Die Entführung - John Grisham - E-Book

Die Entführung E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Fünfzehn Jahre ist es her, dass Mitch McDeere gemeinsam mit dem FBI seine kriminelle alte Firma hat hochgehen lassen. Mittlerweile arbeitet er in der größten Anwaltskanzlei der Welt in Manhattan. Da holt ihn das Verbrechen wieder ein: Als ihn ein Mentor in Rom um einen Gefallen bittet, findet sich Mitch schnell im Zentrum eines mörderischen Konflikts wieder. Er soll durch eine immense Lösegeldzahlung eine Geiselnahme beenden, doch die Umstände sind dramatisch. Schon bald ist nicht nur er selbst in Gefahr, sondern auch die, die ihm nahestehen.

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DASBUCH

Vor fünfzehn Jahren ist Mitch McDeere gerade noch davongekommen: Er konnte sich aus den kriminellen Banden seiner Firma lösen und gemeinsam mit seiner Frau Abby untertauchen. Inzwischen leben die beiden friedlich in Manhattan und sind stolze Eltern von Zwillingssöhnen. Aber dann gerät Mitch unversehens wieder ins Zentrum eines Verbrechens. Es beginnt damit, dass ihn ein alter Wegbegleiter und Mentor um Unterstützung in einem internationalen Rechtsstreit bittet. Mitch reist nach Libyen, wo er ein Bauvorhaben in Augenschein nehmen soll. Doch auf dem Weg dorthin gibt es einen brutalen Überfall mit Geiselnahme. Als Lösegeld wird die absurd hohe Summe von 100 Millionen Dollar verlangt. Mitch setzt alle Hebel in Bewegung, um die Forderung zu erfüllen. Dabei beobachten ihn die Entführer genau – ihn und seine Familie.

DERAUTOR

John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seinen großen Durchbruch feierte er mit dem Roman »Die Firma«, der mit Tom Cruise kongenial verfilmt wurde. All seine Romane sind Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.

JOHN GRISHAM

DIE ENTFÜHRUNG

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Imke Walsh-Araya und Bea Reiter

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THEEXCHANGEbei Doubleday, a division of Penguin Random House LLC, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung

von Shutterstock/S. Borisov/Ozphotoguy

und AdobeStock/CleverStock

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30681-6V003

www.heyne.de

1

Im siebenundvierzigsten Stock eines in der Sonne funkelnden Hochhausturms an der Südspitze von Manhattan stand Mitch McDeere allein in seinem Büro am Fenster und sah hinab auf den Battery Park und den lebhaften Verkehr auf dem Fluss. Boote jeder Art kreuzten im Hafen. Riesige, mit Containern beladene Frachtschiffe warteten nahezu bewegungslos. Die Fähre nach Staten Island schob sich an Ellis Island vorbei. Ein mit Touristen vollgepacktes Kreuzfahrtschiff nahm Kurs auf das Meer. Dazwischen flitzte irgendwer todesmutig mit einem fünf Meter langen Katamaran umher. Dreihundert Meter über dem Wasser schwirrten nicht weniger als fünf Hubschrauber wie wütende Hornissen. In der Ferne stauten sich auf der Verrazano Bridge die Lastwagen. Die Freiheitsstatue betrachtete das Bild aus majestätischer Höhe. Es war eine fantastische Aussicht, die Mitch zumindest einmal am Tag zu genießen versuchte. Manchmal gelang es ihm, aber die meisten Tage waren zu hektisch für Müßiggang. Die Uhr bestimmte sein Leben, wie das von Hunderten anderen Rechtsanwälten im Gebäude. Scully & Pershing beschäftigte zweitausend Juristen weltweit und hielt sich für die beste internationale Kanzlei überhaupt. In New York belohnten sich die Partner – und Mitch war einer – mit großzügigen Büros im Herzen des Financial District. Die Kanzlei war mittlerweile über hundert Jahre alt und verströmte die Aura von Prestige, Macht und Geld.

Mitch sah auf die Uhr, und die visuelle Besichtigungstour fand ein Ende. Zwei angestellte Anwälte klopften und kamen zu einer seiner vielen Besprechungen herein. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, eine Sekretärin bot Kaffee an. Als sie ablehnten, ging sie wieder. Ihre Mandantin war eine finnische Reederei, die Probleme in Südafrika hatte. Die dortigen Behörden hatten einen Frachter beschlagnahmt, der mit Elektronikgeräten aus Taiwan vollgepackt war. Leer war das Schiff um die hundert Millionen wert. Voll beladen doppelt so viel, und die Südafrikaner regten sich über irgendwelche Zollfragen auf. Mitch war im vergangenen Jahr zweimal in Kapstadt gewesen und hatte keine Lust auf einen erneuten Besuch dort. Nach etwa einer halben Stunde schickte er die Anwälte mit einer ganzen Liste von Anweisungen weg und begrüßte das nächste Gespann.

Um Punkt fünf Uhr verabschiedete er sich von seiner Sekretärin, die Feierabend machte, und ging an den Aufzügen vorbei zum Treppenhaus. Wenn er nur ein paar Stockwerke nach oben oder unten musste, vermied er die Aufzüge, um sich das sinnlose Geschwätz der Anwälte zu ersparen, von denen er noch nicht einmal alle kannte. Er hatte viele Freunde in der Kanzlei und, soweit er wusste, nur eine Handvoll Feinde, aber es schwappte immer wieder eine neue Welle angestellter Anwälte und Juniorpartner herein, deren Gesichter und Namen er eigentlich hätte kennen sollen. Das war aber oft nicht der Fall, und er hatte auch nicht die Zeit, das Mitarbeiterverzeichnis zu studieren und sie sich einzuprägen. Zu viele waren ohnehin schon wieder weg, bevor er sich ihre Namen gemerkt hatte.

Wenn er die Treppe nahm, trainierte er Beine und Lunge. Dabei wurde ihm immer wieder bewusst, wie lange seine Collegezeit zurücklag, in der er oft stundenlang Football und Basketball gespielt hatte. Trotzdem war er mit einundvierzig gut in Form, weil er auf seine Ernährung achtete und mindestens dreimal in der Woche das Mittagessen ausfallen ließ, um im Fitnessraum der Kanzlei zu trainieren. Ein weiteres Privileg, das den Partnern vorbehalten war.

Er verließ das Treppenhaus im einundvierzigsten Stock und steuerte das Büro von Willie Backstrom an, einem Partner, der den Luxus genoss, nicht nach Stunden abrechnen zu müssen. Willie hatte die beneidenswerte Aufgabe, die Pro-bono-Programme der Kanzlei zu managen, und führte zwar Buch über seine Stunden, stellte aber keine Rechnungen. Es hätte sie ohnehin niemand bezahlt. Anwälte verdienten bei Scully & Pershing hervorragend, besonders die Partner, und die Kanzlei war bekannt für ihr Engagement im ehrenamtlichen Bereich. Sie übernahm unentgeltlich schwierige Fälle überall auf der Welt. Jeder Anwalt war verpflichtet, mindestens zehn Prozent seiner Zeit in den Dienst einer guten Sache zu stellen, die von Willie abgesegnet war.

Die Kanzlei war beim Thema ehrenamtliche Arbeit tief gespalten. Die Hälfte der Anwälte freute sich, zur Abwechslung einmal nicht für Firmenmandanten schuften zu müssen, die enormen Druck ausübten. Ein paar Stunden pro Monat konnte ein Anwalt einen echten Menschen oder um ihr Überleben kämpfende gemeinnützige Organisationen vertreten, ohne sich Gedanken um Rechnungen und Honorare zu machen. Die andere Hälfte zeigte sich zwar überzeugt vom edlen Gedanken, etwas zurückzugeben, hielt das Programm aber für reine Verschwendung. Die zweihundertfünfzig Stunden im Jahr konnten sinnvoller genutzt werden, nämlich um Geld zu verdienen und die eigene Position bei den verschiedenen Ausschüssen zu sichern, die bestimmten, wer befördert oder gar Partner und wer vor die Tür gesetzt wurde.

Willie Backstrom sorgte für Frieden unter ihnen, was nicht schwer war, weil kein noch so ehrgeiziger Rechtsanwalt es gewagt hätte, die aggressive Pro-bono-Politik der Kanzlei zu kritisieren. Scully & Pershing zeichnete sogar jedes Jahr Anwälte aus, die im Dienste der Bedürftigen über ihre Pflicht hinausgingen.

Mitch arbeitete im Augenblick vier Stunden pro Woche zusammen mit einer Obdachlosenunterkunft in der Bronx für Mandanten, die sich gegen eine Zwangsräumung wehrten. Es war sichere, saubere Schreibtischarbeit, was genau seinen Vorstellungen entsprach. Sieben Monate zuvor war er dabei gewesen, als ein zum Tode Verurteilter in Alabama seine letzten Worte sprach, bevor er hingerichtet wurde. Er hatte sechs Jahre und achthundert Stunden lang vergeblich darum gekämpft, den Mann zu retten, und ihn sterben zu sehen war herzzerreißend, die bitterste aller Niederlagen.

Mitch wusste nicht genau, was Willie wollte, aber dass er ihn überhaupt zu sich gerufen hatte, verhieß nichts Gutes.

Willie war der einzige Anwalt bei Scully mit Pferdeschwanz, noch dazu einem sehr ungepflegten. Sein Haar war grau und passte damit zu seinem Bart. Wenige Jahre zuvor hätte ihn ein Vorgesetzter angewiesen, sich zu rasieren und zum Friseur zu gehen. Aber die Kanzlei arbeitete hart daran, ihr angestaubtes Image als Schreibtischtäterverein weißer Anzugträger loszuwerden. Eine der radikalen Veränderungen war die Abschaffung jeglicher Kleiderordnung. Willie ließ sich Haar und Schnurrbart wachsen und kam fortan in Jeans zur Arbeit.

Mitch, der zwar einen dunklen Anzug trug, aber keine Krawatte, setzte sich auf die andere Seite des Schreibtischs und wechselte ein paar belanglose Worte mit Willie. Endlich kam Willie zum Thema. »Mitch, ich möchte, dass du dir unten im Süden einen Fall ansiehst.«

»Sag bloß nicht, dass es um die Todesstrafe geht.«

»Es geht um die Todesstrafe.«

»Das kann ich nicht, Willie. Ich hatte in den letzten fünf Jahren zwei solche Fälle, und beide Männer sind hingerichtet worden. Meine Erfolgsquote ist bescheiden.«

»Du hast hervorragende Arbeit geleistet, Mitch. Niemand hätte die beiden retten können.«

»Ich kann so was nicht noch einmal übernehmen.«

»Hörst du’s dir wenigstens an?«

Mitch zuckte resigniert mit den Schultern. Willies Engagement für Todeskandidaten war legendär, und nur wenige Anwälte in der Kanzlei schafften es, Nein zu sagen. »Okay, schieß los.«

»Sein Name ist Tad Kearny, und er hat noch neunzig Tage. Vor einem Monat hat er merkwürdigerweise seine Anwälte gefeuert, ausnahmslos alle, dabei war sein Team hochkompetent.«

»Klingt verrückt.«

»Das ist er auf jeden Fall. Völlig durchgeknallt, wahrscheinlich gar nicht schuldfähig, aber Tennessee macht trotzdem Druck. Vor zehn Jahren hat er drei verdeckt ermittelnde Drogenfahnder bei einer Razzia erschossen, die völlig aus dem Ruder gelaufen war. Überall Tote und Verletzte, insgesamt fünf Leute starben vor Ort. Tad wäre auch fast umgekommen, aber es gelang den Ärzten, ihn zu retten, damit man ihn später hinrichten konnte.«

Mitch lachte frustriert. »Und ich soll mich als edler Ritter in die Schlacht werfen und den Mann retten? Also wirklich, Willie. Ich brauche schon Argumente.«

»Argumente gibt es praktisch keine, bis auf Schuldunfähigkeit. Das Problem ist, dass er sich wahrscheinlich weigern wird, dich zu sehen.«

»Und warum verschwenden wir dann unsere Zeit damit?«

»Weil wir es versuchen müssen, Mitch, und ich glaube, du bist der Beste dafür.«

»Das musst du mir erklären.«

»Er erinnert mich an dich.«

»Herzlichen Dank.«

»Nein, im Ernst. Er ist weiß, in deinem Alter und aus Dane County, Kentucky.«

Für einen Augenblick hatte es Mitch die Sprache verschlagen, dann fasste er sich wieder. »Na toll. Wahrscheinlich sind wir Cousins.«

»Das glaube ich nicht, aber sein Vater hat im Kohlebergbau gearbeitet, genau wie deiner. Und beide sind dort gestorben.«

»Meine Familie ist tabu.«

»Entschuldigung. Du hattest Glück und warst clever genug, um da nicht hängen zu bleiben. Tad war anders gestrickt und hatte bald mit Drogen zu tun, als Konsument und als Dealer. Er und ein paar Kumpel wurden bei einer Großlieferung in der Nähe von Memphis von den Drogenfahndern überrascht. Außer Tad kamen alle ums Leben. Jetzt hat ihn das Glück wohl verlassen.«

»Und er ist eindeutig schuldig?«

»Für die Geschworenen bestimmt. Die Frage ist nicht, ob er schuldig, sondern ob er schuldfähig ist. Ich stelle mir vor, dass wir ihn von Spezialisten, unseren eigenen Ärzten, begutachten lassen und in letzter Minute ein Gnadengesuch einreichen. Zuerst einmal muss aber jemand hinfahren und mit dem Mann reden. Im Augenblick lehnt er alle Besuche ab.«

»Und du meinst, wir sind auf einer Wellenlänge?«

»Unwahrscheinlich, aber einen Versuch ist es wert.«

Mitch holte tief Luft und überlegte, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte. Er spielte auf Zeit. »Wer verteidigt ihn?«

»Streng genommen niemand. Tad hat sich umfassende Rechtskenntnisse angeeignet und die nötigen Anträge gestellt, um seinen Anwälten das Mandat zu entziehen. Amos Patrick hat ihn lange Zeit vertreten, einer der Besten da unten. Du kennst Amos?«

»Ich bin ihm einmal bei einer Konferenz begegnet. Ziemlich ungewöhnlicher Mann.«

»Die meisten Anwälte, die sich auf Todeskandidaten spezialisiert haben, sind ungewöhnlich.«

»Willie, ich habe nicht die geringste Lust, mir als Verteidiger von Todeskandidaten einen Namen zu machen. Das habe ich zweimal erlebt, und mir reicht das. Solche Fälle fressen einen auf. Wie viele von deinen Mandanten hast du sterben sehen?«

Willie schloss die Augen und holte tief Luft. »Tut mir leid«, flüsterte Mitch.

»Zu viele, Mitch. Sagen wir, ich weiß, wie sich das anfühlt. Hör mal, ich habe mit Amos gesprochen, mehrfach, und er findet die Idee gut. Er fährt dich zum Gefängnis, und wer weiß, vielleicht findet Tad dich interessant genug, um mit dir zu reden.«

»Klingt aussichtslos.«

»In neunzig Tagen ist es mit Sicherheit aussichtslos, aber zumindest haben wir es dann versucht.«

Mitch stand auf und ging zu einem Fenster. Willie hatte Aussicht nach Westen, über den Hudson. »Amos praktiziert in Memphis, richtig?«

»Ja.«

»Ich will auf keinen Fall zurück nach Memphis. Da ist zu viel passiert.«

»Das ist schon lange her, Mitch. Fünfzehn Jahre. Du hast dir den falschen Arbeitgeber ausgesucht und musstest weg.«

»Ich musste weg? Soll das ein Witz sein? Sie haben versucht, mich umzubringen. Es sind Menschen gestorben, Willie, und die komplette Firma ist ins Gefängnis gewandert. Und die Mandanten gleich mit.«

»Sie hatten es alle verdient, oder etwa nicht?«

»Schon, aber sie haben mich dafür verantwortlich gemacht.«

»Von denen ist keiner mehr da, Mitch. Sie sind in alle Winde zerstreut.«

Mitch ging zu seinem Stuhl zurück und lächelte seinen Kollegen an. »Nur aus Neugier, Willie: Wird hier über mich und die Geschichte unten in Memphis geredet?«

»Nein, das wird nie erwähnt. Wir wissen, was passiert ist, aber keiner hat Zeit, darüber zu tratschen. Du hast das Richtige getan, bist davongekommen und hast neu angefangen. Du bist einer unserer Stars, und das ist alles, was bei Scully zählt.«

»Ich will nicht mehr nach Memphis.«

»Du brauchst die Stunden. Du hinkst in diesem Jahr hinterher.«

»Das hole ich schon noch auf. Warum kannst du nicht eine nette kleine Stiftung für mich finden, die einen ehrenamtlichen Rechtsanwalt braucht? Vielleicht eine Organisation, die sich um hungernde Kinder kümmert oder sauberes Wasser nach Haiti liefert?«

»Du wärst todunglücklich. Du magst Action, Drama, Zeitdruck.«

»Das habe ich alles schon gehabt.«

»Bitte. Tu mir den Gefallen. Es gibt sonst niemanden. Und die Chancen stehen gut, dass man dich gar nicht erst ins Gefängnis lässt.«

»Ich will wirklich nicht noch mal nach Memphis.«

»Stell dich nicht so an. Es gibt einen Direktflug morgen um 13.30 Uhr von LaGuardia aus. Amos erwartet dich. Wenn sonst nichts dabei herauskommt, wirst du zumindest eine gute Zeit mit ihm haben.«

Mitch gab sich lächelnd geschlagen. »Okay, von mir aus«, murmelte er, als er aufstand und zur Tür ging. »Weißt du, ich glaube, ich erinnere mich wirklich an eine Familie Kearny aus Dane County.«

»Wusste ich’s doch. Besuch Tad, vielleicht ist er ja tatsächlich ein entfernter Cousin.«

»Nicht entfernt genug.«

2

Gegen achtzehn Uhr strömten viele der Partner von Scully, aber auch von deren Rivalen unter den großen Anwaltskanzleien und zahllose Finanzjongleure der Wall Street aus den Wolkenkratzern und nahmen in schwarzen Limousinen Platz, die von Chauffeuren gefahren wurden. Die großen Hedgefonds-Stars saßen auf dem komfortablen Rücksitz der Langversion eines europäischen Autos, das ihnen selbst gehörte, und wurden von Fahrern kutschiert, die auf ihrer Gehaltsliste standen. Die wirklichen Meister des Universumshatten die City allerdings schon hinter sich gelassen und lebten und arbeiteten in aller Diskretion in Connecticut.

Obwohl er sich einen Fahrdienst leisten konnte, nahm Mitch die Subway, eines seiner vielen Zugeständnisse an Sparsamkeit und seine einfache Herkunft. Er erwischte die U-Bahn um 18.10 Uhr an der Station South Ferry, fand auf einer überfüllten Bank einen Platz und vergrub sich wie immer in einer Zeitung. Blickkontakt war zu vermeiden. Der Waggon war voll mit anderen gut bezahlten Führungskräften, die in Richtung Norden fuhren und von denen niemand Lust hatte, sich zu unterhalten. Es war schon in Ordnung, die Subway zu nehmen. Sie war schnell, unkompliziert, billig und – meistens zumindest – sicher. Ihn störte nur, dass die anderen Fahrgäste an der Wall Street arbeiteten und entweder bestens verdienten oder bald bestens verdienen würden. Private Limousinen waren fast in Reichweite. Die Zeit, in der sie den öffentlichen Nahverkehr nutzten, war so gut wie vorbei.

Mitch hatte keine Geduld mit solchem Unfug. Er blätterte in der Zeitung, rutschte nachsichtig noch dichter an andere Fahrgäste heran, als sich der Waggon füllte, und ließ seine Gedanken schweifen. Er hatte nie gesagt, dass er nicht nach Memphis zurückkehren würde. Das war eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihm und Abby. Ihre Flucht war damals so traumatisch gewesen, dass sie sich nicht vorstellen konnten, der Stadt jemals wieder einen Besuch abzustatten, egal, aus welchem Grund. Aber je länger er darüber nachdachte, desto interessanter erschien ihm die Sache. Es war ein Kurztrip, der wahrscheinlich ergebnislos verlaufen würde. Er tat Willie einen riesigen Gefallen, und der würde sich mit Sicherheit großzügig dafür revanchieren.

Nach zweiundzwanzig Minuten tauchte er an der Station Columbus Circle aus der Unterwelt auf und ging zu seiner Wohnung, wie jeden Tag. Es war ein herrlicher Aprilabend, mit wolkenlosem Himmel und angenehmen Temperaturen, ein Bilderbuchwetter, das die Hälfte der New Yorker im Freien zu genießen schienen. Mitch hatte es jedoch eilig, nach Hause zu kommen.

Sie wohnten in einem Gebäude an der Kreuzung Sixty-Ninth Street/Columbus Avenue im Herzen der Upper West Side. Mitch wechselte ein paar Worte mit dem Portier, nahm die Post an sich und fuhr mit dem Aufzug nach oben in den dreizehnten Stock. Clark öffnete die Tür und streckte ihm die Arme entgegen. Mit acht war er immer noch ein kleiner Junge, der sich nicht scheute, dem Vater seine Zuneigung durch eine Umarmung zu zeigen. Sein Zwillingsbruder Carter war schon weiter, ihm war es zunehmend peinlich, sich von seinem Vater knuddeln zu lassen. Normalerweise hätte Mitch Abby mit einem Kuss und einer Umarmung begrüßt und sich erkundigt, wie ihr Tag gewesen war, aber sie hatte Gäste in der Küche. In der Wohnung duftete es köstlich. Offenbar war ein Festmahl in Vorbereitung, und er freute sich schon auf das Abendessen.

Die Küchenchefs waren die Rosario-Brüder Marco und Marcello, ebenfalls Zwillinge. Sie stammten aus einem kleinen Dorf in der norditalienischen Lombardei und hatten vor zwei Jahren eine Trattoria in der Nähe des Lincoln Center eröffnet. Das Restaurant war vom ersten Tag an ein Erfolg und bekam von der Times sehr bald zwei Sterne verliehen. Einen Tisch zu bekommen war nicht leicht, die aktuelle Wartezeit betrug vier Monate. Mitch und Abby hatten das Restaurant entdeckt und aßen häufig dort, wann immer sie wollten. Abby bekam problemlos einen Tisch, weil sie das erste Kochbuch der Rosarios betreute. Außerdem durften sie in Abbys hochmoderner Küche neue Rezepte ausprobieren. Mindestens einmal pro Woche fielen sie mit Tüten voller Zutaten bei den McDeeres ein und stellten die Küche auf den Kopf. Abby war mittendrin und schnatterte in perfektem Italienisch, während Carter und Clark auf ihren Hockern an der Frühstückstheke saßen und aus sicherer Entfernung zusahen. Marco und Marcello hatten großen Spaß daran, für die Kinder eine Show abzuziehen, und erklärten die Vorbereitungen auf Englisch mit starkem Akzent. Nebenbei brachten sie den Jungen einzelne italienische Wörter und Ausdrücke bei.

Mitch lachte beim Anblick dieser Szenerie in sich hinein, stellte seinen Aktenkoffer irgendwo ab, zog sein Jackett aus und goss sich ein Glas Chianti ein. Er fragte die Jungen nach ihren Hausaufgaben und erhielt die übliche Antwort: alles erledigt. Marco stellte den Jungen eine kleine Platte mit Bruschetta auf die Theke und teilte Mitch mit, Hausaufgaben und dergleichen seien zweitrangig, die Kinder würden als Tester gebraucht. Mitch tat so, als hätte er dafür volles Verständnis. Die Hausaufgaben konnte er später noch kontrollieren.

Das Restaurant trug den wenig originellen Namen Rosario’s, der in dicken Lettern auf die roten Schürzen der Köche gestickt war. Marcello bot Mitch eine Schürze an, die er wie immer ablehnte, weil er angeblich nicht kochen konnte. Wenn sie allein in der Küche waren, ließ Abby ihn Gemüse schälen und klein schneiden, Gewürze unter ihren wachsamen Blicken abmessen, den Tisch decken und den Müll wegbringen, alles niedere Arbeiten, die aus ihrer Sicht seinem Talent entsprachen. Einmal hatte er sich bis zur Position eines stellvertretenden Küchenchefs hochgearbeitet, war aber gnadenlos degradiert worden, als er ein Baguette verkokelte.

Abby ließ sich ein kleines Glas Wein einschenken. Marco und Marcello lehnten ab wie üblich. Mitch hatte schon vor Jahren gelernt, dass Italiener – obwohl ihre Heimat so viel Wein produzierte und er bei fast jeder Mahlzeit bereitstand – tatsächlich wenig tranken. Eine Karaffe des weißen oder roten Hausweins reichte einer großen Familie für ein ausgedehntes Abendessen.

Abby kannte sich mit italienischem Essen und Wein bestens aus, was ihr eine Stelle als leitende Lektorin bei Epicurean verschafft hatte, einem kleinen, aber sehr erfolgreichen New Yorker Verlag. Das Unternehmen hatte sich auf Kochbücher spezialisiert und brachte rund fünfzig davon im Jahr heraus. So gut wie immer handelte es sich um dicke, wunderbar gestaltete Sammlungen von Rezepten aus aller Welt. Weil sie viele Köche und Restaurantbesitzer kannte, aßen sie und Mitch oft auswärts und mussten nur selten reservieren. Ihre Wohnung war ein beliebtes Versuchslabor für junge Küchenchefs, die vom Durchbruch in dieser Stadt mit ihren vielen Sternelokalen und anspruchsvollen Feinschmeckern träumten. Die meisten der zubereiteten Mahlzeiten waren köstlich, aber da die Köche beim Experimentieren freie Hand hatten, ging gelegentlich etwas daneben. Carter und Clark stellten sich gern als Versuchskaninchen zur Verfügung und wuchsen in einer Welt avantgardistischer Rezepte auf. Wenn es ihnen nicht schmeckte, war das Gericht höchstwahrscheinlich misslungen. Die Jungen wurden ermutigt, offen zu sagen, wenn sie etwas nicht mochten. Untereinander scherzten ihre Eltern oft, dass den Kindern ein verwöhnter Gaumen antrainiert werde.

Heute Abend würde es keine Klagen geben. Auf die Bruschetta folgte eine kleine Trüffelpizza. Damit waren die Vorspeisen abgehakt, und Abby bugsierte ihre Familie zum Esstisch. Marco servierte den ersten Gang, der aus Cacciucco, einer würzigen Fischsuppe, bestand. Marcello setzte sich mit an den Tisch. Alle sechs kosteten von der Suppe und überlegten, was sie davon hielten. Beim Essen ließen sie sich Zeit, was den Kindern nicht immer gefiel. Als Pasta gab es Cappelletti, kleine Ravioli in Rinderbrühe. Vor allem Carter liebte Pasta und fand sie köstlich. Abby war nicht überzeugt. Marco servierte einen zweiten Gang: Safranrisotto. Da es sich um ein Experiment handelte, gab es danach mit Spaghetti Vongole noch einmal Pasta. Die Portionen waren klein, nur ein paar Bissen, und sie witzelten darüber, dass sie wohl nicht satt werden würden. Die Rosarios debattierten leidenschaftlich über die Zutaten, die Variationen der Rezepte und so fort. Mitch und Abby mischten sich ein, sodass häufig alle Erwachsenen gleichzeitig redeten. Nach dem Fischgang fingen die Jungen an, sich zu langweilen. Sie durften aufstehen und gingen nach oben, um fernzusehen. Deshalb verpassten sie den Fleischgang, geschmortes Kaninchen, und das Dessert, das aus Panforte bestand, einem massiven Schokoladenkuchen mit Mandeln.

Beim Kaffee debattierten die McDeeres und die Rosarios darüber, welche Rezepte in das Kochbuch aufgenommen werden sollten und welche verfeinert werden mussten. Es würde Monate dauern, bis das Buch fertig war, und es würden noch viele Abendessen folgen.

Kurz nach acht packten die Brüder ihre Sachen. Sie mussten im Restaurant nach dem Rechten sehen. Nach einer kurzen Reinigungsaktion und der üblichen Runde Umarmungen gingen sie, versprachen aber fest, nächste Woche wiederzukommen.

Als es in der Wohnung still geworden war, inspizierten Mitch und Abby erneut die Küche. Wie immer hatten die Brüder ein Chaos hinterlassen. Sie räumten die Geschirrspülmaschine ein, stapelten ein paar Töpfe und Pfannen neben der Spüle und schalteten das Licht aus. Die Haushälterin würde sich am nächsten Morgen darum kümmern.

Als sie die Jungen ins Bett gebracht hatten, zogen sie sich mit einem Glas Barolo ins Arbeitszimmer zurück. Sie besprachen das Abendessen in allen Einzelheiten, unterhielten sich über ihre Arbeit und ließen den Tag ausklingen.

Mitch brannte darauf, seine Neuigkeiten loszuwerden. »Ich bin morgen Nacht nicht zu Hause«, sagte er. Das war nicht ungewöhnlich. Er war bestimmt zehn Tage im Monat geschäftlich unterwegs, und Abby hatte sich längst mit den Anforderungen abgefunden, die seine Arbeit an ihn stellte.

»Das steht aber nicht im Kalender«, sagte sie. Uhr und Kalender bestimmten ihren eng getakteten Alltag. »Was Interessantes?«

»Memphis.«

Sie nickte und versuchte vergeblich, ihre Überraschung zu verbergen. »Raus mit der Sprache. Du hast hoffentlich eine überzeugende Erklärung.«

Er lächelte und fasste kurz sein Gespräch mit Willie Backstrom zusammen.

»Bitte, Mitch, nicht schon wieder ein Todeskandidat. Du hast es versprochen.«

»Ich weiß, ich weiß, aber ich konnte es Willie nicht abschlagen. Die Lage ist verzweifelt, und vermutlich ist die Reise völlig umsonst. Aber ich habe ihm versprochen, dass ich es versuche.«

»Ich dachte, wir würden uns da nie wieder blicken lassen.«

»Dachte ich auch. Es sind ja nur vierundzwanzig Stunden.«

Sie nippte an ihrem Wein und schloss die Augen. »Wir haben lange nicht mehr über Memphis gesprochen«, stellte sie fest, als sie sie wieder öffnete.

»Stimmt. Es gab keinen Grund dafür. Aber die Geschichte ist jetzt fünfzehn Jahre her, und alles ist anders.«

»Es gefällt mir trotzdem nicht.«

»Mir passiert schon nichts, Abby. Mich erkennt niemand. Von den Gangstern von damals ist keiner mehr da.«

»Das denkst du. Wenn ich mich recht erinnere, Mitch, mussten wir mitten in der Nacht die Flucht ergreifen, weil sie uns auf den Fersen waren.«

»Richtig. Aber diese Leute sind weg. Die Firma existiert nicht mehr, einige von damals sind tot, andere sitzen irgendwo im Gefängnis.«

»Sie gehören auch ins Gefängnis.«

»Klar. Auf jeden Fall sind die Leute von damals nicht mehr in Memphis. Und ich bin so schnell wieder weg, dass niemand etwas mitbekommt.«

»Ich habe keine guten Erinnerungen an die Stadt.«

»Abby, wir haben uns vor Jahren entschieden, ein normales Leben zu führen, ohne ständige Angst. Was damals passiert ist, ist lange vorbei.«

»Wenn du den Fall übernimmst, wird dein Name in den Nachrichten erwähnt, oder?«

»Wenn ich den Fall übernehme, und das ist noch längst nicht sicher, bleibe ich nicht in Memphis. Das Gefängnis ist in Nashville.«

»Was willst du dann in Memphis?«

»Der Anwalt, vielmehr der frühere Anwalt arbeitet da. Ich besuche ihn in seiner Kanzlei, lasse mich auf den aktuellen Stand bringen, und dann fahren wir zum Gefängnis.«

»Bei Scully gibt es eine Million Anwälte. Wieso finden sie nicht jemand anderen?«

»Die Zeit ist knapp. Wenn sich der Mandant weigert, mit mir zu sprechen, bin ich aus dem Schneider und wieder zu Hause, bevor du mich überhaupt vermisst.«

»Wer sagt, dass ich dich vermissen werde? Du bist doch ständig weg.«

»Ja, und ich weiß, wie sehr du darunter leidest.«

»Du denkst, wir kommen nicht ohne dich zurecht?« Sie lächelte, schüttelte den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, dass jeder Streit mit Mitch Zeitverschwendung war. »Bitte sei vorsichtig.«

»Versprochen.«

3

Als Mitch das opulente Foyer des Hotels Peabody im Zentrum von Memphis zum ersten Mal betreten hatte, sollte er zwei Monate später seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag feiern. Er studierte im dritten Jahr in Harvard Jura und würde im folgenden Frühjahr als Viertbester seines Jahrgangs abschließen. Drei der ganz großen Kanzleien wollten ihn, zwei in New York und eine in Chicago. Keiner seiner Freunde konnte verstehen, warum er seine Zeit mit einem Gespräch in Memphis verschwendete, noch dazu bei einer Firma, die nicht gerade in der obersten Liga der Anwaltskanzleien mitspielte. Auch Abby war skeptisch.

Dahinter stand die nackte Gier. Bendini war mit vierzig Anwälten zwar klein, bot aber mehr Geld und Zusatzleistungen. Und es war einfacher, Partner zu werden. Mitch hatte seine Gier mit Argumenten untermauert und sich eingeredet, als Kleinstadtjunge würde er sich in einer kleineren Stadt eher zu Hause fühlen. Die Firma gab sich wie eine große Familie, niemand hatte sie je verlassen. Zumindest nicht lebend. Er hätte wissen müssen, dass ein Angebot, das zu gut schien, um wahr zu sein, einen gewaltigen Haken haben musste. Nach sieben Monaten waren er und Abby heilfroh, als sie mit dem Leben davonkamen.

Damals waren sie händchenhaltend durch das Foyer gewandert und hatten die üppige Einrichtung, die Orientteppiche, die Kunstwerke und den berühmten Springbrunnen in der Mitte der Halle bewundert, in dem Enten ihre Kreise zogen.

Sie schwammen dort immer noch, und Mitch fragte sich, ob es dieselben Enten waren. Er holte sich an der Bar eine Diätlimo und ließ sich in einen tiefen Sessel in der Nähe des Brunnens fallen. Erinnerungen stürmten auf ihn ein: das Hochgefühl, weil er so gefragt war, die Erleichterung, das Jurastudium fast hinter sich zu haben, das ungebrochene Vertrauen, dass ihn eine vielversprechende Zukunft erwartete – eine neue Stelle, ein neues Haus, ein teures Auto, ein üppiges Gehalt. Er und Abby hatten sogar davon gesprochen, eine Familie zu gründen. Natürlich hatte er Zweifel gehabt, aber sie waren wie verflogen gewesen, als er das Peabody betrat.

Wie hatte er so dumm sein können? War das wirklich fünfzehn Jahre her? Sie waren fast noch Kinder gewesen und unglaublich naiv.

Er trank aus und ging zur Rezeption, um einzuchecken. Er hatte ein Zimmer für eine Nacht auf den Namen Mitchell Y. McDeere gebucht, und während er darauf wartete, dass die Rezeptionistin seine Reservierung fand, hatte er flüchtig die Befürchtung, dass sich jemand an ihn erinnern könnte. Die Rezeptionistin offenkundig nicht, und bestimmt auch sonst niemand. Es war zu lange her, und die zwielichtigen Gestalten, die ihm im Nacken gesessen hatten, waren längst aus dem Verkehr gezogen worden. Er ging auf sein Zimmer, zog eine Jeans an und unternahm einen Spaziergang.

Dreihundert Meter weiter, in der Front Street, blieb er vor einem fünfstöckigen Gebäude stehen, das einst als Bendini Building bekannt gewesen war. Ihn schauderte geradezu bei der Erinnerung an seine kurze, aber dramatische Zeit dort. Er erinnerte sich an die Namen und sah die Gesichter der Kollegen von damals vor sich, die entweder tot oder inhaftiert waren oder woanders ein zurückgezogenes Leben führten. Das Gebäude war renoviert und umbenannt worden. Jetzt waren dort Eigentumswohnungen untergebracht, für die mit dem Blick auf den Fluss geworben wurde. Er ging weiter und stieß auf Lansky’s Deli, der in Memphis zur Tradition gehörte und sich nicht verändert hatte. Er ging hinein, nahm auf einem Hocker an der Theke Platz und bestellte Kaffee. Rechts von ihm befanden sich mehrere Nischen, die jetzt, am späten Nachmittag, leer waren. In der dritten hatte er gesessen, als aus dem Nichts ein FBI-Beamter auftauchte und anfing, ihn über seine Firma auszufragen. Es war der Anfang vom Ende gewesen, das erste eindeutige Anzeichen, dass die Dinge nicht so waren, wie sie zu sein schienen. Mitch schloss die Augen und ließ im Geiste das gesamte Gespräch Revue passieren, Wort für Wort. Wayne Tarrance hatte der Beamte geheißen, ein Name, den er nie vergessen würde, und wenn er sich noch so bemühte.

Als er den Kaffee getrunken hatte, bezahlte er und ging vom Lokal aus zur Main Street, wo er die historische Straßenbahn nahm und eine kurze Strecke mitfuhr. Manche Gebäude hatten sich verändert, manche sahen aus wie damals. Viele davon erinnerten ihn an Ereignisse, die er gern vergessen hätte. Er stieg an einem Park aus, setzte sich auf eine Bank unter einem Baum und rief in der Kanzlei an, um herauszufinden, ob das Chaos ohne ihn außer Kontrolle geraten war. Dann meldete er sich bei Abby und fragte nach den Jungen. Zu Hause war alles in Ordnung. Nein, er wurde nicht verfolgt. Niemand erinnerte sich an ihn.

Als es dunkel wurde, schlenderte er zurück zum Peabody und fuhr mit dem Aufzug ganz nach oben. Von der beliebten Bar auf der Dachterrasse konnte man zusehen, wie die Sonne über dem Fluss unterging, und dabei einen Drink mit Freunden genießen. Meistens am Freitagnachmittag nach einer harten Woche. Bei seinem ersten Besuch in Memphis, als er sich endgültig für Bendini entschieden hatte, waren er und Abby von den jüngeren Anwälten und deren Ehefrauen dorthin eingeladen worden. Jeder hatte eine Ehefrau. Alle Rechtsanwälte waren männlich. So lauteten damals die ungeschriebenen Gesetze bei Bendini. Später, als sie allein waren, hatten sie ganz für sich etwas auf dem Dach getrunken und die verhängnisvolle Entscheidung getroffen, die Stelle anzunehmen.

Mitch holte sich ein Bier, lehnte sich an ein Geländer und sah zu, wie sich der Mississippi auf seiner ewigen Reise nach New Orleans an Memphis vorbeiwälzte. Schwere, mit Sojabohnen beladene Lastkähne schoben sich unter der Brücke nach Arkansas durch, als die Sonne endgültig hinter den endlosen Feldern der Ebene unterging. Er spürte keinerlei Wehmut. Sein hoffnungsvoller Start war innerhalb weniger Wochen vergessen gewesen, als ihr Leben zu einem unfassbaren Albtraum wurde.

Er brauchte nicht lange zu überlegen, wo er zu Abend essen wollte. Er überquerte die Union Avenue, bog in eine Gasse ein und konnte die Spareribs schon riechen. Das Rendezvous war mit Abstand das bekannteste Restaurant der Stadt, und er hatte viele Male hier gegessen. Gelegentlich hatte er sich nach der Arbeit mit Abby zu den berühmten Spareribs und eiskaltem Bier getroffen. An diesem Dienstag war dort wie immer viel los, aber es war kein Vergleich mit dem Wochenende, wo man häufig eine Stunde auf einen Tisch warten musste. Reservierungen wurden nicht angenommen. Ein Kellner deutete auf einen Tisch in einem der vielen überfüllten Räume, und Mitch setzte sich so, dass er die Hauptbar im Blick behalten konnte.

Ein weiterer Kellner kam vorbei. »Sie wissen, was Sie wollen?«, fragte er.

»Eine große Portion mit kleiner Käseplatte, ein großes Bier.« Der Kellner blieb nicht einmal stehen.

Mitch waren viele Veränderungen in der Stadt aufgefallen, aber es würde immer eine Konstante geben: Das Rendezvous würde sich nie ändern. Die Wände waren tapeziert mit Fotos berühmter Gäste, Programmen des Liberty Bowl Memorial Stadium, Neonreklame für Bier und Softdrinks, Skizzen des alten Memphis und noch mehr Fotos, von denen manche Jahrzehnte alt waren. Es war Tradition, eine Visitenkarte an die Wand zu heften, bevor man ging, und es gab bestimmt eine Million davon. Er selbst hatte das auch getan, und er fragte sich, ob noch Karten anderer Anwälte von Bendini, Lambert & Locke dort hingen. Da offenkundig niemand die Karten entfernte, wahrscheinlich schon.

Zehn Minuten später brachte der Kellner eine Platte Spareribs, Cheddar und Krautsalat als Beilage. Das Bier war so kalt, wie Mitch es in Erinnerung hatte. Er riss ein Rippchen ab, biss kräftig zu und genoss den Geschmack. Seine erste angenehme Erinnerung an Memphis.

Die Capital Defense Initiative, kurz CDI, war 1976 von Amos Patrick gegründet worden, nachdem der Oberste Gerichtshof das Verbot der Todesstrafe aufgehoben hatte. Daraufhin hatten die »Todesstrafe-Staaten« in aller Eile ihre elektrischen Stühle und Gaskammern auf den neuesten Stand gebracht, um loslegen zu können. Sie wetteiferten immer noch darum, wer die meisten Menschen umbrachte. Texas lag eindeutig in Führung, während mehrere Staaten Anspruch auf den zweiten Platz erhoben.

Amos wuchs in bitterer Armut im ländlichen Georgia auf und hatte als Kind nicht immer genug zu essen. Seine besten Freunde waren alle schwarz, und als Kind hatte er sich häufig darüber geärgert, wie schlecht sie behandelt wurden. Als Teenager wurde ihm allmählich klar, was Rassismus bedeutete und welche verheerende Wirkung er auf Schwarze hatte. Obwohl er zunächst nicht recht wusste, was die Bürgerrechtsbewegung war, wurden seine Überzeugungen mit der Zeit immer ausgeprägter. An der Highschool erkannte ein Biologielehrer seine Fähigkeiten und sorgte dafür, dass er studieren konnte. Ansonsten hätte er sein Leben lang auf den Erdnussfeldern geschuftet wie seine Freunde.

Amos war im beschränkten Kreis der Verteidiger, die Todeskandidaten vertraten, eine Legende. Seit dreißig Jahren zog er für kaltblütige Mörder in die Schlacht, deren Verbrechen unerträglich waren. Um das zu überleben, hatte er gelernt, sich mental von den Verbrechen abzuschotten und sie zu ignorieren. Es war keine Frage der Schuld. Es ging darum, ob der Staat mit all seinen Unzulänglichkeiten, Vorurteilen und seiner Anfälligkeit für Irrtümer das Recht hatte, Menschen zu töten.

Doch nun war er müde. Die Arbeit belastete ihn zunehmend. Er hatte vielen Menschen das Leben gerettet, andere verloren und dabei eine gemeinnützige Organisation aufgebaut, die ausreichend Geld anzog, um sich selbst zu finanzieren, und über genügend kompetente Anwälte verfügte, die mit ihm kämpften. Allerdings ließ sein eigener Kampfgeist zunehmend nach, und seine Frau und sein Arzt drängten ihn kürzerzutreten.

Amos’ Büro war ebenfalls legendär. Das Gebäude war eine schlechte Imitation des Art-déco-Stils der 1930er-Jahre und im Laufe der Jahrzehnte immer wieder erweitert und umgebaut worden. Ein Autohändler hatte es hier, an der zehn Kilometer vom Fluss entfernten Summer Avenue, in der sich ein Händlerbetrieb an den anderen reihte, errichtet, um neue und gebrauchte Pontiacs zu verkaufen. Mit der Zeit waren die Händler wie ein Großteil der Stadt in Richtung Osten abgewandert. Die Ausstellungsräume wurden mit Brettern verrammelt oder dem Erdboden gleichgemacht. Amos rettete den Pontiac-Händlerbetrieb bei einer Auktion, auf der er der einzige Bieter war. Die Sicherheit für seine Hypothek stellten wohlgesinnte Rechtsanwälte aus Washington. Stil, Erscheinungsbild und öffentliche Wahrnehmung interessierten ihn nicht, und er hatte kaum Geld für Renovierungen. Er brauchte große Räumlichkeiten, die an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen waren, sonst nichts. Um Mandanten brauchte er sich nicht zu bemühen, weil er mehr als genug hatte. Es tobte ein Kampf um die Todesstrafe, und die Staatsanwälte liefen sich zunehmend warm.

Amos gab ein paar Dollar für Farbe, Trockenbau und Installation aus und verlegte seine wachsende Belegschaft in den alten Pontiac-Händlerbetrieb. Praktisch auf Anhieb identifizierten sich die Anwälte und Anwaltsassistenten der CDI mit ihrem Arbeitsplatz, der notdürftig mit zusammengewürfeltem Mobiliar ausgestattet war. Welcher Jurist konnte schon von sich sagen, dass er in einer umgebauten Werkstatt praktizierte, in der früher Öl gewechselt und Auspufftöpfe montiert worden waren?

Einen Empfangsbereich gab es nicht, weil keine Mandanten vorbeikamen. Sie saßen von Arizona bis Virginia in der Todeszelle oder einem anderen Teil des Gefängnisses. Auch Besucher wurden keine erwartet. Mitch klingelte an der Eingangstür, betrat einen offenen Bereich, der früher der Ausstellungsraum des Händlers gewesen war, und wartete darauf, dass ein menschliches Wesen erschien. Er amüsierte sich über die Wanddekoration, die vor allem aus Werbeplakaten mit glänzenden neuen Pontiacs, die vor Jahrzehnten aktuell gewesen waren, Kalendern aus den 1950er-Jahren und ein paar gerahmten Zeitungsberichten über Fälle bestand, in denen die CDI jemandem das Leben gerettet hatte. Es gab weder Teppichboden noch Läufer. Die Fußböden waren höchst originell – glänzender Beton mit hartnäckigen Öl- und Farbflecken.

»Guten Morgen«, sagte eine junge Frau, die mit einem Papierstapel vorbeihastete.

»Guten Morgen«, erwiderte Mitch. »Ich habe um neun einen Termin bei Amos Patrick.«

Sie hatte ihn nur flüchtig gegrüßt und keine Hilfe angeboten. »Okay, ich gebe ihm Bescheid, aber es kann dauern«, sagte sie mit einem gestressten Lächeln, als hätte sie Besseres zu tun. »Heute Morgen läuft es richtig schlecht.« Dann war sie weg, ohne ihm einen Stuhl oder gar einen Kaffee anzubieten.

Er fragte sich, was es bedeuten mochte, wenn es »richtig schlecht« lief – hier, in einer Kanzlei, die sich nur mit Hinrichtungen befasste. Trotz der hohen Fenster, die viel Licht hereinließen, war die Atmosphäre angespannt und bedrückend, als ob die meisten Tage schon schlecht anfingen, wenn die Anwälte im ganzen Land in aller Früh ihren Wettlauf gegen die Zeit begannen. In einer Ecke standen drei Plastikstühle und ein Couchtisch, der mit alten Illustrierten bedeckt war. Eine Art Wartezimmer. Mitch setzte sich, holte das Handy heraus und fing an, seine E-Mails zu lesen. Um halb zehn vertrat er sich die Beine, beobachtete den Verkehr in der Summer Avenue, rief in der Kanzlei an, weil das von ihm erwartet wurde, und versuchte, sich nicht zu ärgern. In seiner eng durchgetakteten Welt war eine Verspätung von einer halben Stunde eine Seltenheit und erforderte eine angemessene Erklärung. Andererseits arbeitete er hier unentgeltlich und stellte seine Zeit ohnehin in den Dienst der guten Sache.

Um 9.50 Uhr kam ein sehr junger Mann in Jeans um die Ecke. »Hier entlang, Mr. McDeere«, sagte er.

»Danke.«

Mitch folgte ihm aus dem Ausstellungsraum an einer langen Theke vorbei, wo einem verblichenen Schild zufolge einmal Ersatzteile verkauft worden waren. Sie gingen durch eine breite Schwingtür, die zu einem Korridor führte. An einer geschlossenen Tür blieb der Junge stehen. »Amos erwartet Sie.«

»Danke.« Mitch hatte den Raum kaum betreten, als Amos Patrick, eine wilde Gestalt mit rebellischer grauer Mähne und ungepflegtem Bart, ihn in die Arme schloss. Nach der ungestümen Umarmung schüttelten sie sich die Hand und unterhielten sich über Belanglosigkeiten: Willie Backstrom, andere Bekannte, das Wetter.

»Hätten Sie gern einen Espresso?«, fragte Amos.

»Klar.«

»Einfach oder doppelt?«

»Was nehmen Sie?«

»Dreifach.«

»Dann einen doppelten.«

Amos lächelte und ging zu einer Theke mit einer hochkomplexen Espressomaschine, neben der verschiedene Sorten Bohnenkaffee und Tassen standen. Kaffee war für ihn offenbar eine ernste Angelegenheit. Er nahm zwei der größeren Tassen – Porzellan, keine Pappbecher –, betätigte verschiedene Tasten und wartete, dass der Mahlvorgang begann.

Sie setzten sich in eine Ecke des riesigen Büros, unter ein Rolltor, das in Schienen an der Decke lief, aber offensichtlich seit Jahren nicht geschlossen worden war. Mitch fiel auf, dass Amos’ Augen rot und verquollen waren.

»Ich fürchte, Sie sind umsonst gekommen, Mitch«, sagte Amos. »Es tut mir leid, aber Sie können nichts ausrichten.«

»Okay. Willie hat mich schon darauf vorbereitet.«

»O nein, das meine ich nicht. Es ist viel schlimmer. Heute früh wurde Tad Kearny in der Dusche gefunden, er hat sich mit einem Elektrokabel erhängt. Sieht so aus, als wäre er ihnen zuvorgekommen.« Amos’ Stimme brach, und er verstummte.

Mitch hatte es die Sprache verschlagen.

Amos räusperte sich. »Selbstmord nennen sie das«, sagte er mühsam, fast im Flüsterton.

»Tut mir leid.«

Lange Zeit saßen sie da und schwiegen, das einzige Geräusch war das Tropfen des Kaffees. Amos tupfte sich mit einem Papiertaschentuch über die Augen, erhob sich schwerfällig, holte die Tassen und stellte sie auf ein Tischchen. Dann ging er zu seinem überquellenden Schreibtisch, nahm einen Ausdruck und reichte ihn Mitch. »Das kam vor etwa einer Stunde hier an.«

Das Bild war schockierend – ein nackter, ausgezehrter Weißer hing in grotesker Haltung an einem Elektrokabel, das über eine freiliegende Wasserleitung geschlungen war und in das Fleisch an seinem Hals schnitt. Mitch warf einen Blick darauf, wandte sich ab und gab das Foto zurück.

»Verzeihen Sie«, sagte Amos.

»Wow.«

»Im Gefängnis ist das keine Seltenheit, aber im Todestrakt kommt so etwas eigentlich nicht vor.«

Erneut kehrte Schweigen ein, während sie ihren Espresso schlürften. Mitch hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, aber die Botschaft war klar: Der Selbstmord war verdächtig.

Amos starrte auf die Wand. »Ich mochte den Mann«, sagte er kaum hörbar. »Er war völlig durchgeknallt, und wir haben uns die ganze Zeit gestritten, aber ich konnte ihn verstehen. Ich habe schon vor Langem gelernt, dass es keinen Sinn hat, sich emotional auf Mandanten einzulassen, aber bei Tad konnte ich nicht anders. Der Junge hatte nie eine Chance im Leben, er war vom Tag seiner Geburt an zum Scheitern verurteilt. Damit war er allerdings keine Ausnahme.«

»Warum hat er Ihnen das Mandat entzogen?«

»Er hat mich immer wieder mal gefeuert. Es war geradezu ein Witz. Tad war gewieft und hat sich selbst Rechtskenntnisse angeeignet, bis er dachte, er weiß mehr als jeder Anwalt. Aber ich habe ihn nicht aufgegeben. Sie wissen, wie das ist. Es ist schwer, sich von der Verzweiflung dieser Menschen nicht auffressen zu lassen.«

»Ich habe selbst zwei verloren.«

»Ich zwanzig, jetzt einundzwanzig – aber Tad wird immer was Besonderes bleiben. Ich habe ihn acht Jahre lang vertreten, und in dieser Zeit hat er nicht ein einziges Mal Besuch bekommen. Keine Freunde, keine Familie, nur ich und ein Geistlicher. Das ist echte Einsamkeit. Ein Leben hinter Gittern mit niemandem in der Außenwelt, bis auf einen Anwalt. Sein Geisteszustand verschlechterte sich über die Jahre, und bei meinen letzten Besuchen sagte er kein Wort mehr. Dann wieder schrieb er mir fünfseitige Briefe mit Gedanken und Ausführungen, die so absurd waren, dass sie allein schon als Beweis für eine Schizophrenie hätten reichen müssen.«

»Sie haben es doch mit Schuldunfähigkeit versucht.«

»Versucht, ja, aber ohne Erfolg. Die Staatsanwaltschaft hat keinen Millimeter nachgegeben, und die Gerichte hatten kein Mitgefühl. Wir haben alles versucht, und bis er vor einigen Monaten leider beschlossen hat, seine Anwälte zu feuern, hatten wir zumindest noch eine Chance.«

»War er schuldig?«

Amos trank einen Schluck und wiegte langsam den Kopf. »Sagen wir so: Die Fakten haben nicht gerade für ihn gesprochen. Ein Drogenkurier, der bei einer Razzia mit Cops aneinandergerät, von denen drei in den Kopf geschossen wird und die praktisch sofort tot sind. Das kommt bei den Geschworenen nicht gut an. Die Beratung dauerte gerade einmal eine Stunde.«

»Also hat er sie getötet?«

»O ja, zwei von ihnen durch einen Schuss in die Stirn aus zwölf Meter Entfernung. Dem Dritten wurde ins Kinn geschossen. Sie müssen wissen, Tad war ein hervorragender Schütze. Er wuchs mit Waffen auf, sie waren allgegenwärtig – in jedem Auto und Pick-up, jedem Schrank, jeder Schublade. Als Kind konnte er Ziele mit verbundenen Augen treffen. Die Cops haben dem Falschen eine Falle gestellt.«

Mitch brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen. »Eine Falle?«

»Das ist eine lange Geschichte, Mitch, deswegen bekommen Sie von mir die Kurzfassung. Damals in den Neunzigerjahren gab es eine Gruppe von Beamten der Drogenfahndung DEA, die auf eigene Faust agierten und den Krieg gegen die Drogen gewinnen wollten, indem sie die Schmuggler aus dem Weg räumten. Sie arbeiteten mit Informanten, Spitzeln und anderen zwielichtigen Gestalten zusammen und inszenierten Razzien. Wenn die Kuriere mit der Ware auftauchten, wurden sie kurzerhand getötet. Keine Scherereien mit Verhaftungen, Verhandlungen und solchem Zeug, schlicht Selbstjustiz, die bei den Behörden und der Presse bestens ankam. Eine höchst effiziente Methode, um Kuriere aus dem Verkehr zu ziehen.«

Mitch war sprachlos und beschloss, seinen Kaffee zu trinken und zuzuhören.

»Bis heute sind sie nicht aufgeflogen, daher weiß niemand, wie viele Kuriere sie in einen Hinterhalt gelockt haben. Ehrlich gesagt interessiert das auch keinen. Rückblickend sieht es so aus, als hätte ihre Begeisterung nachgelassen, als Tad drei ihrer Kumpel erschossen hat. Das Ganze ist gut dreißig Kilometer nördlich von Memphis passiert, an einer Übergabestelle mitten auf dem Land. Es gab einige Verdächtigungen, manche Anwälte zogen ihre eigenen Schlüsse, aber niemand wollte zu viele Fragen stellen. Die Drogenfahnder waren skrupellos und gewalttätig und befolgten nur ihre eigenen Regeln. Wer eingeweiht war, half fleißig mit, die Sache zu vertuschen.«

»Und Sie wussten davon?«

»Sagen wir, ich hatte Vermutungen, aber wir haben nicht genug Leute, um so etwas Unvorstellbares zu untersuchen. Ich bin vollkommen ausgelastet, mir läuft ständig die Zeit davon. Aber Tad wusste immer, dass es ein Hinterhalt gewesen war, und er stieß wilde Vorwürfe aus, als er uns feuerte. Ich glaube, er spürte einer Sache nach. Andererseits war der arme Junge psychisch so gestört, dass man ihn nur schwer ernst nehmen konnte.«

»Wie stehen die Chancen, dass es kein Selbstmord war?«

Amos knurrte etwas und putzte sich mit dem Ärmel die Nase ab. »Ich würde gutes Geld – und das ist bei mir Mangelware – darauf verwetten, dass Tad nicht durch eigene Hand gestorben ist. Vermutlich wollten die Behörden dafür sorgen, dass er den Mund hält, bis er im Juli ordnungsgemäß hingerichtet wird. Das werden wir nie erfahren, weil es bei der Untersuchung, wenn man es so nennen kann, nur darum gehen wird, dass alle eine weiße Weste behalten. Es gibt keine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, Mitch. Ein Toter mehr, und keinen interessiert es.« Er schniefte und fuhr sich erneut über die Augen.

»Das tut mir leid.« Mitch war überrascht, dass ein Anwalt, der zwanzig Mandanten durch Hinrichtung verloren hatte, so emotional werden konnte. Wurde man im Laufe der Zeit nicht abgehärtet? Er hatte nicht vor, es herauszufinden. Seine Zeit in dieser Nische ehrenamtlicher Arbeit war soeben zu Ende gegangen.

»Mir auch, Mitch – jetzt sind Sie ganz umsonst hergekommen.«

»Macht nichts. Zumindest kenne ich jetzt Sie und Ihre Kanzlei, das war es wert.«

Amos deutete auf das Rolltor. »Was halten Sie davon? Welcher Anwalt praktiziert schon in einem alten Pontiac-Händlerbetrieb? In New York gibt es das bestimmt nicht.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Probieren Sie es aus. Bei uns ist eine Stelle frei, letzte Woche hat jemand gekündigt.«

Mitch schmunzelte und hätte fast laut gelacht. Das Angebot in allen Ehren, aber das Gehalt war wahrscheinlich nicht einmal genug, um die Steuern auf seine Immobilie in Manhattan zu bezahlen. »Danke, aber in Memphis habe ich es schon einmal versucht.«

»Ich erinnere mich. Die Bendini-Geschichte war hier eine Zeit lang in aller Munde. Eine ganze Kanzlei fliegt auf, und alle wandern ins Gefängnis. Wer könnte das vergessen? Aber Ihr Name ist selten gefallen.«

»Ich hatte Glück und habe mich rechtzeitig abgesetzt.«

»Und Sie haben nicht vor zurückzukommen.«

»Richtig – ich werde nicht zurückkommen.«

4

Von seinem Mietwagen aus rief Mitch seine Sekretärin an und bat sie, die Reisepläne zu ändern. Den Direktflug nach LaGuardia am Morgen hatte er verpasst. Umsteigen würde Stunden dauern und ihn kreuz und quer durch das Land führen. Um 17.20 Uhr ging ein Direktflug von Nashville, und sie buchte ein Ticket für ihn. Die Fahrt zum Flughafen passte bestens zu der Idee, die ihm durch den Kopf ging.

Der Verkehr wurde dünner, und als Memphis hinter ihm lag, überkam ihn ein unerwartetes Hochgefühl. Ein erschütterndes Erlebnis war ihm erspart geblieben, und die Hintergrundgeschichte mit den kriminellen Drogenfahndern allein reichte, um Magengeschwüre zu bekommen, wenn nicht mehr. Er hatte sich für das Team geopfert, und Willie Backstrom schuldete ihm dafür einen riesigen Gefallen. Doch jetzt ließ er Memphis erneut hinter sich, diesmal ohne dass ihm jemand auf den Fersen war.

Da er jede Menge Zeit hatte, blieb er auf zweispurigen Landstraßen und genoss die friedliche Fahrt. Er ignorierte mehrere Anrufe aus New York, meldete sich bei Abby und trödelte mit achtzig Stundenkilometern dahin. Sumrall lag zwei Stunden östlich von Memphis, eine Stunde westlich von Nashville. Die Stadt war der Verwaltungssitz des County und mit achtzehntausend Einwohnern relativ groß für diesen Teil der ländlichen Südstaaten. Er folgte den Wegweisern und erreichte bald die Main Street, die den Stadtplatz auf einer Seite begrenzte. Mitten auf dem Platz erhob sich ein schönes Gerichtsgebäude aus dem 19. Jahrhundert, das von Statuen, Pavillons, Denkmälern und Sitzbänken im Schatten massiger Eichen umgeben war.

Mitch parkte vor einem Bekleidungsgeschäft und ging um den Platz herum. Wie überall gab es hier jede Menge Rechtsanwälte und kleine Kanzleien. Wieder einmal fragte er sich, warum sein ehemaliger Kollege dieses Leben gewählt hatte.

Kennengelernt hatten sie sich in Mitchs drittem Studienjahr in Harvard, als im Spätherbst wie üblich die renommiertesten Kanzleien der Welt zur Hochschule pilgerten und die Absolventen zu sich einluden, damit sie ihnen ihr wunderbares Angebot präsentieren konnten. Die Rekrutierungsrunde war nicht die Belohnung für harte Arbeit, wie sie ein Jurastudium an jeder Hochschule erforderte, sondern dafür, dass die Kandidaten das Glück gehabt hatten, in Harvard angenommen zu werden. Für einen Jungen aus einfachen Verhältnissen wie Mitch war die Rekrutierung besonders aufregend, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Geld witterte.

Lamar war für das wichtige jugendliche Image mitgenommen worden, weil er nur sieben Jahre älter war als Mitch. Er und seine Frau Kay hatten die McDeeres bei ihrer Ankunft in Memphis sehr freundlich aufgenommen.

In den letzten fünfzehn Jahren hatte es keinen Kontakt gegeben. Das Internet machte es leicht, Menschen aufzuspüren, vor allem wenn es sich um Anwälte handelte, die – ganz unabhängig von ihrem Erfolg oder Misserfolg – jede Art von Aufmerksamkeit genossen. Sie kurbelte das Geschäft an. Lamars Website war sehr schlicht, ebenso wie seine Kanzlei mit ihrem belanglosen Angebot: Verträge, Testamente, einvernehmliche Scheidungen, Immobiliengeschäfte und natürlich Personenschäden. Jeder Kleinstadtanwalt träumte davon, dass ein lohnender Autounfall bei seiner Kanzlei landete.

Unannehmlichkeiten wie die Anklage gegen Lamar, seine Verurteilung, sein Geständnis und die nachfolgende Gefängnisstrafe fanden keine Erwähnung.

Lamars Büro befand sich über einem Geschäft für Sportartikel. Mitch stapfte die knarrenden Stufen hinauf, holte tief Luft und öffnete die Tür. Eine dicke Frau hinter einer Schreibmaschine stutzte und lächelte ihn freundlich an. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen. Ist Lamar da?«

»Er ist bei Gericht.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Gerichtsgebäude.

»Eine Verhandlung?«

»Nein, nur ein kurzer Termin. Es dürfte nicht lange dauern. Kann ich Ihnen helfen?«

Mitch gab ihr eine Visitenkarte von Scully. »Mein Name ist Mitch McDeere. Vielleicht erwische ich ihn drüben. Welcher Gerichtssaal?«

»Es gibt nur einen. Erster Stock.«

»Alles klar. Danke.«

Es war ein schöner Saal der alten Art: dunkle Holzverkleidung, hohe Fenster, Porträts längst verstorbener weißer, natürlich männlicher Würdenträger an den Wänden. Mitch betrat den Raum leise und setzte sich in die letzte Reihe. Er war der einzige Zuschauer. Der Richter war schon weg, und Lamar unterhielt sich mit einem anderen Anwalt. Als er Mitch bemerkte, stutzte er, sprach aber weiter. Nach dem Abschluss des Gesprächs ging er langsam durch den Mittelgang zum Ende der Reihe.

Sie musterten sich einen Augenblick, bevor Lamar fragte: »Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin auf der Durchreise.« Das war Unsinn. Niemand bei klarem Verstand reiste durch ein Provinznest wie Sumrall.

»Noch einmal: Was machen Sie hier?«

»Ich war seit gestern Abend wegen eines Termins in Memphis, aber das hat sich erledigt. Mein Flug geht in ein paar Stunden von Nashville, deswegen bin ich mit dem Auto unterwegs. Ich dachte, ich schaue mal vorbei.«

Lamar hatte so viele Haare verloren, dass er kaum wiederzuerkennen war. Was noch übrig war, war grau. Wie viele Männer versuchte er, das schüttere Kopfhaar durch einen dichten Bart auszugleichen. Aber der Bart war, wie nicht anders zu erwarten, ebenfalls grau und ließ ihn noch älter wirken. Er ging durch die Reihe vor Mitch, blieb in drei Meter Abstand stehen und lehnte sich gegen die Bank. Ein Lächeln hatte er sich bisher nicht abgerungen. »Wollten Sie über was Bestimmtes sprechen?«

»Eigentlich nicht. Ich denke ab und zu an Sie und wollte nur Hallo sagen.«

»Hallo. Wissen Sie, Mitch, ich denke auch an Sie. Ihretwegen habe ich siebenundzwanzig Monate in einem Bundesgefängnis gesessen, das bleibt einem im Gedächtnis.«

»Sie haben siebenundzwanzig Monate in einem Bundesgefängnis gesessen, weil Sie sich bereitwillig an einer Verabredung zur Begehung von Straftaten beteiligt haben, in die ich hineingezogen werden sollte. Ich bin davongekommen, aber nur um Haaresbreite. Wenn Sie mir das verübeln – das beruht auf Gegenseitigkeit.«

Im Hintergrund ging eine Justizangestellte am Richtertisch vorbei. Sie beobachteten sie und warteten, bis sie verschwunden war, bevor sie sich wieder mit Blicken durchbohrten.

Lamar zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Okay, da haben Sie nicht unrecht. Ich hatte eine Strafe verdient. Die Sache ist für mich erledigt.«

»Ich will keinen Ärger machen. Ich hatte gehofft, wir könnten ein freundschaftliches Gespräch führen und Frieden schließen.«

Lamar holte tief Luft. »Wenn das alles ist, Respekt, dass Sie sich hergewagt haben. Ich dachte, ich sehe Sie nie wieder.«

»Ging mir genauso. Sie waren damals der einzige Kollege, mit dem ich auf einer Wellenlänge war. Wir hatten eine gute Zeit zusammen, trotz des ganzen Drucks. Abby und Kay haben sich auf Anhieb verstanden. Wir denken gern an Sie zurück.«

»Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Wir haben alles verloren und immer das Gefühl gehabt, dass wir das Ihnen zu verdanken haben, Mitch.«

»Die Kanzlei war am Ende, Lamar, das wissen Sie. Das FBI war der Firma schon auf den Fersen. Mich haben sie gewählt, weil ich neu war und sie dachten, ich wäre das schwächste Glied.«

»Und sie hatten recht.«

»Allerdings. Da ich mir nichts vorzuwerfen hatte, habe ich beschlossen, meinen Hals zu retten. Ich habe kooperiert und bin um mein Leben gerannt. Nicht einmal das FBI hat mich gefunden.«

»Wo waren Sie?«

Mitch lächelte und erhob sich langsam. »Das ist eine lange Geschichte. Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?«

»Nein, aber wir können uns irgendwo einen Tisch suchen.«

Im ersten Lokal am Stadtplatz saßen »zu viele Anwälte«, wie Lamar sagte. Sie gingen einen Block weiter und fanden einen Tisch in einem Sandwich-Imbiss im Keller eines alten Eisenwarengeschäfts. Jeder bezahlte sein Essen selbst. Sie setzten sich in eine ruhige Ecke.

»Wie geht es Kay?«, fragte Mitch. Er ging davon aus, dass sie noch verheiratet waren. Eine flüchtige Internetsuche hatte keine Hinweise auf eine Scheidung in den letzten zehn Jahren ergeben. Von Zeit zu Zeit erinnerte Mitch sich an ein Gesicht oder einen Namen von damals und schnüffelte ein paar Minuten lang im Internet herum. Nach fünfzehn Jahren ließ seine Neugier jedoch immer mehr nach. Er schrieb nichts auf und führte keine Akte.

»Es geht ihr gut, sie verkauft Medizinprodukte. Läuft bestens. Und Abby?«

»Ebenfalls. Sie ist Lektorin bei einem Verlag in New York.«

Lamar biss von seinem Wrap mit Putenstreifen ab und nickte wissend. Epicurean Press, leitende Lektorin, Expertin für Essen und Weine aus Italien. Er war in einer Buchhandlung in Nashville auf einige ihrer Bücher gestoßen und hatte darin geblättert. Im Gegensatz zu Mitch führte er eine Akte. Scully-Partner. Weltweit tätiger Anwalt.