Stephan Grünewald
Die erschöpfte Gesellschaft
Warum Deutschland neu träumen muss
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Unsere Gesellschaft ist in sich zerrissen. Allmacht und Ohnmacht wechseln sich ab: Social Media macht aus jedem von uns einen potenziellen Revolutionär, der ganze Regierungen stürzen kann. Euro- und Finanzkrise aber rollen über uns hinweg und lassen uns auf Zwergengröße schrumpfen. Wir drehen auf, aber wir kommen nicht vom Fleck. Das Ergebnis ist eine erschöpfte Gesellschaft. Stephan Grünewald ist Experte für die Seelenlage der Deutschen. Er analysiert unser Befinden mit erstaunlichen psychologischen Methoden, unterstützt durch den Fundus seiner einzigartigen Daten. Sein Befund ist eindeutig: Wir müssen lernen, neu zu träumen. Nur dann können wir Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und echte Fortschritte erzielen. Denn in seinen besten Zeiten war Deutschland stets das Land der Träumer und Querdenker.
Über den Autor
Stephan Grünewald hat in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Fachbeiträge und Studien zu den Themen Markenführung, Werbewirkung, Lebensalltag, Jugend und Kultur in Printmedien, aber auch in TV- und Hörfunkbeiträgen veröffentlicht. 2006 erschien im Campus Verlag sein Buch Deutschland auf der Couch, in dem er eine aufrüttelnde Analyse unseres Landes vornimmt. Seine Wahlheimat Köln nahm er augenzwinkernd in Köln auf der Couch unter die Lupe, das ebenfalls zum Bestseller wurde.
Inhalt
Einleitung
Teil 1
Das Diktat der Unruhe
1.Erschöpfung – der Tribut einer traumlosen Gesellschaft
2.Der Traum als Lebensgestalter und Störenfried
3.Schöpferisches Deutschland – der Pakt mit der Unruhe
4.Die Bannung der Unruhe – vier Wege und Irrwege
5.Träumen und falsche Träume
Teil II
Deutschland, deine Träume
6.Der Paradiestraum vom digitalen Lebensideal
7.Senioren heute – Der Traum vom ewigen Aufbruch
8.Jugend heute – Der Traum vom Angekommensein
9.Jenseits der Tagespolitik – Piraten-Träume
10.Google, Facebook und Co. – Tagträume von Allmacht und Erlösung
Finale: Deutschland, träume!
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Den Anstoß zu diesem Buch haben zwei Beobachtungen gegeben, die ich als Psychologe sowohl in meinem privaten Umfeld als auch in der gesamten Gesellschaft immer wieder mache: Die Unruhe vieler Menschen hat in den letzten Jahren zugenommen, und mit dieser Unruhe scheint sich auch das Ausmaß ihrer Erschöpfung zu steigern. Der normale Alltag ist häufig davon bestimmt, sich abzuhetzen und einer Flut von Terminen hinterherzulaufen. Das Berufs- und Privatleben ist mit vielen und ständig neuen Anforderungen überfrachtet, und oft fällt man am Ende des Tages ausgepowert ins Bett. Woher kommt diese Unruhe? Und ist die Erschöpfung der notwendige Preis für unseren Wohlstand?
Vielen Menschen erscheint die Zukunft wie ein schwarzes Loch. Angesichts der Menge an Krisengespenstern, die durch die Medien geistern, spüren sie das Ende der bisherigen Maximierungskultur mit ihrem »schneller, höher, weiter«, aber sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, wohin die Reise geht.
Als Gegenmaßnahme gegen diese beunruhigende Zukunftsungewissheit schalten viele Menschen auf Autopilot um. Sie dynamisieren das tägliche Hamsterrad und wollen gerade durch ihre gesteigerte Betriebsamkeit beweisen, dass sie handlungsfähig sind und scheinbar alles im Griff haben. Diese Überbetriebsamkeit bis hin zur Erschöpfung lässt den Alltag aber auch häufig als leer und sinnlos, als eine ewige Wiederholungsschleife erscheinen. Der Tribut unserer überdrehten Lebensführung wird immer auffälliger. Mit |7|der fehlenden Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, uns infrage zu stellen und eine neue Perspektive für unsere Lebenswünsche zu finden, verlieren wir unseren inneren Kompass aus dem Blick. Oft geht es uns nur noch darum zu funktionieren, und wir taumeln gehetzt und weitgehend fremdbestimmt durch den Alltag. Aber wollen wir »alternativlos« – wie es so bezeichnend in der Politik heißt – auf diese Weise weiterleben? Sollen die nächsten zehn Jahre ständig von Leistungsdruck, von Effizienzdiktaten, von Rettungsversuchen und letztlich von besinnungsloser Betriebsamkeit bestimmt sein?
Die Gewinnung einer neuen Lebensautonomie ist für mich die große Herausforderung unserer Zeit. Wir brauchen ein neues Maß dessen, was machbar, lebbar, verträglich ist. Wir brauchen eine neue Idee, wofür wir leben wollen. Dabei kann uns weder die Ökonomie noch die rationale Vernunft helfen, sondern der Bezug auf uns selbst und unsere Träume.
Denn das Träumen ist ein wichtiges Korrektiv zur Überspanntheit des Tages. Der Traum ist nicht sinnlos und auch kein Hirngespinst, er ist ein produktives Selbstgespräch der Seele. Vor allem das nächtliche Träumen macht uns auf Wünsche oder Probleme aufmerksam, die in der hektischen Betriebsblindheit des Tages aus unserem Blick geraten sind. Ohne das Träumen rennen wir uns fest in einem rasenden Stillstand. Mit meinem Buch möchte ich dazu beitragen, dass wir dem Träumen wieder einen größeren Platz in unserem Leben und in der Gesellschaft insgesamt einräumen.
Denn Deutschland ist nicht nur das Land der Effizienz- und Leistungsstärke, sondern auch das Land der Träumer und Querdenker. Deutschland kann seine dynamische Unruhe mithilfe des Träumens in Erfindungs- und Schöpfergeist verwandeln. Das Träumen ist eine Voraussetzung für Veränderung und Innovation: Erfindungen, technische Errungenschaften, naturwissenschaftliche Entdeckungen sind ebenso wie künstlerisches Schaffen oder philosophische Weltdeutung nur möglich, wenn man sich aus dem rationalen Denken löst und die Welt einmal traumanalog mit anderen Augen sieht.|8|
Der psychologische Blick
Eben dies – die Welt traumanalog mit anderen Augen zu sehen und anschaulich zu analysieren, welche oft seltsamen Mechanismen uns in die Erschöpfung treiben – bildet den Ausgangspunkt meines Buches. Ich bin davon überzeugt, dass der psychologische Blick auf unsere Gesellschaft ein tieferes Verständnis für unsere Ängste, Träume und Zwickmühlen schafft. Als Leiter des rheingold-Instituts erfahre ich, was die Menschen in unserem Land wirklich bewegt. Jedes Jahr liegen circa 7000 Männer und Frauen aus allen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten bei rheingold sinnbildlich auf der Psychologencouch. In jährlich mehr als 200 Studien, die wir für Unternehmen, Medien oder öffentliche Träger durchführen, ergibt sich ein vielschichtiges und meist überraschendes Bild, wie sich Lebenssituationen und auch Lebensträume etwa von Frauen und Müttern, von Jugendlichen und Senioren derzeit verändern. Die Auswirkungen der digitalen Medienrevolution durch Google, Apple oder Facebook auf unser Zusammenleben werden dabei beleuchtet, so wie auch die Wandlungen der Sexualität oder die Veränderung des Ernährungsverhaltens. Die neue Sehnsucht der Menschen nach einer heilen und heimeligen Welt ist ebenso Gegenstand unserer Forschung wie das schwindende Vertrauen in die Parteien und Politiker oder die Restauration bürgerlich-moralischer Werte.
Obwohl diesem Buch viele tausend Tiefeninterviews zugrunde liegen, die wir – meine Partner, meine Kollegen und ich – seit meinem ersten Buch Deutschland auf der Couch durchgeführt haben, werden Sie darin weder Zahlen noch Statistiken finden. Denn es geht mir im Folgenden darum, anschaulich die großen Sinnzusammenhänge und Entwicklungslinien nachzuzeichnen, die den Wandel der Gesellschaft im Innersten bestimmen. Ich bin davon überzeugt, dass eine pointierte Beschreibung alltäglicher und gesellschaftlicher Phänomene unmittelbarer, berührender, eindringlicher und letztendlich auch verständnisvoller ist als abstrakte Statistiken oder Tabellen. Zahlen und Statistiken bieten zwar die Illusion der Kontrolle und Berechenbarkeit und ermöglichen es den Experten, |9|mit dem erhobenen Datenmaterial virtuose mathematische Operationen durchzuführen. Aber sie verstellen den Blick auf die subtilen oder seltsamen Qualitäten, die inneren Widersprüche, die mitunter verstörende oder beglückende Schicksalswucht, die in diesen gesellschaftlichen Phänomenen »lebt«.
Die zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews, die wir am rheingold-Institut mit den Menschen durchführen, leben durch ihre intensive Begegnungsqualität. Der Psychologe arbeitet nicht einfach einen Fragenkatalog ab, sondern er begibt sich gemeinsam mit den Befragten auf eine abenteuerliche Reise durch ihre Alltagswirklichkeit. Es eröffnet sich ein vertrauensvoller Raum, in dem auch das Peinliche, das Aberwitzige und das Unerhörte ausgebreitet werden kann, weil es eben nicht bewertet, sondern so lange vertieft wird, bis sich ein anderes Verständnis des vermeintlich Selbstverständlichen entwickelt hat.
Jenseits der Erstarrung
Die Welt, in der wir leben, sieht sicherlich für jeden Einzelnen anders aus. Sie hat ihre spezifischen Schattierungen und einzigartigen Ausbuchtungen. Trotz aller individuellen Unterschiede gibt es jedoch gemeinsame Grundzüge, ein ähnliches Empfinden von Rastlosigkeit, Zweifel, Allmacht oder Ohnmacht. Um diese übergreifenden Stimmungen, Erlebensformen und Verhältnisse, die den Zeitgeist und das Gesellschaftserleben prägen, deutlicher zum Ausdruck zu bringen, spreche ich bei meinen Beschreibungen und Analysen häufig von »wir«, von »uns« als Gesellschaft. Ebenso verzichte ich an bestimmten Stellen bewusst darauf, meine Befunde – etwa zu den Jugendlichen, zu den Müttern oder den Senioren – in eine Vielzahl von Typen und Untertypen auszudifferenzieren, da mir Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit wichtiger sind als Detailakribie.
Eine ebenso kritische wie liebevolle Spiegelung gesellschaftlicher Zustände ist nur möglich, wenn man den Mut hat, wie in einer Cha|10|rakterstudie die typischen Züge zuzuspitzen. Ein Porträt kann das Wesen eines Menschen oder einer Gesellschaft mitunter besser erfassen als eine scheinbar objektive Fotografie. Auch wenn man sich um Objektivität bemüht – sie bleibt im Bereich der Kulturpsychologie wie auch in der Geschichtsschreibung ein unerfüllbares Ideal. Denn allein die Auswahl, die Zusammenstellung und die Dramaturgie der Befunde oder Zeiterscheinungen stellen einen subjektiven schöpferischen Akt des Autors dar. Ich sympathisiere in dieser Frage mit der Auffassung des Kulturhistorikers Egon Friedell, der die Abfassung eines rein objektiven Geschichtswerkes als schier unmöglich erachtete. Er räumte zumindest ein: »Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch große Schwierigkeiten machen: Denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.«1
Ich möchte Sie einladen, mit mir gemeinsam lebensfeindliche Glücks- und Perfektionsideale zu hinterfragen, die uns in die Erschöpfung getrieben haben. Den Zugang zu Lebenssinn und neuen Perspektiven finden wir, wenn wir uns selbst auf die Schliche kommen. Wenn wir bereit sind, uns von absoluten und damit falschen Wunschträumen zu verabschieden, und den Mut haben, immer wieder neu zu träumen, gewinnen wir eine neue Souveränität.|11|
Eine Gesellschaft wächst mit ihrer Fähigkeit zu träumen, und sie geht unter durch ihre Flucht in einen absoluten Wunschtraum.|12|
Teil I
Das Diktat der Unruhe
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Kapitel 1
Erschöpfung
Der Tribut einer traumlosen Gesellschaft
Unruhe und Krisenpermanenz
Unser Leben dreht sich immer schneller, wir hetzen von einem Termin zum anderen, sind getrieben von einer inneren Unruhe – zumindest haben viele von uns dieses Gefühl. Wie sehr sich in den letzten Jahren der Rhythmus unseres Alltags beschleunigt hat, habe ich bereits in meinem Buch Deutschland auf der Couch beschrieben: Wie in einem Hamsterrad wird die Unruhe in immer schnellere Umdrehungen übersetzt und wir geraten in einen Zustand besinnungsloser Betriebsamkeit. Zwar sind wir rund um die Uhr emsig, rackern uns nach Kräften ab, wissen aber oft gar nicht, was wir da eigentlich machen – und vor allem warum. Die seit Jahren schwelende Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt diese innere Unruhe zusätzlich und damit auch den Fluchtreflex in die Überbetriebsamkeit.
Dabei ist die Krise, obwohl sie seit Jahren wie ein Schreckgespenst durch die Medien geistert, für die meisten Menschen gar nicht wirklich greifbar. Denn im konkreten Alltag ist sie für die meisten noch gar nicht angekommen. Der eigene Arbeitsplatz scheint nach wie vor sicher. Der Euro ist noch da. Der Geldautomat spuckt wie eh und je Geld aus. Im Supermarkt gibt es frisches Biogemüse genauso wie Kartoffelchips. Deutschland steht im internationalen Vergleich vorbildlich da. Und bei der Europameisterschaft haben wir mal wieder gezeigt, dass man in Zukunft unbedingt mit uns rechnen muss.|15|
Die Rettungsbeschwörungen der Politik und die Durchhalteparolen, wonach dies und jenes und alles Mögliche »alternativlos« sei, finden ihre Entsprechung in den Normalitätsbeschwörungen der Menschen. Die Krise wird ausgeblendet, indem viele von uns im Alltag den Autopiloten anwerfen. Sie klammern sich an ihre Routinen, an die gewohnten Arbeitsabläufe und betreiben Business as usual.
Psychologisch betrachtet hat die sogenannte Krise Ähnlichkeiten mit einem nächtlichen Albtraum, den wir nach dem Aufwachen sogleich wieder abschütteln wollen. Denn sie ist mit dem Gefühl verbunden, plötzlich und unerwartet in unüberschaubare Verhältnisse geraten zu können. Besonders besorgniserregend ist es, dass kein Experte, kein Politiker und keines der großen Wirtschaftsinstitute den Ausbruch der Krise vorhersagen konnten. Aber auch nach ihrem Ausbruch bleibt die Krise kaum fassbar und erklärbar.
Medien und Experten bemühen sich zwar redlich und unermüdlich um Aufklärung, dennoch fällt es uns schwer, die Orientierung zu finden oder den Überblick über die Krisendynamik zu behalten. So bleibt das dumpfe Gefühl, von dunklen Mächten der Finanzwelt bedroht zu werden. Man fühlt sich einem abstrakten Getriebe hilflos ausgeliefert, das in seinen Reparaturversuchen immer neue Krisendimensionen heraufbeschwört: Aus der Immobilienkrise wird die Bankenkrise. Die Bankenkrise führt zu staatlichen Schuldenkrisen. Die wiederum entwickeln sich zur Eurokrise und dem drohenden Verlust aller ökonomischen Sicherheiten.
Wie in einem Albtraum haben wir häufig das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Wir verspüren eine kafkaeske Krisenpermanenz, sehen uns geradezu umstellt von Krisen, die einfach nicht vergehen wollen. Zwar gab es auch in früheren Zeiten Krisen, aber die schienen endlich, sie wurden irgendwann einmal Vergangenheit, weil sie ausgestanden oder behoben waren.
Unsere Krise hingegen entwickelt sich zum ewigen Wiedergänger, zum Zombie, der einfach nicht totzukriegen ist. Zwei Jahre nach der Fukushima-Katastrophe strahlt der Reaktor immer noch. Im Nahen Osten brechen an immer neuen Orten Konflikte aus, auch |16|dort, wo die Entwicklung vielversprechend schien. Für Griechenland wird ein Rettungs-Sirtaki nach dem anderen getanzt, aber sogleich kündigt sich die nächste Pleite an. Der Euro scheint immer noch bedroht. Und es tobt der endlose Streit um die Mobilisierung der Eurobonds – das Fanal zum letzten Rettungsgefecht.
Kennzeichnend für die Krisenstimmung ist das Gefühl, zwar noch sicheren Boden unter den Füßen zu haben, aber jeden Moment ins Bodenlose stürzen zu können – in ein gewaltiges schwarzes Loch, das nicht nur Menschen, nicht nur Immobilien und Banken, sondern auch ganze Staaten schlucken kann. Und mit diesem Gefühl ist die traumatische Vorstellung verbunden, jedwede Handlungsfähigkeit zu verlieren und in einen Zustand völliger Ohnmacht zu geraten. Auch wenn wir uns aktuell nicht im freien Fall befinden, spüren wir doch die Brüchigkeit der aktuellen Verhältnisse.
Und das führt dazu, dass viele von uns den Glauben an die kapitalistische Maximierungskultur verloren haben, die Deutschland seit Wirtschaftswundertagen immer wieder befeuert und getröstet hat. Niemand glaubt mehr daran, dass der nächste Aufschwung alle Probleme lösen wird, ja nicht einmal, dass er es kann. Die Menschen haben das Gefühl, sich mitten in einer grundsätzlichen Zeitenwende zu befinden. Aber keiner weiß, wohin diese Reise geht.
Und wer kann das Land verlässlich und kompetent aus der Krise führen? Ebenfalls lautet die Antwort: keine Ahnung. Denn spätestens nach der für viele enttäuschenden »Fahnenflucht« von Horst Köhler, der Wankelmütigkeit von Christian Wulff oder der Kopierfreude des Hoffnungsträgers zu Guttenberg misstraut der Bürger der Verlässlichkeit vor allem der männlichen Politiker. Ein gutes, weil reales Sinnbild für den politischen Albtraum ist das im Januar 2012 havarierte Kreuzfahrtschiff Costa Concordia: Der Wohlfahrtskreuzer ist leckgeschlagen und in eine bedrohliche Schräglage geraten. Doch der Kapitän war einer der ersten, der nach dem Unfall von Bord gegangen ist und die Passagiere im Stich gelassen hat. Kein Wunder, dass sich die Reisegäste derzeit vor allem an mütterliche Gestalten wie Angela Merkel und Hannelore Kraft klammern, die in unsicheren Zeiten Konstanz und Verlässlichkeit vermitteln.|17|
Im Versuch, das ganze Leben als leicht sedierten, aber dennoch überaktiven Wachzustand zu gestalten, bannen wir das Gefühl, tatsächlich in diesen Albtraum geraten zu können: »Bloß nicht träumen«, lautet die unbewusste Devise. Lieber mit aller Macht die Normalität beschwören.
Die Flucht in die Überbetriebsamkeit
Vor allem ist es wichtig, in jeder Lage die eigene Handlungsfähigkeit beweisen zu können. So soll die Angst abgewehrt werden, durch die Krise in einen Zustand totaler Ohnmacht zu geraten. Seit Ausbruch der Krise konnten wir in zahlreichen Studien eine Zunahme von Aktivitäten wie Putzen oder Heimwerken feststellen. Die häuslichen Kleinkriege und privaten Bodenoffensiven, die beim Putzen mithilfe eines hochgerüsteten Reinigungsarsenals geführt werden, vermitteln das siegreiche Gefühl, feindliche Eindringlinge abwehren zu können. Zumindest daheim erleben wir uns als Herr oder Herrin der Lage.
Von der Flucht in die Überbetriebsamkeit zeugt auch der private Konsum. Davon hat in den letzten Jahren nicht zuletzt die deutsche Binnenwirtschaft profitiert, denn der nach der Krise erwartete Konsumeinbruch blieb überraschenderweise aus. Selbst 2009 trotzten die Deutschen den Hiobsbotschaften und feierten eine Art »Konsumkarneval«.
Denn der Karneval ist das Fest der letzten Stunde. Es läutet den Beginn einer Fastenzeit voller persönlicher Einschränkungen und Verzichtsleistungen ein. Vor dem drohenden Aschermittwoch wollte man das Leben noch einmal richtig genießen. Als der Aschermittwoch jedoch ausblieb, dominierte der »Wertekonsum«: die üblichen deutschen Spartendenzen. Wer sowieso fürchtet, dass die abstrakten Geldwerte, die er über Jahre oder Jahrzehnte gehortet hat, sich irgendwann in Luft auflösen, von schwarzen Löchern geschluckt werden oder zusammen mit neuen Spekulationsblasen platzen, verwandelt die abstrakten lieber in handfeste Werte. So in|18|vestieren die Deutschen fleißig in Häuser und Wohnungen, kaufen Autos, Flachbildschirme oder Sofas. Und möblieren auf diese Weise die sicheren heimischen Rückzugsgebiete.
Viele Unternehmen nutzen gleichfalls diese Tendenz zur Überbetriebsamkeit und verstärken sie zusätzlich. Sie begegnen dem drohenden Einbruch der Krise mit Appellen zur Leistungssteigerung und mit der Erhöhung ihres Effizienzdiktates. Der Leistungsdruck von Seiten der Unternehmensspitze nimmt zu. Aber auch die führenden Manager – vor allem die in international operierenden Konzernen – werden mit ehrgeizigen und kaum erfüllbaren Wachstums- und Renditezielen traktiert, die sie dann an die Belegschaft weitergeben.
Von jedem einzelnen Mitarbeiter wird ein Höchstmaß an persönlicher Flexibilität verlangt. Unbezahlte Überstunden sind mittlerweile, so scheint es, selbstverständlich, gehören geradezu zur Firmenordnung. Auch nach Feierabend oder an freien Tagen hat man für das Unternehmen zur Verfügung zu stehen. Arbeitsbereiche, für die früher verschiedene Personen oder Abteilungen verantwortlich waren, werden komprimiert. Mitarbeiter müssen sich in Rekordzeit in neue Arbeitsbereiche einfinden und mit neuen Tools operieren. Bei alledem steigt die Angst, die gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen oder gar krank zu werden. Die Zahl der Krankmeldungen ist daher seit Jahren rückläufig.
Erschöpfungsstolz statt Werkstolz
Psychologisch stellt sich die Frage, wieso sich die meisten Menschen diesem Leistungsdiktat unterwerfen. Wieso findet kein offener Widerstand gegen übermenschliche Beanspruchung und sinnfreies Arbeiten statt? In der Arbeitshaltung vieler Menschen scheint ein grundsätzlicher Wandel eingetreten zu sein, der dem Leistungsdiktat in die Karten spielt. Der Werkstolz früherer Zeiten ist einem Erschöpfungsstolz gewichen.|19|
Stolz sind wir nicht mehr auf das geleistete Tagwerk, den Bericht, den wir verfasst, die Bestellung, die wir erledigt haben, das Werkstück, das fertiggestellt oder repariert wurde, die Unterrichtsstunde oder das Meeting, die wir bestritten haben. Stolz sind wir heute auf den Grad der Erschöpfung, den wir uns im Laufe des Arbeitstages »erkämpft« haben. Wir wissen zwar oft nicht mehr genau, was wir gemacht und mit welchem Sinn wir es betrieben haben. Aber an der bleiernen Müdigkeit spüren wir, dass wir uns doch rechtschaffen abgearbeitet haben. Die Frage, ob unser Tag erfolgreich, befriedigend oder erfüllend war, macht sich also nicht an der Qualität der geleisteten Arbeit fest, sondern am Ausmaß unseres eigenen Ausgelaugt- und Gestresstseins.
Dadurch droht das Arbeitspensum, das wir uns zumuten, jedoch maßlos zu werden, denn wir erkennen den Zeitpunkt des Aufhörens nicht mehr. Das Werk gibt ein natürliches Maß und eine organische Rhythmik vor. Es verlangt Pausen, etwa weil die Farbe trocknen muss oder weil man seine Gedanken sortieren muss, bevor der nächste Schritt gemacht werden kann. Die Qualität des Werkes erfordert es, innezuhalten, Abstand zu gewinnen, die Perspektive zu wechseln, weitere Materialien zu besorgen oder die Sache zu überschlafen. Mit ihm ist auch eine Endlichkeit verbunden: Man weiß oder spürt zumindest, wann das ganze Werk oder eine Werketappe fertiggestellt ist.
Die Erschöpfung lässt sich dagegen scheinbar beliebig steigern. Im Sinne der Erschöpfung sind Pausen keine Gelegenheiten der Regeneration und des Kräftesammelns, sondern Zeitlöcher, durch die das Gefühl der Ermattung entrinnen kann. Diese Zeitlöcher müssen durch eine Vielzahl von kleinen Tätigkeiten gefüllt werden, und zwar möglichst dicht. Nur so entsteht das Gefühl einer daueraktivierten Angespanntheit, die dann hoffentlich nach acht, zehn oder zwölf Stunden in den Zustand totaler Erschöpfung übergeht, der einem selbst und den Kollegen signalisiert: »Es geht jetzt wirklich nicht mehr.«
Die Erschöpfungsgrenze lässt sich allerdings heute auch immer weiter verschieben. Warnsignale des Körpers werden einfach über|20|sehen oder überfahren. Wenn Kaffee oder Taurin nicht mehr helfen, kann man immer noch auf Stoffe wie Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin, zurückgreifen. Sie erlauben eine Art Hirndoping und versprechen eine geistige Leistungssteigerung. Während die zappeligen Kinder, die den Erwachsenen aus der Dauerbetriebsamkeit reißen könnten, mit diesem Stoff ruhiggestellt werden, nutzen ihn die Erwachsenen als Stimulanz, das Durchhalte- und Konzentrationsvermögen zu steigern verspricht.
Solche Grenzverschiebungen werden auch dadurch begünstigt, dass in vielen Unternehmen eine Erschöpfungskonkurrenz tobt. Im Kollegenkreis wetteifert man um den inoffiziellen Titel des Verausgabungsmeisters. Er oder sie ist der moderne Held der Arbeit, der sich in manischer Selbstverleugnung und Selbstüberwindung für das Unternehmen aufopfert. Ihm gebührt Lohn, Lob, Anerkennung und Sozialprestige. Und daher werden die heroischen Erzählungen von Marathonsitzungen, Nachtschichten, bezwungenen Mailhundertschaften und Multitasking wie Frontberichte ausgebreitet. Durch die Zurschaustellung seiner völligen Erschöpfung versucht man paradoxerweise sich und den anderen seine Allmacht zu beweisen.
Applauskultur und das ewige Casting
Das Schwinden des Werkstolzes geht heute einher mit einer Verunsicherung des Selbstwertgefühls. Im Werk kann sich der Schöpfer dieses Werkes verwirklichen. Der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer hat in seiner epochalen Studie Abstraktion und Einfühlung das Kunstwerk als »objektivierten Selbstgenuss« bezeichnet. Anders ausgedrückt: Als Schöpfer erkenne und genieße ich mich selbst in meinem Werk. Es objektiviert mein subjektives Streben, Sehnen, Leiden und Schaffen. Während Erschöpfungszustände vergänglich sind und immer wieder neu erzeugt werden müssen, können Werke einen Bestandswert haben. Sie können immer wieder aufgegriffen, angefasst oder modifiziert werden. Werke können daher |21|als objektivierter Selbstgenuss auch das Selbstwertgefühl stabilisieren.
Da die Erschöpfungszustände hingegen so flüchtig sind, verflüchtigen sich mit ihnen sogleich wieder Stolz und Selbstwertgefühl. Wer bin ich? Was kann ich? Was bin ich eigentlich wert? Diese zweifelnden Fragen ploppen heute beinahe täglich auf und sollen durch ein stetes soziales Echo beantwortet werden. Der Applaus ist an die Stelle der Werkgesinnung getreten. Sein ständiges Branden soll die Stille und die Leere überdröhnen, die die Erschöpfung hinterlässt. Und er soll die Schmerzen betäuben, die mit der Überbetriebsamkeit einhergehen. Der Applaus ist der Schmierstoff des überdrehten Getriebes.
Die mediale Speerspitze der heutigen Applauskultur sind die inflationären Castingshows. Das ganze Land macht sich auf die Suche nach den Superstars, Topmodels, Megatalenten und Newcomern. In schier endlosen Auswahl- und Entscheidungsrunden müssen sich die Kandidaten der Jury und dem Publikum stellen. Dabei wird Häme ausgeschüttet oder Applaus gespendet. Gradmesser der Qualität ist nicht mehr das Bewusstsein der eigenen Leistung, sondern die Resonanz der anderen. Man erkennt sein Können erst, wenn man sich in dessen Wirkung spiegeln kann. Das stabile Selbstwertgefühl wird durch eine Frage abgelöst: »Wie war ich?« Und bezeichnend ist, dass diese Frage weder von einem selbst noch von der fachkundigen Jury beantwortet werden darf. Die letzte Entscheidung darüber, ob man »weiterkommt«, hängt vom Voting einer anonymen Masse ab, die mit ihrem Applaus oft nicht die Qualität des Werkes, sondern die Übereinstimmung mit dem eigenen Geschmack prämiert.
Der schmale Grat zwischen Allmacht und Ohnmacht, zwischen Superstar und Loser wird über den Applaus austariert. Nicht nur in den großen TV-Castingshows, sondern im täglichen Casting unseres Alltags. Ohne Applaus, soziales Echo, Feedbackgespräch oder Wirkungsspiegelung fühlen sich viele Menschen leer und nichtig. Der Daumen des Facebookbuttons »Gefällt mir« ist nichts anderes als ein Sinnbild unserer Applauskultur. Bleibt dieser erhobene Daumen aus, so zweifelt man an sich selbst oder an seinem kleinen Werk, |22|das man ins Netz gestellt hat. Und stürzt sich danach umso stärker in neue Aktivitäten.
Burnout und Seelenschaden
Der Seelenschaden unserer überdrehten Lebensführung ist trotz der wirtschaftlichen Stabilität nicht zu leugnen. Es erfordert einen hohen seelischen Preis, wenn man vorrangig darauf setzt, persönliche oder wirtschaftliche Krisen durch blinde Leistungssteigerung, Effizienz und enorme Rhythmuserhöhung abzuwehren. »Wenn der Job das Leben frisst« betitelte der Stern die Folgen dieses Hochleistungszwangs.2 Die Zunahme von Kopfschmerzen und psychosomatischen Erkrankungen ist ein deutliches Symptom einer überbetriebsamen Gesellschaft. Vor allem das Burnout-Syndrom ist zu einer modernen Volkskrankheit nicht nur unter Lehrern, Angestellten und Managern geworden.
Dabei fällt in Gesprächen mit Managern oder an Burnout erkrankten Menschen auf, dass der Begriff »Burnout« ein hohes Sozialprestige genießt. Die Diagnose Depression etikettiert einen Mangelzustand niederschmetternden Herabgedrücktseins. »Burnout« hat hingegen den Nimbus einer modernen Tapferkeitsmedaille, der höchsten Auszeichnung in Sachen Erschöpfungsstolz. Es klingt nicht nach einer Krankheit, sondern nach einem hingebungsvollen Entwicklungsdrama. Wer ausgebrannt ist, hat ja lange Zeit gebrannt. Er war Feuer und Flamme für seine Aufgaben. Er hat sich nicht geschont, sondern – wie eine Kerze – seine Substanz aufgezehrt, um andere zu erwärmen und zu erhellen. Im übertragenen Sinne hat er sein eigenes Wachs dem Wachstum geopfert: ein moderner Märtyrer, der bereitwillig den Scheiterhaufen der Maximierungskultur bestiegen hat. Und so einer verdient Anerkennung oder sogar Verehrung. Nun gebührt ihm das Recht einer Auszeit, in der er sich nur noch um sich selbst kümmern muss – und darf.
Der Begriff »Burnout« wird letztlich dem elenden, völlig nieder|23|gedrückten und in totaler Perspektivlosigkeit versunkenen Zustand der »Erkrankten« nicht gerecht. Aber er trifft den Nerv unserer Zeit und ihrer Rechtfertigungen. Daher ist er in aller Munde, obwohl der Burnout, wie Markus Pawelzik in einem Zeit-Artikel anmerkt, »keine definierte, medizinisch anerkannte Gesundheitsstörung ist«.3 Im Katalog der Weltgesundheitsorganisation wird er nur im Anhang im Kapitel »Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen« erwähnt.
Die fast epidemische Burnout-Zunahme ist jedoch eine Tatsache. Laut der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) sind mittlerweile 10 Prozent aller Fehltage auf Burnout zurückzuführen. Die renommierte Therapeutin Dr. Gloria Becker konstatiert in ihrem lesenswerten Buch Liebe und Verrat die drastische Zunahme von Burnout-Fällen in ihrer Praxis: »Ausgelaugt und kurz vor dem Zusammenbruch, suchen vermehrt Menschen psychotherapeutische Praxen auf. Fähige und tatkräftige Mitarbeiter, die jahrzehntelang bestens ‚funktioniert‘ haben, werden von Weinanfällen geschüttelt, finden keinen Schlaf mehr und zweifeln existentiell an sich selbst.«4 Der Preis für die hochtourige und komprimierte Lebensführung ist die völlige Selbstauflösung. Ein apathischer Zustand, in dem kein Entwicklungsanreiz mehr verlockend erscheint, in dem die Kraft fehlt, sich zu regenerieren und das eigene Leben umzuträumen.
Die Burnout-Konjunktur ist der letzte Hinweis darauf, dass viele Menschen blind geworden sind für ihre eigene Befindlichkeit. Sie nehmen subtile Warnsignale nicht mehr wahr, die eine Überforderung oder Erschöpfung anzeigen. Sie haben buchstäblich den inneren Kompass verloren, der ihnen hilft gegenzusteuern oder den Kurs zu ändern.
Kopfschmerz als seelische Verdauungsstörung
Es ist höchste Zeit, dass wir Erschöpfung nicht länger als einen Mangelzustand ansehen, den es so schnell wie möglich abzustellen gilt. |24|Im Gegenteil kann Erschöpfung ein produktiver Zustand sein, wenn wir uns die Zeit nehmen, uns zu fragen, warum wir erschöpft sind. Unser Erschöpfungszustand signalisiert, dass wir in eine Überlastung geraten sind. Er entzieht der Überbetriebsamkeit die Energie und leitet einen Übergang ein, der uns zum Träumen und Verarbeiten motiviert. Eine ähnliche Funktion als Warn- und Umkehrsignal erfüllt der Kopfschmerz.
Unsere Studien zur Genese von Kopfschmerzen5 zeigen, dass sich die Menschen in Bezug auf ihre Kopfschmerzen am liebsten in der Opferrolle sehen. Zuerst beschreiben sie die erlebte Heimtücke der Kopfschmerzen: »Sie sind unberechenbar und befallen einen plötzlich, wie ein ungeladener Gast. Manchmal wacht man morgens auf und hat bereits ein nebliges Gefühl im Kopf und weiß: heute erwischt es mich wieder.« »Meist beginnt der Schmerz mit einem dumpfen Gefühl, einer Art Mattigkeit, die sich dann langsam steigert zu leichtem, stechendem Schmerz, der sich dann weiter ausbreitet.« Im Extrem wird der Schmerz dann »hämmernd wie eine Schlagbohrmaschine im Kopf«.
Aber bei näherer Auseinandersetzung stellt man fest, dass dem Kopfschmerz – falls er nicht organisch bedingt ist – meist ein Zustand der Überforderung vorausgeht. Beklagt wird ein Zuviel an »äußerem« Stress. Der Druck am Arbeitsplatz ist enorm, man kämpft mit beruflichen und privaten Doppelbelastungen oder beklagt die Hektik und den Lärm im beruflichen oder familiären Umfeld.
Oft merkt man dann auch, dass dieses Zuviel zum Teil hausgemacht ist. Man erlebt sich getrieben von der eigenen Lebensgier. Man feiert Partys die halbe Nacht, obwohl einem eher nach Erholung zumute ist. Man gerät in einen Einkaufs- oder Freizeitstress und hetzt auch hier von einem Geschäft oder Termin zum nächsten. Oder man tröstet sich mit Alkohol und spürt dann schon im Morgengrauen seinen dicken Kopf.
Der meist erst leicht einsetzende Kopfschmerz würde jetzt eigentlich berechtigen, aus dem Zuviel auszusteigen und zur Ruhe zu kommen. Aber diese Lizenz zum Träumen wird nicht genutzt. Zu groß ist die Furcht, dass all die offenen Baustellen, die biografischen |25|Spannungen und Probleme wieder in den Kopf steigen würden, die man doch durch seine Überbetriebsamkeit in Schach halten wollte. Der Preis der selbst verordneten Ruhe wäre doch nur erneute Unruhe. Der Steigerung des Kopfschmerzes geht so mit einem Gefühl der Unauflösbarkeit einher: Das Zuviel an Problemresten scheint nicht mehr zu verarbeiten zu sein.
Das erzeugt unterschwellig Wut und Aggressionen auf die Welt, auf sich selbst und die Verhältnisse. Ärger, Wut und Zorn werden aber weder artikuliert noch ausagiert, sondern gegen sich selbst gewendet. Paradoxerweise entwickelt sich der Kopfschmerz dadurch zu einem Entlastungs- oder Verlagerungsangebot. Denn die scheinbar unauflösbaren Lebensprobleme werden in ihm »verdinglicht«, das heißt, sie werden in lösbare und behandelbare Probleme verwandelt – eben in Kopfschmerz. Und der eröffnet in der festgefahrenen Situation wieder einen neuen Handlungsspielraum.