Die Dunklen - Ralf Isau - E-Book

Die Dunklen E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Ein weiterer packender Thriller von Ralf Isau! Pianistin Sarah d'Albis verfügt über eine besondere Gabe: Als Synästhetikerin nimmt sie Töne als Farben wahr. Als nach dem Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek eine unversehrte und zugleich unbekannte Partitur des Komponisten Franz Liszt auftaucht, soll diese mit 124 Jahren Verspätung ihre Welturaufführung feiern. Sarah, die für eine Nachfahrin Liszts gehalten wird, darf der Premiere beiwohnen und entdeckt das Unfassbare: Sie erkennt in dem Stück eine versteckte Botschaft. Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse.-

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Ralf Isau

Die Dunklen

THRILLER

Saga

Die Dunklen

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2007 im Piper Verlag erschienen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright ©2007, 2023 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390351

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt,

ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates

ins Wanken geraten.

Platon

Neulich fand ich im Ruinenfeld der Musikgeschichte die Überreste eines Mosaiks. Die einzelnen Fragmente waren zu groß, um beliebig zu sein, aber für eine sichere Rekonstruktion des ursprünglichen Bildes zu klein. Deshalb arrangierte ich die Bruchstücke so lange, bis keines mehr übrig war. Heraus kam dieses Buch. Mithin sind alle gegenwärtig handelnden Personen darin ein Produkt bloßer Phantasie – wenngleich so mancher Leser hier und da noch die Versatzstücke möglicher Wirklichkeit erkennen mag.

R. I.

Für Ursula und Manfred,

zwei besondere Musiker

PRAELUDIUM

Paris

Liszt ... sah aus, als hätte er im orthopädischen Institut gelegen und wäre dort ausgerichtet worden, er hatte so etwas Spinnenhaftes, so Dämonisches, und wie er da am Klavier saß, bleich und mit einem Gesicht voller heftiger Leidenschaften, kam er mir wie ein Teufel vor, der seine Seele freispielen sollte! Jeder Ton strömte ihm aus Blut und Seele, er schien mir einer Folter unterworfen. ... Doch während er spielte, kam Leben in sein Gesicht, es war, als tauchte die göttliche Seele aus dem Dämonischen auf.

Hans Christian Andersen 1840 über Franz Liszt

Prolog

... übrigens haben selbst diejenigen, die am wenigsten günstig für Liszt gestimmt sind, längst erklärt, er sei zu allem fähig.

Hector Berlioz, 1836 über Franz Liszt

Paris, 15. März 1866, 18.42 Uhr

 

Als Franz Liszt ans Dirigentenpult trat, hallten Applaus und Hochrufe durch Saint-Eustache. Die Pariser Premiere seiner Missa solemnis war lange mit Spannung erwartet worden. An die viertausend Menschen aus fast allen gesellschaftlichen Schichten bevölkerten die gotische Kathedrale. Um sich Gehör zu verschaffen, hob der Komponist die langen Arme; es sah aus, als wolle er sich in die Lüfte schwingen. Nicht wenige seiner glühenden Verehrer hätten ihm das durchaus zugetraut. Für sie war er ein Gott. Aber es gab auch andere in der Menge, die ihn eher für den Teufel hielten.

Der Anblick seiner schwarzen Soutane ließ die frommen Konzertbesucher in respektvolles Schweigen versinken. Selbst hartgesottene Freidenker spürten die Kraft, die den musizierenden Abbé wie eine elektrisierende Aura umgab. Mit seinem Raubvogelgesicht, der üppigen, grau melierten Mähne und der spinnenhaften Gestalt haftete ihm nach Ansicht vieler denn auch etwas Magisches an. Im Nu herrschte Stille in dem riesigen Gotteshaus.

»Es gibt heute Abend eine Änderung«, verkündete Liszt, nachdem er sich auf höchst sparsame Weise verneigt und die Besucher begrüßt hatte.

Ein Stöhnen ging durch die Reihen.

»Entgegen der Ankündigung im Programm«, fuhr er fort, »wird meine Wenigkeit heute persönlich dem Papst die Flötentöne beibringen.«

Es folgte verdutztes Schweigen. Aber dann dämmerte doch den meisten, wenngleich die deutsche Redewendung im Französischen etwas skurril klang, was der Komponist meinte: Ob ihrer alles beherrschenden Größe wurde die Orgel von Saint-Eustache Le Pape – »der Papst« – genannt. Die Spannung der Menge entlud sich in donnerndem Applaus und schallendem Gelächter. Nur eine erzkatholische Minderheit blickte pikiert.

Franz Liszt verneigte sich erneut, diesmal sogar recht tief, wohl wissend, dass nicht alle im Publikum darin die Dankesbezeugung eines bescheidenen Künstlers sahen. Einige der lächelnden Gesichter waren nur Masken, hinter denen mörderische Absichten lauerten.

Während er sich langsam wieder aufrichtete, ließ er den Blick durch die Kirche wandern. Sämtliche Ausgänge waren von uniformierten Posten bewacht. Im südlichen Querschiff stand sogar eine ganze Abteilung Soldaten samt Marschgepäck und Waffen. Die Infanteristen hatten auch einige Musikinstrumente mitgebracht, wohl um auf die Konzertbesucher weniger bedrohlich zu wirken. Er hätte auf sein Gefühl vertrauen und fliehen sollen, nachdem er diesen Nekrasow unter den Besuchern entdeckt hatte!

Vermutlich steckte der Russe hinter dem Truppenaufmarsch in der Kirche. Er wollte an das Geheimnis, an die Notenblätter, die im Spieltisch der Orgel versteckt waren. Es musste einen Verräter geben, der ihm davon berichtet hatte. Wenn die Bruderschaft vom Aar sich so weit aus der Deckung wagte, dann war sie zu allem entschlossen. Liszt bebte innerlich. Es gab nur einen Weg, lebendig aus der Kirche herauszukommen, ohne das Geheimnis preiszugeben: Er musste den Gegner mit seinen eigenen Waffen schlagen.

Bis eben hatte er mit seinem Freund Adolphe in hastiger Eile die Strategie besprochen, hatte ihm befohlen, sich die Ohren mit Kerzenwachs zu verstopfen. Es war ein verzweifelter Plan, aber der Feind ließ ihnen keine andere Wahl.

Liszt schoss einen eisigen Blick auf den Russen ab, der den Außensitz der dritten Reihe okkupiert hatte, und begab sich gemessenen Schrittes an den Spieltisch der Orgel. Hier, im Schnittpunkt des kurzen Quer- und der drei Längsschiffe des Gotteshauses, hatte der Kapellmeister von Saint-Eustache sein achtzigköpfiges Orchester versammelt. Der mehr als doppelt so starke Chor aus Männern und Knaben stand im Ostflügel vor dem Hauptaltar.

Der Kapellmeister griff zum Dirigentenstab. Stille trat ein. Und dann begann das ungewöhnlichste Konzert, das Saint-Eustache je erlebt hatte.

Die ersten Takte waren sehr ruhig. Obwohl Liszt jeden Ton seiner »Graner Messe« auswendig kannte, empfand er sie an diesem Abend wie etwas Fremdes, Unheimliches. Als die Hörner erschollen, hallte es für ihn wie ein warnendes »Wer ist’s?« in einem dunklen Wald.

Die Streicher antworteten bedrohlich: »Die Dunklen sind’s.«

Dreimal sandte das Orchester die Frage ins hohe Gewölbe der Kirche empor, und ebenso oft kam die düstere Antwort. Dann erst erhob sich das getragene Kyrie aus dem Chor.

An diesem Punkt griff der Komponist höchstselbst in das Geschehen ein – seine Finger sanken auf die Tasten nieder. Franz Liszt konnte in jede Melodie einen goldenen Faden einweben, der Männer wie Frauen gleichermaßen in Bann schlug. Mit dieser einzigartigen Gabe vermochte er jedes Gefühl heraufzubeschwören, zu dem Menschen fähig waren: Liebe und Hass, Mildtätigkeit und Gier, Bewunderung und Abscheu.

Obwohl er den Kapellmeister zuvor von seiner Absicht, »ein wenig zu improvisieren« in Kenntnis gesetzt hatte – »Dirigieren Sie immer schön weiter« –, zuckte dieser heftig zusammen, als nun unvermittelt eine Dissonanz aus den Orgelpfeifen toste, welche die Stimmen des Chors gleich der Salve eines Exekutionskommandos niedermähte.

Liszt nahm sich ein wenig zurück. Er durfte es nicht übertreiben. Mit der ihm eigenen Geschicklichkeit stützte er ein paar Takte lang die Streicher und Hörner. Sein Blick suchte nach Nekrasow, fand ihn aber nicht im Publikum, wanderte weiter ins südliche Querschiff ... Liszt erschauderte.

Nekrasow war zum Kommandanten der Militäreinheit geeilt und spielte ihm etwas auf einer Hirtenflöte vor. Es läuft also auf einen Zweikampf hinaus, dachte Liszt, auf die Frage, wessen Klänge der Macht stärker sind. Um die Kirche unter seine Kontrolle zu bringen, braucht Nekrasow den Offizier und dessen Leute. Wie ein Schlangenbeschwörer dudelt er ihnen seinen Willen ins Unterbewusstsein.

Die Orgel tönte lauter. Schon die schiere Gewalt des Schalls war eine mächtige Waffe. Liszt wandte sich wieder den Manualen zu, damit sich seine Gabe ungestört entfalten konnte. Er schuf aus Orgelklängen ein betörendes Klanggeflecht, das nie zuvor auf einem Notenblatt gestanden hatte.

Wenige Takte später geschahen zwischen den himmelstürmenden Pfeilern der Kirche merkwürdige Dinge. Aus dem südlichen Querschiff erscholl ein Trommelwirbel. Das Publikum wurde unruhig. Nicht, weil die Militärkapelle einfach ins geheiligte Werk des großen Komponisten hineinpfuschte, sondern aus einem ganz unerklärlichen Mitteilungsbedürfnis heraus, das die Leute überkam. Sogar Herren und Damen der gehobenen Gesellschaft begannen munter miteinander zu schwatzen. Einige Patrone von Saint-Eustache erhoben sich von ihren Stühlen, doch keineswegs, um dem ungehörigen Benehmen Einhalt zu gebieten, sondern weil sie die Kollektenkisten ihrer Frauen an sich gerissen hatten und diese nun zu Tamburinen umfunktionierten.

Während die Kirchenvorstände mit ihren Spendenkästen durch die Reihen klapperten, brach unter den Premierengästen die Mildtätigkeit aus. Allerorts wurden Geldbörsen gezückt. Rasch füllten Münzen und sogar stattliche Scheine die Truhen der Barmherzigkeit, alles zum Wohle der bedürftigen Kinder des zweiten Stadtbezirks.

Liszt lächelte zufrieden. Wenn er die Klänge der Macht schon für sich selbst nutzte, dann sollte dabei wenigstens etwas für die Ärmsten der Armen abfallen. Er drehte sich zu seinem Freund um.

Adolphe Sax saß auf einem Ehrenplatz unweit des Spieltisches. Schweißperlen standen auf seiner hohen Stirn. Er wirkte verunsichert, ja aufgewühlt. Obwohl das Kerzenwachs in seinen Ohren ihn leidlich vor dem verstörenden Klanggewitter schützte, konnte er immer noch recht gut sehen. Der Meister nickte ihm aufmunternd zu.

Das Kyrie ging zu Ende, und der zweite Teil der Messe, das Gloria, begann. Der Hauptmann im Südschiff kämpfte verzweifelt um die Aufrechterhaltung der Disziplin unter seinen Männern. Einige zog es zu den Spendenkästen, andere übten lautstark Manöverkritik. Auch im Orchester herrschte bereits ein ziemliches Durcheinander, wobei sich das grassierende Mitteilungsbedürfnis auf recht unterschiedliche Weise äußerte. Zahlreiche Instrumentalisten hatten einfach aufgehört zu spielen und unterhielten sich miteinander. Einige stritten sogar. Andere bereicherten die Darbietung durch eigene, nicht immer harmonische Spielvariationen. Wegen der zahlenmäßigen Überlegenheit des Chors gab es unter den Sängern noch genügend Stimmkraft zum Ruhme Gottes. Aber auch das sollte sich bald ändern.

Als der Tenor das Credo anstimmte, bellte unvermittelt der Offizier: »Schultert das Gewehr!«

Mehr reflexhaft als aus freien Stücken kamen etliche Infanteristen dem Befehl nach. Für einen Moment bäumten sich die Marionetten gegen die Fäden auf, mit denen sie von Liszt und Nekrasow mal hierhin, mal dorthin gerissen wurden. Doch der Appell ans soldatische Unterbewusstsein war nur von kurzer Wirkung. Die Bewegungen der Soldaten wurden zusehends unkontrollierter. Der Hauptmann schwang seinen Säbel und brüllte einen weiteren Befehl, den aber kaum jemand mehr vernahm und letztlich niemand beachtete.

Während des Sanctus verwandelte sich die Kirche in einen Karneval. Selbst die Musikkritiker hatten aufgehört, dem Konzert zu lauschen, das diesen Namen ohnehin nicht mehr verdiente. Zwar glaubten die Menschen nach wie vor noch, eine Messe zu hören, aber in Wirklichkeit befanden sie sich in einer Trance, die sie jeder Urteilskraft beraubte. Sie träumten offenen Auges.

Liszt widerstrebte es zutiefst, die Macht der Klänge auf diese Weise zu gebrauchen, aber was sollte er tun? Mit dem Kopf gab er Sax einen Wink.

Der durch Votivkerzenwachs immunisierte Orchesterleiter stemmte seinen korpulenten Leib aus dem Stuhl empor und eilte zum Spieltisch. Unbehaglich blickte er auf die wie Derwische über die Manuale tanzenden Finger des Meisters.

Das Sanctus endete. Rasch zog Liszt mit der Linken aus einem Schlitz zwischen dem oberen Manual und dem Notenhalter eine schwarze Mappe hervor. Sie enthielt die Blätter, von denen das Schicksal der Welt abhing. Während er zu einer bestrickenden Variation des Agnus Dei aufspielte, ließ Sax die Mappe unter seinem schwarzen Rock verschwinden. Er nickte dem Meister zu und lief durchs lange Hauptschiff in Richtung Westen davon, vorbei an Hunderten von Wachträumern, die ihn nicht beachteten.

Auch für die Soldaten an den Ausgängen blieb er unsichtbar. Er öffnete die schwere Tür des Mittelportals, drehte sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. Saint-Eustache war zu einem Tollhaus geworden.

Adolphe Sax lief hinaus, um die geheimnisvollen Notenblätter dem vom Meister genannten Boten zu überbringen. Liszts eindringliche Worte waren unmissverständlich gewesen.

»Du musst die Windrose für mich in Sicherheit bringen. Es gibt da eine Bibliothek in Weimar ...«

INTRODUZIONE

Weimar

Jetzt ... ist es mir lieb, zuerst an Weimar zu denken, an meinen Fixstern, dessen wohltuende Strahlen meinen weiten Weg erleuchten.

Franz Liszt, 1846

1. Kapitel

Immer neu fragen wir uns, ob es Wahrheit sei, was wir hören und sehen; beide Sinne wollen kaum ausreichen, uns die Überzeugung von der wirklichen Existenz dieser kollossalen Rapidität, dieses Zusammenfassens der Massen zu geben.

Es schwirrt uns vorüber wie Traumgestalten, nur davon nehmen wir das innerste Bewusstsein mit, dass ein Geist diese Formen beherrscht ...

Ludwig Rellstab, 1842 über Franz Liszt

Weimar, 13. Januar 2005, 20.04 Uhr

 

Unter den Illusionisten stehen die Musiker der Zauberkunst am nächsten. Niemand wusste das besser als Sarah d’Albis. Sogar im kleinen Zirkel der weltbesten Pianisten galt sie als Ausnahmeerscheinung. Ihr Spiel war wie Sonnenlicht, das die Farben des Regenbogens sichtbar machte. Wenn sie die dunkle Materie ihres Instruments mit dem bewegten Geist einer großen Komposition beseelte, erwachten bei ihren Zuhörern wie aus dem Nichts die heftigsten Gefühle.

Das besondere Gespür für die suggestive Kraft der Klänge lag Sarah im Blut – obwohl sie an diesem Abend kaum wissen konnte, wie wörtlich dies zutraf. Immerhin beschlich sie eine blasse Ahnung, in wenigen Minuten etwas Besonderes, womöglich Einzigartiges zu erleben. Dieses unterschwellige Gefühl war sie nicht mehr losgeworden, seit sie vor wenigen Stunden einen kurzen Blick auf jene Partitur hatte werfen dürfen, die gleich zum allerersten Mal der Öffentlichkeit zu Gehör gebracht und anschließend im großen Foyersaal in der Originalhandschrift des Komponisten präsentiert werden würde. Alles in Sarah lechzte danach, jetzt als Gastsolistin auf der Bühne des ehrwürdigen Deutschen Nationaltheaters Weimar mitzuwirken, aber ausgerechnet in diesem Stück gab es keine einzige Note für Klavier. Sie kam sich vor, als habe man ihr den Zauberstab weggenommen.

Stattdessen saß sie nun in der ersten Reihe, eingepfercht zwischen einem etwa fünfhundert Pfund schweren Staatsminister und einer spindeldürren Musikkritikerin, deren Ellenbogen ebenso spitz wie ihre berüchtigte Feder waren. Sarah ertappte sich dabei, wie sie tief in den Sessel gesunken war und ihre Beine ausgestreckt hatte, um wenigstens mit den Fußspitzen ihr ureigenes Element zu berühren: das Rampenlicht. Dabei fing sie einen amüsierten Blick der Feuilletonistin auf, der wie eine Einladung zum Interview aussah.

Schnell richtete sich Sarah wieder auf und stellte sich vor, ein Fisch zu sein, der dem Meeresrauschen lauschte, ihm so nah und doch unerreichbar fern, weil er sich am Strand die Enge einer Anglerbox mit einem Wal und einer Languste teilen musste. Um sich keine weitere Blöße und den ausgestreckten Fühlern ihrer Nachbarin keine falschen Signale zu geben, täuschte sie gesteigertes Interesse an der Ausstattung des Theaters vor.

Den hohen Zuschauerraum überspannte eine weiße, wabenartige Decke aus DDR-Zeiten mit quadratisch geschnittenen Leuchtstalaktiten. Ebenso versprühte das Ambiente aus hellem Eichenholz darunter unverkennbar den Charme der späten Siebzigerjahre. Als Sarah sich wieder unbeobachtet fühlte, wanderte ihr Blick zur Bühne zurück. Noch spielten die Musiker alle durcheinander, vorgeblich um ihre Instrumente zu stimmen.

Vor kurzem war zum dritten Mal das Zeichen zum Pausenende erklungen, nicht die in anderen Häusern übliche Glocke, sondern eine Fanfare des ehemaligen Weimarer Kapellmeisters Richard Strauss. Die letzten Nachzügler eilten in den Zuschauerraum. Bald waren sämtliche Plätze des Saales besetzt. Das Gemurmel wurde leiser. Alles harrte des Höhepunktes dieses besonderen Abends, der Uraufführung einer Komposition, die erst kürzlich wiederentdeckt worden war.

Die mit wildem Federstrich aufs Papier gebannten Noten hatten hinter einer gerahmten Europakarte in einem mehr als einhundertvierundzwanzigjährigen Dornröschenschlaf gelegen. Dieser endete unsanft, als am 2. September 2004 ein verheerendes Feuer den Rokokosaal der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek zerstörte. Über sechzigtausend alte Bücher, Handschriften, Karten und Musikalien kamen dabei zu Schaden oder gingen gar unwiederbringlich verloren. Die besagte Landkarte jedoch hatte kaum gelitten. Als man sie aus dem beschädigten Rahmen löste, kam dahinter die Sensation zum Vorschein: vierundzwanzig Notenblätter aus der Feder von Franz Liszt!

Der Meister hatte sein Werk Grande fantaisie symphonique sur »Devoirs de la vie« de Louis Henri Christian Hoelty genannt – »Große symphonische Fantasie über ›Lebenspflichten‹ von Ludwig Heinrich Christoph Hölty«. Derart sperrige Titel waren bei Komponisten des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit. Nach dem Willen des Meisters hätte die Uraufführung seines Stücks bereits am 13. Januar 1881 stattgefunden, seltsamerweise trotz winterlicher Jahreszeit im Hof des Weimarer Residenzschlosses, aber aus unerfindlichen Gründen war es hinter die Landkarte geraten und dort vergessen worden. Die Einnahmen aus der Uraufführung sollten nun zum Aufbau ebenjenes Hauses beitragen, das dem Werk im Sturm der Zeiten Schutz gewährt hatte.

Gedankenversunken tastete Sarah nach dem Kettenanhänger unter der weichen Wolle ihres Pullovers. Eigentlich verdankte sie ihr Hiersein diesem Erbstück, das, wie es in einem Brief ihrer Mutter stand, einmal ihrem »großen Ahnen Franz Liszt« gehört habe. Sarah hegte immer noch Zweifel an dieser Behauptung, die ihr wie der verzweifelte Versuch einer noch verzweifelteren Frau erschien, der Tochter mehr als einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Auch deshalb hatte Sarah ihr Geheimnis lange gehütet. Bis ihr vor einigen Monaten ausgerechnet Hannah Landnal – die Languste zu ihrer Rechten, genannt »die dürre Hannah« – auf die Schliche gekommen war.

Eigentlich hatte Sarah sich selbst verraten, Im Interview war die Musikkritikerin zuvor auf ihrer »frappierenden Ähnlichkeit mit dem Klaviergott des 19. Jahrhunderts« herumgeritten. Die sinnlich dunklen Augen unter den fein gezogenen Brauen, die aristokratisch lange, schlanke Nase zwischen den dezent hervortretenden Wangenknochen, der kleine Mund und das spitze Kinn – all das sei auf eine weiche, sehr weibliche Weise »typisch lisztisch«, hatte Landnal gesagt und rasch hinzugefügt: »Aber natürlich völlig absurd. Die D’Albis und Franz Liszt Blutsverwandte – wer außer mir käme wohl auf so einen Unsinn!«

Auf diese Provokation war Sarah nur eine Antwort eingefallen: »Meine Mutter.«

Mit dieser leichtfertigen Äußerung hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen. Wenn eine Operndiva wie Joséphine d’Albis Derartiges behauptet hatte, dann musste es ja wahr sein. Niemand störte sich daran, dass diese Kronzeugin in eigener Sache gar nicht mehr befragt werden konnte, weil sie seit fast zwanzig Jahren tot war. Ihre Tochter trug die Beweise ja im Gesicht. Zahlreiche Fachleute meldeten sich zu Wort, um Hannah Landnals Theorie sachkundig zu untermauern. So schaffte es die bekannte Computerkünstlerin Lillian F. Schwartz sogar, per Morphing aus Liszts Konterfei Sarahs Antlitz hervorzuzaubern. Und umgekehrt. So oft man wollte! Zwar ließ sich mit dem gleichen Verfahren auch eine Verwandtschaft zwischen Winston Churchill und jedem beliebigen Bullterrier nachweisen, aber von kleinlicher Kritik hatten sich die Medien eine große Story noch nie verhageln lassen.

Inzwischen zweifelte, abgesehen von Sarah, kaum noch jemand an ihrer Nachkommenschaft von dem großen Virtuosen und Komponisten. Man kann sich ausmalen, wie begeistert sie an diesem Abend gewesen war, ihren Ehrenplatz ausgerechnet neben der dürren Hannah vorzufinden ...

Sarahs Gedanken stockten. In ihrer Versunkenheit hatte sie das Orchester bisher nur als einen großen kakophonischen Klangkörper wahrgenommen, aber eben waren ihr ganz hinten rechts zwei dunkle Augen aufgefallen, die sie geradezu hypnotisch anstarrten. Sie erschauderte. Seit im vergangenen Jahr ein Stalker in ihre Pariser Wohnung eingebrochen war, ihre Schränke durchsucht und sich an ihrer Unterwäsche vergriffen hatte, neigte sie zu hysterischen Reaktionen, wenn Männer sie so angafften.

Ihre Auftritte in der Öffentlichkeit waren schon früher eher burschikos als damenhaft gewesen, aber nach den traumatischen Wochen der Nachstellungen durch diesen Stalker hatte sie sich die Unscheinbarkeit zum Ideal erwählt. Mit bescheidenem Erfolg.

Sie besaß einfach das gewisse Etwas, das andere aufmerken ließ, wenn sie den Raum betrat. Dies hing weniger mit Äußerlichkeiten zusammen. Sicher, ihre Figur konnte sich sehen lassen. Sarah war schlank, ohne knöchern zu sein, aber mit einem Meter siebzig auch vom Gardemaß eines Models weit entfernt. Doch nicht irgendwelche Normen machten sie für das andere Geschlecht so attraktiv, sondern ihre natürliche Ausstrahlung.

An diesem Abend trug sie ihr glattes, langes, hellbraunes Haar als schlichten Pferdeschwanz, dazu einen Rollkragenpullover aus schieferfarbener Alpakawolle, hellgraue Hosen und flache Pumps. Nichts Spektakuläres also, aber der Paukist fixierte sie trotzdem wie ein Raubtier seine Beute.

Der Hüne war eine auffällige Erscheinung. Er besaß eine Glatze, einen buschigen Schnurrbart und eine Statur wie ein Ringer. Sein Frack saß so eng wie der Druckanzug eines Jetpiloten – er war vermutlich nur ausgeliehen.

Schon beim Einmarsch der Musiker hatte Walerij Tiomkins Gegenwart Sarah überrascht. Der russischstämmige Franzose gehörte eigentlich dem Orchestre de l’Opéra National de Paris an, das sie als Solistin schon mehrfach begleitet hatte. Fast ebenso gut kannte sie die Staatskapelle Weimar – erst vor fünf Tagen hatte sie an selber Stelle ein Benefizkonzert gegeben. Das Ensemble verfügte über zwei Pauker. Selbst wenn einer ausfiel, brauchte man also nicht auf Ersatz aus fremden Orchestern zurückzugreifen. Schon gar nicht auf einen Musiker aus Paris. Das Ganze war mehr als seltsam.

Demonstrativ wandte Sarah ihren Blick der ersten Violinistin zu, ihre Gedanken jedoch schweiften in die Vergangenheit. Sie kämpfte gegen einen neuerlichen Schauder an, als ihr bewusst wurde, dass auch der Stalker, der ihr im letzten Jahr das Leben zur Hölle gemacht hatte, ein Russe gewesen war: Oleg Janin, ein Moskauer Musikprofessor, der ...

»Sehen wir uns eigentlich wieder zum ›Amsterdamer Frühlingserwachem‹?«, brach Hannah Landnal – die Musikkritikerin – mit gleichsam brachialer Gewalt in die unruhevollen Erinnerungen ihrer Nachbarin ein. Die Frage bezog sich auf ein Klassikfestival, das die niederländische Hauptstadt alle zwei Jahre in der ersten Aprilwoche veranstaltete.

»Nein, Ich habe mir diesmal eine Auszeit genommen«, antwortete Sarah und rechnete schon mit der typischen Journalistenantwort »Wofür?«, aber da rettete sie der Applaus des Publikums.

Jac van Steen, der Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Staatskapelle Weimar, war soeben auf die Bühne getreten. Er hatte es sich an diesem besonderen Abend nicht nehmen lassen, das Orchester persönlich zu leiten. Der hochgewachsene Niederländer verneigte sich. Im Zuschauerraum verloschen die Lichter. Er drehte sich um und hob die Arme. Die Ovationen ebbten ab. Sarah schloss die Augen. Und die Musik begann.

Ganz leise. Der Klang einer einzelnen Querflöte schwebte dunkel und voll durch den Konzertsaal. Unwillkürlich fühlte sich Sarah an die ersten Takte von Maurice Ravels Bolero erinnert. Vor ihrem inneren Auge wurde die ferne Melodie zu einer Kette aus bunten Perlen und Bändern, irgendwo oben im zweiten Rang in die Luft geworfen; anmutig wie ein Seidenschal entrollte sie sich nun unter der Decke und glitt langsam an Sarah vorüber.

Derartige Wahrnehmungen waren für sie normal, denn sie konnte Musik in farbigen Formen und Flächen sehen.

Manche hielten es für Magie, andere für den Ausdruck wahnhafter Halluzinationen, aber es war weder das eine noch das andere. Sarahs Gehirn verwandelte lediglich einen Reiz in zwei unterschiedliche Sinneseindrücke. Sie brauchte dazu keine Zauberformeln zu murmeln, es passierte von selbst. Wissenschaftler nennen diese Fähigkeit Synästhesie, was wortwörtlich »Mitempfindung« bedeutet, die Betroffenen ihrerseits bezeichnen sich untereinander als Synnies. Es gibt Menschen, für die sind Buchstaben und Zahlen grundsätzlich bunt. Sarah kannte eine Flötistin, die Tonintervalle schmecken konnte. Und wie sie, die begnadete Pianistin, sahen die meisten Synnies Klänge in farbiger Gestalt. Deshalb wurde diese Art der Synästhesie auch Audition colorée genannt: »Farbenhören«.

In einer Beziehung waren Sarahs Doppelempfindungen aber trotzdem sehr speziell: Wenn vor ihrem »inneren Auge« die aus Tönen erschaffenen Bilder erschienen, dann hatte das Timbre darauf einen wesentlichen Einfluss. Dieselbe Melodie sah für sie also verschieden aus, je nachdem, wie die Klangfarbe von Musikinstrument und Raum beeinflusst wurde. Ein Telefonzellenkonzert mit einer Piccoloflöte war nur eine blasse Buntstiftskizze, die entsprechende Orgelpartie in einer Kathedrale dagegen ein opulentes Ölgemälde. Sarahs viel gelobte Ausdrucksstärke bei der Interpretation großer Meister schrieb sie maßgeblich dieser Besonderheit ihres Gehirns zu.

Die momentan von ihr wahrgenommenen Töne glichen, je nach Dauer, samtigen Kugeln und Bändern. Eine Querflöte aus Silber hätte zweifellos gläsern glänzende Körper erschaffen. Liszts Instrumentierung war exzentrisch, ein echter Anachronismus. Sarah fragte sich, ob er der schon zu seinen Lebzeiten antiquierten Traversflöte aus Holz gegenüber einem modernen Instrument aus Metall den Vorzug gegeben hatte, weil er wie sie ein Synnie gewesen war.

Wie eine Halbwüchsige im Kino ließ sie sich wieder tiefer in den Sitz sinken. Der gestrige kurze Blick in die Partitur hatte gereicht, um ihr eine grobe Vorstellung vom Verlauf des Stückes zu geben. Der verträumte Anfang war trügerisch. Gleich würde das Nationaltheater explodieren.

Unvermittelt stimmten sämtliche Instrumente ein gewaltiges Getöse an. Die junge Pianistin musste schmunzeln. Das jähe forte fortissimo des Orchesters dürfte bis in den Dachboden Tote auferweckt haben. Und das war lediglich der akustische Eindruck. Für Sarah kamen zu dem Donnerschlag noch bunte Kugelblitze hinzu und Bänder, die wie Nordlichter schillerten. Hinter allem hing ein purpurfarbener Regen.

Ebenso plötzlich, wie das Spektakel aufgeflammt war, verlosch es auch wieder. Nur die Streicher blieben zurück und entrollten für das nachfolgende Geschehen einen zauberhaften Klangteppich aus unterschiedlichen Schattierungen von Grün.

Aber da setzte die Harfe ein.

Auf der gläsernen Leinwand in Sarahs Kopf erschienen bunte Tropfen, die ineinander verliefen. Nach den ersten Tönen stutzte sie und runzelte verwundert die Stirn. Ihre Muskeln verhärteten sich. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Den farbigen Tupfern fehlte völlig die sonst übliche Zufälligkeit des Audition colorée. Stattdessen beobachtete sie ein harmonisches Zusammenspiel von Linien, so als schriebe die Harfe diese mit breiter Kalligrafiefeder in ihren Geist. Sarah riss die Augen auf.

Damit verschwand das beunruhigende Bild aber nicht, es kam nur ein weiteres hinzu: das Orchester mit dem kahlköpfigen Paukisten, der sie angaffte, als wolle er sie mit seinen Blicken durchbohren.

Sie richtete sich kerzengerade auf, schnappte nach Luft und fasste sich an die Brust. Neben ihr fragte eine Stimme, ob es ihr gut ginge. Sarah ignorierte sie. Ihr Bewusstsein drängte alles zurück, ließ Hannah Landnal, den Paukisten und das ganze Theater zu einer Marginalie hinter dem Gebilde aus Licht und Farbe verblassen.

Es war ein leuchtendes Symbol, so plastisch, als könne sie es mit den Händen ergreifen.

 

Was der Uneingeweihte spontan als großes Z deuten mochte, war in Wirklichkeit eine Verschmelzung der Buchstaben F und L. Es sah aus, als habe ein Laserstrahl die schwungvoll stilisierten Lettern in die Luft gebrannt. Doch sie waren, wie Sarah sehr wohl wusste, lediglich ein neuronaler Funkenregen in ihrem Gehirn, ein Gestalt gewordener Harfenklang.

Und trotzdem ein getreues Abbild der Wirklichkeit.

Sarahs Linke schloss sich um den Kettenanhänger unter dem Pullover, diese vollkommene Miniatur des von der Harfe gezeichneten Bildes, ein Kleinod aus Gold und acht Saphiren, das schon ihre Mutter getragen hatte, bis sein Glitzern im Dunkel eines großen Umschlags erloschen war.

Du verkörperst die sechste Generation in der Nachkommenschaft deines großen Ahnen Franz Liszt. Halte sein Signet in Ehren. Aber zeige es niemandem, bis der Tag der Offenbarung gekommen ist!

Diese geheimnisvolle Warnung im Abschiedsbrief der Mutter war Sarah immer ein Rätsel gewesen. Aber nun hatte sie mit der Uraufführung der so lange verschollenen Partitur ihre Offenbarung erhalten: Eine Komposition, die zweifellos aus Franz Liszts Feder stammte, zeigte ihr ebenjenes Signet, das sie als Kettenanhänger um den Hals trug. Sie bebte vor Erregung.

Außer ihr würde wohl niemand sonst im Saal diesen Beweis ihrer Herkunft erkennen, denn die Wahrnehmungen jedes Synästhetikers waren so individuell wie ein Fingerabdruck. Allerdings – wie hatte Liszt dann dieses Symbol erschaffen können?

Während ein Teil von Sarahs Bewusstsein noch mit diesem Widerspruch haderte, nahmen andere Areale schon eine Veränderung im Spiel der Harfe wahr. Der Nachhall jener Saiten, die das Monogramm sekundenlang vor Sarahs innerem Auge gehalten hatten, wurde plötzlich von einer schnellen Akkordfolge übertönt. Wie in einem langsam ablaufenden Daumenkino kippte das FL-Signet schrittweise nach hinten, vollzog eine halbe Drehung – und sah wieder aus wie vorher.

Unglaublich! Sarahs Herz raste. Ein überwältigendes Hochgefühl durchflutete sie. Diese Harmonie aus Klängen übertraf alles, was sie je mit ihren ineinander verwobenen Sinnen wahrgenommen hatte.

Die Symmetrie im Achsenkreuz des Emblems hingegen war ihr schon vor zehn Jahren an dem Kettenanhänger ihrer Mutter aufgefallen: Man konnte ihn horizontal oder vertikal drehen und bekam doch stets das gleiche Signet zu sehen. Sie hatte damals spontan an das berühmte Spiegelmonogramm von Johann Sebastian Bach denken müssen. Die drei Anfangsbuchstaben seines Namens waren darin jeweils doppelt vertreten – einmal richtig herum und einmal kopfstehend. Der Schöpfer des FL-Signets indes hatte dieses aus nur zwei Zeichen erschaffen.

Mit dem Klang der zuletzt gezupften Harfensaiten verblasste auch das Symbol.

Sarah glaubte, damit die größte Überraschung des Abends hinter sich zu haben, aber das Signet war nur der Auftakt zu einer noch viel bewegenderen Klangmalerei. Unter die Streicher mischten sich nun die Farben anderer Instrumentengattungen – das Gelb der Holz- und Blechbläser und sogar das satte Rot der Pauke griffen nun in das bewegte Fresko ein. Sarah hatte kaum Luft geholt, als eine neue »Vision« ihr den Atem raubte.

Vor ihren Augen erschien ein Schriftzug, so als zeichne eine unsichtbare Hand ein unheilvolles Menetekel auf eine gläserne Wand, die sich langsam an ihr vorbeischob. Töne wurden zu farbigen Punkten, diese zu Großbuchstaben, aus den Versalien formten sich Worte, die bald Zeilen bildeten. Ohne Punkt und Komma entrollte sich im Fortgang des Konzerts vor ihr ein ganzes verstörendes Gedicht!

farbenlauscher nimm dich in acht

die schwarze melodie der macht

 

steht für verrat den wird vereiteln nur

wer lesen kann die purpurpartitur

 

um sie zu finden und sie zu binden

mach dich zum koenig aller blinden

 

nur so fuehrt dich des meisters instrument

von as zu n + balzac und bis zum end

 

eile volkes wille flicht schon alexanders kranz

in nur zwei monden weht er auf seinem grabe franz

Mit dem letzten Wort endete auch das Konzert, so als habe der Meister es mit seinem Namen unterschrieben. Sarah stand unter Schock. Durchgeschwitzt saß sie in ihrem Sessel und war außerstande, sich zu rühren.

Die Zuhörer im Saal begannen zu applaudieren. Zunächst nur vereinzelt. Offenbar hatte Franz Liszt mit seiner kühnen Harmonik das Publikum wieder einmal gespalten. Schon zu Lebzeiten waren seine extravaganten Klangschöpfungen, die bis an die Grenzen der Atonalität reichten, ebenso auf erbitterte Gegnerschaft wie auf glühende Verehrung gestoßen. Nach wie vor wurde weder sein Leben von den Historikern noch sein Werk von den Musikanalytikern völlig verstanden. Vielleicht weil all diesen Fachleuten ein wichtiges Stück des großen Puzzles gefehlt hatte, jener Teil des Mosaiks nämlich, der eben vor Sarahs innerem Auge erschienen war?

Im Deutschen Nationaltheater setzte sich letztlich das Prickeln der Sensation gegen die Irritationen durch. Der Applaus erfasste die ganze Zuhörerschaft. Nur die Pianistin in der ersten Reihe klatschte nicht. Die Klangbotschaft hatte sie förmlich paralysiert.

Vor allem der Schlussvers machte ihr zu schaffen. War es das, wonach es sich anhörte, die Warnung vor einem Mordkomplott? Wie anders sollte man es auffassen, wenn Liszt den Tod dieses Alexanders bereits zwei Monate im Voraus angekündigt hatte?

»... Sie nicht gleich etwas sagen, dann rufe ich einen Arzt.«

Die fordernde Stimme von Hannah Landnal stieg endlich in Sarahs obere Bewusstseinssphären auf. Sie blinzelte und wurde erst jetzt gewahr, dass es im Zuschauerraum wieder hell geworden war. Hinter ihr rumorten einige ganz Eilige, die im Wettlauf zu den Garderoben einen der vorderen Plätze belegen wollten. Im Orchester zerlegten einige Musiker ihre Instrumente. Der Paukist hatte sich bereits fortgestohlen.

Sarah wandte den Kopf nach rechts und blickte auf ein sauerkirschrotes Lippenpaar, das sich unentwegt bewegte. »M-mir geht es gut«, stammelte sie.

»So sehen Sie aber nicht aus, meine Liebe«, widersprach die Kritikerin.

»Die Fantasie meines ... Ich wollte sagen, die Komposition Liszts hat mich ... umgehauen. So sagt man doch in Ihrer Sprache, oder?« Sarah wusste sehr genau um die Bedeutung der Worte. Neben ihrer Muttersprache beherrschte sie fließend Deutsch und Englisch sowie, nur unwesentlich schlechter, Italienisch.

»Ja, so sagt man«, erwiderte Landnal und musterte ihr Gegenüber aus engen Augen.

Sarah zwang sich zu einem Lächeln, erhob sich betont schwungvoll aus dem himbeerfarbenen Sitzpolster, umklammerte mit beiden Händen den Doppelriemen ihrer schwarzen Handtasche und versicherte: »Es ist alles in Ordnung. Wirklich!«

Der Argwohn wich aus dem faltigen Gesicht der Kritikerin. Im Aufstehen zauberte sie mit der Eleganz einer Magierin Stift und Notizblock aus ihrem Handtäschchen hervor. »Ich stimme Ihnen übrigens zu, Madame d’Albis. Mir scheint, Liszt lacht sich im Grabe eins in Fäustchen, weil er die Musikwelt wieder einmal in Aufruhr versetzt hat. Das Werk dürfte Stoff für mindestens hundert Doktorarbeiten liefern. Haben Sie Ihrer Beurteilung von eben noch etwas hinzuzufügen? In Bezug auf die Komposition Ihres Ahnen, meine ich.«

»Excuse me, Madame d’Albis«, drängte sich eine fremde Stimme auf Englisch aus dem Hintergrund vor und ließ damit auch den forschen Interviewvorstoß der dürren Hannah scheitern.

Sarah, froh, der Kritikerin auf unverfängliche Weise entkommen zu können, wandte sich um. Vor ihr stand ein junger Mann, der sie auf eine merkwürdig eindringliche, jedoch nicht unangenehme Weise anlächelte. In der Hand hielt er eine jener postkartengroßen Fotos von ihr, die im Vorfeld ihres letzten Konzerts verteilt worden waren. Er mochte Mitte dreißig sein, war einen halben Kopf größer als sie, hatte volles, schwarzes Haar und blaue Augen. Sein scharf geschnittenes Gesicht schien zu bestätigen, was der schwere Akzent seiner förmlichen Entschuldigung bereits angedeutet hatte.

Schon wieder ein Russe, dachte Sarah und verbesserte sich sogleich: Aber ein ziemlich gut aussehender Russe.

Danach gewannen die Reflexe des Medienstars die Kontrolle über ihr Handeln. Sie schenkte dem Mann ein professionelles Lächeln, entriss ihm die Autogrammkarte, drehte sich um und stibitzte der zur Salzsäule erstarrten, grimmig dreinblickenden Kritikerin den Stift. Routiniert kritzelte sie ihren Namenszug auf das Foto.

»Madame d’Albis, ich muss Ihnen unbedingt etwas sagen«, versuchte der Russe einen erneuten Anlauf auf Englisch.

Sarah streckte ihm die Karte entgegen, und obwohl er keine Anstalten machte, selbige zurückzunehmen, lächelte sie abermals. Freundliche Unverbindlichkeit war die beste Methode zum Schutz der eigenen Privatsphäre. Fans konnten wie Kletten sein, wenn man sich von ihnen in ein Gespräch verwickeln ließ. Der Russe holte tief Luft, um das Sprüchlein, das er vermutlich tagelang eingeübt hatte, doch noch loszuwerden, aber Sarah kam ihm – ebenfalls auf Englisch – zuvor.

»Seien Sie mir bitte nicht böse, aber ich habe heute noch etliche Verpflichtungen.« Das war nicht einmal gelogen. Der Intendant des Hauses hatte sie zu einem kleinen Umtrunk in sein Büro geladen. Im Moment stand Sarah allerdings nicht der Sinn nach Smalltalk bei Rotkäppchen-Sekt. Immer noch schwirrten die geheimnisvollen Worte der Klangbotschaft wie bunter Glitter durch ihren Kopf. Sie wollte allein mit sich sein, wollte endlich über all die verwirrenden Eindrücke nachdenken.

»Aber ...«, setzte der Russe erneut an, doch während Sarah sich noch fragte, warum er nicht endlich seine Autogrammkarte zurücknahm, intervenierte die Landnal.

»Entschuldigung, junger Mann, aber ich bin von der Presse und habe zuerst mit Madame d’Albis gesprochen.« Auch die Kritikerin war der englischen Sprache mächtig. Um ihre Ansprüche zu unterstreichen, manövrierte sie ihren hageren Körper in eine taktisch günstigere Position zwischen dem Fan und der Pianistin. Dadurch hatte sie jedoch ihre Flanke vernachlässigt und gab einem weiteren Sarah-d’Albis-Bewunderer Gelegenheit zum Angriff.

»Excusez-moi, Madame d’Albis«, sagte der Paukist auf Französisch.

Sarah stieß innerlich einen Wutschrei aus. Haben die alle denselben Text gelernt, um mich kirre zu machen! Äußerlich blieb sie freundlich und spielte die Überraschte.

»Monsieur Tiomkin!« Den enervierten Unterton hatten wohl alle in der Runde verstanden. Der Blick des Paukisten bereitete ihr Unbehagen, so als klebten zwei blassblaue Bonbons auf ihrem Gesicht. Während sie nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt, versicherte ihr der glatzköpfige Hüne in – weiterhin französischem – Plauderton, wie überrascht er gewesen sei, eine so prominente Kollegin und Landsmännin im Zuschauerraum zu entdecken. Seine tiefe, einschmeichelnde Stimme klang wie ein in Schleim getauchter Kontrabass. Doch dann wurde sie plötzlich knochentrocken, fast bedrohlich.

»Wie hat Ihnen das Konzert gefallen, Madame?«

Ihr Kopf ruckte herum, und sie starrte in seine fragende Miene. Zögernd antwortete sie in ihrer Muttersprache: »Ich war beeindruckt.«

»Das ist mir aufgefallen.«

Sarah verschluckte sich an ihrem eigenen Speichel. Landnal klopfte ihr beflissen auf den Rücken.

Der russische Fan hatte offenbar seinen Mut wiedergefunden und sagte auf Englisch: »Es ist wirklich dringend, Madame d’Albis!«

Aber ihr Interview gehe vor, beharrte die Kritikerin – jetzt sogar mehrsprachig.

»Mich würde vor allem interessieren, welche Empfindungen Liszts Fantasie in Ihnen geweckt hat«, präzisierte der russisch-französische Paukist unbeirrt sein Anliegen.

Ein kalter Schauer lief über Sarahs Rücken. Wusste er etwa ...?

»Entschuldigung, Madame d’Albis«, sang den nun schon bekannten Refrain ein angenehmer Bariton in einem unverkennbar schweizerisch gefärbten Deutsch.

Sarah wandte sich einmal mehr um und atmete erleichtert auf. Das Gesicht mit dem Dreitagebart und den freundlichen Augen verhieß Rettung in höchster Not. »Herr Märki! Sie haben sich bestimmt schon gefragt, wo ich bleibe.«

Stephan Märki war der Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar. Er runzelte die Stirn. Es war ihm anzusehen, dass er etwas in der Art wie »So eilig haben wir’s nun auch wieder nicht« sagen wollte, aber dann erkannte er wohl Sarahs Bedrängnis und antwortete heiter: »In meinem Büro erwartet Sie eine Überraschung, mit der ich Sie für Ihre Geduld entschädigen möchte. Kommen Sie, Madame, ich begleite Sie nach oben.«

Sarah bedachte die Runde ihrer Bewunderer mit einem bezaubernden Lächeln und stimmte zum letzten Mal das Motiv des Abends an: »Entschuldigen Sie bitte.« Dann schwebte sie, endlich befreit, davon.

In Begleitung des Intendanten verließ sie den Saal. Märki führte sie durch ein weiß getünchtes Treppenhaus ins nächste Stockwerk. Erst jetzt wurde Sarah bewusst, dass sie immer noch die signierte Autogrammkarte des Russen in der Hand hielt. Für einen Moment empfand sie Bedauern, einen Fan enttäuscht zu haben. Weil kein Abfallbehälter in der Nähe war, öffnete sie ihre Handtasche, um das Foto vorerst einzustecken. Dabei fiel ihr Blick auf die Rückseite der Karte. Unter dem offiziellen Text mit einer Kurzbiografie und den Daten ihres Benefizkonzerts stand auf Englisch eine handschriftliche Notiz.

Madame d’Albis!

Ich muss Sie warnen. Sie schweben in großer Gefahr! Aber ich kann Ihnen vielleicht helfen.

O. [email protected]

EXPOSITION

Weimar

Die großen Männer, deren Aufenthalt Weimar berühmt gemacht, haben dort wohl magische Kreise gezogen, aber diese sind noch nicht zu Furchen vertieft. ... Gegenwärtig ist Weimar nur ein geografischer Punkt, ein Asyl, geehrt um der Hoffnungen willen, die die Erinnerungen ablösen möchten; ein neutrales Gebiet ...

Franz Liszt

2. Kapitel

Die Wunder Deiner persönlichen Mitteilung musstest Du in einer Weise zu erhalten suchen, welche vom Leben Deiner Person selbst sie unabhängig machte ...

Richard Wagner an Franz Liszt

Weimar, 13. Januar 2005, 21.16 Uhr

 

Ein beißender Wind schlug ihr entgegen, als sie zwischen den Säulen hervortrat. Sarah klappte den Mantelkragen hoch und rückte die Pappröhre unter ihrer linken Achsel zurecht – die »Überraschung« des Intendanten. Forschen Schritts überwand sie die wenigen Stufen, die vom Hauptportal zum Theaterplatz hinabführten. In der Nacht würde es wohl Frost geben. Wenigstens regnete es nicht.

Sie beschloss, nicht sofort in den Russischen Hof zurückzukehren. Das Grandhotel war ein guter Ort zum Wohnen, aber im Moment brauchte sie etwas anderes. Ein kleiner Spaziergang an der kalten Luft, vielleicht auch ein Glas Rotwein in einem gemütlichen Lokal mochten das dunkle Gewölk in ihrem Kopf schon eher vertreiben. Was sie an diesem Abend erlebt hatte, war nicht so leicht zu verdauen – erst das in jeder Hinsicht visionäre Konzert und dann auch noch die Nachricht dieses Stalkers ...

Oleg Janin hieß er, Musikprofessor aus Russland. Er hatte Sarah im letzten Jahr an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben. Erst durch Briefe, dann durch Telefonterror und zuletzt mit dem Einbruch in ihre Pariser Wohnung. Im Beisein ihrer Freundin Hélène hatte sie ihn auf frischer Tat dabei ertappt, wie er ihre Unterwäsche durchwühlte. Mithilfe eines Nachbarn war der Perversling festgehalten worden, bis die Polizei sich endlich bequemt hatte, ihn festzunehmen. Weil sonst nichts gegen den Mann vorlag, war er lediglich zu einer saftigen Geldstrafe und einer Therapie verurteilt worden. Außerdem hatte er die Auflage bekommen, sich Sarah nicht weiter als bis auf dreihundert Meter zu nähern.

Und jetzt versuchte dieser kranke Typ, sie durch obskure Unheilsbotschaften erneut aus der Fassung zu bringen. Zum Glück hatte sie mithilfe einer Psychotherapeutin gelernt, besser mit solchen Nachstellungen umzugehen. Sie war nicht die Schuldige dabei, sondern das Opfer. Ob die Stalker nun unter nicht erwiderter Liebe oder Rachegefühlen litten, man durfte sie auf keinen Fall ermutigen. »Sollte er Sie in einer bewohnten Gegend angreifen, dann schreien Sie so laut Sie können. Aber meistens kann man eine solche Eskalation schon im Vorfeld ausschalten. Reagieren Sie einfach nicht auf seine Belästigungen und vermeiden Sie jeden Kontakt zu ihm«, hatte die Psychologin ihr eingeschärft. »Informieren Sie Ihre Nachbarn, den Freundes- und Bekanntenkreis. Vor allem aber dokumentieren Sie jeden Anruf, heben Sie jeden seiner Briefe auf, löschen Sie nicht seine Nachrichten vom Anrufbeantworter oder die E-Mails aus dem Computer – all das sind wichtige Beweismittel.«

Obwohl das Corpus Delicti Sarah anekelte, hatte sie es in ein Seitenfach ihrer Handtasche verbannt und beschlossen, das unerquickliche Ereignis vorerst zu vergessen. Unglaublich, dass dieser Psychopath jetzt sogar ahnungslose Landsleute dazu anstiftete, seine Terrorbriefe zuzustellen! Oder steckte der irrtümlich von ihr für einen Fan gehaltene Russe mit in der Sache drin? Wie auch immer, sollte Oleg Janin sie noch ein einziges Mal belästigen, würde sie dafür sorgen, dass er im Gefängnis landete.

Weimar war eine Kleinstadt und der Theaterplatz um diese Abendstunde wie ausgestorben. Um ihn zu überqueren, ließ Sarah das Goethe-Schiller-Denkmal links liegen. Es zeigte die beiden Dichterfürsten in einer Eintracht, die sie zu Lebzeiten nach Ansicht zahlreicher Gelehrter nie verbunden hatte. Womöglich existierte auch von dem Klaviervirtuosen und Komponisten Franz Liszt ein falsches oder zumindest lückenhaftes Bild. Wie die versteckte Klangbotschaft in seiner Fantasie bewies, war er wohl in Angelegenheiten verwickelt gewesen, die in keiner Biografie standen.

Während Sarah auf eine Gasse am gegenüberliegenden Ende des Platzes zustrebte, lief in ihrem Kopf ein Endlosband ab. Sie konnte nicht nur jeden Ton des Konzerts aus ihrem Gedächtnis abrufen, sondern mit der Erinnerung auch ihr synästhetisches Erlebnis im Geiste wiederaufleben lassen. Liszts Fantasie steckte voller symbolischer Andeutungen. Wer war der Farbenlauscher, an den er sich mit seiner so genial verschlüsselten Nachricht gewandt hatte? Was war die Purpurpartitur? Und welchen Alexander, der schon mit einem Fuß im Grabe stand, konnte er gemeint haben? Etwa Liszts langjährigen Weimarer Dienstherrn und Förderer, den Großherzog Carl Alexander? Wenn dem so war, dann hatte die Warnung wohl den Empfänger erreicht, denn der Landesfürst überlebte das Schicksalsdatum um immerhin zwanzig Jahre.

Nein, korrigierte sich Sarah und umklammerte noch fester die Pappröhre, die ihr vom Intendanten des Deutschen Nationaltheaters mit einer Bitte um Nachsicht überreicht worden war: »Betrachten Sie es als kleine Wiedergutmachung der Klassik Stiftung Weimar, weil wir Ihnen das Studium des Werkes so lange verwehrt haben.« Die in Märkis Büro anwesenden Mitarbeiter des Theaters und der Staatskapelle hatten applaudiert, und anschließend war mit rotem Sekt auf die Pianistin angestoßen worden. Der Schweizer Intendant schwang sich gar zu der Feststellung auf, die D’Albis verkörpere wie keine zweite Nachfahrin Liszts das Erbe des großen Virtuosen. Sarah war so viel Lobhudelei unangenehm, und sie hatte sich daher ziemlich bald entschuldigt.

Wenn sie sich erst beruhigt hätte, würde sie die Partitur ihres genialen Vorfahren gründlich studieren. Auch einige an diesem Abend nicht aufgeführte Entwürfe steckten in der Rolle. Und um sein Präsent zu krönen, hatte der Theaterintendant sogar eine Farbkopie der Europakarte beigelegt, hinter der das Werk so lange verborgen gewesen war. Während Sarah dem westlichen Ausgang des Platzes zustrebte, stellte sie sich vor, wie in dem lichtdurchfluteten klassizistischen Foyersaal im ersten Stock des Deutschen Nationaltheaters gerade Hunderte von Premierenbesuchern und Pressevertretern sich die Nasen an einer Glasvitrine plattdrückten, in der die Originale der Liszt-Fantasie ausgestellt wurden.

Endlich hatte sie die beiden eckigen Torpfeiler erreicht, durch die man in den Zeughof gelangte, eine abschüssige Gasse, die im oberen Bereich nur für Fußgänger passierbar war. Linker Hand lag das Bauhausmuseum, rechts das gelbe Wittumspalais, der ehemalige Wohnsitz der Herzogin Anna Amalia. Die Absätze von Sarahs Pumps knallten auf dem Kopfsteinpflaster, während sie die schlecht beleuchtete Engstelle durcheilte.

Mit einem Mal hörte sie Schritte. Sie drehte sich um, aber die finstere Gasse war menschenleer. Eilig lief sie zum zweiten Tor und war froh, als der einstige Zeughof endlich hinter ihr lag.

Einen Moment lang verharrte sie unentschlossen an der kleinen Straßenkreuzung, um sich zu orientieren. Zu ihrer Linken sah sie ein gelbes Haus und davor, auf einem zur Straße hin mit Pfosten und Ketten eingegrenzten Platz, eine Bronzeskulptur: Mutter mit zwei Kindern, eines auf dem Arm getragen, das andere an der Hand geführt.

Das Bild rief zwiespältige Erinnerungen in Sarah hervor. Selten hatte sie so viel körperliche Nähe bei ihrer eigenen Mutter spüren dürfen wie diese Kleinen. Joséphine d’Albis war in ihren letzten Lebensjahren eine in sich selbst eingeschlossene Frau gewesen.

Die Operndiva hatte ihre Karriere aufgegeben, nachdem sie schwanger geworden war und sich unter falschem Namen mit ihrem neugeborenen Kind auf die Kleinen Antillen zurückgezogen hatte. Sarah konnte sich kaum entsinnen, ihre Mutter jemals fröhlich gesehen zu haben. Joséphine schien in einer unerklärlichen Trauer gefangen zu sein wie ein Paradiesvogel, der in einem goldenen Käfig sein Dasein fristete.

Die Tochter war von alldem überfordert gewesen, hatte sich die Schuld an den Depressionen der Mutter gegeben. Zeitweilig waren Selbstverletzungen die einzige Sprache, mit der das Mädchen seine Gefühle auszudrücken vermochte. Doch das langsame Sterben Joséphines hielt es damit nicht auf. Im Alter von nur siebenunddreißig Jahren trat die einst gefeierte Sopranistin auf St. Bartolomé unbeachtet von der Bühne der Welt.

Sarah war gerade neun geworden. Das Haus am Strand von St. Bartolomé gehöre nun ihr, hatte ein verknöcherter Notar dem verstörten Kind erklärt. Maurice und Céline Frachet, enge Freunde von Joséphine, hatten es hierauf zu sich nach Martinique geholt und es bald darauf adoptiert. Céline war Klavierlehrerin und Maurice promovierter Astrophysiker. Er pflegte von seiner Frau und sich zu sagen, sie seien beide Musiker, denn Musik sei nur ein anderes Wort für Harmonie. Bei dem Waisenkind hatte er damit spontan Neugierde geweckt, die sich in einem scheuen »Warum?« Gehör verschaffte. »Das ist ein Geheimnis. Jeder muss es für sich selbst ergründen«, antwortete er und zwinkerte verschwörerisch.

Maurice hatte Sarah mit dem Rätsel trotzdem nicht allein gelassen. Er war ein geduldiger und kluger Lehrer, kannte unzählige Anekdoten aus dem Leben großer Astronomen, und zu jedem Sternbild konnte er eine Geschichte erzählen. Wenn er mit Sarah den Nachthimmel betrachtete, dann sagte er manchmal: »Pst! Kannst du sie hören?« Sie liebte dieses Spiel, kuschelte sich noch enger an ihn und fragte brav: »Was denn, Papa?« Er pflegte darauf schmunzelnd zu erwidern: »Die musica mundana, die kosmische Musik.« Und wenn sie noch nicht zu müde war, dann erzählte er von den Pythagoreern, welche glaubten, die Bewegung der Himmelskörper folge bestimmten harmonischen Zahlenverhältnissen und lasse dadurch die »Sphärenmusik« erklingen. Für normale Menschen sei sie unhörbar, aber nicht für ein Sternenkind wie seine kleine Sarah.

Von Céline erfuhr die Waise nicht weniger Zuwendung. Ihr verdankte sie die Liebe zum Klavier. Wenn Sarahs Finger über das Parkett aus Elfenbein und Ebenholz tanzten oder ihre Augen den Nachthimmel durchstreiften, vergaß sie die erlittenen Schmerzen. Ihre Verhaltensauffälligkeiten waren bald nur noch Schatten der Vergangenheit. Auch verblasste Joséphine zusehends in der Erinnerung ihrer Tochter.

Erst als Sarah volljährig geworden und ihr durch den verknöcherten Notar ein brauner Umschlag ausgehändigt worden war, drängte die Mutter sich mit Macht in ihr Bewusstsein zurück. Schuld daran war der rätselhafte Brief mit dem Kettenanhänger. Vermutlich habe das Schmuckstück, wie man an den Spuren auf der Rückseite erkennen könne, ursprünglich einen Ring von Franz Liszt geziert, teilte Joséphine darin mit. Obwohl sie in ihren Abschiedsworten den Namen des »großen Ahnen« noch mehrfach nannte, war Sarah bis zu diesem Abend nicht wirklich überzeugt gewesen, ob das FL tatsächlich für die Initialen des berühmten Musikers stand.

Sie bog nach links in die Geleitstraße ein, weil sie an deren Ende die Lichter einiger Gaststätten ausgemacht hatte. Die Bronzeskulptur der liebenden Mutter wie auch die Erinnerungen an die eigene Kindheit blieben zurück. Und damit auch das Laternenlicht.

Mit jedem Schritt wurde die Dunkelheit dichter. Weder andere Fußgänger noch Fahrzeuge waren zu sehen. Sarah wechselte vom Trottoir zur Mitte der schmalen Kopfsteinstraße. Rasch lief sie an den alten, liebevoll restaurierten Häuserfassaden vorüber, den heimelig anmutenden Lichtern am Ende der Gasse entgegen. Als sie ihr Ziel fast erreicht hatte, wurde ihre Aufmerksamkeit von einer drolligen Figur abgelenkt, die rechter Hand einen Häusergiebel schmückte. Einen Moment lang vergaß Sarah ihre Beklommenheit, während sie die alte Frau mit der langen Schürze betrachtete, die eine Schale mit Thüringischen Knödeln vor sich hielt.

Plötzlich heulte hinter ihr ein Motor auf.

Instinktiv sprang sie nach links, um den Weg freizugeben. Erst auf dem vermeintlich sicheren Bürgersteig drehte sie sich nach dem heranpreschenden Fahrzeug um. Der Wagen fuhr ohne Licht. Sie wunderte sich zwar, schöpfte aber noch keinen Verdacht. Doch dann bremste die dunkle Limousine unvermittelt ab und kam rutschend neben ihr zum Stehen. Erschrocken fuhr Sarah an die Hauswand zurück.

Die getönte Scheibe auf der Fahrerseite versank summend in der Tür, und aus dem Dunkel des Wagens neigte sich Sarah das Gesicht des Paukisten entgegen.

»Tiomkin! Was soll diese Gangsternummer?«, fauchte sie ihn auf Französisch an.

»Sie waren schon verschwunden, als ich auf der Premierenfeier erschien.«

»Ja und?«

»Ich habe Sie gesucht, weil ich Sie zu einer kleinen Unterhaltung einladen wollte.«

»Unterhaltung? Da verwechseln Sie wohl etwas, Monsieur. Sie sind kein Cello und ich keine Cellistin. Lassen Sie mich jetzt bitte allein.«

»War das Konzert so erschütternd?«

Sarah erschauderte. »Keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Ich rede von den Dingen, die Sie beim Klang der Liszt-Fantasie wahrgenommen haben.«

Entrüstet zeigte sie dem Paukisten die kalte Schulter und setzte sich wieder in Bewegung, um sich in die Sicherheit irgendeines Restaurants zu retten.

Der Wagen ruckte ein Stück vor und schnitt ihr den Weg ab. Sich erneut aus dem Seitenfenster beugend, knurrte der Paukist: »Unser Gespräch hat gerade erst begonnen. Steigen Sie ein, Madame!«

Ehe Sarah antworten konnte, hörte sie vom Ende der Straße her plötzlich ein lautes Klirren. Es kam aus unmittelbarer Nähe.

»Ich werde mit Ihnen nirgendwohin fahren«, sagte sie, machte kehrt und trat die Flucht in Richtung Zeughof an.

Der Paukist setzte sein Fahrzeug zurück, fuhr in einem Bogen um sie herum und stellte sich ihr abermals in den Weg. »Einsteigen!«, knurrte er.

»Lassen Sie den Unsinn oder ich schreie die ganze Gegend zusammen«, drohte Sarah. Trotz der schneidenden Kälte brach ihr der Angstschweiß aus. Sie war dem Hünen kräftemäßig weit unterlegen.

»Ich sage es nur noch einmal: Steigen Sie sofort ein!«, befahl der Paukist in scharfem Ton.

Sarah bemerkte im offenen Seitenfenster einen Lichtreflex. Der Russe hielt vor seinem Bauch irgendeinen Gegenstand, etwas Glattes, Dunkles, Rundes ... Ihr stockte der Atem. Hatte der Kerl etwa eine Pistole?

Sie wollte herumwirbeln, um doch noch irgendwie zu fliehen, verfing sich mit dem Absatz ihres Pumps jedoch zwischen den Pflastersteinen, knickte um und fiel der Länge nach hin. Jetzt hat er dich!, dachte sie und rechnete jeden Moment damit, gepackt oder gleich an Ort und Stelle von Kugeln durchsiebt zu werden, da glitt von links ein Schemen in ihren Gesichtskreis. Sie gewahrte eine kräftige Gestalt mit Hut und langem, schwarzem Mantel. In panischer Angst fuhr Sarah vom Boden hoch, glaubte schon, der Paukist habe einen Komplizen, als etwas ganz Unerwartetes geschah.

Der Neuankömmling tänzelte, überraschend leichtfüßig, zur Beifahrerseite des Wagens, in dem ein weißes Licht aufflammte. Sarah stutzte. Die vermeintliche Waffe war nur eine Stablampe. Für die Dauer eines Lidschlags streifte ein gebündelter Lichtstrahl das Gesicht des Unbekannten, zu kurz, um es deutlich erkennen zu können. Trotzdem erschauderte Sarah, weil es sie vage an jemanden erinnerte. Und dann – sie traute ihren Augen nicht – zog der Fremde plötzlich einen langen, metallisch glänzenden Gegenstand unter dem Mantel hervor.

Ein Schwert!

Die Klinge erhob sich in die Luft und fuhr mit brachialer Gewalt auf die Windschutzscheibe des Wagens herab. Es krachte. Tausend Risse verwandelten das Sicherheitsglas in ein Spinnennetz.

»Schnell, fliehen Sie!«, schrie der Schwertträger.

Sarah erlebte die Situation wie einen bizarren Traum. Die konfuse Mischung aus moderner Operninszenierung und Wirklichkeit überforderte ihren vor Schreck gelähmten Verstand. Sie schweben in großer Gefahr! Die Worte von der Autogrammkarte kollerten durch ihren Geist. Endlich stolperte sie los, mit nur einem Schuh, denn der andere Pumps hing immer noch im Pflaster fest. Sie humpelte zwei, drei schleppende Schritte.

»Jetzt laufen Sie endlich!«, rief der Held in Mantel und Schwert.

Benommen starrte sie ihn an. Das bärtige Gesicht im Schatten der Hutkrempe kam ihr nun eindeutig bekannt vor. Dann wechselte ihr Blick zu dem demolierten Wagen, weil der Fahrer plötzlich den Rückwärtsgang einwarf und mit jaulendem Getriebe die Flucht nach hinten ergriff. Sarahs Retter folgte ihm mit erhobenem Schwert. Jetzt erst drehte sie sich um und humpelte in die entgegengesetzte Richtung davon.

Nach wenigen Schritten erreichte sie das Ende der Gasse. Rechts von ihr lag das Gasthaus »Scharfe Ecke« sowie geradeaus ein Texmexrestaurant. Sie verwarf ihren ursprünglichen Plan, in eines der Lokale zu fliehen, zog sich auch noch den anderen Schuh aus und ging nach links. Die Kälte drang eisig durch ihre dünnen Nylon-Strümpfe, doch bis zum Hotel waren es nur ein paar hundert Meter.

Kurz nach der Straßenecke bemerkte sie schräg gegenüber ein zerbrochenes Schaufenster. Verwundert ging sie langsamer. Ein Waffengeschäft. Zwischen den Scherben lagen Kampfmesser, Pistolen und weitere Schwerter. Hier also hatte sich der »schwarze Ritter« seine blitzende Klinge beschafft. Benommen tappte sie weiter.

Sie war noch nicht weit gekommen, als hinter ihr ein Rufen erscholl.

»Madame d’Albis! Bitte warten Sie doch!«

Sie blieb stehen und drehte sich um. Es war ihr Beschützer, der Ritter im schwarzen Mantel. Aber diesmal ohne Schwert. Stattdessen winkte er mit ihrem Schuh, während er auf sie zueilte. Er war sichtlich außer Atem. Als er schon ziemlich nahe herangekommen war, nahm er keuchend seinen Hut vom Kopf.

Sarah durchfuhr ein Schrecken. Bei dem vierschrötigen Mann, der um die sechzig war, aber – wie er gerade bewiesen hatte – alles andere als tattrig, handelte es sich um niemand anderen als Oleg Janin. Den Moskauer Musikhistoriker mit Zweitwohnsitz in Paris. Den Verfasser der dringlichen Warnung, die man ihr im Theater zugespielt hatte. Den Einbrecher und Dessouswühler. Den verurteilten Stalker. Kein Wunder, dass sein Gesicht ihr bekannt vorgekommen war.

»Sie?«, zischte es Tröpfchen sprühend aus Sarahs Mund hervor.

»Ja, ich«, erwiderte Janin zerknirscht. Etwa drei Schritte von ihr entfernt kam er schwankend zum Stehen und brummte: »Ich werde für solche Eskapaden allmählich zu alt.«

Sarah starrte ihn an, fassungslos über die Dreistigkeit, mit der er sich über die gerichtliche Anordnung hinwegsetzte. Ja, es war zweifellos derselbe Mann, den sie und Hélène vor etwa zehn Monaten in flagranti ertappt hatten. Oleg Janin besaß ein rundes Gesicht mit flacher, gefurchter Stirn, buschigen Augenbrauen und breiter, großporiger Nase. Der dunkle, von nur wenigen silbernen Fäden durchzogene Vollbart war, im Gegensatz zu früher, jetzt akkurat gestutzt. Zwar trotzte sein Haupthaar dem Altersgrau ebenso standhaft, aber die Stirn reichte ihm schon fast bis zum Hinterkopf. Er war gut einen Meter achtzig groß, von schwerer Statur und in seinem ganzen Gebaren eher behäbig – solange er nicht mit einem Langschwert Autos attackierte. Janins Erscheinung wirkte wie die eines gutmütigen Märchenonkels. Einen Stalker stellte man sich anders vor.

»Sie haben nichts von mir zu befürchten«, sagte er mit beschwichtigender Geste, als ihm Sarahs Zornesblicke wohl zu heiß wurden.

Reagieren Sie einfach nicht auf seine Belästigungen und vermeiden jeden Kontakt zu ihm. Die Verhaltensregeln der Psychologin hallten wie ein Stahlplattenklavier in Sarahs Kopf. Was sollte sie tun? Sich einfach umdrehen und davonlaufen?

»Woran denken Sie gerade?«, fragte der Russe.

»An eine Celesta.«

»Ein Stahlplattenklavier? Das nenne ich kreativ!« Janins Mundwinkel verzog sich amüsiert.

»Hat Ihnen noch niemand gezeigt, wie weit dreihundert Meter sind, Monsieur Janin?«

Er breitete die Hände aus. »Ich bin ganz friedlich, Madame. Mein Therapeut sagt, ich sei geheilt. Abgesehen davon: Hätte ich mich an die Auflage der Richterin gehalten, wären Sie jetzt schon entführt, im ungünstigsten Fall sogar tot.«

Ein eisiger Schauer rann über Sarahs Rücken. Bis zu diesem Moment hatte sie die Belästigung des Paukisten für eine besonders plumpe Version dessen gehalten, was manche Männer unter »ein bisschen Spaß haben« verstehen, aber nicht ...

»Sie sollten in dieser Jahreszeit nicht barfuß durch die Nacht laufen«, drängte Janins Stimme sich in ihre wirren Gedanken. Er trat lächelnd zwei weitere Schritte näher und streckte ihr den Schuh entgegen.

»Ich trage Strümpfe«, entgegnete sie widerborstig, riss ihm aber trotzdem den Pumps aus der Hand.

Während sie in die Schuhe schlüpfte, sagte der Russe: »Hören Sie, Madame d’Albis, wir sollten besser von der Straße verschwinden. Der Farbenlauscher könnte es sich anders überlegen und zurückkommen.« Er versuchte nach ihrem Ellenbogen zu greifen, aber sie drehte sich von ihm weg.

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich mit Ihnen irgendwohin gehe ...« Unvermittelt stutzte sie. »Farbenlauscher?«

Janin deutete ihre Überraschung falsch. »Sie haben nie davon gehört? Eine Frage, Madame. Ich weiß, dass Sie heute Abend die Premiere des Liszt-Stückes besucht haben ...«

»Ha!«, lachte Sarah exaltiert. »Tun Sie doch nicht so scheinheilig. Dass Sie mir nachspionieren, habe ich sogar schwarz auf weiß. Ihr Hermes hat mich nicht verfehlt.«

»Wer?«

»Na, der Bursche, den Sie zu mir geschickt haben.«

Die dichten Augenbrauen des Professors zogen sich zusammen wie dunkle Gewitterwolken. »Der ... ›Bursche‹?«

»Monsieur Janin«, sagte Sarah ungeduldig. »Was sollen dieses absurde Theater, diese ominösen Warnungen, der Kampf da eben? Und was hat die Premiere mit alldem zu tun?«

»Haben Sie während der heutigen Aufführung irgendetwas Besonderes gesehen, Madame d’Albis?«

»Was ...?« Sarahs Mund blieb offen stehen. Der Rest ihrer Frage hatte sich spontan verflüchtigt. Erst der Paukist und jetzt Janin – woher wussten diese Männer von ihren ungewöhnlichen Wahrnehmungen während des Konzerts?

Der Professor nickte bedeutungsvoll. »Also ja. Ich ahnte es. Das ist der Grund, mein Kind, warum die Sie in ihre Gewalt bekommen wollen.«

Sarah ignorierte den unerwartet vertraulichen Ton. »Die? Von wem reden Sie überhaupt?«

»Mein Gott, das habe ich doch schon gesagt. Von den Farbenlauschern ...!«Janins Kopf ruckte jäh herum. Unweit war gerade ein Motor aufgeheult. Man konnte hören, wie sich ein Fahrzeug näherte. Er wandte sich wieder Sarah zu. Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihm hervor. »Der Paukist hat bestimmt Verstärkung angefordert. Die suchen Sie immer noch. Lassen Sie uns in das Lokal dort gehen und abwarten, bis die Gefahr vorüber ist.«

Sarah konnte nicht fassen, in was für eine Lage sie da hineingeraten war. Sie schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Vermeiden Sie jeden Kontakt zu ihm. Die grelle Stimme der Stalkingberaterin schien nicht in ihrem Geist, sondern neben ihr zu sprechen. Aber hatte sie denn eine Wahl? Sarah schüttelte resigniert den Kopf und blickte mit angespannter Miene in das Gesicht des Professors.

»Ich warne Sie, Monsieur Janin! Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen.«

Der Russe lächelte befreit. »Nur keine Sorge, Madame. Es ist zu Ihrem Besten.«

Abermals wollte er nach ihrem Ellenbogen greifen, doch wieder entzog sie sich ihm. Trotzdem ging sie mit Janin zum Eingang des nur wenige Schritte entfernten Restaurants. Der Name des Lokals lautete »Anno 1900«.

3. Kapitel

Ohne positiven Gehalt kann man in dieser Welt weder günstige noch feindliche Passionen erwecken.

Heinrich Heine, 1837

Weimar, 13. Januar 2005, 21.28 Uhr

 

Weltenbummlern mochte sich in der ersten Annäherung an den schmalen, gestreckten, einstöckigen Quader spontan der Eindruck aufdrängen, es handele sich hier um die klassizistische Luxusvariante eines amerikanischen Diners. Vor allem das Spalier von großen, mehrfach unterteilten Rundbogenfenstern auf der Straßenseite nährte diesen Trugschluss, der sich beim Betreten des Anno 1900 jedoch schnell verflüchtigte.

Das Ambiente erinnerte an das von Liszt mitgeprägte »Silberne Zeitalter« und die darauf folgenden Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: bunt zusammengewürfelte Möbel aus Urgroßmutters Tagen, wachsvertropfte Kerzenständer, Lampen aus bernsteinfarbenem Glas, Schiefertafeln mit dem Tagesangebot und üppige Palmenstauden. Jetzt, am Abend, lag über allem ein schwaches schmeichelndes Licht wie ein duftiger Schleier. Das Restaurant sei im Jahre 1890 als Wintergarten eines Hotels eröffnet worden, erfuhr Sarah beim vorgeblichen Studium des Getränkeangebotes. Sie spähte über den Rand der Speisekarte.

Oleg Janin durchsuchte gerade die Innentaschen seiner karierten Jacke. Das im englischen Gutsherrenstil gehaltene Sakko aus gelbgrüner grober Wolle erinnerte sie an eine militärische Luftaufnahme, die in weinrote Planquadrate unterteilt war. Der Professor hatte ihr gegenüber ein ganzes Sofa okkupiert und wirkte darauf etwas verloren.

Weil alle anderen Tische besetzt waren, hatte die Bedienung das Paar in die eben frei gewordene »Konferenzecke« geschickt, die sich hinten links in einem Anbau des Gastraumes befand. Jeden Donnerstagabend, hatte die strohblonde Kellnerin erklärt, spielten hier junge Weimarer Künstler Klavier. Das war freilich unüberhörbar.

Sarah saß auf einem der sechs Konferenzstühle. Ihre Pappröhre mit den Noten hatte sie neben sich auf den Tisch gelegt, nicht eben als Waffe zur Abwehr möglicher Übergriffe des Russen gedacht, schon aber zur Verdeutlichung des flüchtigen Charakters dieses Tête-à-têtes. Hinter ihr dröhnte das Piano, und sie fragte sich, was sie an diesem Ort überhaupt verloren hatte.

Ihr Blick schweifte nervös durch den Raum. Als er das Fensterspalier streifte, fuhr draußen gerade ein Wagen vorbei. Ob der Paukist sie suchte? Sarah schüttelte missmutig den Kopf. Sie musste sich beruhigen. Wenn sie dem »Farbenlauscher« nicht gleich wieder in die Arme laufen wollte, dann befolgte sie besser den Rat ihres »schwarzen Ritters«. Während sie hier mit ihm wartete, konnte sie ebenso gut ein paar brennende Fragen klären.

Um gegen das Klavier anzukommen, beugte sie sich über den ovalen Tisch und rief: »Stellen Sie mir etwa immer noch nach, Monsieur Janin? Warum sind Sie in Weimar?«