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Den Schriftsteller Günter Görlich kannte man in der DDR vor allem als Autor von vielgelesenen Kinder- und Jugendbüchern, deren Handlung im Schul- und Lehrermilieu spielten wie die beiden seinerzeit vieldiskutierten Romane „Den Wolken ein Stück näher“ (1971) und „Eine Anzeige in der Zeitung“ (1978). Bei seinem zweiten Buch, dem 1959 veröffentlichten Roman „Die Ehrgeizigen“ - der junge Görlich studierte damals im zweiten Jahr am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ - ist das anders. Dessen Handlung spielt unter Lehrlingen, genauer gesagt Dreherlehrlingen – Paul und Jürgen sind „Die Ehrgeizigen“. Nun ist Ehrgeiz nicht unbedingt etwas Schlechtes, eher im Gegenteil. Doch alle Dinge, die man übertreibt, können in das Gegenteil ihrer guten Absichten umschlagen … Das Buch, das aus lange zurückliegenden Zeiten berichtet, in denen mit ziemlich harten (klassenkämpferischen) Bandagen gekämpft wurde, beginnt mit einer dramatischen Situation, in der Jürgen auf dem Eis einbricht und Paul seinem Freund das Leben retten muss – und das alles wegen eines Streits und einer lächerlichen Wette, ob der erfrorene Vogel auf dem Eis nun eine Elster oder eine Möwe war: So ein Dickschädel, der Jürgen. „Die Wette gilt“, hatte er gerufen und war losgelaufen. Dabei ging es nur um einen erfrorenen Vogel, der mit gespreizten Schwingen auf dem Eis lag. Wenn die Sonne schien, glänzte sein weißes Gefieder. Eine Elster sei das, hatte Jürgen behauptet. Dabei war’s eine Möwe, das konnte man doch sehen. Kennengelernt hatten sich die beiden Freunde, die dem Lernaktiv 513 angehören, im September fünfundfünfzig, vor einem halben Jahr. Das war am ersten Tag ihrer Lehrzeit. Jürgen erinnerte sich noch genau an die erste Begegnung mit Paul, dem Abiturienten mit Auszeichnung, so groß und so erwachsen aussehend, man konnte ihn sich gar nicht als Lehrling vorstellen. Paul ist der Beste, gilt vielen allerdings auch als hochnäsig und eingebildet. Im Berufswettbewerb will Paul unbedingt die Goldmedaille erkämpfen, als es nur zur Silbermedaille reicht, ist er sehr enttäuscht. Seinem großen Ziel hatte Paul alles untergeordnet , seine Gruppe muss die beste sein, koste es, was es wolle. Sogar ein Betrugsvorwurf steht im Raum. Auch ansonsten sieht Jürgen seinen Freund Paul zunehmend kritischer, zumal als sie beide während eines FDJ-Einsatzes gegen ein Stahlhelmtreffen in Westberlin von der Polizei verhaftet, dann jedoch sehr unterschiedlich behandelt werden. Gab es da vielleicht geheime Verbindungen?
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Seitenzahl: 254
Veröffentlichungsjahr: 2022
Günter Görlich
Die Ehrgeizigen
ISBN 978-3-96521-681-5 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien 1959 im Verlag Neues Leben Berlin.
© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
„He! Komm zurück!“
Paul wölbte die Hände um den Mund und schrie, dass ihm die Halsadern anschwollen.
„Stehenbleiben! Jürgen, hörst du … zurückkommen!“
Doch der Junge in der verblichenen, viel zu weiten Lederjacke schlitterte über das Eis, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Der Wind, der von den Hügeln kam und die Kiefern ansprang, dass sie sich ächzend bogen, blähte die Lederjacke wie ein Segel.
So ein Dickschädel, der Jürgen. „Die Wette gilt“, hatte er gerufen und war losgelaufen. Dabei ging es nur um einen erfrorenen Vogel, der mit gespreizten Schwingen auf dem Eis lag. Wenn die Sonne schien, glänzte sein weißes Gefieder. Eine Elster sei das, hatte Jürgen behauptet. Dabei war’s eine Möwe, das konnte man doch sehen.
„Möwe? Dass ich nicht kichere … Noch nie waren Möwen hier“, hatte sich Jürgen ereifert und spöttisch geblinzelt, als habe er sagen wollen: Mein Lieber, wenn du auch auf deiner Oberschule die Weisheit gefressen hast - von solchen Sachen hast du keine Ahnung.
Dann hatte er mit puterrotem Kopf gerufen: „Wetten … eine Elster… zehn Mark!“, hatte seine Lederjacke zurechtgerückt und war durch das trockene Schilf gesprungen.
Kinderei! Paul stieß die Hände in die Taschen seines Anoraks und presste die Lippen aufeinander.
Der Wind war böig und warm.
Bis zum Ufer war das Knirschen des brechenden Eises zu hören. Paul zuckte zusammen.
Ein Bild entstand vor seinen Augen: Ein kleiner Teich, ein Junge ist im Eis eingebrochen, nur sein knallroter Schal und die Pudelmütze sind noch zu sehen, ein Mann liegt auf dem Bauch und schiebt eine Leiter auf die Pudelmütze zu.
In der Fibel, gleich auf der dritten Seite, war das Bild, erinnerte sich Paul.
Dann überwand er die Starre. Im Eis klaffte ein zackiges Loch. Schwarzes Wasser quoll hervor. Er hörte einen Schrei.
Hilfesuchend blickte er sich um, doch hinter ihm waren nur Wald und Sand, aus dem knorrige Wurzeln ragten.
Er riss sich den Anorak vom Leib, drehte ihn zu einem Strick zusammen und kroch auf das Eis. Er dachte: Die schweren Schuhe ziehen in die Tiefe … Dort unten sind eiskalter Schlamm und verfaulte Schlingpflanzen.
In dem schwarzen Loch vor ihm griffen Jürgens Hände nach dem bröckelnden Rand. Paul hörte das Wasser schwappen und spürte die federnde Spannung im Eis.
Als kalte Spritzer sein Gesicht trafen, warf er den Anorak. Das Gewicht des Ertrinkenden riss in den Handgelenken, der Schmerz wollte die Finger öffnen.
In einer schmalen Rinne fraß sich das Wasser auf ihn zu. Er zog zum Ufer, der Zorn ließ seine Kräfte wachsen. Er spürte keinen Schmerz mehr, keine Kälte und auch keine Furcht.
Dann versank Jürgens Kopf nicht mehr. Aus dem Wasser tauchte nass glänzend die Lederjacke.
Paul fühlte Sand unter den Füßen.
Er sah, wie Jürgen schwankte, wie das Wasser von der Lederjacke rann, sah die blauschimmernden Lippen und die starren Augen des Freundes.
„Komm rausl“, rief er heiser.
Die Sonne funkelte wieder durch die Wolken. Das Eis war wie ein Spiegel, durch den ein schmaler zackiger Riss lief.
„Beweg dich, Mensch!“, schrie Paul und stieß Jürgen ins Kreuz, weil er fürchtete, der würde umfallen und nicht mehr aufstehen.
Am Hang, im Schutz einer dichten Schonung fachte Paul ein Feuer an. Jürgens Kleider dampften. Uber sein Gesicht rannen Tränen.
„Der Rauch beißt so“, sagte er.
Paul warf neues Reisig auf.
Regentropfen klatschten ins Laub. Paul trat das Feuer aus, er schaute besorgt zu Jürgen hinüber. Beim Radfahren wird ihm warm werden, überlegte er. Hoffentlich ist eine Kneipe im Dorf, eine trockene, warme Bude …
In dem rauchigen Schankraum war es dunkel und warm. Jürgen umspannte mit beiden Händen das dampfende Glas mit dem heißen Grog. Er sah auf die braunen Brandlöcher in der rot karierten Tischdecke, las die Aufschrift auf dem Porzellanaschenbecher „Kauft Hanewacker“ und betrachtete den danebengemalten schmunzelnden Alten. Der hatte nur ein Auge, das andere war abgegriffen.
„Na, trink schon!“, hörte er Paul sagen. Er nahm einen Schluck und spürte die Wärme bis in den Magen.
Der Wirt spülte Gläser und schielte manchmal mit seinen hervorquellenden Augen herüber.
„Wärmt das Zeug? Besser jetzt?“, fragte Paul.
Jürgen nickte. Der Geruch nassen Leders stieg ihm in die Nase.
Paul rauchte und sah durch das regennasse Fenster auf die Dorfstraße mit den schlammigen Pfützen, auf denen Gänsefedern schwammen.
Jürgen kam feuchte, beißende Wärme in die Augen. Seltsam leicht war es in seinem Kopf. Er hatte das unsinnige Gefühl, dass es gut sei, hier mit Paul zu sitzen. Und er dachte, dass sie nun richtige Freunde seien.
September fünfundfünfzig, vor einem halben Jahr, hatten sie sich kennengelernt. Das war am ersten Tag ihrer Lehrzeit. Jürgen erinnerte sich noch genau daran. Er war zeitig im Lehrlingsheim angekommen, und der Erzieher Faller hatte ihm das Zimmer gezeigt. Dann erschien Paul, so groß und so erwachsen aussehend, man konnte ihn sich gar nicht als Lehrling vorstellen. Missmutig schaute er sich im Zimmer um, warf seinen gelben Lederkoffer mit einem wütenden Schwung auf ein Bett am Fenster und riss das Fenster auf. „Stinkt in der Bude“, brummte er. Es roch nach frischem Bohnerwachs. Als er Jürgen sah, lächelte er ein wenig und sagte: „Na, Kleiner.“ Dann beugte er sich zum Fenster hinaus, nach einer Weile winkte er Jürgen heran. „Schönes Mädchen da, was!“ Er zeigte hinunter auf die Straße. Jürgen räusperte sich und wurde rot. „Na ja, hübsche Puppe!“ Da schlug ihm Paul auf die Schulter und lachte.
Jürgen hatte sich später stets gefreut, wenn sich Paul besonders mit ihm unterhielt, wenn er gerade ihn aufforderte, mit ins Kino zu kommen oder, so wie heute, mit dem Rad durch die Dörfer zu fahren. Paul wusste viel, alles Mögliche wusste er, eine eigene Meinung hatte er, und seine spöttischen Bemerkungen sollte ihm erst mal einer nachmachen. Viele im Heim mochten ihn nicht, hielten ihn für hochnäsig und eingebildet. Manchmal, wenn Paul wieder schroff und rechthaberisch gewesen war, hatte auch er so gedacht und hatte sich gesagt: Der Abiturient Paul Gerken und ich, Jürgen Wehner, wir passen nicht zusammen. Jetzt dachte er: Paul hat gerufen, und ich bin wie ein Sturkopf weitergelaufen, wie ein eigensinniges Kind. Beide hätten wir absaufen können, beide …
„Aus dem Wasser hast du mich gezogen“, sagte er heiser.
„Erzähl bloß keine großen Romane im Heim. Das gibt nur unnötige Scherereien“, sagte Paul.
„Du hast mich aber rausgeholt. Gewonnen hast du … die zehn Mark.“
Paul winkte ab.
„Hör auf!“
„Kriegst den Zehner … Wette ist Wette.“
Paul beugte sich zu ihm hinüber, in den dunklen Augen gutmütigen Spott.
„Du hast wohl zu viel getrunken, Junge!“
In einer dunklen Ecke im Schankraum stritten sich Männerstimmen.
„Emil, noch ’ne Lage!“, krächzte jemand.
Dann lallte eine brüchige Stimme: „Ich sag dir, in diesen Sauladen von LPG kriegst du mich nicht rein … nie, sag ich dir.“
Ein tiefer Bass brummte gemütlich: „Was schreist du, Josef. Kommst auch noch … Lohnt sich schon …“
„Nie, sag ich dir“, wiederholte die Stimme und schrie dann plötzlich: „Bier her, Emil! Solln wohl verdursten, alter Gauner!“
Jürgen sagte: „Die kloppen sich noch.“
„Sture Kuhbauern, saufen, grölen … die LPG nur madig machen … Paul zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher. Der Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. „Zahlen!“, rief er.
Der Wirt schaute ihnen nach, Paul hatte ihm eine Mark Trinkgeld gegeben.
Sie schoben ihre Räder gegen den Wind, wichen Pfützen und knarrenden Pferdefuhrwerken aus.
Auf einem braunerdigen Feld plusterten sich Vögel. Jürgen sah, dass es Elstern waren.
Paul bemerkte: „Die kratzen nicht so leicht ab …“
Jürgen schielte noch einmal zu den schmutziggrauen Federbällen mit den scharfen Schnäbeln hinüber.
„Auf dem See, das … wird schon eine Möwe gewesen sein“, sagte er stockend.
„Man wettet nicht wegen jedem Dreck!“
Zwischen den Bäumen leuchteten rote Häuserdächer.
„Versuch jetzt zu fahren!“, sagte Paul.
Jürgen riss sich zusammen. Die Waden zitterten, im Rücken spürte er Stiche. Er trat in die Pedalen. Das Klappern seiner Schutzbleche ärgerte ihn. Pauls Rad surrt schön und leicht, dachte er. Ist auch ein Rennrad und hat Gangschaltung …
Wie ein lang gestreckter grauer Klotz lag das Lehrlingswohnheim vor ihnen. In schnurgeraden Lichtketten strahlten die erleuchteten Fenster.
Sie schoben ihre Räder am Zaun entlang.
Jürgen blieb stehen. Vor dem Heimeingang war im Lichtkreis ein Mann zu erkennen, der sich mit einem Jungen unterhielt und dabei laut lachte.
Ausgerechnet jetzt muss der Faller sich da hinstellen, ausgerechnet jetzt, dachte Jürgen. Er fror und fühlte sich elend.
Paul bückte sich und zerrte an der Fahrradkette.
„Wie lange will er noch safteln“, murrte er.
„Los! Vorbei!“, befahl er dann und schwang sich in den Sattel.
Jürgen flitzte hinter ihm her, mit laut klappernden Schutzblechen.
Er sah, dass der Erzieher die Hand hob. Jürgen jagte an ihm vorbei, den Kopf eingezogen. Pauls Rücklicht tanzte wie ein roter Punkt vor ihm über die holprige Heimstraße.
Wenig später schoben sie schwer atmend die Räder in den Kellerraum.
„Zappenduster, verdammt“, schimpfte Paul. Er riss ein Streichholz an. „Keine Ordnung kennen die Brüder. Alles kreuz und quer gestellt!“
„Die vom Heimaktiv sind schuld“, antwortete Jürgen, „das Maul haben sie vollgenommen auf der letzten Versammlung. Selbstverwaltung und so … und gemacht wird nichts.“
Paul zerrte einige Räder zur Seite.
„Schieb deinen Schlitten vor meinen“, sagte er, „deiner ist sowieso nicht viel wert.“
Jürgen schoss das Blut ins Gesicht. Ist nicht viel wert! Ich hab das Rad fast allein zusammengebaut, dachte er bitter. Vater hat bloß ein bisschen geholfen. Selbst ist der Mann, hat er gesagt, spar Geld, kauf dir neue Teile dazu!
Vorsichtig tasteten sie sich zur Tür zurück.
„Wir hätten vielleicht nicht … an Faller vorbeifahren sollen“, sagte Jürgen.
„Du hast eine Fahne wie ein Bierkutscher“, erwiderte Paul. „Zähneputzen gehst du … Ich hab keine Lust auf eine Moralpredigt von Faller.“
Der Wind pfiff eisig um die Ecke, er wehte jetzt aus Ost.
Jürgen tappte dicht hinter Paul, er schüttelte sich wie im Fieber.
In der „Bude“ der Jungen vom Lernaktiv 513, einem kleinen, schmalen Zimmer, standen vier einfache Betten, in eine Ecke drängte sich ein heller breiter Schrank.
Jürgen blinzelte in die weiße Kugellampe und atmete tief auf. Es war alles so wie immer. Manni Malak lag im Bett und schmökerte. Kalle hockte am Tisch und kaute an seinem Füllhalter; schuld daran war der Wochenbericht, morgen musste er abgeliefert werden. Die Schranktür stand wie immer halb offen, trotz Fallers zahlloser Hinweise.
Jürgen nieste.
„Macht der einen Krach!“, brummte Malak erschrocken. Und Kalle hätte fast die Füllhalterkappe zerbissen.
Jürgen bemerkte, wie Paul mit einem gereizten Blick das Zimmer überflog. Auf dem Fußboden lagen zusammengeknülltes Papier und Holzstäbchen. Malak pflegte sich aus Streichhölzern spitze Stäbchen zurechtzuschnitzen. Manchmal saß er stundenlang und stocherte damit zwischen seinen breiten Zähnen herum.
„Feg aus!“ Paul trat dicht an Malaks Bett heran. Zwischen seinen schwarzen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. „Na wird’s?“
„Alter Mann ist kein D-Zug.“ Malak rappelte sich ächzend hoch und angelte umständlich seine zerschlissenen Pantoffeln unter dem Bett hervor.
„Mach’s Fenster auf!“
Die Fensterriegel klirrten, und ein kalter Luftzug wirbelte ins Zimmer. Malak fegte mit lustlosen Bewegungen.
Jürgen zog sich die klammen Kleider vom Leib. Müde bin ich, dachte er, müde wie ein Hund. Wie aus weiter Ferne hörte er Malak sagen: „Faller hat euch gesucht, beim Essen.“
Paul knallte die Schranktür zu und ging an den Tisch zu Kalle. Der schielte misstrauisch zu ihm hoch.
„Schreib bloß sauber“, befahl Paul. „Handelst dir wieder eine Vier ein.“
„Die Feder kratzt so.“
„Was schreibst du da? Schruppen nicht mit zwei b … mit zwei p wird’s geschrieben. Dreher bist du … keine Reinemachefrau.“
„Aber ich bin eine", höhnte Malak vom Fenster.
„Halt dein Maul!“
Jürgen dachte schläfrig, dass Paul so wütend ist, daran sind die nicht schuld, ich bin schuld …
Er kramte gerade in seinem Schrank, als Faller ins Zimmer kam. Kalle sprang auf, sein Stuhl rumpelte über den Fußboden. Jürgen schielte zum Tisch hinüber, an dem der Erzieher jetzt stand; Faller blickte auf Kalles Berichtsheft.
„Keine Ruhe! Nur Fußballspielen im Kopf“, sagte er.
Kalle wackelte verlegen mit dem Kopf und versuchte ein Löschblatt über einen Tintenfleck zu schieben.
Jürgen richtete sich auf, als er Faller auf Paul zugehen sah, der an seinem Bett herumhantierte. Jürgen konnte den Erzieher genau sehen, das Licht fiel auf dessen Gesicht und spiegelte sich in den Brillengläsern. Die Falten um die Mundwinkel schienen heute tiefer gekerbt zu sein als sonst. Er war so groß wie Paul, der Rücken breit und etwas gebeugt.
„Sie sind da erst an mir vorbeigefahren …“, sagte Faller zu Paul gewandt.
Jürgen schoss das Blut ins Gesicht.
„Ich hab Sie nicht gesehen … Die Dunkelheit …“, erwiderte Paul.
„Darum geht’s nicht. Es gibt gewisse Anstandsregeln. Sich beim Zuspätkommen zu entschuldigen zum Beispiel.“
Paul wies auf Jürgen.
„Er hatte eine Panne!“
„So ein blöder Nagel, ja …“, murmelte Jürgen rasch.
Faller schien sich für den bunten Fenstervorhang zu interessieren, den Malak nicht ordentlich genug zugezogen hatte.
„Warum schwindelt ihr bloß?“
Jürgen starrte vor sich hin. Er hörte, wie sich Paul verteidigte: „Sie sind immer misstrauisch!“ Da ging es ihm siedeheiß durch den Körper: Er sah Faller vor sich stehen, blickte ihm genau in die Augen.
„Na, Jürgen …?“
Es kribbelte ihm unter der Haut, er hätte weglaufen mögen. Hinter Faller entdeckte er die drohenden Augen Pauls.
„War so dunkel heut … wirklich.“ Hastig bückte er sich und packte ein sauber zusammengelegtes Hemd von einer Seite auf die andere.
Er hörte Faller sagen: „Vielleicht seid ihr nachtblind!“ Und die heftige Antwort Pauls: „Wir sind nicht nachtblind!“ Dann kam die Stimme des Erziehers von der Tür: „Doch Gerken … Sie sind irgendwie blind!“
Die Tür klappte leise ins Schloss.
„Was so gesaftelt wird“, fauchte Paul.
„Nachtblind! Was ist denn das?“, fragte Malak scheinheilig.
„Kauf dir ein Lexikon!“ Ein Handtuch um den Hals geschlungen, rannte Paul aus dem Zimmer. Die Tür knallte zu.
Jürgen zerrte sich die Schuhe von den Füßen. Das Leder war von der Hitze am Feuer spröde geworden.
Malak sprang wieder auf sein Bett und nahm das Buch vor die Nase.
„Habt ganz schön gekohlt“, sagte er.
Jürgen betastete die feuchten Flecke an seinen Hosenbeinen.
„Wer macht denn morgen Zeitungsschau?“, fragte Kalle und zerwühlte seine Haare.
„Kommst morgen nicht dran“, beruhigte ihn Malak, „das schöne Hannchen redet eine halbe Stunde … ihrem Paulchen will sie doch gefallen.“
Auf dem Flur sang jemand laut: „Brennend heißer Wüstensand!“ – „Ruhe! Idiot!“ brüllte eine Stimme. Der Wüstengesang verstummte.
„Habt ’ne Naht zusammengesponnen“, sagte nun auch Kalle.
„Geht dich einen Dreck an!“, brüllte Jürgen los, er schlug die Schranktür zu, dass die Lampe wackelte.
Was wissen die schon …, dachte er, ersoffen wäre ich … mausetot, wenn Paul nicht gewesen wäre. Er sah zu Pauls Bett hinüber. Darüber hing ein Bild. Louis Armstrong stieß in seine Jazztrompete.
Der März hatte noch einmal feuchten Schnee gebracht. Im Heim hatte der Glaser viel zu tun. Es gab nasse Füße, und nicht nur Jürgen hatte einen starken Schnupfen.
Ein wirbelnder Vorhang war der Schnee. Im schimmernden Weiß duckten sich die Gebäude der Lehrwerkstatt und der Schule. Die blaue Fahne auf dem Dach schlappte nass im Schneewind.
Vor dem großen schmiedeeisernen Tor mit dem kleinen Wachhäuschen ragte auf zwei Pfählen ein Schild. Es war lang und hoch, und in schwarzen Buchstaben war draufgemalt: „Lehrkombinat Konrad Blenkle.“
An dem Schild klebten viele spitze Schneehügel. Es war ein lohnendes Ziel für Schneebälle aller Größen.
Durch die großen Fenster, die in viele Rechtecke aufgeteilt waren, fiel trübes Licht in das Dreherkabinett. An den Scheiben schmolzen dicke Schneeflocken. In dem Raum war es warm, die Elektromotoren der Drehbänke brummten, es roch nach Öl und heißem Metall.
Das Quietschen der Tür ließ Jürgen aufblicken. Er sah, wie Obermeister Severin langsam den Gang hinaufschlenderte und, die Arme über der Brust verschränkt, vor der Wandzeitung stehenblieb. Severin war lang und mager, und seine kurz geschnittenen Haare trug er sorgfältig gescheitelt. Er sah gar nicht wie ein Obermeister in einer Lehrwerkstatt aus, eher wie ein Doktor. Immer lief er wie aus dem Ei gepellt herum, an seinem Arbeitskittel war kein Ölfleck.
Jürgen beobachtete ihn über die Drehbänke hinweg. Dabei schob er seine Schieblehre mechanisch auf und zu. Wo wird der Obermeister heute bloß hingehen? fragte er sich. Wenn Severin kommt, findet er immer etwas, was nicht in Ordnung ist.
Jetzt wandte sich der Obermeister von der Wandzeitung ab, zog seinen Notizblock aus der Seitentasche und schrieb etwas hinein.
Sicher hat er die Verpflichtungen zum Berufswettbewerb gelesen und wird nun kontrollieren, dachte Jürgen und ging rasch an den Schrank und ordnete seine Werkzeuge.
Hinter den Verpflichtungen zum Berufswettbewerb war Severin her wie der Teufel hinter armen Seelen. War ja auch so eine Sache, der Wettbewerb. Zu Beginn hatte Severin darüber eine lange Rede gehalten, aber Jürgen glaubte, dass die meisten nicht allzu viel davon begriffen hatten, er auch nicht. „Ist ’ne blöde Masche“, hatte Malak gesagt. Einmal war Jürgen dabei gewesen, wie sich der Obermeister in einer Pause mit ein paar Lehrlingen unterhielt. Severin hatte gefragt, was bei ihnen der Berufswettbewerb mache, ob’s vorangehe. Da hatte einer geantwortet, dass der Wettbewerb großer Käse sei, so und so würde man lernen. Die Umstehenden hatten gelacht, auch Jürgen. Severin hatte nicht gelacht. Er hatte von dem vorlauten Spötter verlangt, er solle ihm einmal den Sinn des Wettbewerbs erklären, aber genau bitte. Der hatte mit krebsrotem Gesicht zu stottern angefangen und vor Verlegenheit nichts Gescheites herausgebracht. Severin hatte ihn unterbrochen. „Sie reden Unsinn, mein Lieber! Wer so ohne Gedanken in den Tag hineindämmert, wird auch mit seiner Arbeit nicht klarkommen. Euer Wettbewerb ist kein Käse. Ihr sollt schneller, besser, gründlicher euren Beruf erlernen, wohlgemerkt alle, nach Möglichkeit alle. Und dann sollt ihr produktiv arbeiten, ihr sollt erkennen, dass ihr schon jetzt euren Platz im großen Getriebe unserer Wirtschaft ausfüllen müsst. Das ist es. Und da wird so leichtfertig geschwätzt …“ Sie hatten alle betreten in die Gegend geguckt. Da hatte Severin gelächelt. „Ihr kommt schon dahinter … dauert nicht lange.“
Immer wenn Jürgen den Obermeister sah, erinnerte er sich an dieses Gespräch und fühlte sich ein wenig unsicher.
Und als er ihn jetzt im Gang stehen sah, hoffte er, dass Severin zu einem anderen Aktiv gehen würde. Beim Aktiv 512, das auf der anderen Seite des Ganges arbeitete, dort sollte er sich ruhig umschauen.
Doch der Obermeister wendete sich scharf nach rechts und kam zu ihnen. Ohne Hast schritt er zwischen den grüngestrichenen Maschinen umher. Neben der schwarzhaarigen Hannelore blieb er stehen.
Severin beugte sich zu dem Mädchen hinab. Verwirrt schob Hannelore die Haare unter die Mütze und schaute dabei den Obermeister mit ihren dunklen Augen von unten her an. Auf ihrer Nase glänzte ein Ölfleck.
Severin spazierte weiter, genau auf Manni Malaks Maschine zu, nicht weit von Jürgens Arbeitsplatz entfernt. Jürgen neigte sich schnell über eine Zeichnung, ließ aber den Obermeister nicht aus den Augen.
Malak merkte nicht, dass ihm jemand auf die Finger sah, oder er wollte es nicht merken. In seinem breiten Gesicht funkelten die Augen, die Nase hatte er krausgezogen. Der Drehstahl fraß den Span von der Welle. Malak schruppte. Das war seine liebste Arbeit. Beim Vorschruppen kommt es nicht so auf die Genauigkeit an, und der Span fließt. Manni will ein richtiger Dreher sein, will wühlen, will ranhauen und dann eine Weile dösen.
Severin schaute ihm geduldig zu.
Malak schaltete die Maschine aus, lockerte das Dreibackenfutter, schnaufte dabei, weil er klein war und sich auf die Zehenspitzen stellen musste.
Severin tippte ihm auf die Schulter.
Der Junge drehte sich ganz langsam um, und Jürgen wusste jetzt, dass Manni den Obermeister schon vorher bemerkt hatte. „Ist das Ihr Schrank?“ Severin zeigte auf die halb offene Tür des Blechschränkchens.
„Ist er!“
„Schöne Ordnung“, sagte Severin und drückte die Tür weit auf. Malak sah an dem Obermeister vorbei und schwieg.
In dem Schrank herrschte ein wildes Durcheinander. Die Ölkanne stand auf einer Zeichnung, und dunkle Flecke hoben sich von dem gelblichen Papier ab. Quer über Drehstählen und anderem Werkzeug lag ein Holzhammer mit zersplittertem Kopf.
Severin zog seinen Notizblock aus der Tasche.
„In Ordnung haben Sie sicher eine Eins?“
„Vier“, verbesserte Malak mürrisch.
„Nicht gut, mein Lieber, nicht gut!“
Malak ließ den Kopf sinken. Unbeholfen tasteten seine Hände über die ölige Kombination.
Severin steckte sein Notizbuch wieder ein.
„Schon ganz geschickt an der Maschine. Aber mit der Ordnung hapert’s noch. Wer keine Ordnung kennt, ist ein Pfuscher …“ Damit drehte er sich um und schlenderte zum Gang zurück.
Jürgen schaute zu Malak hinüber. Der stand immer noch reglos und starrte dem Obermeister nach, dann hob er den Fuß und knallte die Schranktür zu.
Jürgens Augen wurden dunkel vor Wut. Er sprang zu Malak hinüber.
„Was machst du für Mist!“
Malak warf ihm einen kurzen Blick zu, nahm eine Welle und begann sie einzuspannen.
Jürgen zog ihn am Ärmel.
„Räum ein! Wegen dir fallen wir auf!“
„Hau ab!“ Malak riss sich los.
„Einräumen sollst du!“
„Willst pöbeln, was?“ Malak ballte die Fäuste. „Schleimer du!“
Wo bleibt Paul, dachte Jürgen, wie lange will er noch in der Gütekontrolle stecken. Er erinnerte sich daran, wie sich Paul einmal beklagt hatte, dass er für alles, was im Aktiv passiere, verantwortlich gemacht würde, auf allen Aktivleiterschulungen und bei anderen Gelegenheiten bekäme er das immer wieder vorgesetzt.
Jürgen stieß Malak vor die Brust, dass der gegen die Maschine fiel.
Hinter ihm sagte jemand: „Ihr habt wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wollt euch kloppen …“ Das war Kalle, er schob sich zwischen die beiden, einen Drehmeißel wie einen Dolch in der Hand.
Malaie knurrte zu Jürgen hinüber: „Zieh Leine! Geht dich überhaupt nichts an …“
Jürgen dachte: Der verdammte Sturkopf, der Manni … Wenn das Paul wüsste. Mit zitternden Knien ging er zu seiner Maschine zurück. Er spannte eine neue, schimmernde Welle zwischen Reitstock und Backenfutter und zerrte sich die Mütze tief ins Gesicht. Zum Heulen ist das … Mit denen sollen wir was werden. Hat das überhaupt Zweck, im Wettbewerb mitzumischen?
Der Motor brummte. Jürgen hörte das hämische Lachen Malaks. Er starrte auf die kreisende Welle, auf den Span, der sich ringelte und brach.
In dem langen Gang, in den die Türen der Lehrkabinette mündeten, hing eine bunte Tafel. Jeder, der vorüberging, konnte sie sehen, und es waren viele, die an einem langen Arbeitstag dort vorbeikamen, alle Lehrlinge der Schraubstockberufe, die Lehrausbilder und oft auch die Lehrer.
Jedes Mal, wenn Lehrmeister Schrader an dieser Tafel vorbei musste, ärgerte er sich und starrte verbissen zur Erde oder geradeaus. Sicher wäre er stehengeblieben, hätte die Hände auf dem Rücken verschränkt und sich die Tafel genau angesehen, läge das rote Auto vorn, weit vor dem gelben und dem blauen. Aber die anderen waren vorn, und das rote Auto holperte hinterher. Und Rot ist eine auffällige Farbe.
Die bunte Tafel stellte eine Rennstrecke dar, die Autos waren die Lernaktive, die durch die Monate brausten, und die Positionen der Autos zeigten, wie es um den Berufswettbewerb der Drehergruppe im ersten Lehrjahr stand.
Das rote Auto, das im Hintertreffen fuhr, war das Lernaktiv 513. Lehrmeister Schrader war dessen Ausbilder.
Heute morgen, als Schrader wieder an der Tafel vorbeihasten wollte, sah er Semmer davor stehen, den kleinen blonden Ausbilder vom Aktiv 512. Schrader begriff sofort, warum Semmer so zufrieden lächelnd die Tafel anstarrte. Das gelbe Auto schien in der letzten Nacht gewachsen zu sein, knallgelb leuchtete es, und die Zahl 512 war schwarz und sehr dick auf die Kühlerhaube gemalt.
„Schau mal, Otto!“, sagte Semmer und zeigte lachend auf die Tafel. „Meine haben ein neues Auto gemalt, ein ganz modernes …“
Da drehte sich Schrader um und stelzte weiter. Vor Ärger bekam er das Schlucken.
Im Monat März hat dieser Semmer, dieser Spund, mit seinem Aktiv den Ersten gemacht. Dreißig Jahre ist der alt, noch nicht mal den Meisterbrief hat er in der Tasche … aber den Ersten machen. Und unsereiner? Zwanzig Jahre mehr schleppt man auf dem Buckel, hat schon Lehrlinge unter der Fuchtel gehabt, da ist dieser Semmer noch in kurzen Hosen rumgesprungen. Aber in der Partei ist er … Und der Severin ist auch in der Partei … Dieser Severin macht einem das Leben zur Hölle. Was hat er gestern vor allen gesagt? „Mit der Ordnung, Kollege Schrader, ist es in Ihrem Aktiv anscheinend nicht weit her.“
Schrader schritt den Gang entlang, ohne jemanden zu beachten. Früher hat man die Burschen härter angepackt, mal eine hinter die Löffel, das hat Wunder gewirkt. Heute redet man dafür stundenlang über die Ordnung, Pädagogik hinten, Pädagogik vorne … nichts wird damit erreicht, und das Fachliche kommt zu kurz. Und das mit dem „hinter die Löffel schlagen“, so etwas darf man nicht mal laut denken.
Schrader stieß zornig die Tür zum Lehrkabinett auf. Da sah er, wie sich Malak von hinten an Kalle klammerte und ihn zu Boden ziehen wollte. Schrader stemmte die Hände in die Hüften. „Sind wir im Kindergarten? Nichts als Blödsinn im Kopf! Kindergarten, was?“ Er schnappte nach Luft.
Malak starrte erschrocken den Lehrmeister an. Blitzschnell stellte sich das Aktiv im Halbkreis vor der Wandtafel auf.
„Gerken“, sagte Schrader mit bebender Stimme, „wo haben Sie Ihre Augen? Sie sind doch Aktivleiter!“ In demselben Augenblick aber bedauerte er, dass er ihn so scharf angefahren hatte, schließlich war Gerken der Beste.
„Soll ich mich mit denen prügeln?“, fragte Paul. Er blinzelte in die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster schossen.
Schrader fuhr sich mit seinem rot karierten Taschentuch über das Gesicht. Dann begann er zu sprechen, hastig, die Worte überstürzend. Alle, wie sie gebacken wären, könnten sie sich in den Glasschrank stellen. So ein Aktiv hätte er noch nie gehabt, nie hätte er sich träumen lassen, einmal so verlotterte Lehrlinge ausbilden zu müssen. Alles sei ihnen gleichgültig. Das sei der wunde Punkt. Sie möchten alles von vorn und von hinten reingesteckt bekommen und möglichst wenig dafür tun …
Jürgen hatte den Kopf eingezogen, er dachte daran, dass heute Nachmittag die Übungsstunde der GST-Segelflugsparte sei, der Fluglehrer aus dem Werk würde über Aerodynamik sprechen. Er blickte auf, er sah die hilflosen Augen des Meisters, und er sagte sich: Schrader schimpft wie ein Rohrspatz, dabei ist ihm bitter traurig ums Herz.
Jürgen musterte verstohlen seine Freunde.
Paul starrt zum Fenster hinaus. Es scheint ihn nichts anzugehen, er langweilt sich. Sicher denkt er, dass Schrader schon aufhören wird, wenn ihm die Puste ausgeht. Paul tut alles mit einer Handbewegung ab. Er hat einfach keine Lust. Dabei könnte er viel erreichen, wenn er nur wollte.
Warum hat Christa so eine steile Falte auf der Stirn? Wenn sie nachdenkt, sind ihre Augenbrauen wie ein Strich.
Neben ihr die Hannelore, die hat ihre Augen bloß für Paul. Wahrscheinlich denkt sie an den letzten Film, den sie mit ihm gesehen hat. Was Schrader sagt, das hört sie überhaupt nicht.
„Stupsnase“ Monika zupft an ihrem Pferdeschwanz. Sie zupft und rollt sich die Haarsträhnen um den Finger. Die Haare wird sie sich noch ausreißen. Dabei möchte sie am liebsten loskichern, so ein Gesicht macht sie.
Der Manni will sich hinter Kalle verstecken. So ein Schreihals ist er sonst, und jetzt hat er Angst. Aus dem soll man schlau werden, aus dem Manni. Zu Hause bekommt er manchmal Prügel von seinem Stiefvater, einem Plantagenpächter. Einmal hat der Manni böse gesagt: „Den ganzen Tag Unkraut zupfen, in der Hitze, das Kreuz kriegst du nicht mehr gerade. Und wehe, du muckst.“ Obst hat er auch schon verschoben, nach Schöneberg, frisches, schönes Obst, für den Stiefvater. Ins Kino durfte er dafür manchmal gehen, in einen Westschmarren. Und ein knallbuntes Hemd durfte er sich kaufen. Aber jetzt verkriecht er sich hinter Kalle, und sicher möchte er am liebsten weglaufen, zum Schrank hinüber, den er nicht aufgeräumt hat.
Jürgen schrak zusammen. Es war merkwürdig still geworden.
Der Meister schwieg erschöpft und sah verlegen an ihnen vorbei. Auf der anderen Seite zeichnete Semmer an der Wandtafel.
In der windgeschützten Ecke wärmte die Sonne schon. Der Himmel spannte sich weit und klar, nur manchmal segelten leichte Wolken. Hannelore lehnte sich auf der Bank zurück, die Augen geschlossen. Christa blickte über die Baumwipfel in den blauen Dunst.
„Die Störche kommen bald und die Schwalben … Bei uns zu Hause ist die Erde ganz schwarz und fett. Das dampft richtig, wenn der Pflug die Erde aufreißt.“ Sie sagte das mehr für sich und lächelte und dachte an das spitzgieblige, unverputzte Neubauernhaus ihrer Eltern, an die grüngestrichene Holzveranda. Der zottlige Spitz Karo zerrt wie toll an der Kette und kläfft sich heiser. Vater schmiert die Wagenräder und brummt vor sich hin. Auf der Straße rumpelt ein Wagen vorüber. Über die Felder geht ein warmer Wind …
Christa seufzte. Zu Hause ist alles viel einfacher. Da gibt’s keine Millimetereinstellung, keine Schnittgeschwindigkeitstabellen.
„Ich werde mir ein Kleid kaufen, ein rotes“, sagte Hannelore, „das kostet bloß achtzig Mark. Rot passt doch zu meinen schwarzen Haaren?“
„Ist aber teuer.“
„Musst du denn zu Hause was abgeben?“
„Doch …“
„Aber Rot passt zu Schwarz, nicht?“, fragte Hannelore wieder.
„Ja“, murmelte Christa, „bei dir passt das schon.“
Aus den Augenwinkeln sah sie zu Hannelore hinüber. Wie zufrieden sie ist. Sie macht sich nicht viel Gedanken; hat sie Ärger, zieht sie ein schnippisches Gesicht. In Paul ist sie verknallt bis über beide Ohren. Sie weiß auch, dass sie hübsch ist. Wie viele Kleider sie hat, fast für alle Gelegenheiten! Und ihre Mutter … ja, sie ist eine große, eilige Frau, ist wohl geschieden und arbeitet irgendwo in einem Büro, verdient gutes Geld. Ihrer Tochter gibt sie alles.
Die Wolken zogen weiter, sie verdeckten die Sonne, und ein kalter Wind kam auf.
„So hat der Meister noch nie geschimpft“, sagte Christa plötzlich.
Hannelore gähnte, fröstelnd zog sie den Schal fester um die Schultern.
„Regt der sich auf!“
„Er hat aber recht, wir strengen uns gar nicht an.“ Christa scharrte mit den Schuhen in dem feuchten Sand. Unter den Sträuchern schimmerten noch schmutzige Schneereste.
„Na“, protestierte Hannelore, „strengen wir uns etwa nicht an? Mir fällt’s schwer genug.“ Wie ein schwarzer Struwwelpeter hockte sie auf der Bank.
„Unser rotes Auto könnte aber doch weiter vorn sein.“ Hannelore beugte sich erstaunt zu ihr hinüber.
„Ich bin platt. Sorgen hast du.“
Die Pausenklingel schrillte. Sie war bis in die windgeschützte Ecke zu hören. Die Mädchen strichen sich die Haare zurecht.
Grell und kalt flimmerte das Licht in der lang gestreckten Bahnhofshalle. Paul schlenderte umher, den Mantelkragen hochgeschlagen. Er hatte noch Zeit. In Siegfrieds Brief stand, dass sie sich um neunzehn Uhr treffen wollten, vor dem Bahnhof, bei der Uhr unter der Brücke. Paul möchte am liebsten umkehren. Nur aus Neugierde ist er gefahren und ein bisschen wegen Margit.
Paul gab der Schwingtür des Seitenausgangs einen Stoß. Ein Mann, den Mantel geöffnet, den Hut ins Genick geschoben, stolperte ihm entgegen.
„Hoppla, Kleiner“, stotterte er und kicherte. Paul starrte ihm böse nach. Der Kerl ist besoffen.
Von der Spree wehte es kalt und feucht. Langsam ging er an das Ufer. Er stützte sich auf das Eisengeländer. Im Wasser spiegelten sich bunte Lichter.
Warum war er bloß zu diesem Klassentreffen gefahren? Nichts hatte er mehr bei denen zu suchen. Sie studierten alle und hatten sonst was im Kopf. Und er war natürlich der Hampelmann.
Paul beugte sich über das Geländer. Am Steinufer platschten die Wellen.
Der große Zeiger sprang auf die Sieben. Paul erblickte seine ehemaligen Klassenkameraden, ihre Gesichter waren blass im Neonlicht. Das letzte Mal hatte er die Jungen vor einem halben Jahr auf dem Abiturientenball gesehen.
Er hörte Siegfrieds spöttische Stimme: „He, Pawel ist da, tatsächlich!“
Sie lärmten, schüttelten sich die Hände, und es schien, als wäre das halbe Jahr nicht gewesen.
Dann liefen sie die breite Straße hinab, über die Spreebrücke, vorbei an dem geduckten Gebäude mit der Aufschrift „Barley“.
Mit flimmernden Buchstaben lockte ein Lokal.
„Hinein in die Bärenschenke!“, kommandierte Siegfried.
Lärmend schoben sie zwei Tische zusammen. Unwillige Gesichter starrten sie an, aber auch neugierige – Mädchen mit roten Lippen und unnatürlich glänzenden Augen.
„Sind ja nicht alle gekommen“, sagte Paul zu Siegfried, der neben ihm saß.
Siegfried warf ihm einen schrägen Blick zu.
„Alle sind nicht in Berlin!“
Paul dachte: Viele pfeifen auf eure Gesellschaft. Der Heino, der auf der Offiziersschule ist, ganz bestimmt …
Dann fragte er zögernd: „Wo ist denn Margit?“
Siegfried beugte sich gerade zum Kellner hinüber.
„Eine Lage für alle Kommilitonen!“
Der Kellner blickte verdutzt, die anderen lachten. Paul biss sich auf die Lippen. Also für die Kommilitonen, für die Studenten … Ich gehöre nicht dazu, ich bin nur Stift.
Wieder war Siegfrieds längliches Gesicht dicht vor ihm.
„Margit, der rote Käfer“, er lachte. „Einen von den Seestreitkräften hat sie, so einen Leutnant, glaube ich. Das ist schon das Richtige für sie.“