wassers wurde dumpfer. Um ihn herum gurgelte es.
Erinnerungsfetzen schossen ihm durch den Kopf und verflüchtigten sich wieder, bevor er sie greifen konnte. Das Bewusstsein spielte ihm Streiche, als wollte es ihm mit belanglosen Gedanken das Sterben erleichtern. Aber noch war er dazu nicht bereit. Er musste herausfinden, in was für eine Welt er da eben ausgespien worden war. Er wollte leben!
Wieder wand er sich aus dem tödlichen Klammergriff des Wildbaches und kämpfte sich trotzig an die Luft zurück. Keuchend holte er Atem. Dabei schluckte er abermals Wasser und hustete. Kalte Klauen schienen sich um seine Fußgelenke zu schließen, um sie endgültig nach unten zu zerren, aber plötzlich sah er etwas Dunkles, Großes auf sich zukommen. Sein Blick war zu verschleiert, um mehr zu erkennen. Vermutlich würden die Pranken der Bestie ihn gleich gegen einen Felsen schleudern, um seinen Schädel zu spalten …
Der Junge schrie voller Todesangst.
Und dann schrie er vor Schmerz.
Jemand hatte ihn am Schopf gepackt und gleich darauf am Nacken. Kraftvoll wurde er dem Griff der Stromschnellen entrissen. Das Wasser schien nach ihm zu schnappen, spritzte mit empörtem Zischen hoch, griff aber nur ins Leere.
Der Junge brüllte immer noch wie am Spieß. Er fühlte sich von zwei Armen umklammert und herumgewirbelt, weg von der gierigen Gischt. Die Begleitumstände seiner Bergung taten mehr weh als die Verletzung am Bein.
»Habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, du sollst dem Wasser nicht zu nahe kommen! Man kann ihm nicht trauen, nicht in diesen Zeiten.«
Der Junge konnte seinen Lebensretter nicht sehen, weil er rücklings auf dessen Brust lag. Er spürte lediglich dessen warmen Atem an seinem Ohr. Die tiefe Stimme des Mannes hatte nicht wirklich freundlich geklungen.
»Du könntest jetzt ruhig von mir runtergehen«, knurrte sie.
Der Junge gehorchte sofort, wenngleich die Eile beim Herabrollen vom tonnenförmigen Brustkorb seines Retters neue Schmerzen in der Wade heraufbeschwor. Nachdem er sich mit den Fingerknöcheln das Wasser aus den Augen gerieben hatte, konnte er den Mann, der neben ihm auf dem Felsentisch saß, besser betrachten. Er hatte halblanges, schlohweißes Haar, einen sauber gestutzten Vollbart und lebendig funkelnde, wasserblaue Augen. Seine gedrungene Statur war verkörperte Kraft. Dem Jungen erschien er uralt, was aber nicht recht zu der Beweglichkeit passen wollte, mit der sich der Weißschopf auf die Beine stemmte.
»Ich kenne Euch …«, sagte der Knabe verwirrt.
»Ha!«, lachte der Alte. »Ist das wieder einer deiner Streiche, Twikus?«
Der Knabe lauschte dem Klang des Namens nach. »Twikus? So heiße ich nicht.«
Die dichten Augenbrauen seines Retters zogen sich zusammen. »Ergil?«
Der Junge ließ auch den anderen Namen auf sich wirken. Unvermittelt hellte sich sein Gesicht auf. »Ja, das bin ich.«
»Und wie steht’s mit deinem Bruder? Ist er auch hier?«
Ergil hob die Schultern und blickte sich um. Aus einer Spalte am Rand des Felsens ragte ein Ast und auf diesem hockte ein neugierig herüberäugender Sperlingsfalke. Abgesehen von dem winzigen Greif und dem Mann konnte der Junge niemanden sehen. Er wollte gerade verneinen, als er plötzlich innehielt. Der Wald um ihn herum veränderte sich. Vor seinen Augen erschien ein Abhang, der zum Bach führte. Ein Junge rollte schreiend hinab. Es war kein anderer als er selbst. Das sprudelnde Wasser kroch den Berg hinauf, ihm entgegen. Er hörte ein Keuchen in seinem Kopf, das ihm nichtsdestotrotz fremd vorkam. Und dann eine lockende Stimme: »Kommt herab zu mir, kommt …!«
Kaum einen Herzschlag später war die merkwürdig lebendige Erinnerung auch schon wieder entwischt. Ergil fasste sich an den Kopf und fühlte eine dicke Beule. Beim Sturz ins Wasser musste er tatsächlich einen ordentlichen Schlag bekommen haben, wenn seine Sinne ihm solche Streiche spielten. Er bemerkte das gespannte Gesicht des Alten und entsann sich der Frage. Ausweichend antwortete er: »Weiß ich nicht.«
Der Alte nickte, als überrasche ihn die Antwort nicht. Auf seiner Stirn kräuselten sich Sorgenfalten. »Soll ich mich nun über dein unfreiwilliges Bad freuen oder nicht? Wenigstens scheint der Wildbach deinen Verstand freigespült zu haben. Oder war es die Todesangst?«
Der Weißschopf machte sich daran, die Wunde des Jungen zu untersuchen. Überraschend behutsam streifte er das linke Hosenbein nach oben, in dem ein langer Riss klaffte. Darunter kam eine weiße Wade mit einem blutroten Strich zum Vorschein. Ergil biss die Zähne zusammen, als sein Retter die Wunde vorsichtig auseinanderzog, um ihre Tiefe zu prüfen. Nachdem der heftigste Schmerz abgeebbt war, fragte er: »Wer seid Ihr, Herr?«
Ohne von seiner Tätigkeit aufzuschauen, erwiderte der Alte: »Versuche dich zu erinnern.«
Das tat Ergil, jedoch ohne allzu große Ausdauer. Dann zuckte er abermals die Achseln. »Kann ich nicht.«
»Ich bin Falgon. Sagt dir der Name etwas?«
Wieder dachte der Junge angestrengt nach. War da ein Licht, eine flackernde Kerze im dunklen Verlies seiner Erinnerung? Zögernd erwiderte er: »Kann schon sein.«
»Na, das ist doch schon ein Anfang. Und deiner Wade wird’s auch bald wieder gut gehen. Ist nur ein Kratzer. Lass uns erst mal vom Wasser weggehen – ich traue ihm nicht. Dann versorge ich weiter deine Wunde und bringe dich zur Hütte zurück.«
»Wollen wir nicht den anderen suchen?«
»Was?«
»Na, diesen Twikus.«
»Ach so!« Falgon fuhr dem Jungen mit den Fingern durchs nasse Haar. »Vergiss, was ich über ihn gesagt habe. Ich bin ein alter Mann und rede manchmal wirres Zeug. Du musst so schnell wie möglich aus den nassen Sachen heraus, sonst holst du dir doch noch den Tod.«
»Der Große Alte ist auch nicht mehr das, was er mal war. Früher, in meiner Kindheit, da konnte ich den ganzen Tag splitternackt im Wald herumstreifen, ohne zu frieren.« Falgons Stimme klang immer noch gereizt.
Ergil beäugte den Alten ungläubig von der Seite. »Ihr seid ohne Kleider herumgelaufen?«
Falgon räusperte sich. »Selbstverständlich nicht. Ich wollte nur sagen, ich hätte nichts anziehen brauchen. Und außerdem habe ich dir gesagt, du sollst mich nicht wie einen edlen Herrn ansprechen. Das gebührt mir nicht und dir auch nicht.«
»Mir? Warum nicht?«
»Weil du …« Falgon biss sich auf die Unterlippe. »Deine Wissbegier hast du jedenfalls zurück.«
»Wo war sie denn?«
»Verschüttet.«
Der Junge sah wieder fragend zu dem Alten auf.
»Du warst krank«, fügte dieser hinzu.
»Was hatte ich denn?«
»Dein Geist war … Er hat geschlafen.«
»Und vom Wasser bin ich wieder aufgewacht.«
»Ha! Beinahe hätte es dich für immer verschlungen.« Falgon schüttelte sein weißes Haupt und murmelte: »Möchte nur wissen, wie er es geschafft hat, dass sich jetzt schon die Naturgewalten mit ihm verschwören.«
»Wer?«
»Niemand, der dich zu interessieren hat, solange du noch wie ein Schlafwandler durch den Wald stapfst.«
»Tu ich ja gar nicht.«
»Willst du abstreiten, dass ich dich aus dem Wasser gefischt habe?«
»Nein.«
»Und wie bist du aus deinem Bett in den Bach gekommen?«
»Hast du mich hineingestoßen?«
»Was redest du da, Ergil! Ich hätte euch nie …«
»Uns?«, hakte der Junge sofort nach. »Wo ist der andere?«
Falgon kniff ein Auge zusammen. »Sag du es mir!«
»Aber du hast ›euch‹ gesagt. Twikus – wer ist das?«
»Wenn du es nicht selber weißt, dann kann ich es dir auch nicht sagen.«
»Aber du hast ›euch‹ gesagt«, nörgelte Ergil.
»So wie du eben ›Ihr‹ zu mir. Wenn du in der Mehrzahl reden darfst, dann kann ich es auch.«
»Aber du erlaubst das nicht.«
»Was macht dein Bein?«, lenkte Falgon das Gespräch auf ein anderes Thema. Die linkischen Bewegungen des Jungen wurden durch sein unübersehbares Humpeln fast ins Groteske gesteigert. Möglicherweise wollte er ja nur Mitleid heischen.
»Der Verband drückt.«
»Gut.«
»Es tut aber weh.«
»Sehr gut!«
»Aber warum …?«
»Wir sind da«, unterbrach der Alte seinen jungen Begleiter und deutete auf eine aus Baumstämmen errichtete Hütte.
Nachdenklich betrachtete der Junge das Haus. Es kam ihm bekannt vor. »Da wohnst du?«
»Ja.«
»Bist du ein Waldläufer?«
Falgon schmunzelte. »Wie kommst du darauf?«
»Du hast gesagt, dass du schon als Kind nackt durch diesen Wald gelaufen bist.«
Der Alte schnappte nach Luft. »Das habe ich nicht gesagt. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und als junger Bursche habe ich den Großen Alten verlassen, um mein Glück in der Welt draußen zu suchen.«
»Schade, dass du es nicht gefunden hast.«
»Was?«
»Wenn du jetzt wieder hier bist, dann hast du das Glück nicht gefunden, oder?«
Falgon schlug die Handflächen gegeneinander und verdrehte die Augen zu den Baumkronen. »Oh, wie habe ich diesen kleinen Neunmalklug vermisst!«
»Wen?«
»Dich, Ergil. Der-der-tut-was-ihm-gefällt sei gepriesen! Dein Verstand kehrt zurück. Das ist – auch wenn die nächsten Jahre wohl ziemlich anstrengend werden dürften – mehr Glück, als ich erwarten durfte, nachdem … nachdem du krank geworden warst.«
»Du meinst … ich bin das Glück, nach dem du gesucht hast?«
»Nun ja … äh … Es war vielleicht nicht das, wofür ich mich auf den Weg gemacht hatte, aber heute bin ich froh, dass ich euch … ich wollte sagen, dich gefunden habe.«
»Bist du mein Vater, Falgon?«
Ein tiefer Schmerz verdunkelte das Gesicht des Alten. »Nein, Ergil. Aber glaube mir, ich wäre stolz, wenn ich Söhne hätte wie … dich.« Inzwischen hatten sie das Haus erreicht und Falgon öffnete die Tür. Sie war nur angelehnt. Er deutete ins dämmerige Innere. »Tritt ein. Falls du dich nicht erinnern solltest: Das ist dein Zuhause.«
Zaghaft schlich Ergil mehr ins Innere der Waldhütte als dass er ging. Ein großer Raum tat sich vor ihm auf, offenbar der einzige im ganzen Haus. Die Wände waren unverputzt, nur rohe Baumstämme. Allerlei Zeug hing da herum, ebenso wie auch an der Decke: Pfannen, Töpfe und hölzerne Gefäße, Tierfallen, mehrere Schwerter und Speere, ein Langbogen, eine große Säge, zwei Äxte, Kräuterbündel und getrocknetes Fleisch. Am Boden lagen Bohlen. In der Mitte befand sich eine mit Steinen ausgelegte Feuerstelle. Ein Schornstein war nicht zu sehen, der Rauch musste also durch die Ritzen im Dach abziehen. Schränke gab es auch keine, nur drei große Truhen. Auf einer lag ein dickes Buch. Die Einrichtung wurde vervollständigt durch eine Bank an der rechten Wand, einen Tisch, zwei Stühle und zwei dem Eingang gegenüber aufgestellte Betten.
»Richtige Betten«, murmelte Ergil. Ihm war, als staune er nicht zum ersten Mal über diese für einen Waldläufer und Fallensteller geradezu luxuriösen Schlafmöbel.
Falgon deutete auf das linke. »Da schläfst du.«
Der Junge lief auf leisen Sohlen zu dem Bett. Es war aus rotem Holz gefertigt, mit seidigem Lack überzogen und besaß am Kopfende eine Intarsie. Die ungemein feine Einlegearbeit zeigte ein Tier, das die Kraft eines edlen Pferdes sowie die Anmut und Grazie eines Berghirsches besaß.
»Das ist ein Krodibo«, kam Falgon der Frage des Jungen zuvor.
Ergils Finger strichen über das kurze, mehrfach verästelte Geweih. »Es ist wunderschön.«
»Die Krodibos sind mehr als das. Ihre Ausdauer ist legendär. Sie sind zudem klug und können sich mit ihrem Gehörn selbst gefährliche Gegner vom Leibe halten. Die Sirilim konnten auf ihnen tagelang reiten, ohne ein einziges Mal anzuhalten.«
Als der Name des Alten Volkes fiel, ruckte Ergils Kopf herum.
»Die Sirilim …«, hob Falgon abermals an, um der Wissbegier seines Schützlings zuvorzukommen, aber diesmal unnötigerweise.
»Ich weiß, wer die Schönen sind«, unterbrach ihn Ergil. »Ich sehe sie nachts in meinen Träumen.«
Die Morgenbrise zupfte sich ein totes Blatt vom Baum. Sie wirbelte ihr braungoldenes Spielzeug übermütig herum, ließ es über das hohe Dach des Großen Alten aufsteigen, es wieder herabtaumeln, um es gleich darauf in eine neue Richtung zu blasen. Das ging eine ganze Weile so und kein Beobachter hätte wohl ernsthaft behauptet, die Flugbahn des Blattes folge einem festgelegten Kurs, doch als der Wind seines Spieles überdrüssig wurde und sich einem anderen Zeitvertreib zuwandte, landete das freigelassene Blatt mitten im Gesicht des schlafenden Jungen. Die Nase des Knaben kräuselte sich, er holte tief Luft und nieste laut.
In seiner Nähe raschelte es. Offensichtlich hatte sich da jemand erschreckt.
Der Junge öffnete die Augen und sah sich um. Er lag auf einem Bett aus Laub. Über ihm ragten rotbraune Baumstämme wie himmelhohe Säulen auf. Weit oben trugen sie das grüne Dach des Waldes. Der kühle Wind ließ die Wipfel sich wiegen. Es war ein durchaus friedliches Bild, das der Junge in sich aufsog wie ein trockener Schwamm das Wasser. Nie zuvor schien er etwas so Schönes gesehen zu haben. Aber schon im nächsten Moment regte sich etwas in dem Knaben. Er spürte eine Gefahr.
Mit der Gewandtheit einer Katze drehte er sich um und ging in die Hocke. Sein Kopf drehte sich weit nach links, bis sein Blick auf einem Dickicht liegen blieb, das mit den Augen nicht zu durchdringen war. Die Bedrohung ging von dieser Stelle aus, der Junge wusste es instinktiv. Am Waldboden hocken zu bleiben würde ihn nicht schützen, auch dessen war er sich gewiss.
Er sammelte seine Kräfte, spannte die Muskeln und schnellte nach oben. Dabei riss er die Arme hoch und stimmte ein infernalisches Geschrei an. Wenn schon sein Niesen den Feind erschreckt hatte, vielleicht konnte ihn dann ja auch der Lärm auf Abstand halten.
Das Kind wollte sich mit diesem Gedanken Mut machen, glaubte jedoch nicht wirklich an den Erfolg der lautstarken Maßnahme. Leider bestätigten sich seine Zweifel. Während es kreischend einen flachen Hang hinaufrannte, hörte es hinter sich ein lautes Knacken. Der Jäger hatte die Verfolgung aufgenommen.
Ein kurzer Blick über die Schulter machte die schlimmsten Ahnungen des Jungen zur Gewissheit. Mit kraftvollen Sprüngen setzte ihm ein Geschöpf nach, dessen Anblick dazu angetan war, zaghafte Naturen in Stein zu verwandeln. Sein Körper ähnelte dem eines riesigen Luchses, wenngleich die kurzen kraftvollen, mit Hufen versehenen Hinterläufe und die längeren, in krallenbewehrte Tatzen mündenden Vorderbeine den stark nach hinten abfallenden Rumpf irgendwie schief aussehen ließen. Der Kopf des Räubers glich eher dem eines Warzenschweins. Die mächtigen Hauer, die aus dem geifernden Maul ragten, waren wie lange, gebogene Dolche. Mühelos holte der Schweineluchs auf.
Der Junge konnte ihn hören und auch spüren. Ihm wurde bewusst, dass seine Flucht der sicherste Weg zu einem schnellen Ende war. Das Raubtier würde ihn von hinten anspringen und ihn am Genick packen. Vor sich sah er einen abgebrochenen Ast aus dem Laub am Boden ragen. Damit konnte er sich verteidigen. Aber würde er diese Waffe noch rechtzeitig packen können? Der Knabe schickte alle seine Kräfte in die Beine und obwohl ihm das linke weniger gut gehorchte als das rechte, rannte er wie ein Wiesel, nur eben wie ein hinkendes Wiesel. Tatsächlich erreichte er den Knüppel, riss ihn mit beiden Händen unter der halb vermoderten Decke aus Blättern hervor und stellte sich dem Gegner.
Der stemmte seine behuften Hinterläufe gegen den Lauf und kam schlitternd zum Stillstand. Die Pupillen seiner hellblauen Augen, eben noch zwei waagerechte Schlitze, wurden groß und rund. Es stieß einen drohenden Laut aus, der irgendwo zwischen einem Quieken und einem Fauchen lag.
»Komm her, damit ich deinen Schweinerüssel platthauen kann!«, drohte der Junge. Seinen langen Knüttel reckte er wie ein Schwert nach vorn. Für einen Sechsjährigen besaß er erstaunlich wenig Respekt vor dem deutlich größeren Gegner.
Der Schweineluchs schlug mit der Tatze nach dem Ast und brüllte, dass die Blätter am Boden tanzten.
Spätestens jetzt schüttelte den Jungen die Angst. Er hatte den Knüttel bei der Abwehr des ersten Angriffes kaum festhalten können. Sehr langsam wich er zurück. Plötzlich rutschte sein linker Fuß weg, weil unter den vom Morgentau feuchten Blättern ein Felsen lag. Einen Wimpernschlag lang kämpfte er um sein Gleichgewicht. Der Jäger setzte sofort nach. Gerade noch rechtzeitig gewann der so Bedrängte die Balance zurück und riss erneut sein »Schwert« hoch. Er zielte direkt auf die feuchte schwarze Nase der Schweinekatze, weil er sie für ihren empfindlichsten Teil hielt. Das Tier zog sich auf einen Sicherheitsabstand außerhalb der Reichweite der Waffe zurück und quiekte erbost. Die Unterlippe des Knaben begann zu zittern. Eine Träne lief ihm über die Wange. Er hätte weiterschlafen sollen, vielleicht wäre ihm dann nichts passiert. Solange er durchs Land der Träume gestreift war, hatte ihm niemand etwas Böses getan. Sollte er am Ende nur aus seinem warmen dunklen Schlummer erwacht sein, um in dieser kalten Welt von einem hässlichen Fleischfresser zerrissen zu werden?
Der Jäger musste die Unaufmerksamkeit seiner Beute gespürt haben, denn plötzlich schnappte er zu. Ein hässliches Knacken ertönte, als das Raubtiergebiss den Knüppel zermalmte.
Der Junge stellte sich vor, sein Hals wäre zwischen die Kiefer des Untiers geraten. Aus angstgeweiteten Augen verfolgte er, wie der Räuber mit scheinbarem Vergnügen den dicken Knüttel hin und her schleuderte, bis sich das vordere Ende von der Bissstelle losriss und ein gutes Stück davonflog. Das Ganze glich einer Demonstration brutaler Gewalt, um dem Opfer schon einmal einen Vorgeschmack davon zu geben, was es in Kürze erwartete. Der Junge wollte einen weiteren Schritt nach hinten machen, stieß aber mit dem Rücken gegen einen Baum.
Dem Schweineluchs schien dieser Umstand Freude zu bereiten. Er ließ das kürzere Ende des Knüttels aus dem Maul fallen und schlich einen Schritt näher. Erkennbar wappnete er sich für den tödlichen Sprung. Sein Körper zog sich wie eine Feder zusammen. Unter dem sandfarbenen Fell zitterte und zuckte es, gewaltige Muskeln ballten sich zusammen. Beiderseits des grinsenden Mauls troff der Geifer herab und zog dabei lange weiße Fäden. Ein Laut wie ein Röcheln, in das sich das Schnurren einer großen Katze mischte, lag in der Luft.
Trotz seiner Furcht kniff der Junge nicht die Augen zusammen. Auf eine erregende Weise fühlte er sich wie ein Teil dieses Jägers, der bei aller Hässlichkeit nicht wirklich aus Bosheit tötete. Ja, fast schien es so, als fürchte er das Menschenkind und folge nur einem unerbittlichen Zwang. Es war eben seine Natur, Beute zu schlagen. Diese überraschende Erkenntnis breitete sich wie eine beruhigende Droge in dem Knaben aus. Alles um ihn herum wurde seltsam klar. Er hörte den Flug eines Tausendflüglers, als wäre er selbst das raupenartige Tier. Er spürte das Ziehen im windbewegten Wipfel des Baumes, an den er sich drückte. Er glaubte sogar die Gefühle des feuchten Felsens mitzuempfinden, auf dem jetzt das Gewicht des Schweineluchses lastete. Und dann spürte der Knabe, wie sich die Spannung der ohnehin schon steinharten Muskeln seines Gegners fast bis zum Zerreißen steigerte. Seine Gedanken riefen: Jetzt!
Im selben Augenblick schnellte der Räuber voll unbändiger Kraft vom Boden. Er riss das Maul auf und brüllte. Der schlüpfrige Untergrund hatte seine Hufe nach hinten wegrutschen lassen, wodurch dem Angriff ein wenig die Wucht genommen wurde. Der Junge sah die säbelartigen Hauer auf sich zukommen, bückte sich und registrierte unvermittelt aus den Augenwinkeln einen pfeilschnellen Schatten, der von rechts auf den heranfliegenden Schweineluchs zuraste. Er hörte einen dumpfen Schlag. Schmatzend fraß sich das dunkle Geschoss durch Fell, Sehnen und Fleisch, zerbrach knackend eine Rippe und kam schließlich im Herzen des Tieres zum Stillstand. Sein Grauen erregendes Quieken war wohl Ausdruck von Überraschung und Todesangst zugleich. Der schwere Körper des Grotans war vom Aufprall regelrecht zur Seite gerissen worden und fiel dicht vor dem Jungen wie ein großer, nasser Sack zu Boden.
Ungläubig starrte der Knabe auf den besiegten Räuber, aus dessen Leib ein schwarzer Lanzenschaft ragte. Die Gliedmaßen des Tieres zuckten noch für kurze Zeit wie unter Krämpfen. Gleich darauf wich der Glanz aus seinen himmelblauen Augen, ein Geräusch wie ein zufriedener Seufzer entstieg dem selbst im Tode noch Furcht einflößenden Rachen, dann herrschte für einen langen Moment Stille im Wald.
Der Knabe empfand Trauer, obwohl er sich doch eigentlich freuen sollte. Er näherte sich langsam dem reglosen Schweineluchs, weil er das Bedürfnis verspürte, das sandfarbene Fell zu streicheln. Plötzlich hörte er hinter sich ein Rascheln und gleich darauf eine warnende Stimme.
»Das lass mal lieber bleiben, mein Junge. Einem Grotan, der einen Menschen angreift, darfst du niemals trauen, bevor du ihm nicht das Fell über die Ohren gezogen hast. Geh ein Stück weg von der Sandhaut, bevor ihr einfällt, dass sie ihre Henkersmahlzeit verpasst hat.«
Der Angesprochene gehorchte, obwohl er wusste, dass der Schweineluchs nie wieder etwas fressen würde. Rückwärts gehend entfernte er sich einige Schritte weit von dem Kadaver, bevor er sich umdrehte. Ungefähr zwanzig Ellen von ihm entfernt stand ein nicht sehr großer Mann, der auf eine fast komische Weise ebenso gedrungen und kraftstrotzend wirkte wie das erlegte Raubtier. Hingegen war das halblange Haar des grinsenden Alten schneeweiß und seine fast vollzähligen Zähne sahen bei weitem nicht so bedrohlich aus.
»Wer seid Ihr?«, fragte der Junge.
Sein Retter wirkte mit einem Mal betroffen. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete tief. Nach einem Augenblick der Besinnung wandte er sich wieder dem Knaben zu und fragte müde: »Müssen wir dieses Spielchen jetzt jeden Tag wiederholen, Ergil? Ich bin Falgon, dein Freund.«
Der Junge nickte. Falgon? Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor. Aber … »Ich bin nicht Ergil!«
Der Blick des Alten wanderte ausgehend vom ernsten Gesicht des kleinen Kerls an dessen dünnem Körper hinab bis zum linken Bein, wie der Junge zu erkennen glaubte, und sprang dann wieder nach oben. »Twikus?«
Der Knabe ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er war gerade erst erwacht und hatte seitdem wenig Muße gehabt, über seinen Namen nachzudenken. Twikus? Er nickte. »Ja, so heiße ich.«
Mit einem Mal strahlte der Alte über das ganze Gesicht. Er breitete die Arme aus und lief auf den Jungen zu, der sich widerstandslos an die breite Brust seines Retters drücken ließ.
»Seit wann sind wir denn Freunde?«, fragte der Geherzte mit dumpfer Stimme. Sein Gesicht war vergraben in einem weichen Lederwams, was ihm zunehmend die Atmung erschwerte.
Der Alte gab ihn endlich wieder frei. »Es ist nicht leicht, darauf eine ehrliche Antwort zu geben.«
»Warum?«
»Weil du wie ein junges Fohlen bist: schwer zu bändigen. Am Anfang war es ziemlich anstrengend, dich im Zaum zu halten, aber irgendwann hat es mir sogar Spaß gemacht, auf dich aufzupassen.«
»So wie eben, meint Ihr.«
»Sprich zu mir wie zu einem Freund, ohne dieses ganze Ihr- und Euch-Getue, hörst du?«
Twikus nickte.
»Um auf deine Frage zurückzukommen, mein Junge: Das eben war ein bisschen ernster als deine üblichen Narreteien. Ich dachte, du schläfst noch, nachdem ich gestern … Na, ist auch egal. Jedenfalls solltest du in Zukunft vorsichtiger sein, wenn du alleine durch den Großen Alten streifst.«
»Warum?«
»Weil der Wald viele Gefahren birgt, Twikus, gerade jetzt, wo sich alles zu ändern scheint. Ich habe noch nie einen Grotan gesehen, der ohne Not einen Menschen anfällt. Wer kann schon wissen, ob uns nicht morgen schon die Waldbolde an die Gurgel gehen. Mir gefällt das alles nicht.«
»Was ist ein Waldbold?«
»Ein kleines Männlein oder Weiblein, das knorrig ist wie eine Wurzel und dir nur bis zum Bauch reicht. Die Waldbolde wollen normalerweise von uns Menschen in Ruhe gelassen werden. Deswegen leben sie nur hier, im Großen Alten, und sonst nirgendwo.«
»Warum?«
Falgon verdrehte die Augen zum Himmel. »Du bist fast so schlimm wie dein … Äh, ich wollte sagen, der Große Alte hat keinen guten Ruf. Die Menschen glauben, er ist verzaubert.«
»Und, ist er das?«
»Nicht im eigentlichen Sinne.«
»Verstehe ich nicht.«
»Hier gibt es wie gesagt ein paar Dinge, die du sonst nirgendwo auf Mirad findest. Die meisten Menschen sind dumm, Twikus. Sie fürchten, was ihnen fremd ist.«
»Und deshalb haben sie auch Angst vor dem Wald?«
»Du sagst es.«
»Aber du nicht.«
»Nein. Ich bin hier geboren worden. Schon mein Vater und meine Mutter waren Freunde der Waldbolde. Sie zeigten meinen Eltern, wo die besten Goldalben wachsen. Das Harz haben wir gesammelt und einmal im Jahr auf dem Markt von Fungor verkauft.«
Twikus nickte, obwohl er nicht wusste, was der Markt von Fungor war. »Ich habe auch keine Angst, Falgon.«
Der Alte strich dem Jungen durchs sonnenblonde Haar. »Ja, daran müssen wir noch arbeiten. Aber erst mal lass mich nach dem Grotan schauen. Mir ist nicht wohl, solange …«
»Solange du ihm nicht das Fell über die Ohren gezogen hast?«
»Und ich ihn in kleine Stücke zerlegt habe. Sein Fleisch wird uns eine Weile die Bäuche füllen. Aber zuerst muss er aufgebrochen werden.«
Twikus sah interessiert dabei zu, wie Falgon mit einem langen Messer den Kadaver öffnete, um Blut und Eingeweide herauszuholen. Auch das anschließende Häuten und Zerlegen der Beute erschien ihm so selbstverständlich wie zuvor die Jagd des Grotan. Der Tod des einen sicherte das Überleben des anderen – das war der Lauf der Welt. Obwohl Twikus keine Erinnerungen besaß, mit denen er seine Einsichten hätte begründen können, verstand er das Wesen Mirads fast so gut, als wäre es ihm schon mit der Muttermilch eingeflößt worden. Und in gewisser Hinsicht stimmte das sogar.
»Ich möchte auch einen Speer haben!« Die Worte des Knaben beendeten eine Phase längeren Schweigens, in der nur das Geräusch des durch Fleisch und Sehnen schneidenden Messers zu hören gewesen war.
Falgon unterbrach seine Arbeit, rieb sich mit dem feuchten Laub das Blut von den Händen, griff nach dem schwarzen Schaft, der neben dem Kadaver auf dem Boden lag, und richtete sich auf. Er wog die Waffe einen Moment in seiner rechten Hand, dann sagte er unvermittelt: »Hier, fang auf!« Fast gleichzeitig warf er den Speer mit zur Seite weisender Spitze dem Jungen zu.
Twikus hatte schnelle Reflexe. Er breitete die Arme aus und griff den Schaft aus der Luft. Das Gewicht der Waffe überraschte ihn, fast wäre er beim Fangen nach hinten gekippt.
Falgons Mundwinkel zuckten vor Vergnügen. »Der Schaft ist aus dem Holz des Eisenbaumes.« Er deutete zu einem etwa fünf Schritte entfernten Stamm. »Siehst du das Astloch da? Versuch es zu treffen.«
Twikus stemmte den Speer hoch. Er konnte die blausilberne Spitze kaum auf das Ziel gerichtet halten. Mehr schlecht als recht warf er die Waffe nach vorn. Sie flog ungefähr einen Schritt weit und fiel klatschend ins Laub.
»So, so, du willst also auch einen Speer haben«, sagte Falgon. »Und wozu? Um damit Käfer zu erschlagen?«
Twikus nahm intensiv seine Fußspitzen ins Visier.
»Jetzt lass nicht den Kopf hängen«, tröstete ihn der Alte, während er zu ihm herüberkam. Er hob die schlanke Waffe mühelos vom Boden auf, und beinahe so, als wolle er sie einem zaudernden Interessenten zum Kauf anpreisen, sagte er: »Das Gewicht dieses Jagdspeers schränkt zwar ein wenig die Reichweite ein, aber von geschickter Hand geschleudert, erhöht es enorm die Durchschlagskraft.«
Mit dem letzten Wort holte er aus und warf den Speer. Twikus verfolgte ihn bis zu einem etwa zwanzig Schritte entfernten Ast, der so dick war wie Falgons Oberarm. Die blausilberne Spitze bohrte sich mitten durchs Holz und trat am anderen Ende wieder hervor.
»So ein Eisenholzspeer könnte glatt durch einen Mann samt Rüstung hindurchfliegen, als wäre er ein Kürbis«, fügte der Alte mit ausdrucksloser Miene hinzu.
Der Junge erschauderte. Ihm blieb buchstäblich die Spucke weg. Er wollte etwas sagen, aber sein Mund war zu trocken dazu.
Also ergriff erneut Falgon das Wort, um seine kleine Lektion abzuschließen: »Ich habe dich nicht bei mir aufgenommen, um dich das Kriegshandwerk zu lehren, Twikus. Ich verabscheue Menschen, die aus dem Töten eine Kunst machen wollen. Es ist bestenfalls eine schmutzige Fertigkeit, hörst du?«
Der Junge sah den Alten nur aus großen Augen an.
»Ob du mich verstanden hast, will ich wissen.«
Twikus öffnete den Mund, zögerte und sagte dann: »Aber du hast doch eben auch getötet, Falgon.«
»Das ist was anderes.«
»Warum?«
»Der Grotan wollte dich umbringen.«
»Ja, weil er ein Fleischfresser ist.«
»Hört, hört! Der Zwerg will mich über die Natur belehren. Ich weiß sehr gut, was für Geschöpfe die Grotans sind, Twikus, und ich sage dir, dieser da hat dich nicht nur wegen eines knurrenden Magens gejagt.«
Der Junge erinnerte sich an den merkwürdig klaren Moment, als er die Furcht des Schweineluchses zu spüren glaubte. »Warum nicht?«
»Weil … weil …« Falgon warf die Arme in die Luft. »Unsereiner hat eben nicht nur Freunde in dieser Welt. Manche wollen uns auch Übles. Und einige von ihnen sind mächtig genug, sogar die Bewohner des Großen Alten gegen uns aufzuhetzen.«
»Aber ich habe doch gar nichts gemacht.«
Falgon legte seinen Arm um die zarte Schulter des Jungen. »Nein, mein Lieber. Du hast niemandem ein Leid getan. Aber vielleicht gibt es jemanden, der dir trotzdem so etwas zutraut. Allein die Vorstellung, du wärst eine Gefahr, mag diesem Jemand genügen, um dich zu hassen. Ich freue mich, dich wieder bei mir zu haben, aber versprich mir eines: Sei in Zukunft vorsichtig, wenn du allein im Wald herumstreifst, hörst du?«
Twikus spürte mit einer für Knaben seines Alters untypischen Gewissheit, dass Falgon ihm etwas verschwieg, das ihm auch tausend Warums nicht entlocken konnten. Also nickte er gehorsam und beschloss, dem Geheimnis ein andermal auf den Grund zu gehen.
Der Grotan wurde in mehreren Portionen zur Blockhütte geschafft und dort weiter zerlegt. Ein Teil kam sofort in die Räucherhütte, die hinter dem Haus stand. Andere Stücke wurden in feine Streifen zerschnitten, auf Schnüre gefädelt und zum Trocknen aufgehängt. Den zartesten Brocken behielt Falgon als Festbraten zurück. Einige hauchdünne Scheiben des Rückenteils aßen er und Twikus roh, während sie noch ihrer Arbeit nachgingen. Den Rest gab es abends am Spieß gebraten, um die Rettung des Jungen vor dem Grotan zu feiern.
Es war schon dunkel, als Falgon seinem Schützling die Schlafstatt zeigte. Gedankenverloren betrachtete der Junge das anmutige Tier, das als Einlegearbeit das Kopfende des Bettes zierte, so als solle es mit seinem stolzen Geweih über den Schlaf des darin Liegenden wachen. Ein Krodibo. Woher kannte er diese edlen Reittiere? Wenn er sich nur entsinnen könnte! Er hatte das Gefühl, seine Erinnerungen lägen hinter einem luftigen Vorhang, der mehr verbarg, als er hin und wieder durchscheinen ließ. Das Krodibo schien Twikus etwas sagen zu wollen, aber er wusste nicht, was.
Sein Blick wanderte über das zerdrückte Kopfkissen, das zerknitterte Laken und die zerknautschte Wolldecke. Keine Frage, hier musste einer ziemlich schlecht geschlafen haben. Möglicherweise hatte das Krodibo ja seine Pflicht vernachlässigt und der Ärmste war von furchtbaren Alpträumen geplagt worden. Vielleicht stand er sogar mitten in der Nacht auf, um im Wald draußen für seine rastlose Seele Frieden zu finden. Oder hatte ihn jemand gerufen?
In den zurückliegenden sechs Jahren hatte sich Ergil oft gefragt, was sein Ziehvater vor ihm verbarg. Gleich einer Wolke schwebte dieses Geheimnis über der Waldhütte und überschattete seine Kindheit. Jedenfalls fühlte der Zwölfjährige bisweilen so. Tatsächlich gab es für ihn wenig Greifbares, um seine Empfindungen zu begründen. Falgon behandelte ihn gut, ja, er liebte ihn wie ein Vater oder zumindest wie ein Onkel, und diese Zuneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Nicht von ungefähr nannte der Junge ihn häufig »Oheim« und machte ihn dadurch zum Bruder seiner Mutter, obgleich dieses Verwandtschaftsverhältnis reines Wunschdenken war.
Weil der eher schweigsame Wahlonkel über die Welt jenseits des Großen Alten selten sprach, musste Ergil seinen Wissensdurst anderweitig stillen. Falgon besaß einige Bücher und er hatte Ergil das Lesen beigebracht. Die Lieblingslektüre des Jungen waren die Reiseberichte von Harkon Hakennase, dem legendären Forscher und Kartografen, der Mirad gründlicher bereist hatte als jeder andere. Manche Eskapaden des wagemutigen Abenteurers hörten sich eher nach Lügenmärchen als nach wirklich Erlebtem an. Wohl nicht von ungefähr nannte man solche unglaublichen Geschichten »Harkoniaden«.
Manchmal, wenn Ergil seinem Ziehvater nur hartnäckig genug zusetzte, konnte dieser erstaunlich gesprächig werden. Falgon verfügte über Geduld und einen schier unermesslichen Wissensschatz. Vielleicht war er nicht ganz so weit herumgekommen wie Hakennase, aber dafür neigte er weniger zu Übertreibungen. Bei einigen Themen hielt er sich sogar auffällig bedeckt oder gab lediglich ausweichende Antworten, etwa wenn der Junge nach seinen richtigen Eltern fragte. Mehr noch als nach dem Vater sehnte sich Ergil nach seiner Mutter. Manchmal sah er sie in seinen Träumen, aber sie war stets von Nebeln umhüllt, nie konnte er ihr Gesicht erkennen. Als Falgon einmal zu ihm sagte, er müsse sich mit dem Unabänderlichen abfinden, hatte er geantwortet: »Ich trage meine Mutter im Herzen, aber ich kann es nicht ertragen, dass sie sich mir nicht zeigt.«
Unbenommen der Dankbarkeit und der innigen Gefühle, die der Junge für den Ziehvater empfand, hauste in einem abgelegenen Winkel seines Geistes ein Wesen namens »Misstrauen«, das sich einfach nicht vertreiben ließ. Je älter er wurde, desto häufiger unternahm dieser Störenfried Ausflüge in die höheren Sphären von Ergils Bewusstsein. Immer wenn er Falgon nach der Zeit vor seinem Sturz in den Bach und dem offenkundig damit einhergehenden Gedächtnisverlust befragte, bekam er nur ausweichende Antworten. »Du warst noch zu jung, um dich daran zu erinnern, und das ist gut so. Zweifelst du daran, dass ich nur das Beste für dich will?« Oder: »Wenn es dir an irgendetwas mangelt, dann sage es. Bin ich denn nicht wie ein Vater zu dir?« Mit solchen Worten war es Falgon bisher immer gelungen, die Wissbegier seines Schützlings zu dämpfen. Zumindest vorübergehend. Ergil war ein viel zu aufgeweckter Junge, um sich auf Dauer mit Ausflüchten abspeisen zu lassen. Er wartete nur auf eine passende Gelegenheit, um endlich die dunkle Wolke aus Geheimnissen zu durchdringen.
Das größte Rätsel war für ihn der Andere. Da gab es jemanden, der Falgon regelmäßig in der Hütte besuchte, mit ihm aß, sogar bei ihm schlief – aber immer nur dann, wenn Ergil nicht da war. Er verbrachte nämlich ganze Tage damit, durch den Großen Alten zu streifen, über alles Mögliche nachzugrübeln und zu lernen. Mit Vorliebe studierte er die Pflanzen und beobachtete die Tiere. Unter den Pilzfällern der Waldbolde hatte er einige Bekannte, die ihn regelmäßig grüßten, obwohl die knorrigen kleinen Kerle stets einen respektvollen Abstand wahrten. Ergil fühlte sich verbunden mit allen Bewohnern dieses uralten Reiches, als gehöre er von Anbeginn der Zeit dazu.
Als er wieder einmal unter den himmelhohen Rotgrannen entlangschlenderte und sich vom Duft der Farne und Goldglöckchen betören ließ, hörte er unvermittelt ein brummendes Geräusch wie von einer Ochsenlibelle oder einem Tausendflügler. Mit der ihm eigenen Sicherheit wusste er sofort, dass sich keines der beiden Rieseninsekten auch nur in seiner Nähe befand. Dann vernahm er ein leises Klagen. Das helle Stimmchen klang wie aus weiter Ferne.
Ergil schloss die Augen, eine Gewohnheit, die er in den letzten sechs Jahren angenommen hatte, um in dem Gewirr, das die vielfältigen Sinneseindrücke manchmal in seinem Kopf verursachten, nicht den Überblick zu verlieren. Wieder drang das Brummen an sein Ohr, als versuche ein Tausendflügler verzweifelt aus dem Netz einer Brockenspinne loszukommen. Unmittelbar darauf folgte das Jammern des zarten Stimmchens. Und dann hörte der Junge den durchdringenden Schrei eines Tarpun.
Im Großen Alten gab es keine mächtigeren Greife als die Tarpune. Ihre Flügelspannweite konnte bis zu zehn Ellen betragen. Das tiefgrüne Gefieder der riesigen Vögel war in den Baumwipfeln fast unsichtbar. Und wenn sie erst wie ein Stein auf ihre Beute niederfuhren, dann gab es meist kein Entkommen mehr. Selbst Wölfe, Tapire und manchmal sogar Grotans standen auf dem Speisezettel dieser Könige der luftigen Höhen. Wer den markerschütternden Schrei eines Tarpuns zu hören bekam, der durfte sich bis zum Sonnenuntergang sicher fühlen, denn die fliegenden Jäger ließen ihre Stimme nur vernehmen, wenn sie ihre Beute entweder gerade getötet oder zumindest fest in ihren Klauen hatten.
Ergil umrundete einen dicken Baumstamm, seine Augen verengten sich.
Der Vogel hockte einen Speerwurf weit entfernt auf einem moosbedeckten Felsen. Unter seinem linken Fuß glitzerte etwas. Normalerweise mischte sich der Junge nicht in die Ernährungsgewohnheiten der Waldbewohner ein, so blutig diese auch sein mochten, aber in diesem Fall stockte ihm der Atem. Konnte das sein? Unmöglich!, schoss es ihm durch den Kopf. Er glaubte zu träumen. Ein Elv? Hatte der Tarpun tatsächlich einen Elv gefangen, ein Wesen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte? Und wenn doch, wenn all die Geschichten mehr als nur Märchen waren, dann hätte es trotzdem nicht passieren dürfen. Elven waren viel zu klug, viel zu flink, um sich von einem Vogel, zumal von einem dieser Größe, fangen zu lassen. Rasch pirschte sich Ergil an den Felsen heran.
Der Vogel war zu sehr mit seiner Beute beschäftigt, um den Menschen gleich zu bemerken. Wieder vibrierte die Luft unter dem Schwirren der Elvenflügel. Ja, jetzt bestand kein Zweifel mehr: Der Tarpun hatte eines jener kleinen Geschöpfe des Waldes gefangen, die Ergil bisher nur aus Falgons »Märchenstunde« kannte. Elven wurden nur etwa so groß wie die Hand eines Mannes, hatte der Waldläufer mit ernster Miene versichert. Sie waren enorm verwandlungsfähig: Mal sahen sie aus wie ein Stein, mal wie ein verdorrter Ast, dann wieder glichen sie einem Eichhörnchen oder Vogel. Selten hatte ein Mensch je die wahre Gestalt eines Elven gesehen, aber es hieß, sie besäßen eine Haut wie Perlmutt und vier durchscheinende Flügel, die sie paarweise ineinander haken konnten, um elegant zwischen den Bäumen hindurchzusegeln. Wieder voneinander gelöst, vermochten sie damit ebenso geschickt zu fliegen oder sogar in der Luft stehen zu bleiben wie eine Libelle.
Und es gab die Elven wirklich!
Im Näherkommen hörte Ergil abermals das Weinen des schillernden Geschöpfes. Der Tarpun schien mit ihm zu spielen wie eine Katze mit der Maus. Aber Elven waren keine Tiere. Sie besaßen ebenso viel Verstand wie ein Mensch, eher sogar noch mehr. Entgegen seinen Prinzipien beschloss Ergil diesmal einzugreifen. Er durfte den Elv nicht seinem Schicksal überlassen. Der Gedanke war kaum gedacht, als der Junge eine furchtbare Entdeckung machte.
Da lag noch ein zweiter Elv auf dem Fels, ein wenig verdeckt durch die Wölbung des Steins, deswegen hatte Ergil ihn nicht sofort bemerkt. Der Winzling bewegte sich nicht. War der eine Elv dem anderen zu Hilfe geeilt und dadurch in die Fänge des Greifs geraten? Wie auch immer, er musste dem verzweifelten kleinen Wesen helfen. Aber wie?
Obwohl höchste Eile geboten war, blieb Ergil stehen und schloss einmal mehr die Augen. Er war klug genug, den Tarpun nicht offen anzugreifen. Falgons unermüdliche Warnungen vor den Gefahren des Waldes hatten den ohnehin sehr umsichtig veranlagten Jungen tief geprägt. Der Vogel war ein gefährlicher Gegner. Er hatte messerscharfe Krallen an Füßen und Flügeln. Zudem verfügte er über einen kräftigen gebogenen Schnabel, der mühelos dicke Knochen brechen konnte. Ergil versuchte den Wald zu fühlen. Wie war es zu dem Unglück gekommen? Warum vergeudete der Vogel seine Kraft mit der Jagd auf Elven? Er hätte schon drei Dutzend von ihnen fressen müssen, um satt zu werden. Und wie konnte er gleich zwei dieser scheuen, quirligen Geschöpfe fangen?
Ergil nahm die nähere Umgebung gleichsam durch jede Pore seiner Haut in sich auf. Die Antworten auf seine Fragen waren hier irgendwo verborgen. Er atmete den Wald. Was hatte diesen Jäger und seine Beute zusammengeführt? Er drang in den Tarpun ein, sah sich selbst hoch über den Bäumen des Großen Alten schweben. Und plötzlich richtete sich sein Blick nach oben.
»Ein Nest!«, hauchte Ergil. Das riesige Rund aus trockenen Zweigen hing in schwindelnder Höhe. Da hatte er seine Erklärung. Der Tarpun war ein Weibchen, das sein Gelege verteidigte.
Ohne lange nachzudenken, lief der Junge auf den Nistbaum zu. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass der Greif ihn jetzt entdeckt hatte. Das Weibchen witterte eine neue Gefahr für seine Brut und ließ die zappelnde Beute los. Hoffentlich ist der Elv unverletzt und kann fliehen, dachte Ergil. Er selbst würde dem kleinen Wesen vorerst nicht helfen können.
Tarpune mussten gewöhnlich mit ihren vier krallenbewehrten Gliedmaßen erst einen Stamm emporklettern, weil ihre mächtigen Schwingen ein Auffliegen zwischen den dicht stehenden Bäumen unmöglich machten. Aus luftiger Höhe ließen sie sich dann einfach fallen und breiteten ihre Flügel aus. Aber hier war der Greif im Vorteil. Mit einem kraftvollen Satz stieß er sich von dem Felsen ab. Ein Stück weit schwebte er so dicht über den Boden hinweg, dass hinter ihm die Blätter aufwirbelten. Allmählich gewann er an Höhe. In wenigen Augenblicken würde er eine Schleife ziehen und zurückkehren.
Ergil lief einen Zickzackkurs von Baum zu Baum. Er durfte nicht zulassen, dass die Krallen seines Verfolgers ihn ihm Gleitflug packen konnten. In der Nähe der Stämme war er einigermaßen sicher, denn Tarpune kämpften nur im äußersten Notfall am Boden. Der Vogel würde versuchen, ihm so lange mit Schnabel und Klauen zuzusetzen, bis er wehrlos war. Hinter dem Jungen nahte sich ein bedrohliches Zischen. Er sprang zur Seite und ließ sich bäuchlings auf den Boden fallen.
Der Tarpun rauschte um Haaresbreite über ihn hinweg.
Ergil rappelte sich wieder hoch und ehe der Greif kehrtmachen konnte, erreichte er den Baum mit dem Nest. Noch hatte er Zeit, um einen Blick zu dem Felsen hinüberzuwerfen. Der vorhin schon reglose Elv lag immer noch da, aber der andere war verschwunden!
Schon wieder nahm der Junge das Rauschen wahr, nicht nur mit den Ohren, sondern mit allen Sinnen. Als wären seine Arme zu Flügeln geworden, glaubte er zu spüren, wie die Luft durch seine Finger strömte. Er huschte rasch um den Stamm herum und entging nur knapp den scharfen Krallen des Tarpuns. Dieses Spiel konnte noch stundenlang so weitergehen, wenn er sich hier festnageln ließ. Er maß mit den Augen die Entfernung zum nächsten Baum. Jetzt, nachdem der zweite Elv gerettet war, gab es keinen Grund mehr, die Tarpunhenne weiter zu reizen.
Überrascht gewahrte Ergil, dass der Greif schon wieder auf ihn zujagte – der Vogel musste eine ungewöhnlich enge Kehre geflogen sein. Anstatt um den Baum zu laufen, blickte der Junge wie hypnotisiert auf das heransausende Tier. Der Abstand zwischen ihnen schmolz rasend schnell dahin. Ergil sah ein Paar starrer grüner Augen auf sich zufliegen …
Unvermittelt senkte der Tarpun seinen Schwanz und schoss in die Höhe.
Der Junge musste den Kopf weit zurückbeugen, um den Vogel, der schnell an Höhe gewann, im Blick zu behalten. Direkt unterhalb des Nestes klammerte sich das Tier schließlich an den Baumstamm.
»Du hast also noch nicht aufgegeben«, murmelte Ergil.
Im nächsten Moment ließ sich der Tarpun fallen. Als wäre es selbst ein moosbedeckter Fels, stürzte das grüne Tier auf den Jungen zu.
Der verharrte reglos auf dem Fleck. »Ich bin dein Freund.« Obwohl Ergils Stimme nur ein Flüstern war, sandte er die Worte mit dem ganzen Körper aus. Auf seiner Haut standen abertausende von Härchen zu Berge. Er glaubte, jedes einzelne zu spüren, ja, sie schwingen zu lassen wie Harfensaiten, die seine Botschaft untermalten.
Dicht über ihm breiteten sich mächtige Schwingen aus. Noch einmal rauschte die Luft, sie fauchte regelrecht, dann landete der Vogel unmittelbar neben dem Jungen.
Ergils Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Dennoch bemühte er sich, äußerlich ruhig zu bleiben, so wie auch sonst, wenn er mit den Tieren sprach. »Ich möchte deiner Brut keinen Schaden zufügen«, sagte er freundlich.
Der riesige Vogel legte den Kopf schräg.
»Ich bin sicher, der Elv wollte deinen Kleinen auch nichts tun.« Ergil deutete zu dem Felsen hinüber.
Das große Tier riss den Schnabel auf und bewegte hektisch den Kopf.
»Es war bestimmt nur ein Missverständnis«, fügte der Junge beschwichtigend hinzu.
Der Tarpun breitete die Schwingen aus.
»Schon gut«, sagte Ergil und zog jedes Wort übertrieben in die Länge. »Sollte ich mich geirrt haben, so tut es mir leid. Von mir hast du jedenfalls nichts zu befürchten – solange du meinen Freunden oder mir nichts tust. Und jetzt klettere wieder hinauf zu deinen Jungen. Sie brauchen dich.« Die letzten Worte sprach er mit einem Kloß im Hals. Fast wünschte er, selbst eines der Tarpunküken zu sein, die im Unterschied zu ihm eine Mutter hatten, unter deren Fittichen sie geborgen waren.
Die beruhigenden Worte zeigten Wirkung. Der Vogel watschelte auf den Baum zu, machte einen Satz und grub seine Krallen in die rotbraune Rinde. Ergil atmete erleichtert auf. Bisher hatte er sein außergewöhnliches Gespür für die Natur und seine einschmeichelnde Stimme höchstens dazu benutzt, Eichhörnchen, Faultiere oder andere scheue Waldbewohner anzulocken. Das hier war etwas anderes. Hätte er seine Fähigkeiten falsch eingeschätzt, dann wäre es ihm vermutlich ebenso ergangen wie dem leblosen Elv auf dem Stein.
Der Tarpun hangelte sich rasch den Stamm empor. Erst als er hoch oben in seinem Nest verschwunden war, fiel die Anspannung von dem Jungen ab und die Sorge um den verschwundenen kleinen Elv kehrte zurück.
Ergil lief rasch zum Moosfelsen hinüber. Noch ehe er ihn ganz erreicht hatte, drang ein leises Wimmern an sein Ohr. Die letzten Schritte legte er nur noch schleichend zurück und erklomm den großen Findling. Was er dort oben sah, brachte seine Gefühle vollends durcheinander.
Jetzt erst begriff er, dass die zwei ein Paar waren. Da lag, noch im Tode wunderschön, ein kleiner Elv. In seiner Brust klaffte eine tiefe Wunde, die vermutlich von einer der Tarpunkrallen stammte. Das silbrig glänzende Wams des Toten war tiefblau von seinem Blut, aber die engen hellgrünen Beinkleider hatten wundersamerweise keinen einzigen Fleck abbekommen. Neben dem Leichnam kniete ein winziges Mädchen, das bequem in Falgons Jagdtasche gepasst hätte. Es weinte so bitterlich, dass sogar Ergil die Tränen kamen. Immer wieder wimmerte es: »Tarakas, o mein lieber Tarakas, wach doch bitte auf und lass mich an deiner Stelle sterben!« Dabei schüttelte es unablässig den Kopf, während es die perlmuttfarbenen Hände des toten Geliebten umfasst hielt. Oder waren die zwei Geschwister?
Ergil hielt den Moment für unpassend, diese Frage zu klären. Immer schon hatte er sich gewünscht einem leibhaftigen Elv zu begegnen – aber nicht unter solchen Umständen. Er beschloss, sich zum Fuß des Felsens zurückzuziehen, um die Trauer des Mädchens nicht zu stören. Dort unten konnte er über die zwei wachen, nur für den Fall, dass der Tarpun ein weiteres Mal angreifen sollte. Er war gerade dabei, sich davonzustehlen, als das Weinen der Elvin unversehens verstummte.
»Willst du mich schon wieder verlassen?«, fragte sie leise. Ihre Stimme klang hell, aber nicht piepsig, wie Ergil es erwartet hätte. Sie wandte ihm ihr Gesichtchen zu. Es glitzerte wie Sternenstaub und schimmerte zugleich wie die Innenseite einer Muschel. Da, wo die Tränen es benetzt hatten, irisierte es in allen Farben des Regenbogens. Auch ihr langes Haar glänzte, als wäre es aus poliertem Kupfer. Sie trug ein ärmelloses, silbrig funkelndes Kleidchen mit einem kurzen gebauschten Rock, der ihre Beine von den Oberschenkeln abwärts unbedeckt ließ.
In dem guten Dutzend Bücher, die Falgon besaß, gab es zwei, die Abbildungen von Frauen enthielten. Deren knöchellange Gewänder waren Ergil als Beispiel schicklicher Bekleidung gezeigt worden. Er hatte nie ganz begriffen, worin der Zusammenhang zwischen der am Leib getragenen Stoffmenge und der Züchtigkeit einer Frau bestand. Wenn er Auskünfte über das andere Geschlecht einzuholen versuchte, bekam Falgon jedes Mal einen seltsam glänzenden Blick, begnügte sich aber ansonsten mit eher einsilbigen Antworten. Jetzt also sah der Junge zum ersten Mal ein weibliches Wesen, dessen Körperproportionen – abgesehen von der Größe und den Flügeln – denen eines menschlichen Mädchens sehr ähnlich sein mussten. Am Fehlen des Stoffes nahm er keinen Anstoß. Im Gegenteil, die Zartheit der Elvin entzückte ihn.
»Warum sagst du nichts?«, fragte sie erneut.
Ergil räusperte sich. »Ich … äh … wollte dich nicht stören.«
»Wie kommst du auf diesen Gedanken? Du hast doch mein Leben gerettet.«
»Na ja … Falgon hat gesagt, die Elven zeigen sich uns Menschen nicht gerne in ihrer wahren Gestalt.«