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Sie muss ihren Thron verteidigen – gegen den Mann, den sie liebt: der große Historienroman »Die Erbin der Krone« von Ellen Jones als eBook bei dotbooks. Die Normandie im 12. Jahrhundert – eine Zeit von Verrat, Prunk und grenzenlosem Ehrgeiz: Als Mathilde im jungen Alter den Thron besteigen muss, fühlt sie sich ihrem Schicksal nicht gewachsen – und weiß doch, dass ihr keine andere Wahl bleibt, als die Krone der Normannenkönige anzunehmen. Doch für die Macht zahlt sie einen hohen Preis: Ihr Geliebter, Stephan von Blois, wendet sich mitsamt seiner Gefolgschaft gegen sie – denn als Neffe des Königs sieht er sich im Recht, das Land mit eiserner Hand zu regieren. Plötzlich werden aus einstigen Vertrauten erbitterte Feinde, stehen sich Brüder und Schwestern unversöhnlich gegenüber. Mathilde muss den schwersten Kampf ihres Lebens führen: einen Kampf um ihren Ruf, ihr Erbe – und ihre Liebe … Ellen Jones erzählt farbenprächtig und mitreißend das Leben der historischen Kaiserin Matilda, der ersten Königin Englands, deren Geschichte TV-Produktionen wie »House of the Dragon« inspiriert hat: »Ein leidenschaftlicher Roman«, urteilt Kirkus Review. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der prachtvolle historische Roman »Die Erbin der Krone« – ein Lesevergnügen für alle Fans der Bestseller von Elizabeth Chadwick und Philippa Gregory! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 969
Über dieses Buch:
Die Normandie im 12. Jahrhundert – eine Zeit von Verrat, Prunk und grenzenlosem Ehrgeiz: Als Mathilde im jungen Alter den Thron besteigen muss, fühlt sie sich ihrem Schicksal nicht gewachsen – und weiß doch, dass ihr keine andere Wahl bleibt, als die Krone der Normannenkönige anzunehmen. Doch für die Macht zahlt sie einen hohen Preis: Ihr Geliebter, Stephan von Blois, wendet sich mitsamt seiner Gefolgschaft gegen sie – denn als Neffe des Königs sieht er sich im Recht, das Land mit eiserner Hand zu regieren. Plötzlich werden aus einstigen Vertrauten erbitterte Feinde, stehen sich Brüder und Schwestern unversöhnlich gegenüber. Mathilde muss den schwersten Kampf ihres Lebens führen: einen Kampf um ihren Ruf, ihr Erbe – und ihre Liebe …
Ellen Jones erzählt farbenprächtig und mitreißend das Leben der historischen Kaiserin Matilda, der ersten Königin Englands, deren Geschichte TV-Produktionen wie »House of the Dragon« inspiriert hat: »Ein leidenschaftlicher Roman«, urteilt Kirkus Review.
Über die Autorin:
Ellen Jones wurde in New York City geboren, studierte Schauspiel und begann ihre schriftstellerische Karriere mit dem Schreiben von Theaterstücken. Sie lebte mehrere Jahre in London, und entdeckte in dieser Zeit ihr Interesse an der Geschichte Englands und Frankreichs, die sie in ihren großen historischen Romanen über die Dynastie Heinrichs II. verarbeitete. Ellen Jones lebt in Los Angeles.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin außerdem ihren großen historischen Roma »Die Königin und die Hure«.
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eBook-Neuausgabe Januar 2024
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1991 unter dem Originaltitel »Fatal Crown« bei Simon & Schuster, New York.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1991 by Ellen Jones
Translated from the English language: FATAL CROWN
First published in the U.S. by Simon & Schuster
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 Rütten & Loening, Berlin GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Beto Chagas, Sundraw Photography, Edith Ross
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98952-001-1
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Ellen Jones
Die Erbin der Krone
Historischer Roman
Aus dem Amerikanischen von Hans Freundl
dotbooks.
Im frühen Mittelalter gab es in England noch keine Erbmonarchie. Eroberungszüge, dynastische Verbindungen und das Einverständnis des Hochadels spielten eine wichtige Rolle bei der Entscheidung darüber, wer den Königstitel zuerkannt bekommen sollte. Noch ein Jahrhundert bevor die Handlung dieses Romans einsetzt, wurde der Thron gewöhnlich durch Waffengewalt erobert.
1066 setzte Herzog Wilhelm von der Normandie nach England über, brachte dem Sachsenkönig Harold in der Schlacht bei Hastings eine vernichtende Niederlage bei und erhob nach dem Recht des Eroberers Anspruch auf den englischen Thron. Als König Wilhelm I. 1087 starb, folgte ihm in England sein zweitgeborener Sohn Wilhelm Rufus nach, in der Normandie sein ältester Sohn Robert. Sein jüngster Sohn Heinrich erhielt Silber, aber kein Land. Robert, der Herzog der Normandie, kämpfte gegen seinen Bruder um den englischen Thron, hatte aber keinen Erfolg.
Im Jahre 1100 starb König Wilhelm Rufus bei einem Jagdunfall unter ungeklärten Umständen. Da sein älterer Bruder Robert zu dieser Zeit außer Landes weilte, weil er am ersten Kreuzzug teilnahm, konnte sich Heinrich, der jüngere Bruder, des Thrones bemächtigen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Es tauchten zwar Gerüchte auf, Heinrich sei am Tod seines Bruders nicht ganz unschuldig gewesen, habe ihn vielleicht sogar selbst arrangiert, doch dies konnte nie bewiesen werden. Auch noch neun Jahrhunderte später diskutieren Historiker über diese Frage. Christopher Brooke, ein berühmter britischer Geschichtswissenschaftler, faßte es folgendermaßen zusammen: Sollte der Tod von Wilhelm Rufus im August 1100 tatsächlich ein Unfall gewesen sein, dann war Heinrich I. außerordentlich vom Glück begünstigt.i
1106 unternahm Heinrich einen Vorstoß in die Normandie, besiegte seinen Bruder Robert, ließ ihn lebenslänglich einkerkern und wurde dadurch sowohl Herzog der Normandie als auch König von England, wie es auch schon sein Vater gewesen war.
Heinrich heiratete Mathilde, eine schottische Prinzessin aus der alten sächsischen Königslinie, und hatte mit ihr drei Kinder. Eines davon starb im Kindesalter, die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, die Zwillinge waren, überlebten. Heinrich I. zeugte zwar noch zahlreiche Bastarde, doch die Zwillinge, deren Abstammung väterlicherseits auf Wilhelm den Eroberer zurückreichte, blieben seine einzigen legitimen Kinder. Sein Sohn Wilhelm würde den englischen Thron wie auch das Herzogtum Normandie erben. Doch falls diesem etwas zustoßen sollte, wer käme dann als Nachfolger in Frage?
Bei dieser Geschichte handelt es sich um einen Roman, der auf einem realen historischen Hintergrund beruht. Die Personen haben, bis auf wenige Ausnahmen, wirklich gelebt und besitzen ihren Platz in der Geschichte. Viele der geschilderten Ereignisse haben tatsächlich stattgefunden; andere, die nur gerüchteweise überliefert wurden, lassen sich historisch nicht verifizieren. Die chronologische Abfolge der Ereignisse im 12. Jahrhundert wird von den Historikern unterschiedlich dargestellt. Um die Geschichte flüssig erzählen zu können, habe ich mir gelegentlich erlaubt, mit Daten, Örtlichkeiten und Geschehnissen etwas freizügiger umzugehen.
Das Haus Normandie
Mathilde
Tochter Heinrichs I.
Heinrich I.
König von England und Herzog der Normandie, jüngster Sohn Wilhelms des Eroberers
Adelicia von Louvain
zweite Ehefrau Heinrichs I.
Aldyth
angelsächsische Amme und Mathildes Patentante
Das Haus Gloucester
Robert
Graf von Gloucester, unehelicher Sohn Heinrichs I.
Mabel von Glenmorgan
Roberts Gemahlin
Wilhelm und Philipp
zwei ihrer Söhne
Das Haus Blois
Stephan
dritter Sohn von Adela, einer Tochter Wilhelms des Eroberers
Matilda von Boulogne
Stephans Gemahlin
Eustace
Stephans Sohn
Das Haus Anjou
Gottfried
Graf von Anjou und Maine
Heinrich
sein ältester Sohn
Das Haus Schottland
David
König von Schottland
Das Haus Muelan
Die Beaumont-Zwillinge:
Waleran
Graf von Muelan
Robert (»Robin»)
Graf von Leicester
Weitere Personen
Brian FitzCount
Lord von Wallingford, unehelicher Sohn des Grafen der Bretagne
Miles FitzWalter
Sheriff von Gloucester
Ranulf
Graf von Chester
Kirchliche Würdenträger
Heinrich von Blois
Stephans jüngerer Bruder, Abt von Glastonbury, später Bischof von Winchester und päpstlicher Legat
Roger
Bischof von Salisbury, oberster Ratgeber Heinrichs I.
Theobald von Bec
Erzbischof von Canterbury
Ulgar
Bischof von Angers
Wilhelm von Corbeil
Erzbischof von Canterbury
Die Engel begleiten unsere Taten, ob gut oder böse, Sie sind unsere Schatten, die uns stets folgen.
Fletcher
Die Normannen sind ein ungestümes Volk und sorgen stets für Unruhe, sofern sie nicht durch eine strenge Regierung im Zaum gehalten werden. Sie dürsten nach Rebellion, sind erpicht auf Aufruhr und schrecken vor keiner Art von Vergehen zurück.
Orderic Vitalis
Mönch und Chronist
Alles zerfällt zu Nichts,
Wird alt und stirbt und findet sein Ende.
Menschen sterben, Eisen rostet, Holz verfault,
Türme stürzen ein, Mauern zerbröckeln, Rosen verwelken ...
Auch Namen haben keinen Bestand über das Grab hinaus,
Es sei denn, sie scheinen auf in den Büchern eines Gelehrten.
Es ist die Feder, die dem Menschen Unsterblichkeit verleiht.
Master Wace
Chronik der normannischen Herzöge
Normandie, im Jahre 1125
Nach einer einmonatigen Reise quer durch Europa erreichte die königliche Reisegesellschaft mit ihren Sänften, Packpferden und Karren das Lager des Königs in der Normandie. Mathilde stieg aus ihrer Sänfte auf eine üppige grüne Wiese hinunter und blickte sich neugierig um. Von diesem Land aus war ihr Großvater Wilhelm, den man den Eroberer nannte, vor neunundfünfzig Jahren aufgebrochen, um nach England zu segeln. Ihr Blick wanderte über einen schmalen Fluß auf das gegenüberliegende Ufer. Dort konnte sie durch den Morgennebel eine Ansammlung bunter Zelte erkennen. Auf einem scharlachroten Zelt, das größer war als die übrigen und vor dem es von Rittern, Bogenschützen und Knappen wimmelte, flatterte ein rotgoldenes Banner stolz im Wind: die Standarte ihres Vaters Heinrich, König von England und Herzog der Normandie.
Mit ihren schlanken, beringten Fingern schlug Mathilde die Kapuze ihres schwarzen Morgenumhangs zurück. Zorn und Bewunderung kämpften wie zwei ineinander verbissene Schlangen in ihrer Brust. Mit neun Jahren hatte man sie vom Hof ihres Vaters entfernt und in Deutschland mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches vermählt. Nun, vierzehn Jahre später, war der Kaiser tot, und ihr Vater hatte sie wieder zu sich gerufen, obgleich sie sich dagegen gesträubt hatte. Während sie gebannt auf das Zelt des Königs starrte, wurde Mathilde klar, daß sich ihr künftiges Schicksal hinter diesen scharlachroten Stoffwänden entscheiden würde.
Als sie hinter sich das Geräusch von Pferdehufen vernahm, wandte sie sich um und erblickte eine Gruppe aufwendig gekleideter Adeliger, die über die steinerne Brücke ritten. Sie wollten vermutlich zum Lager des Königs, dachte sie, um sie dort zu begrüßen. Mathilde wurde von einem tiefen Gefühl der Vergeblichkeit erfaßt und vermochte dem Drang zu weinen, sich ihrer Verzweiflung zu ergeben, kaum noch standzuhalten. Nein, ermahnte sie sich, sie durfte jetzt nicht das geringste Anzeichen von Schwäche erkennen lassen. Niemand sollte merken, wie verloren und verletzlich sie sich fühlte, wie sehr sie sich vor dem Zusammentreffen mit ihrem Vater fürchtete, der ein Fremder für sie geworden war und den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte.
Ein platschendes Geräusch, dem eine plötzliche Bewegung im grünen Schilf am Ufer des Flusses folgte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie suchte mit den Augen das Ufer ab, konnte aber nichts entdecken. Ein leiser Schauer durchlief sie. Bildete sie es sich nur ein, oder lag hier tatsächlich im Schilf jemand auf der Lauer und beobachtete sie? Sie wußte, es wäre am besten, wenn sie zu ihrem Zelt zurückkehren und sich für die Begegnung mit ihrem Vater zurechtmachen würde, doch sie fühlte sich von diesem Schilfbüschel angezogen.
Nachdem sie einen halb schuldbewußten, halb herausfordernden Blick über ihre Schulter geworfen hatte, legte Mathilde ihren Umhang ab und ging auf das Flußufer zu. Ihre Füße sanken auf dem nassen Boden ein, und sie beugte sich hinunter, um sich zuerst die Schuhe, dann auch die schwarzen Strümpfe auszuziehen. Es war ein wunderbares Gefühl, mit nackten Füßen über das feuchte Gras zu gehen. Unmittelbar am Ufer blieb sie stehen.
Das Schilf teilte sich langsam, und vor Mathildes erstaunten Augen erhob sich ein nackter Mann vom Boden. Einen Augenblick lang glaubte sie, auf einen Waldgott gestoßen zu sein, den legendären Gott Pan aus der griechischen Sage, die man ihr einmal erzählt hatte. Sie erblickte breite Schultern; feuchtes honigfarbenes Haar umrahmte ein markantes Gesicht mit hohen Backenknochen, einem geschwungenen Mund und einem gespaltenen Kinn. Unter goldbraunen Augenbrauen, die wie die Flügel eines Falken geformt waren, blickten grüne, goldgesprenkelte Augen hervor, die sich mit den ihren trafen. Mathildes Herz raste; Gefahr, Angst, Aufregung – sie wußte nicht, welche Empfindung in ihr überwog. Nachdem sie sich ihrer Situation plötzlich voll bewußt geworden war, stockte ihr der Atem. Dieser Augenblick, der in ihr nachhallte wie der Glockenschlag einer Kathedrale, warf sie zurück in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.
England, im Jahre 1111
Mathilde, die Prinzessin von England, drückte sich an die feuchten Steinmauern der Burg ihres Vaters. Der dicke kleine Schoßhund Beau klammerte sich an sie und knurrte leise. Hinter der Biegung des schmalen Ganges hörte sie die unheilverkündenden Tritte von Stiefeln, die näher kamen. Das mußte einer der Wächter sein.
Wo konnte sie sich verstecken? Wenn niemand sie fand, dann, so dachte sie und faßte plötzlich wieder Hoffnung, würde die kaiserliche Eskorte Windsor ohne sie verlassen. Heilige Muttergottes, betete sie, bitte laß nicht zu, daß sie mich nach Deutschland bringen, um dort verheiratet zu werden. Vorsichtig spähte sie den immer noch leeren Korridor entlang und sah, daß die mit Nägeln verzierte Eichentür des Söllers ihrer Mutter einen Spalt offenstand. Mathilde lief darauf zu, stieß die Tür weiter auf und schlüpfte hinein. Ihr Blick flog über die geöffneten Flügelfenster, die goldenen und scharlachfarbenen Tapisserien, die königlichen Wappen an den Wänden, den Betschemel und das elfenbeinerne Kruzifix. Der Raum war leer.
Die Enttäuschung, die sich ihrer bemächtigte, war so groß, daß es in ihrem Kopf zu hämmern begann. Aber was hatte sie auch anderes erwartet? Wann hatte ihre Mutter, die Königin von England, ihr schon einmal eine Zuflucht geboten? Doch zumindest heute, an diesem bislang schrecklichsten Tag in ihrem neunjährigen Leben, hatte sie gehofft, es würde anders sein.
Die Schritte verharrten genau vor dem Söller. Mathilde schoß zu den Tapisserien und schlüpfte gerade zwischen die Falten, als jemand die Tür aufstieß. In ihrer Panik verbarg sie ihr Gesicht in Beaus seidenem Pelz.
»Mathilde! Wo bist du, mein Kind?« Mathilde zuckte zusammen, als sie Aldyths ängstliche Stimme vernahm. Aldyth, eine entfernte Verwandte ihrer angelsächsischen Mutter, hatte sie seit ihrer Geburt als Amme und Pflegemutter betreut. »Ich weiß, daß du hier bist, ein Wächter hat gesehen, wie du die Tür aufgemacht hast. Mathilde! Komm sofort heraus!«
Mathildes Herz klopfte so laut, daß sie glaubte, Aldyth müsse es hören. Der Schoßhund, der sich zu befreien versuchte, gab ein scharfes Bellen von sich. Schritte näherten sich den Tapisserien.
»Da bist du ja!« Aldyths kräftige Arme griffen hinter den Wandbehang und zogen Mathilde hervor. »Was soll denn das bedeuten? Die kaiserliche Eskorte möchte nach Deutschland aufbrechen, und ich kann den König nicht länger hinhalten.« Sie machte eine Pause. »Er hat damit gedroht, dich auszupeitschen.«
Aldyth musterte Mathilde mit kritischem Blick. Das dichte zimtfarbene Haar, das durch eine vergoldete Schleife zusammengehalten wurde, fiel in zwei Zöpfen auf ihre winzige Brust hinunter und umrahmte ihr weißes ovales Gesicht. Unter den dunklen Brauen blickten helle, leuchtende Augen Aldyth ängstlich entgegen. Der schmächtige Körper, der in dem safrangelben Kleid und dem bernsteinfarbenen Samtjäckchen fast verschwand, war starr vor Angst. Aldyth setzte eine freundlichere Miene auf und gab glucksende Geräusche von sich, während sie Mathildes Kleid glattstrich.
»Fang ja nicht an zu weinen, mein Kind. Mit dem König ist heute morgen nicht zu spaßen. Gib mir das Tier.« Sie löste das Schoßhündchen aus Mathildes Griff und setzte es auf den Boden. »Komm.« Sie streckte eine Hand aus.
Mathilde drückte sich an die Wand. »Ich will nicht weg aus England, Aldyth. Könnt Ihr denn keinen Weg finden, daß ich bleiben kann?«
»Was ist denn in dich gefahren, Kleines? Du weißt doch schon seit Monaten, daß du im April abreisen sollst. Die Verlobung findet nächsten Monat statt.«
Mathilde starrte sie stumm an. Das stimmte. Sie hatte gewußt, sie würde nach Deutschland reisen müssen, um mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches verlobt zu werden, einem Mann, der ungefähr so alt war wie ihr Vater. Sie wußte es, seit dessen Sendboten vor einem Jahr am englischen Hof angekommen waren und um ihre Hand angehalten hatten. Dieses Angebot war ihr gegenüber als eine große Ehre für das Haus Normandie dargestellt worden. Damals hatte sie die Aussicht, eines Tages in ein fernes Land zu kommen, noch als aufregend empfunden, als ein Abenteuer, das ihr Überlegenheit über ihren Zwillingsbruder Wilhelm verleihen würde, den Thronerben ihres Vaters, auf den sich stets die Aufmerksamkeit aller richtete. Doch nun, da der Augenblick der Abreise gekommen war, erfüllten sie Angst und tiefes Unbehagen.
»Komm jetzt, meine Kleine«, fuhr Aldyth mit schmeichelnder Stimme fort. »Gehen wir zu deinem Vater und sagen wir ihm, daß du jetzt reisefertig bist.« Sie streckte ihre fleischige Hand aus.
Mathildes Lippen begannen zu zittern. »Wo ist die Königin, meine Mutter?«
»Die Königin befindet sich in der Kapelle und betet, daß Gott dich auf deiner Reise beschützen möge.«
»Das einzige, was sie tut, ist beten«, murmelte Mathilde, die eine ungewohnte Verbitterung empfand, und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es ihrer Mutter gelungen war, Königin zu werden, wenn sie sich in allen Belangen wie eine Nonne verhielt. Wie hatte sie auch nur einen Moment lang hoffen können, die fromme Königin würde sie gegen ihren furchteinflößenden Vater beschützen?
Sie wußte, es war schändlich, solche Gedanken gegenüber ihrer Mutter zu hegen, doch in diesem Augenblick bekümmerte sie das nicht. Ihre zurückgehaltenen Tränen brachen plötzlich hervor.
»Bitte, bitte, schickt mich nicht fort!« stieß sie hervor. In ihrer Verzweiflung warf sie sich auf die neuen Schilfmatten auf dem Boden des Söllers. Das weiche Schilf, das mit Wildblumen gemischt war, kühlte ihre brennenden Wangen.
Plötzlich wurde die Tür des Söllers mit voller Wucht aufgestoßen. Heinrich, König von England und Herzog der Normandie, stapfte herein, während zwei Schoßhündchen nach seinen Fersen schnappten. Ihm folgten Prinz Wilhelm, sein einziger legitimer Sohn, und Robert, sein ältester unehelicher Sohn. Der König riß erzürnt die Augen auf, als er Mathilde, auf dem Boden kauernd, erblickte.
»Verdammt, Mädchen, was soll das? Steh sofort auf!«
Beschämt erhob sich Mathilde rasch und säuberte ihren Rock. Ihr Vater, dessen massige Gestalt in einem dunkelbraunen Obergewand und gleichfarbigen Beinkleidern steckte und der die Krone von England auf seinem Haupt trug, verschränkte seine kräftigen Arme vor der breiten Brust.
»Was bezweckst du mit diesem ungebührlichen Verhalten?« In seiner weichen Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton mit. »Der Botschafter des Kaisers, Graf von Hennstien, beginnt schon ungeduldig zu werden.«
»Ich will nicht nach Deutschland, Sire«, stieß Mathilde mit erstickter Stimme hervor.
»Du willst nicht?« Heinrich wandte sich zu den beiden Jungen um. »Habt ihr das gehört, meine Söhne? Ich besorge eurer Schwester die beste Partie, die das christliche Abendland zu bieten hat, und dieses undankbare Geschöpf weigert sich zu gehen?«
Heinrich fuhr herum und funkelte Mathilde an. »Worin, in Gottes Namen, besteht das Problem? Hast du Angst vor der Hochzeit? Ich habe dir schon mehrmals erklärt, daß sie erst vollzogen werden wird, wenn du dreizehn bist, aber die Verlobungszeremonie wird schon seit Mai letzten Jahres vorbereitet. Diese Pläne können jetzt nicht mehr umgestoßen werden.«
Er hakte seine Daumen in den breiten Ledergürtel, den er um seine Hüften trug, und begann, im Söller umherzugehen. Er wanderte zu dem Betschemel mit dem blaßblauen Kissen, drehte sich um und kehrte zu Mathilde zurück. Die beiden Schoßhündchen tollten hinter ihm her, und Mathildes Hündchen, das jüngste des Wurfes, schloß sich ihnen an.
»Ich will nicht von zu Hause fort«, flüsterte Mathilde. »Ich bitte Euch, laßt mich hier in England bleiben.«
»Wo steckt die Königin?« fragte Heinrich Aldyth, ohne auf Mathilde einzugehen. »Warum ist sie nicht hier, um sich um diese Angelegenheit zu kümmern? Warum bleiben solche Aufgaben immer an mir hängen?«
»Sie ist in der Kapelle, Sire«, erwiderte die Amme.
Der König wandte sich wieder Mathilde zu. »Diese Frage hätte ich mir sparen können. Wenn deine Mutter weniger Zeit damit verbringen würde, in der Kirche zu knien, und sich statt dessen damit befaßte, dir die Grundregeln richtigen Verhaltens beizubringen, dann wäre es für uns alle leichter!« Er machte einen entschlossenen Schritt auf sie zu, als wolle er sie für die Abwesenheit der Königin verantwortlich machen.
»Robert, bitte laß nicht zu, daß sie mich wegschicken.« Verzweifelt lief Mathilde zu ihrem Halbbruder, einem kräftigen jungen Mann von vierzehn Jahren, der tiefliegende dunkle Augen und braunes Haar hatte und wie eine freundlichere, jüngere Ausgabe seines Vaters wirkte. Zwischen ihnen beiden hatte sich eine tiefe Zuneigung entwickelt, nachdem Robert vor drei Jahren an den Hof gekommen war.
»Denk doch daran, wie schön du es dort haben wirst, Schwester«, meinte ihr Halbbruder, während er einen Arm um ihre Schultern legte.
»Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren«, sagte Heinrich. »Robert, hol mir eine Reitgerte aus dem Stall.«
Robert erbleichte. Er drückte seinen Arm schützend auf Mathildes Schultern. »Laßt mich mit Mathilde allein reden, Sire. Ich kann sie wieder zur Vernunft bringen.«
»Wir haben schon genug geredet. Ein ungehorsames Kind ist wie ein störrischer Esel. Man muß ihm beibringen, den Anweisungen zu folgen. Hol mir die Peitsche.«
»Ich werde sie holen, Vater.« Mathildes Zwillingsbruder Wilhelm, ein Junge mit flachsfarbenem Haar und blauen Augen, grinste seine Schwester gemein an, bevor er aus dem Söller lief.
»Willst du mich vor der kaiserlichen Eskorte beschämen? Mich zum Gespött ganz Europas machen? Bei Gott, ich werde dir eine Lektion erteilen, die du so schnell nicht vergessen wirst.«
Bei diesen Worten ihres Vaters verkrampfte sich Mathildes Magen; hilfesuchend klammerte sie sich an ihren Bruder.
Wilhelm kam mit einer kleinen Lederpeitsche zurück. »Hier, Sire.« Er schwang die Gerte mit einem triumphierenden Lächeln über seinem Kopf.
Solange sie sich erinnern konnte, wußte Mathilde, daß Wilhelm sie gehaßt hatte. Da es ihm mißfiel, daß er die Zuneigung des Königs mit einem Mädchen teilen mußte, das im Unterricht schneller lernte und sich bei Spielen als geschickter erwies als er, hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu drangsalieren, und hatte jeden ihrer unbeholfenen Versuche zurückgewiesen, seine Liebe zu gewinnen. Durch sein hämisches Grinsen gereizt, sprang Mathilde plötzlich auf Wilhelm zu und stieß ihn zu Boden. Die Gerte entglitt ihm, und er begann laut zu kreischen, als sie sich auf ihn stürzte. Mathilde schlug auf ihn ein, biß ihn, zog an seinen Haaren und schaffte es, in dem geröteten Gesicht ihres Bruders einige Kratzer zu hinterlassen, bevor Robert sie wegreißen konnte.
König Heinrich hob die Peitsche auf und ließ die Lederriemen auf seine Handfläche klatschen. »Komm her, Mädchen, diesen Dämon werden wir dir gleich austreiben.«
Mathilde klammerte sich mit all ihrer Kraft an Robert, doch Aldyth zerrte ihren verkrampften Körper über die Matten zum König. Wilhelm blieb schluchzend auf dem Boden liegen.
»Hör auf zu winseln, Wilhelm«, knurrte Heinrich. »Du solltest dich schämen, dich von einem Mädchen unterkriegen zu lassen. Wenn du nicht bald lernst, dich besser zu wehren, was wirst du dann später einmal für einen Prinzen abgeben?« Er warf seinem Sohn einen unfreundlichen Blick zu, bevor er murmelnd fortfuhr: »Ich habe es immer schon gesagt, Mathilde hätte eigentlich der Junge werden sollen.«
Wilhelm lief feuerrot an. Sein Schluchzen ebbte ab, als er sich aufrappelte und sich die Nase mit dem Ärmel seines verschmutzten Wamses abwischte. Haß stand in seinen blaßblauen Augen, als er zu seiner Schwester blickte.
Als sich der König ihr näherte, wich Mathilde langsam zurück. Heinrichs Hand schoß nach vorne und und packte ihre Schulter mit eisernem Griff. Sie krümmte sich, um sich ihm zu entwinden, lief zum Bett, stieß gegen einen Eichentisch und stürzte. Blitzschnell war ihr Vater bei ihr. Sie versuchte, unter den Tisch zu kriechen, doch seine schwarzen Stiefel versperrten ihr den Weg. Mathilde sah, wie sich sein Arm drohend hob, und hörte das Pfeifen der Gerte, als seine Hand heruntersauste. Als die Lederriemen auf ihrem Rücken auftrafen, durchfuhr sie ein stechender Schmerz.
Ihr Körper wurde nach unten, gegen ihre Knie gedrückt. Sie schrie nicht, sondern biß sich auf die Lippen, bis diese blutig wurden. Tränen traten in ihre grauen Augen und liefen ihre Wangen hinunter.
»Hör sofort auf zu weinen!« befahl Heinrich streng. »Eine Enkelin des Eroberers weint nicht, ganz gleich, was ihr widerfährt. Nie habe ich gesehen, daß meine Mutter Tränen vergossen hätte.«
Beau begann zu heulen. Heinrich griff nach unten, um den grauen Hundekopf zu tätscheln. Dann straffte er sich und hob den Arm erneut.
Mathilde schluckte krampfhaft und wischte sich die Tränen mit der Hand weg. Sie schloß die Augen fest, straffte ihre Schultern und bereitete sich auf den nächsten Hieb vor.
»Wie dumm Mathilde doch ist«, bemerkte Wilhelm zu Robert gehässig. »Will nicht Königin werden.«
Heinrich warf einen raschen Blick zu Wilhelm und schaute dann wieder auf Mathilde hinunter. Nach einem kurzen Augenblick senkte er seinen Arm langsam und ließ die Gerte auf seinen Schenkel klatschen. Er kauerte sich vor Mathilde nieder und zog ihr Kinn mit seinen kräftigen Fingern nach oben.
»Dein Bruder Wilhelm irrt sich, nicht wahr? Du willst schon Königin und Kaiserin werden?«
»Ja«, flüsterte sie und warf ihrem Bruder einen trotzigen Blick zu; sie war bereit, alles zuzugeben, was dazu beitrug, dem ekelhaften Wilhelm zu schaden.
Heinrich warf die Peitsche zur Seite, nahm langsam seine Krone ab und legte sie vorsichtig in ihre Hände. Die goldene Krone, die mit Saphiren und Rubinen bestückt war, fühlte sich schwer und kalt an.
»Viele Männer haben dafür gekämpft und sind gestorben, um diese Krone zu besitzen«, sagte er, während er seine Tochter unverwandt anblickte. »Dein Großvater, Wilhelm der Eroberer, hat sich diese Krone durch großes Blutvergießen und Leiden erkämpft. Schau sie dir genau an.« Er machte eine Pause, während Mathilde auf die Krone hinunterblickte. »Sie verkörpert Macht, Reichtum und Respekt. Alles, was zählt in dieser Welt. Wenn du einmal Kaiserin bist, wirst du auch eine solche Krone dein eigen nennen.«
Während die Augen aller Anwesenden auf sie gerichtet waren, drehte Mathilde die glänzenden Goldplatten in ihren Händen hin und her. Ein solch kleines Ding, das eine so große Bedeutung besaß.
»Dieses Angebot auszuschlagen wäre die größte Beleidigung, die man sich denken kann, Tochter.« Heinrich beugte sich zu ihr, seine Stimme wurde leiser und nahm einen beschwörenden Klang an. »Schließlich bist du dem Kaiser versprochen, und es wurden Vereinbarungen getroffen. Denk an die Schande, die es für uns bedeuten würde. Willst du, daß wir seinen Zorn zu spüren bekommen, nur weil du zu feige warst, von zu Hause wegzugehen?«
»Was würde er denn tun?« flüsterte sie. Ihr Vater roch an diesem Morgen besonders stark nach Pferden, Schweiß und feuchtem Leder.
»Vielleicht würde er England angreifen. Sein Heer ist dem meinen weit überlegen. Einen solch mächtigen Fürsten vor den Kopf zu stoßen – möchtest du unser aller Leben in Gefahr bringen?«
Mathilde, die gegen die Tränen ankämpfte, wußte, daß jeder weitere Widerstand zwecklos war. Das Auspeitschen alleine hätte sie nicht beugen können, doch nun hatte sie das Gefühl bekommen, daß das Wohlergehen des gesamten Reiches auf ihren Schultern ruhte. Was konnte sie noch tun? Sie hatte keine andere Wahl.
»Ich möchte keine Schande über unser Haus bringen«, sagte sie und fühlte sich einsamer denn je zuvor in ihrem Leben.
»So spricht eine echte normannische Prinzessin! Ich wußte, du würdest mich nicht enttäuschen.« Mit einem überaus zufriedenen Lächeln erhob sich Heinrich und griff nach der Krone.
Mathilde reichte sie ihm widerstrebend, denn der Druck, den das kühle Metall auf ihre Hände ausübte, hatte beruhigend auf sie gewirkt. Heinrich setzte die Krone wieder auf seinen Kopf und streckte eine Hand aus, um Mathilde aufzuhelfen.
Gegen Mittag, als die Glocken zur Sext läuteten, stand Mathilde im Innenhof, umgeben von ihrer Familie und Mitgliedern des Hofstaats. Der laue Aprilmorgen war einem kalten Tag gewichen; der Himmel, der nun mit dunklen Regenwolken überzogen war, spiegelte ihre Verzweiflung wider. Sie bemerkte drei neue Kinder adeliger Herkunft, zwei davon Zwillinge, die gerade aus der Bretagne und Muelan angekommen waren und am Hof des englischen Königs erzogen werden sollten. Ein weiterer Junge, Mathildes erster Cousin Stephan, sollte heute ebenfalls noch eintreffen. Der verstörte Ausdruck in den Gesichtern der drei jungen Fremden, die sich eng aneinanderkauerten, erweckte in Mathilde Mitleid. Sie konnte nachempfinden, wie sie sich fühlten, doch sie erwartete in Deutschland ein ähnliches Schicksal, und sie wußte keinen Trost.
»Es hat dieses Land viel gekostet, dich mit einer standesgemäßen Mitgift auszustatten, meine Tochter«, sagte ihr Vater und ließ seinen Blick über die Ansammlung von Karren, Männern und Tieren im Hof schweifen.
Mathilde tat es ihm gleich. Eine beträchtliche Zahl von Packpferden, die mit Ballen von Seide und Wolle, mit Fuchs- und Hermelinfellen und mit elfenbeinernen Schatullen voller Juwelen und Schmuck beladen waren, standen dichtgedrängt zusammen, während normannische und deutsche Ritter auf großen Pferden im Hof umherritten. In den wartenden Sänften hatten bereits normannische Hofdamen Platz genommen, aber auch ihre Amme Aldyth, Geistliche, Bedienstete und Graf von Hennstien, der Gesandte des Kaisers, mit seinem Gefolge. Zwei Bewaffnete wachten über den Karren, auf dem Mathildes Mitgift von tausend Silbermünzen in einer Holztruhe befördert werden sollte.
Plötzlich drehte sich Heinrich um. »Mein Gott, wo ist denn die Königin? Lauf zur Kapelle und hole sie sofort her!« befahl er einem Diener.
Kurze Zeit später erschien Königin Mathilde, keuchend und mit alabasterweißem Gesicht. Sie befand sich in Begleitung ihres Beichtvaters und mehrerer Priester. Sie wirkte abgezehrt vom langen Fasten und trug ein schlichtes weißes Wollkleid. Ein einfaches Holzkreuz hing um ihren Hals, und dicke, flachsfarbene Zöpfe bildeten eine Krone auf ihrem Kopf. Wie stets im Frühjahr war sie barfuß in die Kirche gegangen, und Mathilde wußte, daß sie ein härenes Hemd auf ihrer Haut trug.
»Mea culpa«, sagte sie mit einem entschuldigenden Blick zu ihrem Gemahl, während sie in die Knie ging, um Mathilde zu umarmen. »Verzeih mir. Ich habe die Füße der Armen geküßt und dabei ganz vergessen, daß du schon reisefertig bist.«
Da sie schon häufig die von Geschwüren übersäten und blutenden Füße der Bettler gesehen hatte, die an die Pforten der Burg kamen, wandte Mathilde rasch ihre Lippen ab, so daß der Kuß ihrer Mutter auf ihrer Wange landete.
»Möge die Heilige Jungfrau dich sicher nach Deutschland geleiten.« Sie drückte Mathilde einen groben, hölzernen Rosenkranz in die feuchte Hand.
»Lebe wohl, meine Schwester«, sagte Robert, der Mathildes Schoßhund auf den Armen hielt. »Du wirst mir fehlen.« Er beugte sich nach vorn, um sie auf ihre heiße Wange zu küssen. »Ich werde gut auf Beau aufpassen.«
Mathilde sah, daß seine Augen unnatürlich hell waren. Er war der einzige, dem es wirklich leid tat, daß sie abreiste, dachte Mathilde. Sie warf einen langen Blick auf ihren Hund und wünschte, sie könnte ihn mitnehmen.
Wilhelm streckte die Zunge heraus und lief davon, ohne sich umzudrehen.
»Der Graf ist bereit zum Aufbruch«, sagte König Heinrich, während er Mathilde in die vergoldete Sänfte hob, die zwischen zwei rötlich-grauen Stuten befestigt war.
Einen Augenblick lang starrte ihr Vater sie an, dann griff er in den Lederbeutel an seinem Gürtel. »Das hat meiner Mutter gehört.« Er hielt ihr einen schlichten Silberring entgegen, der an einer fein gearbeiteten Kette hing, und legte ihr diese um den Hals. Dann tätschelte er unbeholfen ihre Wange. »Versuche, dich des normannischen Erbes würdig zu erweisen«, fügte er schroff hinzu und wandte sich ruckartig ab.
Während der lange Zug sich durch den Vorhof von Windsor Castle bewegte, das Tor passierte und auf die Straße zustrebte, schaute Mathilde wehmütig über die Schulter zurück. Ihr kam es vor, als würde sie sich in ein Exil begeben, aus dem sie nie wieder zurückkehren würde. Der Schmerz, den dieser Abschied in ihr auslöste, wurde unerträglich. Sie griff zu Aldyth hinüber, um deren Hand zu umklammern. Als die Pferde um eine Ecke bogen, war die Burg nicht mehr zu sehen. Weit unten auf der Straße konnte sie fünf Reiter und ein Packpferd ausmachen, die näher kamen.
»Das muß Maurice sein, der mit deinem Cousin Stephan von Blois zurückkehrt«, sagte Aldyth und drückte Mathildes Hand aufmunternd. »Wie ich hörte, hat dieser Bursche zu Hause so viel Unfug angestellt, daß seine Mutter sich gezwungen sah, ihn an den Hof deines Vaters zu schicken. Man sagt, daß ...«
Mathilde schloß die Augen; sie war nicht mehr imstande, dem Redefluß der Amme zu folgen. Doch etwas, das die Amme gesagt hatte, gab ihr zu denken. Sowohl sie als auch Stephan mußten zur selben Zeit ihr Heimatland verlassen. Dadurch entstand zwischen ihnen eine gewisse Verbindung.
Stephan von Blois sah eine Staubwolke, die eine große Reisegesellschaft ankündigte. Sein Herz begann heftiger zu schlagen.
»Wer wirbelt hier soviel Staub auf?« fragte er den ergrauten Ritter Maurice, der zusammen mit zwei bewaffneten Begleitern Stephan und dessen Knappen Gervase am gestrigen Morgen am Hafen von Dover abgeholt hatte.
»Das muß Prinzessin Mathilde sein«, erwiderte der Ritter mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. »Sie reist heute nach Deutschand ab, wo sie mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches verlobt werden soll.«
Stephan fiel ein, daß ihm seine Mutter, Gräfin Adela von Blois, vor seinem Aufbruch nach England von seiner Cousine Mathilde und seinem Cousin Wilhelm erzählt hatte. Wahrscheinlich war auch die bevorstehende Verlobung erwähnt worden, aber bei all den Anweisungen, die sie ihm mitgab, hatte er das vergessen. Als er an die Gräfin dachte, verkrampfte sich Stephan. Er kehrte im Geiste zurück zu jenem schicksalhaften Morgen vor kaum einem Monat, an dem es zu der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Mutter gekommen war, denn ohne die Ereignisse dieses Tages würde er jetzt nicht in England sein.
Es war ein kalter Sonntag im März gewesen, das Fest von Mariä Verkündigung, an dem sein jüngerer Bruder Heinrich zum Benediktinerkloster von Cluny aufbrechen sollte. Da er viel zu spät zum Mahl gekommen war, hatte sich Stephan leise auf einen Platz am Ende des Tisches gesetzt und gehofft, niemand würde ihn bemerken.
»Wo bist du gewesen?« fragte ihn seine Mutter, die ihn sofort entdeckt hatte, und bedachte ihn mit einem anklagenden Blick. »Da dein Bruder morgen nach Cluny abreisen wird, hättest du so höflich sein können, rechtzeitig zum Mahl zu erscheinen.«
»Ich war im Stall«, murmelte er. »Ich habe mich um meinen Hengst gekümmert. Er ... er hat ein Hufeisen verloren.« Stephan betete darum, daß seine Mutter damit die Angelegenheit auf sich beruhen lassen würde, doch sie blickte ihn weiter mißtrauisch an.
Die Gräfin saß, flankiert von ihren Söhnen Theobald und Heinrich, ihrer Tochter Cäcilia und einer Handvoll Gäste, am Kopfende des hohen Tisches. Ein halber Baumstamm brannte in dem großen Kamin und erwärmte den höhlenartigen Saal, während der kalte Märzwind durch die Ritzen in den mit Tapisserien behängten Wänden pfiff.
Der zehnjährige Heinrich verkniff sich ein Grinsen, während er den Hunden, die hungrig unter dem Tisch jaulten, einen Fisch zuwarf. Als er sich eine Scheibe von dem großen Weizenlaib abschnitt, warf Stephan seinem Bruder einen warnenden Blick zu.
Die Gräfin, der dies nicht entgangen war, ging auf ihren Jüngsten los mit der Behendigkeit einer Katze, die eine Maus erspäht hat. »Aha! Warum ist Stephan zu spät gekommen, Heinrich? Was hat er getan?«
Heinrich, der zwei Jahre jünger war als Stephan, hatte hellbraunes Haar und hellgrüne Augen, die dem bohrenden Blick seiner Mutter auszuweichen versuchten. »Ah, nichts, Madame«, murmelte er.
Adela, die sich gerade mit einem gekochten Karpfen befassen wollte, über den eine dicke weiße Soße gegossen war, hielt inne und schaute ihre beiden Söhne prüfend an. »Ich erkenne es immer, wenn du ihn zu schützen versuchst, Heinrich. Was hat der Herumtreiber jetzt wieder angestellt?«
Heinrich schluckte, während seine Wangen rot anliefen. »Ich ... das heißt ... was soll er angestellt haben?«
»Du hast mich verstanden. Heraus mit der Sprache, Junge. Dir wird nichts geschehen, wenn du die Wahrheit sagst.«
Heinrich seufzte und gab auf. »Stephan war im Stall ... und hat mit der Tochter des Haushofmeisters gespielt. Ich habe sie gesehen. Stephan war ...« Er warf einen Blick zu seiner Schwester Cäcilia, die seinen Worten gespannt lauschte.
»Du Verräter!« Stephan funkelte ihn wütend an. »Du hast es mir versprochen!«
Adela schob das Holzbrett mit dem Brot beiseite. »Was hat er getan? Heraus damit!«
»Ihre Röcke waren hochgeschoben, er hatte seine Beinkleider hinuntergelassen, und er hat ... nun, Ihr wißt ...« Heinrich wurde noch röter. »Er hat sie da angefaßt.« Er berührte seine Brust mit einem Ausdruck des Abscheus im Gesicht. »Und auch da unten.« Er deutete in Richtung seiner Beine und wandte sich dann mit unschuldiger Miene an seinen Bruder. »Tut mir leid, Stephan, aber ich kann nicht immer für dich lügen.«
Stephans Gesicht war feuerrot angelaufen. Er sprang auf, lief zu seinem Bruder und stieß ihn unter den Tisch, so daß zwei Hunde, die um den Fisch rangelten, zur Seite stoben. Cäcilia kreischte auf.
»Du Petzer!« Stephan begann, seinen Bruder mit den Fäusten zu bearbeiten. »Du stinkender Haufen Pferdescheiße!«
»Stephan, wie oft habe ich dir eingeschärft, daß du dich von der Tochter des Haushofmeisters fernhalten sollst.« Auch Adela war jetzt auf den Beinen. »Ihr Vater hat das Mädchen einem Ritter versprochen, und wenn du ihr die Jungfernschaft geraubt hast, dann gnade dir Gott! Kaum zwölf Jahre alt und schon so lüstern wie ein Bulle in der Deckzeit! Warum habe ich dich nicht schon längst kastrieren lassen? ... Um Himmels willen, Theo, tu doch etwas!«
Heinrich, der trotz einer blutigen Nase nicht aufgeben wollte, wurde von seinem ältesten Bruder den kläffenden Hunden und der Prügelei mit Stephan entrissen. Theobald, besonnen und pflichtbewußt, war vor kurzem zum Grafen von Blois erhoben worden. Adela, die ihr Temperament auch unter weniger aufregenden Umständen nur schwer zügeln konnte, lief um den Tisch zu Stephan, der trockene Grashalme von seinem Obergewand abschüttelte, und begann ihn an den Ohren zu ziehen und zu ohrfeigen.
»Du unbeherrschter Hitzkopf!« schrie sie. »Du Unruhestifter! Was sollen wir nur mit dir tun? Benimmt sich so ein Enkel des Eroberers?«
»Schickt mich doch weg!« schrie Stephan zurück und versuchte, ihren Schlägen auszuweichen. »Ihr wollt mich doch sowieso nicht in Blois haben. Ihr habt mich schon immer gehaßt!«
Adela ballte ihre Finger zur Faust und schlug ihn mit all ihrer Kraft. Stephan begann zu taumeln und fuhr mit einer Hand zu den roten Striemen auf seiner Backe.
»Gott möge dich dafür strafen, daß du solche abscheulichen Dinge über deine Mutter sagst!« Adela, deren Gesicht vor Wut rot angelaufen war, holte zum nächsten Hieb aus.
»Es stimmt. Ihr wißt, daß es stimmt!« Tränen der Wut und der Verzweiflung schossen Stephan in die Augen. »Nur weil ich meinem Vater ähnlich sehe. Was kann ich denn dafür?«
Im selben Augenblick, in dem er diese Worte hervorgestoßen hatte, ärgerte sich Stephan über diese Dummheit. Welcher Teufel hatte ihn dazu getrieben, seine Mutter an ihren verstorbenen Gemahl zu erinnern? Auf einem Kreuzzug hatte Graf Stephan von Blois während eines Gefechts mit den Türken seine Männer im Stich gelassen und war zurück nach Hause geflohen. Nachdem ihn seine unerbittliche Ehefrau gezwungen hatte, ins Heilige Land zurückzukehren, war er dort schließlich eines ehrenhaften Todes gestorben, doch seine frühere Feigheit blieb unvergessen. Sein Name wurde in Adelas Gegenwart niemals erwähnt. Nun war es völlig still geworden im Saal, während die Diener, der Haushofmeister, die Gäste und Stephans Brüder und die Schwester ihn entsetzt anstarrten.
»Wie kannst du es wagen, mich an diesen charakterlosen Feigling zu erinnern?« kreischte Adela und schleuderte wilde Blicke umher. »Jemand soll mir eine Reitpeitsche aus dem Stall holen! Sofort!«
Die Hälfte der Diener und der Haushofmeister beeilten sich, ihrer Anordnung Folge zu leisten, und kamen sich gegenseitig in die Quere, als sie aus dem Saal stürmten.
Die Gräfin funkelte Stephan an. Ihr Busen wogte, und in ihren Augen stand der wohlvertraute Ausdruck grimmiger Feindseligkeit, die, so hatte Stephan herausgefunden, durch die Erinnerung an seinen schwächlichen Vater hervorgerufen wurde, denn Stephan ähnelte ihm sehr und trug auch seinen Namen. Er bekam als einziges ihrer Kinder die tiefverwurzelte Ablehnung seiner Mutter zu spüren.
Heinrich, der das Blut von seinem Gesicht und seiner Nase abwischte, trat auf seine Mutter zu. »Wenn Stephan Blois verlassen möchte, tut ihm doch den Gefallen und schickt ihn weg. Schickt ihn zu unserem Onkel nach England.«
Theo und Cäcilia drehten sich um und starrten ihren Bruder an. Adelas Gesicht nahm langsam wieder seine normale Farbe an, während sie ihren jüngsten Sohn ins Auge faßte.
»Weshalb sollte ich dieses Ungeheuer meinem Bruder Heinrich aufdrängen?«
»Als Strafe natürlich, Madame«, erwiderte Heinrich. »Er hat es verdient, in die Verbannung geschickt zu werden. Unser Onkel würde Stephan bestimmt Manieren, höfisches Verhalten und Disziplin beibringen, all das, was Ihr an ihm vermißt. Am Hof des Königs von England würde er Respekt und Gehorsam lernen.«
Stephan, der sein Glück zunächst gar nicht fassen konnte, blickte ungläubig von seiner Mutter zu seinem Bruder. »Nach England? Ihr würdet mich nach England schicken?« Er konnte einen Anflug von Begeisterung in seiner Stimme nicht unterdrücken.
»Du hättest also gar nichts dagegen?« fragte seine Mutter lauernd und mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn das so ist ...«
»Natürlich will er nicht von hier weg, habe ich recht, Stephan?« mischte sich Heinrich rasch ein und warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu. »Er wäre todunglücklich, wenn er Blois wirklich verlassen müßte, nicht wahr?«
»Natürlich«, murmelte Stephan.
Das Gesicht seiner Mutter hellte sich auf. »Nun, das halte ich für eine sehr gute Idee. Aber das wird deine letzte Chance sein, Stephan. Wenn du am Hofe meines Bruders nicht endlich etwas Vernünftiges aus dir machst, dann will ich mit dir nichts mehr zu tun haben. Dann wirst du in Blois nicht mehr willkommen sein.«
Adela wandte sich Heinrich zu. »Ein guter Einfall, mein Sohn.« Sie tätschelte gedankenverloren seinen Kopf. »Ich werde König Heinrich sofort unterrichten.«
Ein Diener kam mit einer Peitsche in den Saal gelaufen.
»Was soll ich damit? Bring sie wieder in den Stall zurück!« Sie stolzierte majestätisch aus dem großen Saal, Theo und Cäcilie im Schlepptau.
England, sagte Stephan zu sich, ich komme nach England. Unendlich erleichtert angesichts der Aussicht, Blois und seine jähzornige Mutter verlassen zu können, die eindeutig seine Brüder bevorzugte, bedachte Stephan seinen Bruder Heinrich, dem er diese glückliche Wendung zu verdanken hatte, mit einem bewundernden Blick.
»Danke, Bruder«, sagte er. »Du hast mir heute einen großen Gefallen getan.«
Sein Bruder lächelte ihn freundlich an. »Ich hoffe, du vergißt das nicht. Wenn ich mein Studium im Kloster abgeschlossen habe, möchte ich ebenfalls nach England gehen. Sorge dafür, daß unser Onkel dann eine gute Position in der Kirche für mich bereithält.«
Stephan nickte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er es anstellen sollte, Heinrichs Wunsch zu erfüllen, doch es war noch genug Zeit, um eine Lösung zu finden. Wie stets war er beeindruckt – aber auch ein wenig beunruhigt – darüber, wie elegant es Heinrich gelang, ihre leicht erzürnbare Mutter zu manipulieren.
Vier Wochen später brach Stephan nach England auf. Er freute sich zwar darüber, doch er wußte auch und würde es nie vergessen, daß Heinrich ehrenvoll von zu Hause weggeschickt, er aber mit Schimpf und Schande davongejagt worden war.
Jemand stieß einen Warnruf aus, als Mathildes Sänfte beinahe mit einem Jungen zusammengestoßen wäre, der ihr auf einem Pferd entgegenkam. Erschrocken blickte Mathilde auf. Honigfarbene Haarsträhnen quollen unter einer scharlachfarbenen Mütze hervor, die keck auf dem Kopf des Jungen saß. Sein hübsches Gesicht, das mit Staub bedeckt war, wandte sich flink in ihre Richtung. Bezaubernde grüne Augen, die mit goldenen Tupfern gesprenkelt waren – Katzenaugen –, trafen sich mit ihren grauen Augen und blickten sie lange neugierig an. Kurz bevor das Pferd um die Kurve bog, trat ein Lächeln auf seine Lippen. Er nahm seine Mütze ab und beugte den Kopf vor ihr. Dann verschwanden er und die übrigen Reiter hinter der Biegung.
Mathilde ließ sich in der Sänfte zurücksinken. Das also war ihr schwieriger Cousin Stephan von Blois. Einen Augenblick lang haftete das Bild des Jungen so klar in ihrem Geist wie ein Pinselstrich auf einem Stück Pergament. Eine Gefühlsregung, die sie nicht benennen konnte, erfaßte sie und riß sie für einen Moment aus den Tiefen ihres Kummers. Sie fröstelte, als sei soeben ein Wolf über ihr Grab gelaufen, ein böses Vorzeichen, wie Aldyth sagen würde. Dann verflüchtigte sich dieses Gefühl, und das Bild des Jungen verblaßte. Trauer legte sich über sie wie ein Leichentuch. Ihr altes Leben war vorüber, doch das neue hatte noch nicht begonnen.
Deutschland, im Jahre 1111
Anfang Mai gelangte Mathilde in die deutsche Stadt Mainz, wo der Kaiser sie erwarten würde, wie man ihr gesagt hatte. Doch als sie zur Vesperstunde in dem tristen Steinpalast vorsprachen, war der Kaiser noch nicht zugegen. Statt dessen empfing sie eine Gruppe steifer Herren in mittleren Jahren, die in düstere graue oder dunkelbraune Gewänder gekleidet waren, und eine zerbrechlich wirkende, dünne Frau, die ein Raubvogelgesicht und einen leichten Schnurrbart hatte. Sie trug ein dunkelgraues Obergewand und auf dem Kopf einen weißen Schleier und betrachtete Mathilde mit strengem Blick. Graf von Hennstien, der sie von England nach Deutschland begleitet hatte, war verschwunden, ebenso wie alle anderen Mitglieder ihrer Reisegesellschaft einschließlich Aldyth. Niemand gab ihr eine Erklärung, und als sie eine Frage stellte, antworteten sie auf deutsch, was Mathilde nicht verstand.
Man reichte ihr ein Stück schwarzen Brotes, das in warme Milch eingetaucht war, und schickte sie dann in eine große, feuchte Schlafkammer, an deren Wänden dunkelrote und blaue Tapisserien hingen, die die Folterung von Märtyrern zeigten. Die Folterszenen waren so eindringlich dargestellt, daß Mathilde sich die Decke über den Kopf zog. Sie umklammerte den silbernen Ring, den ihr Vater ihr gegeben hatte, und weinte sich leise in den Schlaf.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war noch immer nichts von Aldyth zu sehen. Krank vor Angst und Verunsicherung, verkroch sie sich unter die pelzbesetzte Bettdecke und wünschte sich von ganzem Herzen, bald wieder in England zu sein. Dieselbe graukleidete Frau, die sie gestern empfangen hatte, trat in die Kammer, sagte etwas auf deutsch und zog ihr dann das safrangelbe Kleid und das bernsteinfarbene Obergewand an, in denen sie aus England abgereist war. Um den Hals legte sie ihr ein mit Perlen geschmücktes goldenes Kreuz, das Mathilde noch nie gesehen hatte, und führte sie über die Wendeltreppe in den Hof hinunter. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, die Luft warm und lau. Sie bestiegen eine kleine Sänfte und wurden ein kurzes Stück Weges zu einer großen Kirche getragen, die inmitten eines gepflasterten Platzes stand und deren Glocken gerade zur Prim läuteten.
In der Kirche, in der sich die Meßbesucher drängten, war es kalt und düster. Als Mathilde über den Gang zu ihrem Platz geführt wurde, spürte sie, daß die Leute sich die Hälse verrenkten, um sie zu sehen. Der Duft von Weihrauch, der Gesang des Chors und die feierliche Intonation der Gebete verwirrten Mathilde. Nach dem Ende der Messe wurde sie zum Palast zurückgebracht.
Als sie in ihre Kammer zurückkehrte, erwartete sie dort Graf von Hennstien. Gott sei Dank hatte sie nun jemanden, der normannisches Französisch verstand.
»Wo ist Aldyth?« fragte sie.
»Ich bedaure, Prinzessin, aber Eure gesamte Gefolgschaft wird auf Befehl des Kaisers nach England zurückgesandt werden.«
Mathilde spürte, wie ein eisiger Schauer durch ihren Körper lief. Aldyth sollte weggeschickt werden? Der Kaiser konnte doch nicht so grausam sein. Tränen stiegen in ihren Augen auf, doch sie drängte sie zurück, als ihr der Satz ihres Vater wieder einfiel, wonach es sich für eine Enkelin des Eroberers nicht ziemte zu weinen.
»Warum?« flüsterte sie.
Der Graf blickte unbehaglich in der Kammer umher. »Der Kaiser ist der Ansicht, daß Ihr schneller Deutsch lernen und Euch leichter an die neue Umgebung gewöhnen werdet, wenn Ihr nicht ständig an England erinnert seid.«
»Ich möchte Aldyth wiederhaben«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Ich bedaure, aber das ist nicht möglich. Begreift doch, was für ein Glück Ihr habt. Der Kaiser ist einer der mächtigsten Herrscher, sein Einfluß reicht im Süden bis nach Italien und im Osten bis nach Ungarn.«
Diese Ländernamen sagten ihr nichts. »Ich möchte nach Hause. Sofort.«
»Ich bedaure, aber das geht nicht. Es sind bereits alle Vorbereitungen für die Verlobung getroffen.«
»Dann werde ich danach nach England zurückkehren.«
»Aber Ihr könnt doch nicht nach England zurück, Prinzessin. Nach der Verlobung werdet Ihr in Deutschland leben, die Sprache lernen und Euch mit den Gebräuchen vertraut machen. Wenn Ihr dann mit dreizehn Jahren heiratet, werdet Ihr schon fast eine richtige Deutsche sein.«
Mathilde erwiderte nichts.
»Jetzt eßt. Ihr müßt bei Kräften bleiben. Der Kaiser wird heute vormittag erscheinen. Möchtet Ihr, daß er Euch in diesem mitleiderregenden Zustand vorfindet?«
Mathilde konnte nun ihre Tränen nicht länger zurückhalten und versuchte, sie mit dem Ärmel wegzuwischen.
Der Graf wandte sich an die Frau und sagte etwas auf deutsch. Die Frau nickte, ging zu Mathilde, ergriff sie barsch bei der Hand und führte sie zu einem kleinen Tisch, auf dem sich eine Schale Milch, ein Laib Brot und ein Tablett mit einer Speise befand, die wie gesalzener Fisch roch.
»Eßt«, sagte der Graf. »Dann wird es Euch wieder besser gehen.«
Mathilde schüttelte den Kopf, sie wollte sich nicht auf den bestickten Stuhl setzten. Die Frau packte sie an den Schultern und drückte sie nach unten. Mathilde packte die Wut, als sich ihr Kummer plötzlich in Empörung verwandelte. Sie senkte den Kopf und biß die Frau in die Hand. Die Frau kreischte auf und riß ihre Hand weg.
Mathilde sprang vom Tisch auf, warf die Schale mit Milch auf den Boden, drehte das Tablett mit dem Fisch um und stieß den Stuhl zur Seite. Dann lief sie durch die Kammer und riß die große Eichentür auf. Sie eilte durch den Gang, kam auf der Wendeltreppe fast ins Stolpern, schoß durch den großen Saal, wo überraschte Gesichter sich ihr zuwandten, und lief durch die offene Eingangstür des Palastes. Im Hof wimmelte es von Dienern, Stallburschen und Palastbeamten. Das Tor stand offen, weil gerade zwei Ritter mit weißen Umhängen, auf denen ein rotes Kreuz prangte, hereingeritten kamen. Niemand schien sie zu bemerken. Mathilde lief über den Hof und huschte durch das Tor hinaus.
Sie gelangte in eine schmale, gepflasterte Straße und blieb stehen, unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Als sie laute Stimmen aus dem Hof vernahm, eilte sie nach links. Köpfe wandten sich um, als sie an einer Gruppe von Männern und Frauen vorüberlief, die sich unterhielten, und dabei fast mit zwei Kindern zusammengestoßen wäre, die mit einer Katze spielten. Die Straße endete plötzlich an einer hohen Steinmauer, und Mathilde wandte sich zu einer anderen schmalen Straße, deren Häuser so dicht beisammenstanden, daß man den grauen Himmel darüber kaum mehr erkennen konnte.
Diese Straße schien kein Ende zu nehmen, doch Mathilde mußte schließlich stehenbleiben, um Luft zu holen. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie schon gelaufen war oder wo sie sich befand. Sie hatte nur daran gedacht, aus dem Palast zu entkommen und Aldyth zu finden. Weiter vorne erblickte sie schwere Eisengitter und Wachen, die auf einer breiten Steinmauer hin und her gingen. Das mußte der Eingang zur Stadt sein. Während sie die Wachen beobachtete, öffneten die Torflügel sich knarrend. Eine Gruppe von Rittern, die ähnlich aussahen wie jene, denen sie am Palast begegnet war, kam herausgeritten. Ihnen folgte eine majestätische Sänfte, deren Vorhänge halb geöffnet waren und die von vier schwarzen Hengsten getragen wurde. Hinter der Sänfte folgte ein weiterer Rittertrupp.
Die Gruppe wandte sich zu der schmalen Straße, und Mathilde drückte sich fest an eine der Haustüren, um nicht entdeckt zu werden. Die Ritter trabten vorbei, auch die Sänfte passierte sie. Dann hörte sie einen scharfen Befehl, und die Sänfte kam mit einem Ruck zum Stehen. Die Ledervorhänge wurden ganz zur Seite geschoben, eine Gestalt lehnte sich heraus und winkte Mathilde.
Langsam ging sie auf die Sänfte zu. Darin erblickte sie einen älteren Mann, ein wenig jünger als ihr Vater, der einen reich bestickten blauen Umhang trug. Unter einer perlenbesetzten Samtmütze fiel strähniges braunes Haar auf seine Schultern. Sein Gesicht war bleich, sein Ausdruck streng, wie der eines Geistlichen, doch seine mit schweren Lidern versehenen Augen blickten sie belustigt und neugierig an.
Er sagte etwas auf deutsch zu ihr und deutete auf das Kreuz, das sie trug. Mathilde schüttelte den Kopf und antwortete in ihrer Sprache, daß sie ihn nicht verstehe. Er zog die Augenbrauen hoch und musterte sie prüfend.
»Nun, mein Kind«, sagte er schließlich in kräftig akzentuiertem normannischem Französisch, »du bist weit weg von zu Hause, nicht?«
Sie nickte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, nachdem der Mann das Wort zu Hause ausgesprochen hatte.
»Es ist keine Schande zu weinen«, sagte er, als er bemerkte, daß sie gegen die Tränen ankämpfte. »Solange du dir das nicht zur Gewohnheit machst. Das ist nicht ungewöhnlich bei jungen Mädchen, soweit ich weiß.«
Mathilde richtete sich stolz auf und hob den Kopf. »Ich bin nicht irgendein kleines Mädchen. Ich bin eine normannische Prinzessin, eine Enkelin von Wilhelm dem Eroberer.«
»Ah, das ist natürlich etwas anderes.« Er winkte sie näher zu sich. »Ich glaube, du solltest am besten zu mir einsteigen.«
Mathilde zögerte, während ihr Herz wild klopfte, stieg dann aber doch ein. Der Mann zog die Vorhänge zu und musterte sie mit unverhohlener Neugier. »Willst mir nicht sagen, warum du ganz allein hier in Mainz umherspazierst?«
Seine Stimme klang unerwartet sanft, und Mathilde konnte nicht umhin, ihm zu erzählen, was sich alles ereignet hatte, seitdem sie am gestrigen Abend im Palast angekommen war. »Und ich hoffte, ich könnte Aldyth finden«, schloß sie, »und dann irgendwie nach England zurückreisen. Ich will hier nicht bleiben, wo mich alle so schrecklich behandeln. Ich bin eine Enkelin von ...«
»Wilhelm dem Eroberer. Das hast du bereits gesagt«, unterbrach er sie. »Du bist außergewöhnlich stark von dir selbst eingenommen. Aber du verkörperst schließlich auch ein außergewöhnliches Erbe. Nicht jedem emporgekommenen normannischen Abenteurer ist es gelungen, eine königliche Dynastie zu begründen.«
Mathilde wollte schon widersprechen, doch er streckte seine schlanke Hand in die Höhe, deren Finger alle, bis auf den Daumen, mit kostbaren Ringen geschmückt waren.
»Nein, nein, ich wollte dich nicht beleidigen. Im Gegenteil, ich schätze deine Einstellung sehr. Sie paßt sehr gut zur künftigen Gemahlin unseres Herrschers.« Er neigte den Kopf ehrerbietig.
Mathilde senkte den Blick und sah auf dem Schoß des Mannes eine seltsame hölzerne Tafel, die mit silbernen und goldenen Quadraten überzogen war. Auf jedem der Quadrate stand eine schwere Elfenbeinfigur: ein Ritter zu Pferde, ein Bischof mit seinem Hirtenstab, ein König und eine Königin in festlicher Kleidung und mit Kronen auf ihren Häuptern. Sie wirkten so lebendig, daß Mathilde nicht umhin konnte, die Königin mit einem Finger zu berühren.
»Ist das ein Spielzeug?«
»England ist ja noch rückständiger, als ich dachte. Nein, das ist ein anspruchsvolles Spiel namens Schach. Es erfordert großes Können.«
Mathilde erwiderte nichts, sondern hob langsam den Kopf.
»Ich habe es für meine künftige Braut gekauft«, fuhr der Mann fort, während er sie aufmerksam beobachtete. »Vorausgesetzt natürlich, sie bleibt hier und erweist sich als intelligent genug, um es zu erlernen. Was ihre englische Gefolgschaft betrifft, so hatte der Graf recht. Sie müssen alle zurück.« Er schwieg einen Augenblick. »Mit Ausnahme dieser Frau. Wie heißt sie gleich?«
»Aldyth.«
»Ja, Aldyth kann bleiben. Unter der Bedingung, daß meine Braut innerhalb von vier Monaten die Grundlagen der deutschen Sprache erlernt. Wenn nicht, muß auch die Amme zurück.«
Es entstand eine kurze Pause. Ihre Blicke trafen sich. Mathilde nickte ganz leicht. Der Kaiser – sie hatte von Anfang an gewußt, wer er war – senkte den Kopf zustimmend.
»Es freut mich, daß du mein Geschenk bereits trägst.« Als sie ihn fragend anblickte, deutete er auf das Goldkreuz.
»Ich danke Euch sehr ...« Sie verstummte. Wie sollte sie ihn anreden? Euer Gnaden? Entsetzt stellte sie fest, daß sie nicht einmal seinen Vornamen kannte, denn man hatte ihn ihr gegenüber immer nur »Kaiser« genannt.
»Ich heiße Heinrich«, sagte er. »Ein häufiger Name, er dürfte dir vertraut sein.«
Sie nickte. »Danke, Heinrich.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Woran denkst du, mein Kind?«
»Ich habe gedacht, daß ich keine vier Monate brauchen werde, um Deutsch oder Schach zu lernen«, antwortete Mathilde.
Er begann zu lachen, und der strenge Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand im Nu. »Gut, darauf kann man aufbauen. Enkelin des Eroberers, du und ich, wir beide werden gut miteinander auskommen. Sehr gut sogar.«
Italien, im Jahre 1120
Neun Jahre später stieg Mathilde, nun eine junge Frau von achtzehn Jahren, in eine goldverhängte Sänfte, die von vier weißen Zeltern getragen wurde. Als sie es sich in den Kissen der Sänfte bequem machte, die sie zu dem Palast zurückbringen sollte, in dem sie und der Kaiser während ihres Aufenthalts in Rom wohnten, triumphierte sie innerlich, denn sie hatte gerade erfolgreich ihre zweite Gerichtsverhandlung geleitet. Es war ein milder Nachmittag Anfang Dezember; sie ließ die Vorhänge der Sänfte offen, um den tiefblauen Himmel, die engen, sonnenbeschienenen Straßen und die mit eisernen Toren ausgestatteten Palazzi sehen zu können.
Am frühen Vormittag hatte sie der Kaiser, der indisponiert gewesen war, zum Kirchengericht geschickt, um in einem Streit zwischen zwei Priestern, bei dem es um den Diebstahl von Kircheneigentum ging, Recht zu sprechen. Mathilde war schon bei zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen als Vertreterin ihres Gemahls aufgetreten, doch dies war das zweite Mal, daß er ihr die Autorität übertrug, einen Fall ganz alleine zu entscheiden. Sie war so aufgeregt, daß sie es kaum erwarten konnte, ihm im Palast zu berichten, wie gut sie diese Aufgabe erledigt hatte.
»Bella, bella, Madonna«, rief ein italienischer Höfling, als die Sänfte an ihm vorüberzog. Er legte eine Hand aufs Herz und richtete die Augen himmelwärts, als würde er schon allein durch ihren Anblick ohnmächtig werden.
Mathilde errötete heftig und wandte sich rasch ab, wobei sie ein Lächeln unterdrückte. Die Römer erschienen ihr so extravagant, so überschwenglich, daß man ihnen kaum ein Wort glauben konnte. Sie drückte ihre grüne Kopfbedeckung fester auf ihr rotbraunes, in Schnecken gelegtes Haar und blickte auf die Ärmel ihres grünen Kleides hinunter, die aus den zurückgeschlagenen Stulpen ihres goldbestickten grünen Obergewandes herausragten. War sie wirklich so schön? fragte sich Mathilde und legte ihre schlanken beringten Finger auf ihre geröteten Wangen. Manchmal, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, hielt sie sich für durchaus ansehnlich, mit ihrer fein geschwungenen Nase, ihren zinngrauen Augen und ihrer hellen, leicht bernsteinfarben getönten Haut.
Ihre frühere Amme, die jetztige Hauptzofe Aldyth, sagte immer, wahre Schönheit erwachse aus tugendsamem Verhalten, Bescheidenheit, Gehorsam und Befolgung der religiösen Gebote. Alles andere sei vergänglicher Schein. Da Mathilde keine dieser lauteren Charaktereigenschaften besaß, worauf Aldyth sie immer wieder hinwies, wie konnte sie dann hoffen, eine Schönheit zu werden? Doch in den vergangenen zwei Jahren hatte Mathilde häufig bemerkt, daß die Augen der Männer ihr folgten: am Hof des Kaisers, wenn sie irgendwo in einer offenen Sänfte ankam, und sogar bei Gottesdiensten. Der Kaiser schien davon keine Notiz zu nehmen, ihn schienen ihre Lernfortschritte auf den unterschiedlichen Gebieten mehr zu interessieren.
Gleich nachdem Mathilde in Deutschland eingetroffen war, hatte er sich ihrer Erziehung angenommen. Sie hatte befürchtet, nach ihrer Verheiratung würde man sie auf die Gesellschaft ihrer Hofdamen beschränken und zu einem langweiligen Leben verurteilen, das nur noch darin bestand, Wandteppiche zu weben, sich um die Diener zu kümmern und Kinder zur Welt zu bringen. Doch zu ihrer großen Erleichterung ging ihr Leben weiter wie bisher.
Die Straße mündete in einen großen Platz, und die Sänfte mußte anhalten, um eine Gruppe schwerbepackter Maultiere vorbeizulassen. Es war Markttag, und auf dem Platz hatten Bauern ihre Stände mit Obst, Gemüse, Nüssen und Käse aufgebaut.
Während Mathilde darauf wartete, daß die Maultiere vorüberzogen, erinnerte sie sich daran, wie sich der Kaiser zum ersten Mal von einem geschätzten Förderer in einen Ehemann verwandelt hatte. Schon einige Zeit vor der Hochzeit mit dreizehn Jahren hatte Aldyth begonnen, Mathilde auf das vorzubereiten, was auf sie zukommen würde, doch der Kaiser hatte mit dem Vollzug der Ehe gewartet, bis sie sechzehn war. Es war in einer Winternacht in Speyer geschehen. Er hatte das schwere wollene Nachtkleid getragen, das er sommers wie winters anhatte und das vorne ein sorgfältig ausgeschnittenes Loch besaß, durch das er mit seinem Glied in sie einzudringen versuchte, während er jegliche andere Berührung ihres Körpers vermied. Er hatte alle Kerzen gelöscht, so daß sie ihn überhaupt nicht sehen konnte. Sie hatte einen kurzen stechenden Schmerz verspürt, und dann war es auch schon vorbei, so daß Mathilde gar nicht wußte, was eigentlich geschehen war.
Von dieser Zeit an übte er seine ehelichen Rechte unregelmäßig aus. Manchmal fragte sich Mathilde, ob seine Gewohnheiten nicht ein wenig seltsam waren, anders als bei anderen Männern, denn aus den Unterhaltungen ihrer Kammerzofen hatte sie einiges aufgeschnappt. Doch dann kam sie zu der Auffassung, aufgrund seiner Position als weltlicher und geistlicher Führer müsse er sich eben von gewöhnlichen Männern unterscheiden.
Nachdem die Packtiere vorübergezogen waren, überquerte die Sänfte den Platz und bog in eine Straße ein, die so schmal und gewunden war, daß schwarzgekleidete Priester und Mönche sich an die Mauern drücken mußten, damit die Pferde sich hindurchzwängen konnten.