Wie tickt Deutschland? - Stephan Grünewald - E-Book

Wie tickt Deutschland? E-Book

Stephan Grünewald

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Beschreibung

Nach "Deutschland auf der Couch": Das neue Buch des Bestsellerautors und "Psychologen der Nation" (FAZ) Stephan Grünewald. Deutschland befindet sich in einem aufgewühlten seelischen Zustand. Vielen Menschen geht es zwar gut und sie erleben ihr Land als Insel des Wohlstands in einer Welt krisenhafter Umbrüche. Dennoch rumort es: Unzufriedenheit, blanke Wut und Hass artikulieren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken. Der soziale Zusammenhalt schwindet, radikale Parteien sind auf dem Vormarsch. Immer mehr Bürger haben das Gefühl, dass die Zukunft nur schlimmer werden kann. Aber was hat die Menschen so aufgebracht? Stephan Grünewald erstellt anhand tausender psychologischer Tiefeninterviews des Rheingold-Instituts ein aufrüttelndes Psychogramm der Nation. Er untersucht den zunehmenden Argwohn vieler Menschen, von der Politik und den Eliten verraten zu werden und zu wenig Wertschätzung zu erfahren. Er beleuchtet anschaulich die Quellen der Wut, Ohnmacht und Erschöpfung in einem Alltag, der zunehmend durch Perfektionsansprüche und einen digitalen Machbarkeitswahn geprägt ist. Durch seinen originellen Blick vermittelt das Buch dem Leser viele Aha-Effekte in Bezug auf den eigenen Alltag und gesellschaftliche Zusammenhänge. Es macht die unbewussten psychologischen Mechanismen unseres Handelns verständlich. Dadurch eröffnet es neue Perspektiven für eine sinnvolle Gestaltung der Zukunft.

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Seitenzahl: 253

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Stephan Grünewald

Wie tickt Deutschland?

Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Stephan Grünewald

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorwortOhnmacht und Wut im deutschen Auenland1 Gefangen im Auenland2 Spaltpilz mangelnde Wertschätzung3 Der Verlust der OrientierungDigitaler Größenwahn4 Der Mensch im digitalen AppSolutismusDer Alltag und der Preis der Allmacht5 Der gezähmte Mann6 Mütter, die überlasteten Alleskönnerinnen7 Kindheit und JugendDie Zeit des Erwachens8 Das »böse« Erwachen9 Das schöpferische ErwachenDankLiteratur
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Vorwort

Gefühlte und gemessene Realität

Deutschland befindet sich in einem aufgewühlten seelischen Zustand. Vielen Menschen geht es zwar gut, und sie erleben ihr Land als Insel des Wohlstands in einer Welt krisenhafter Umbrüche. Dennoch rumort es: Das Vertrauen vieler Menschen in die Politik und vor allem in die Volksparteien schwindet. Unzufriedenheit, blanke Wut und Hass artikulieren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken. Sie brechen auch im Alltag immer wieder hervor und manifestieren sich in Pöbeleien, Beleidigungen, tätlichen Angriffen oder in Hetzjagden auf Flüchtlinge oder Andersdenkende.

Aber auch die Menschen, die besonnen ihren Alltag gestalten, spüren eine zunehmende Irritation und Gereiztheit. Irgendetwas ist anders geworden in unserem Land. Feste Gewissheiten lösen sich auf. Die Konstruktion unserer Gesellschaft scheint immer fragiler zu werden – so als würde ständig aus einem aus vielen Bauklötzen stabil geschichteten Turm ein Klötzchen nach dem anderen herausgezogen werden. Und mit banger Erwartung sieht man dem Einsturz entgegen.

Schon jetzt ist der soziale Zusammenhalt gefährdet, und radikale Parteien sind auf dem Vormarsch. Die Gesellschaft droht sich in Rechte und Linke, Heimatverbundene und Weltoffene, Bürger und Eliten zu spalten, in der keine Gruppe mehr für die jeweils andere Verständnis hat. Ein gemeinsamer Aufbruchsgeist, eine einigende Zielperspektive, ist in der Bevölkerung heute ebenso wenig zu finden wie bei der Nationalmannschaft bei der WM 2018. Immer mehr Bürger verlieren den Glauben an die Zukunft. Es bleibt ein Gefühl, dass eigentlich alles nur schlimmer werden kann und sich dieser Prozess allenfalls verlangsamen lässt. Irgendwann schwappen jedoch all die Krisen, die uns umbranden, in unser Auenland hinein.

Blickt man rational auf die Faktenlage, so eröffnet sich eine große Diskrepanz zwischen gefühlter und gemessener Realität. Deutschland geht es wirtschaftlich so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Experten sprechen gar von einem kleinen Wirtschaftswunder. Die Arbeitslosigkeit steht auf einem historischen Tiefststand. Das Gesundheitssystem ist im Vergleich immer noch eines der besten der Welt, und die Lebenserwartung der Menschen war noch nie so hoch wie heute. Die Bürokratie funktioniert trotz all ihrer Mängel noch erstaunlich gut, und selbst das Bildungsniveau ist höher denn je. Entspringt also die Aufgewühltheit der Menschen vor allem ihrer Einbildung? Fußt der landläufige Pessimismus auf einem evolutionsbedingten Wahrnehmungsfehler, da die Überlebenschancen derjenigen am größten sind, die ständig mit dem Schlimmsten rechnen? Oder verzerren die Medien systematisch unsere Sicht auf die Welt, weil sie den durch das Internet immer schneller werdenden Kampf um die mediale Aufmerksamkeit mittels eines Trommelfeuers von Skandalen, Katastrophen und Verbrechen für sich gewinnen wollen?

Sicher bestimmen diese Mechanismen mit, wie die Menschen ihre Wirklichkeit wahrnehmen. Sie waren jedoch bereits vor zehn Jahren da und können nicht die spezifische seelische Verfassung des Deutschlands von heute erklären. Auch der Verweis auf den faktisch guten Zustand des Landes relativiert oder negiert aus psychologischer Sicht nicht die emotionale Befindlichkeit seiner Einwohner. Unzufriedenheit, Gereiztheit, Wut oder Angstzustände finden sich auch bei Menschen, die äußerlich betrachtet auf der Sonnenseite des Lebens stehen und weder finanzielle noch gesundheitliche Sorgen haben.

Deutschland auf der Psychologencouch

Um zu verstehen, was mit dem Land und den Menschen eigentlich los ist, möchte ich wie in meinen Büchern »Deutschland auf der Couch« und »Die erschöpfte Gesellschaft« tiefer gehen. Als Leiter des rheingold-Instituts erfahre ich, was die Menschen in Deutschland wirklich bewegt: Jedes Jahr liegen im Rahmen von über 200 Forschungsprojekten insgesamt mehr als 5000 Menschen aller Alters- und Bevölkerungsschichten in unserem Institut sinnbildlich auf der Psychologencouch. Statt auf quantitativ-statistische Befragungen stütze ich mich auf psychologische Tiefeninterviews, die meine Kollegen in den vergangenen Jahren und Monaten für öffentliche Auftraggeber, für Stiftungen, für die Medien oder für die Industrie durchgeführt haben.

In diesen zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews wird Bürgern, Wählern, Zuschauern oder Konsumenten die Möglichkeit gegeben, in einer vertrauensvollen Atmosphäre all das zu beschreiben, was ihnen im Hinblick auf das jeweilige Forschungsthema einfällt und durch den Kopf geht. Dabei wird den Befragten Anonymität und absolute Gedankenfreiheit zugesichert. Es gibt im Tiefeninterview kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Böse. Alles, sei es auch noch so persönlich, abstrus, verrückt oder pervers, darf zur Sprache kommen.

Es geht den Psychologen nicht darum, das Gesagte zu bewerten, sondern den tieferen Sinn der Ausführungen zu verstehen. Daher werden im Tiefeninterview auch möglichst wenige Fragen gestellt. Denn jede Frage gibt eine Richtung vor und lenkt dadurch auch indirekt die Antwort. Wichtiger ist es, den Menschen immer wieder zu ermuntern, das gerade Gesagte noch genauer zu beschreiben. Das persönliche Erleben, die Sehnsüchte oder Ängste, die geheimen Hoffnungen und Erwartungen ebenso wie die Widerstände und Bedenken sollen spürbar und anschaulich werden. Dieser Prozess braucht Zeit – mindestens zwei Stunden – und eine anschließende sorgfältige und mehrstündige Analyse jedes einzelnen Interviews[1]. Niemand weiß sogleich, was ihn wirklich bewegt, was die Quellen seines Unmuts oder seiner Wut sind. Oft verschanzen wir uns erst einmal hinter Rationalisierungen, hinter Plattitüden oder sozial erwünschten Aussagen. Und erst im Verlauf eines Tiefeninterviews wird ein Erkenntnisprozess in Gang gesetzt, indem sich der Proband durch die minutiöse Beschreibung seines Alltags und seiner Gefühlswelten langsam auf die Schliche kommt und Regungen oder Verhaltensweisen versteht, die ihm bislang gar nicht bewusst waren.

Ich möchte Sie in den folgenden Kapiteln zu einer gemeinsamen Forschungsreise einladen, um den Quellen der Unzufriedenheit, der inneren Aufgewühltheit und der Wut in der Bevölkerung nachzuspüren. Auf zwei Dinge möchte ich im Vorfeld der Reise aufmerksam machen. Die beschriebenen Stimmungen lassen sich erstens nicht allein einzelnen Bevölkerungsgruppen zuweisen, sondern sie gehen quer durch die ganze Gesellschaft. Vielleicht artikulieren sie sich in Ostdeutschland oder bei den Anhängern radikaler Parteien wie der AfD stärker als im Rest der Gesellschaft, aber sie finden sich auch in der breiten Mitte. Die Menschen spüren, dass sich das Land in einem gewaltigen Umbruch mit ungewissem Ausgang befindet. Um diese den Einzelnen übergreifenden Stimmungen und Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen, spreche ich in meinen Beschreibungen und Analysen häufig von »wir« und von »uns« als Gesellschaft.

Die Aufgewühltheit der Gesellschaft lässt sich zweitens nicht auf eine Ursache wie etwa die Flüchtlingskrise zurückführen, die laut Horst Seehofer »die Mutter aller Probleme« ist. Schon vorher führte ein verbreitetes Unbehagen und eine diffuse Zukunftsangst zu einer Sehnsucht nach einer permanenten Gegenwart und zu dem Wunsch nach einer stärkeren Abschottung. Die Große Koalition wurde zum Sinnbild einer Gesellschaft, die lange Zeit nicht auf Aufbruch und Entwicklung gesetzt hat, sondern sich in einer saturierten Vollkaskomentalität verschanzt und sich in einem nervenden Dauergezänk aufgerieben hat.

Gesellschaft und Alltag – die Stationen der Forschungsreise

Im ersten Teil des Buches werde ich die wachsende Ohnmacht und Wut im deutschen Auenland beleuchten. Hier geht es vor allem um das heimliche Stillhalteabkommen, das die Bürger mit der Politik und der Übermutter Merkel geschlossen haben und das jetzt aufgekündigt wird. Und um den eklatanten Mangel an Wertschätzung auf allen gesellschaftlichen Ebenen, der zum Spaltpilz des Zusammenhaltes wird. Schließlich werde ich beschreiben, wie die Menschen – aber auch die Politik – in den vergangenen Jahren die Orientierung und den inneren Kompass verloren haben und in einen Zustand entfesselter Beliebigkeit geraten sind, in dem die Lüge mitunter tragfähiger wirkt als die Wahrheit.

Die Quellen der Wut und der Aufgewühltheit liegen auch im Alltag der Menschen, der sich in den vergangenen zehn Jahren gravierend verändert hat und den ich im zweiten Teil des Buches beschreibe. Die technologischen Entwicklungen, allem voran die Erfindung des Smartphones, haben nicht nur in Deutschland zu übersteigerten Erwartungen und zu einem digitalen Machbarkeitswahn geführt. Viele Menschen fühlen sich mit dem Smartphone potenziell allmächtig und allwissend, denn mit ihm ist die Verheißung verbunden, auf Knopfdruck oder im simplen Handstreich den Alltag beherrschen zu können. Aber diese kindliche Verheißung wird angesichts der Komplexität des Lebens und der Mühseligkeit des analogen Alltags immer wieder enttäuscht. Die digitale Allmacht verkehrt sich im Alltag immer wieder in analoge Ohnmacht.

Und diese zeigt sich im Alltag in vielen Erscheinungsformen, die ich im Buch beschreibe: in der Rollendiffusion und der unterdrückten Wut der gezähmten Männer, die mitunter von einem Rollback zur alten Männlichkeit träumen. In den multiplen Perfektionsansprüchen der Mütter, die häufig in die Überbelastung und Erschöpfung führen. Oder in der Kindheit und Jugend in einem brüchigen Versorgungsparadies, das ständig von Streit und Trennung bedroht wird und in dem bereits Kinder unter einem enormen Erwartungsdruck stehen, entweder bereits mit zwanzig Jahren Start-up-Millionär beziehungsweise Superstar zu sein oder als Versager dazustehen.

Aber die Aufgewühltheit der Menschen hat auch ihre produktiven Seiten. Wir befinden uns in einem Zustand des Erwachens. Aufgestört durch die eigene Unduldsamkeit und Wut im Alltag, aber auch aufgeschreckt durch den Brexit, den Terror, durch Trump oder Erdoğan wächst die Bereitschaft der Menschen, die Zukunft aktiv zu gestalten. Die Gesellschaft steht an einem Scheideweg, und es ist unklar, in welche Richtung sie sich entwickelt. Steuern wir auf einen neuen Fundamentalismus zu, der überwunden geglaubte Formen des Nationalismus und der kollektiven Besessenheit auferstehen lässt und dabei zivilisatorische Standards schleift? Oder gelingt es uns, Deutschland so umzugestalten, dass zivilisatorische Errungenschaften wie Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit, universelle Menschenrechte, Weltoffenheit und Toleranz eine neue Blüte erfahren und wir bessere Lebensbedingungen für die Menschen nicht nur in unserem Land schaffen?

 

Mein Buch plädiert für ein Erwachen mit menschlichem Maß. Zivilisation bewegt sich in meinen Augen jenseits aller Erlösungsutopien, Perfektionsversprechen und Glücksabsolutismen. Zivilisation bedeutet erwachsen zu werden, Widersprüche auszuhalten und auszugestalten, Perspektivwechsel vorzunehmen und das Risiko eines Scheiterns zu ertragen. Zivilisation bedeutet auch Mut zum Kompromiss. An die Stelle von überbordendem Egoismus und Nationalismus – wie er sich zum Beispiel in der Parole »America first« darstellt – tritt der Blick und die Verantwortung für das Ganze, die Entschiedenheit, die nicht blind ist, und eine Streitkultur, die nicht nach Durchsetzung aller Ziele, sondern nach einem lebbaren Kompromiss für die Zukunft sucht. Solch eine lebenswerte Zukunftsvision »erwächst« jedoch nur, wenn wir uns als Einzelne und als Gesellschaft Entwicklungsspielräume erlauben. Jenseits der besinnungslosen Betriebsamkeit unseres Effizienzstrebens brauchen wir Dehnungsfugen und eine schöpferische Verrücktheit – die innere Freiheit für einen neuen Gesellschaftsentwurf.

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Ohnmacht und Wut im deutschen Auenland

1Gefangen im Auenland

Rundumversorgung und Verratsargwohn

Auenland und Grauenland

In Deutschland war es lange Zeit relativ ruhig. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft schien bis zur Flüchtlingskrise im Jahre 2015 nicht gefährdet. Diese vordergründige Stabilität war einerseits im wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands begründet, andererseits – wie ich später ausführen werde – in der Gestalt der Kanzlerin, die seit Jahren als »Mutter Merkel« bezeichnet wird. Vor allem mit Blick auf die krisengeschüttelten Nachbarn im Süden Europas erschien den meisten Menschen hierzulande Deutschland als eine Insel des Wohlstandes. Die Arbeitslosigkeit erreichte über Jahre immer wieder neue Tiefststände, die Wirtschaft florierte, Deutschland feierte sich als Reiseweltmeister, als Exportweltmeister und in den Jahren 2014 bis 2018 als Fußballweltmeister.

Auch nach der Flüchtlingskrise und nach den Terrorattacken beschreiben viele Menschen ihre Zufriedenheit. Zwar äußern sie auch Kritik an vielen Zuständen, aber diese trübt kaum das Grundgefühl, in einem Auenland zu leben. Noch im Frühjahr des Jahres 2017 berichten unsere Psychologen, die eine Studie über die Stimmung im Lande durchführen[2], dass sie lange nicht mehr so gut gelaunte Probanden erlebt hätten. Freudig breiten die Menschen ihre persönliche Lage aus: Die meisten sind sehr froh über den eigenen stabilen Alltag. Sie erzählen von privaten Projekten oder kleinen Glücksmomenten in der Familie oder im Freundeskreis. Voller Vorfreude ersehnen sie den nahenden Sommer, sie heimwerken mit Elan, verschönern ihr Heim oder erfreuen sich an den blühenden Stiefmütterchen im Garten.

Die Welt da draußen mit ihren Krisen und Konflikten scheint diese Stimmung kaum zu trüben. Demonstrativ bekunden die Interviewten, dass sie sich von Krieg und Terror nicht einschränken lassen: »Ich mache trotzdem, was mir gefällt.« Und immer wieder betonen sie: »Ja, eigentlich geht es uns ja gut. Wir sind ein Land voller Wohlstand.« Vor allem beim täglichen oder wöchentlichen Einkauf freuen sich die Menschen, wie prall die Regale gefüllt sind und wie einladend mittlerweile selbst die Discounter aussehen. Die farbenprächtige Obst-und-Gemüse-Abteilung, die überbordende Fleisch- oder Käsetheke, die internationalen Spezialitäten und die breitgefächerten Sortimente werden so für manche Konsumenten zur rituellen Versicherung, dass die paradiesischen Zustände doch immer noch da und zum Greifen nahe sind. Angesichts dieser stabilen Warenbestände und der weiterhin beruhigenden wirtschaftlichen Kennzahlen gelingt es vielen Menschen, in ihren Eigenwelten aufzugehen und sich weitgehend in ihr privates Auenland zurückzuziehen.

Aber die Psychologen bemerken in den Tiefeninterviews auch die Anstrengung, die diese Beschwörung des privaten Glücks erfordert. Ständig muss die Welt da draußen weggehalten werden. »Manchmal traue ich mich gar nicht, die Nachrichten einzuschalten, weil man dann wieder mit der nächsten Katastrophe oder Krise konfrontiert wird.« Die Menschen spüren, dass die Welt aus den Fugen gerät. Aber das versuchen sie auszublenden, indem sie die Welt aufspalten.

Jenseits des privaten Auenlands liegt das Grauenland. Eine finstere und bedrohliche Welt der Globalisierung, des Terrors, der Digitalisierung, des Islamismus und des Kriegs. Dort treiben Despoten ihr Unwesen, dort lauern unkalkulierbare und riskante Entwicklungen. Das Grauenland ist eine Welt, die man in ihrer Komplexität nicht versteht und deren Unberechenbarkeit Angst macht. Am besten verschließt man die Augen vor dieser Welt, denn glücklich ist, wer vergisst, was (scheinbar) nicht zu ändern ist.

Diese Aufspaltung der Wirklichkeit in ein Auenland und ein Grauenland gibt den Menschen das beruhigende Gefühl, Herr über Raum und Zeit sein zu können, ohne dabei die Existenz höchst beunruhigender Entwicklungen leugnen zu müssen. Demzufolge ist Deutschland umzingelt von Krisenherden, von Pleitestaaten oder Terrorländern. Aber den Deutschen droht keine Gefahr, solange sie ihr Auenland davon abschotten können.

Mit dieser Grenzziehung ist die Sehnsucht nach einer permanenten Gegenwart verbunden. Natürlich wissen wir, dass sich die Zeiten ändern können, dass irgendwann die globalen Krisen auch uns erreichen werden. Aber können wir die Zeit nicht anhalten und einfrieren? Können wir die Zukunft nicht einfach aus unserer Vorstellungswelt verbannen und uns in einem möglichst immerwährenden Status quo einrichten? Das hätte doch den großen Vorteil, dass uns all die Ungewissheiten und Wechselfälle des Lebens erspart blieben. Wir hätten dann wirklich eine Art Daseinskontrolle und müssten uns nicht mehr den Risiken der Zukunft stellen.

Die Zeit des Erwachens

Die Abschottung Deutschlands von der Welt da draußen soll aber nach Meinung der Bürger nicht total sein. Als wichtigster Wirtschaftsstandort inmitten Europas braucht Deutschland eine gewisse Offenheit und Durchlässigkeit und sollte idealiter eine Art »Goretex-Republik« sein. Das Land sollte nach dem Prinzip einer semipermeablen Membran funktionieren, wie sie etwa in der gleichnamigen Regenkleidung zum Einsatz kommt: Das Gute, die Menschen und Produkte aus dem deutschen Auenland, sollen nach außen dringen können und uns weiterhin zum Reise- und Exportweltmeister machen. Aber das Flüchtige, das Marode, das Krisenhafte soll bitte draußen im Grauenland bleiben.

Allerdings haben die Menschen in den vergangenen Jahren immer wieder unvermittelt die kränkende Umkehrung der Semipermeabilität erlebt. Auf der einen Seite dringt nun vor allem durch den Dieselskandal das Schlechte und Betrügerische aus unserem Land nach außen. Auf der anderen Seite kommt seit dem Herbst 2015 mit den Flüchtlingen die Globalisierung und das Elend der Welt in das deutsche Auenland. Die Menschen erleben, dass die Membran in beide Richtungen durchlässig wird. Der Lkw, der im Dezember 2016 in den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche raste, wurde zum traurigen Sinnbild für den jederzeit drohenden Einbruch des Grauenlandes in das Auenland.

Trotzdem halten viele Menschen unbewusst an der Aufspaltung der Welt fest. Das private Idyll wird mühsam und beinahe trotzig gedanklich wiederhergestellt, sobald es wieder einmal zu entgleiten droht. Wir befinden uns gerade in einer höchst sensiblen Übergangsphase, die man als »Zeit des Erwachens« beschreiben kann und die durch einen ständigen Wechsel zwischen Dämmerzustand und Realitätszuwendung charakterisiert ist. So beschreiben viele Bürger in den Tiefeninterviews eine erhöhte Wachsamkeit in ihrem Alltag. Sie fürchten, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren könnte. So achten sie auf herrenlos herumstehende Koffer oder machen einen Bogen um Ansammlungen junger Männer. Viele Menschen berichten auch, dass sie sich wieder häufiger und ausgiebiger über politische Entwicklungen informieren. Sie schauen wieder die Tagesschau oder andere Nachrichtensendungen und gucken hin und wieder in die Tageszeitung. Mehrmals täglich checken sie zumindest kurz bei Spiegel Online oder anderen Seiten im Internet, ob nicht was Wichtiges geschehen ist. Häufig beschreiben sie auch, dass in den Familien und im Kollegenkreis neuerdings wieder über Politik diskutiert wird. Aufgeschreckt durch überraschende Ereignisse wie den Brexit oder die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten, bekunden vor allem viele junge Menschen ihre Bereitschaft, bei der nächsten Wahl wählen zu gehen. Und einige betonen stolz, dass sie sich in den vergangenen Monaten bereits aktiv politisch betätigt haben.

Aber trotz dieser Phasen des Erwachens fallen viele Menschen immer wieder in den wohligen und dämmrigen Auenland-Zustand zurück. Sie versuchen die Zukunft weiterhin abzuwehren. Vor allem dann, wenn wie im Sommer 2018 der Dauerstreit über die Migrationspolitik die Große Koalition zu sprengen droht, verstärkt sich bei vielen Menschen wieder die Sehnsucht nach Stabilität. Selbst manche Wähler, die eine deutliche Distanz zu Angela Merkel aufgebaut haben, sind unterschwellig doch froh, dass die Streithähne Seehofer und Merkel sich im letzten Moment doch noch geeinigt haben und sich die Regierung über den Sommer retten konnte.

Die Kanzlerin Angela Merkel versprach lange Zeit vor allem durch ihre ruhige und besonnene Art, durch ihr Durchhaltevermögen und ihre Strategie, Konflikte zu vermeiden, den Erhalt des vertrauten Auenlands. Die in den Augen der Wähler radikalste Oppositionspartei, die AfD, strebt hingegen die Restauration des Auenlandes an. Die AfD betont, dass Deutschland zu offen, zu lasch und zu passiv geworden ist. Es soll härter werden und sich viel rigider abschotten. Grenzen sollen geschlossen und Flüchtlinge abgewiesen werden, damit außen und innen die Kontrolle gewahrt werden kann. Statt einer Zukunftsvision propagiert die AfD letztlich eine Rolle rückwärts in eine vermeintlich bessere Vergangenheit, in der es im Auenland noch die gute alte Deutsche Mark gab und nicht so viele Fremde.

Zukunftsangst – wer ist die bessere Mutter?

Die Aufspaltung der Welt in ein Auenland und ein Grauenland ist entwicklungsfeindlich. Denn die Vergangenheit und die Gegenwart werden als paradiesisch idealisiert, sie sollen für immer konserviert werden. Die Zukunft und die Welt da draußen werden allein als zerstörerische Bedrohung gesehen und nicht als Chance für eine sinnvolle Umgestaltung und Verwandlung der Welt. Deutschland hat keinen Masterplan für die eigene Zukunft – und diese Bild- und Visionslosigkeit verstärkt wiederum die Zukunftsangst.

Denn nichts ist kränkender für den Menschen als ein bildloser Zustand, weil er ihn ohnmächtig und handlungsunfähig macht und den eigenen Schreckgespenstern und Daseinsängsten Raum gibt. Wer hingegen das Vorstellungsbild hat, den Seeweg nach Indien entdecken zu können, der schafft es sogar bis Amerika. Wer kein Zukunftsbild hat, will um jeden Preis die Bilder der Vergangenheit bewahren. Deutschland ist es seit der Jahrtausendwende gelungen, den Status quo zu bewahren, aber nicht, eine gemeinsame Vision zu entwickeln, die Zuversicht und Wagemut verspricht.

Die Frage, ob man bereit ist, sich aus dem angestammten Auenland in eine ungewisse Zukunft aufzumachen, behandelt das vielleicht bekannteste deutsche Märchen, Hänsel und Gretel. Es hat in seiner Sinnbildlichkeit eine erstaunliche Aktualität. Die Geschwister Hänsel und Gretel leben mit ihrem Vater, einem Holzfäller, und einer auf den ersten Blick bösen Stiefmutter vor einem großen Wald. Als die Zeiten schlechter werden, vertreibt sie die Stiefmutter gegen den anfänglichen Widerstand des Vaters in die raue Wildnis des Lebens. Aber die Kinder wollen keinen Aufbruch ins Ungewisse, und ihnen gelingt trickreich die unverzügliche Rückkehr in die alten Versorgungsverhältnisse. Sie lassen unterwegs kleine Kieselsteine fallen, die ihnen im Mondlicht den Weg nach Hause weisen. Als sie das nächste Mal von der Stiefmutter weggeschickt werden, funktioniert diese Strategie nicht mehr, denn das Brot, das sie nun streuen, wird von Vögeln gefressen. Ein Vogel aber führt die beiden zu einem Knusperhäuschen. Statt in die Fremde geraten sie in ein neues Versorgungsparadies, ein potenziertes Auenland. »Das Hexenhäuschen ist eine Wiederholung des Hauses, in dem wir uns gerne aufhalten und aus dem wir nicht heraus wollen – es ist das alte noch einmal, nur noch schöner, noch bequemer, noch verlockender.«[3]

Hier geraten sie an eine Übermutter, die auf den ersten Blick freundlich und zugewandt ist. Im Knusperhäuschen wird ihnen jeder Wunsch erfüllt, und es gibt alles im Überfluss. Das Märchen stellt implizit die Frage, wer eigentlich die bessere Mutter ist: die Stiefmutter, die uns vieles abverlangt und zumutet und die uns auf eine ungewisse und riskante Reise schickt, oder die Übermutter, die uns rundum versorgt und (Wahl-)Geschenke verteilt. Im Märchen entpuppt sich die Übermutter als Hexe, die die Kinder buchstäblich zum Fressen gern hat und ihnen vieles abnimmt – am Ende aber selbst ihre Entwicklung. Das vermeintliche Versorgungsparadies erweist sich als tödliches Gefängnis. In diesem goldenen Käfig werden die Kinder verbacken und verbraten. Zukunft und Entwicklung finden erst wieder statt, als sich die Kinder von der Übermutter und ihrem Versorgungsparadies befreien und bereit sind, sich auf einen eigenen Weg zu machen.

Oft vergessen wird der Schlussteil der Märchenerzählung, der Mut zum Neuanfang fordert. Die Kinder begeben sich am Ende auf eine ungewisse Reise. Sie müssen sich sogar trennen, damit eine Ente sie über ein Gewässer tragen kann. Aber durch diese Risikobereitschaft und ihren Wagemut finden sie schließlich eine neue Heimat.

Mutter Merkel – Liebe und Verrat

Auch Angela Merkel wurde lange Zeit von vielen Wählern als Übermutter wahrgenommen, bis sie dann nach der Flüchtlingskrise 2015 von Teilen der Wähler als böse Stiefmutter gesehen wurde, die das Land verrät und die eigenen Kinder aus dem Paradies vertreibt. Zuvor wurde die Kanzlerin jedoch von den Wählern als eine Art Ruheengel verehrt, der wie kein anderer Politiker für Stabilität und Beständigkeit stand. Aufbruch, Visionen und Revisionen wurden und werden mit der Kanzlerin nicht verbunden. Im Gegensatz zu ihren männlichen Herausforderern Peer Steinbrück im Jahre 2013 und Martin Schulz im Jahre 2017, die oft als unberechenbar und selbstbezüglich erlebt wurden, wirkt Angela Merkel über alle Maße treu. Die Wähler beschreiben sie immer wieder als eine fürsorgliche Gestalt, die keine persönlichen Leidenschaften oder Hobbys hat, die uneitel ist und frei von modischen Avancen. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie sich wie eine fürsorgliche Mutter ganz in den Dienst ihrer Bürger stellt.[4]

Mutter Merkels Treue und Beständigkeit übten jahrelang eine überaus beruhigende Wirkung auf viele Bürger aus. Selbst viele Wähler, die nicht für sie votierten, vertrauten ihr insgeheim. Die Kanzlerin avancierte daher über viele Jahre zur beliebtesten Politikerin. Die Wähler schlossen eine Art Stillhalteabkommen mit der Politik: »Wir vertrauen der Mutter Merkel. Sie wird schon dafür sorgen, dass niemand zu kurz kommt. Sie sichert den Frieden, setzt sich auch für mehr soziale Gerechtigkeit ein und führt Deutschland Schritt für Schritt zu mehr Wohlstand. Und weil wir an sie glauben und ihr vertrauen, müssen wir uns auch nicht mehr politisch betätigen. Wir üben keine fundamentale Kritik mehr – weder an ihr noch am politischen System. Wir beschränken uns darauf, hier und da unsere Unzufriedenheit zu artikulieren. Mutter wird es dann schon richten. Wir delegieren alle Probleme an sie und müssen uns nicht um die Welt der Politik mit ihren ungelösten und globalen Fragen kümmern.« Bernd Ulrich schrieb im Frühjahr 2018 in der Zeit, »dass Frau Merkel uns die Globalität mit ihren Problemen über zwölf Jahre vom Leibe gehalten hat«. Dieses Stillhalteabkommen hat das Land in einen dösigen Ruhe- oder sogar Schlafzustand versetzt.

Die Raute, die Mutter Merkel mit ihrer Hand formt, ist ein Sinnbild für eine fürsorgliche Umgrenzung der Republik. In der Raute zeigt sie sozusagen den Rahmen auf, in dem sich die Wähler sicher und unbekümmert bewegen können. Die Raute suggeriert den Menschen so den abgesicherten Fortbestand der deutschen Verhältnisse in einer krisengeschüttelten Welt.

Das Bild der Übermutter wandelte sich, als Angela Merkel die Raute öffnete und die Arme für die Flüchtlinge ausbreitete. Der verlässliche Heimatengel mutierte zu einem internationalen Willkommensengel, als sie im Sommer 2015 die deutschen Grenzen offen und Hunderttausende von Flüchtlingen ins Land ließ. Das hat bei vielen Wählern für Irritationen und Kränkungen gesorgt, weil sie sich auf einmal Fragen stellten wie: »Wen liebt die Mutter eigentlich wirklich? Die eigenen Kinder oder die fremden Kinder, die jetzt unsere Turnhallen bewohnen? Wieso bekommen Erstere so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung, auch von den Medien? Warum gefährdet sie ihre Karriere für Menschen, die sie überhaupt nicht kennt und für sie doch als deutsche Kanzlerin auch nicht verantwortlich ist? Und wieso überlässt sie die eigenen Bürger einer unsicheren Zukunft und droht damit, dass Deutschland nicht mehr mein Land ist, falls sie sich für das freundliche Gesicht in einer Notsituation weiter entschuldigen müsse?«

Reale Probleme und irreale Ängste

Kein Ereignis der vergangenen Jahrzehnte hat Deutschland so aufgewühlt und gespalten wie die Flüchtlingskrise. Und noch heute scheiden sich an dem Thema die Geister, entzweien sich Familien oder Freunde. In vielen Diskussionen zur Flüchtlingskrise geraten die Menschen schnell an einen Punkt, in der sich Befürworter und Gegner der von Angela Merkel initiierten Flüchtlingspolitik nicht mehr verstehen und sie auf unterschiedlichen Ebenen argumentieren.

Die Willkommensbefürworter idealisieren die Migration in Form einer beglückenden Multikulti-Folklore, die das Land bunter und vielgestaltiger macht. Dabei blenden sie oft die Probleme aus, die mit der plötzlichen Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge verbunden sind. Ebenso ignorieren sie, dass eine erfolgreiche Integration eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Fremden erfordert: einen mitunter kontroversen Prozess, in dem Spielregeln, Ideale und Werte der eigenen Kultur definiert und vermittelt werden. Die Migrationsgegner hingegen dämonisieren die Fremden. Sie beschwören Untergangsszenarien, denen zufolge durch die Zuwanderer »das Boot zu voll wird«, die Sozialsysteme ausgezehrt werden, der Bildungsstandard sinkt, die Kriminalitätsrate steigt, der Terrorismus importiert wird und die ideellen und materiellen deutschen Werte verloren gehen.

Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich die vielen Menschen, die stillschweigend anpacken und sich aktiv in der Flüchtlingshilfe engagieren. Sie dämonisieren oder idealisieren die Fremden nicht, sondern sehen sie als Menschen an, die mitten unter uns sind, die ihr persönliches Gesicht, ihre leidvolle Geschichte und ihre ganz eigene Hoffnung haben. Die Flüchtlinge sehen sie als konkrete Aufgabe und Herausforderung, die sich weder abwehren noch leugnen lässt, sondern im Geist christlicher Nächstenliebe bewältigt werden will.

Spätestens seit der Silvesternacht in Köln mit den massenhaften sexuellen Übergriffen und dem Versagen der Ordnungskräfte benennen auch die größten Willkommensbefürworter die immensen Aufgaben, die mit solch einer Jahrhundertherausforderung verbunden sind: die Wahrung von Sicherheit und staatlicher Kontrolle über die Einreise, die Schaffung einer Integrationsinfrastruktur mit Wohnheimen, Dolmetschern und Lehrern. Die immensen finanziellen Kosten, die mit dieser Herkulesaufgabe verbunden sind und die letztlich den Steuerzahlern aufgebürdet werden. Und darüber hinaus verlangt sie auch jedem Einzelnen ganz alltägliche Opfer, Zumutungen und Umstellungen ab. Wir müssen Menschen in unser Land integrieren, die anders riechen, anders essen, anders sprechen, anders glauben und eine vollkommen andere Sicht auf die Welt haben. Zudem ließ die Silvesternacht in Köln auch die Probleme überdeutlich werden, die schon seit Jahren existieren, jedoch nicht angegangen worden sind: die eklatante Unterbesetzung der Sicherheitskräfte, die Existenz rechtsfreier Räume und das Fehlen eines klaren Integrationskonzeptes.

Die faktische Größe dieser Herausforderung macht aber nicht verständlich, wieso auf einmal viele Menschen in einem so erfolgreichen, starken und wirtschaftlich gesunden Land mit 80 Millionen Einwohnern und einer so außergewöhnlichen Leistungsbilanz Angst haben, dass eine Million Flüchtlinge den Untergang Deutschlands herbeiführen würden. Zumal sich Deutschland voller Stolz daran erinnert, dass es bereits ähnliche Herausforderungen gemeistert hat: die Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtlingen aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg, die Integration von Millionen Gastarbeitern seit den Zeiten des Wirtschaftswunders und die Wiedervereinigung.

Die Hysterie, die angesichts der Flüchtlingskrise teilweise in Deutschland entstanden ist, und die erbitterte Wut gegenüber Mutter Merkel, »die unbedingt wegmuss«, weisen darauf hin, dass das Gewicht der realen Probleme durch die Wucht irrealer oder genauer gesagt diffuser Ängste und unbewusster Konflikte übersteigert worden ist. Diese Ängste waren schon Jahre vor dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise da, fanden jedoch erst durch sie eine klare Ausrichtung und Fassung.

Flüchtlinge: Die unfassbare Zukunft erhält eine fassbare Gestalt

Die diffuse Angst der Deutschen vor der Zukunft habe ich bereits beschrieben. Zukunftsthemen wie die Digitalisierung oder die Globalisierung wirken wie ein aus der Ferne nahendes Schreckgespenst: unheimlich, aber gesichtslos. Sie schweben sozusagen über uns und können räumlich nicht genau lokalisiert werden. Allenfalls können sie in den düsteren Gefilden des Grauenlandes verortet werden. Ihre Gestalt- und Gesichtslosigkeit lässt bei den Menschen Ohnmachtsgefühle entstehen. Nichts macht den Menschen handlungsunfähiger als das Gefühl, etwas nicht fassen, nicht anpacken zu können. Wie soll man sich wehren gegen einen unbekannten Feind, gegen ein schwebendes und gesichtsloses Phänomen?

Die Konfrontation mit etwas Unfassbarem, etwas, das man eben nicht sehen, riechen, hören oder schmecken kann, ist zutiefst kränkend, weil sie den Menschen jeder Chance beraubt, sein Schicksal aktiv zu wenden. Die Flüchtlinge boten nun die Möglichkeit, das Unfassbare, das schon lange unser Auenland bedroht, fassbar zu machen. Die Angst vor der Globalisierung bekam auf einmal ein Gesicht und eine Gestalt, zum Beispiel von dunkelhäutigen jungen Männern, die vielen nicht geheuer waren.

Die Flüchtlinge schafften dadurch bei all der realen Belastung für das Land auch eine psychische Entlastung für viele Bürger. Endlich hatte man ein konturiertes Gegenüber, das dem diffusen Unbehagen und der Zukunftsangst eine Gestalt verleiht. Endlich gab es einen anfassbaren Gegner, den man tagtäglich über die Medien ins Auenland kommen sieht und gegen den man sich zur Wehr setzen kann. Gegen die Globalisierung und gegen die Digitalisierung können Menschen heute ebenso wenig ausrichten wie im Mittelalter gegen die Pest. Aber die Flüchtlinge ermöglichen Handeln. Die Menschen können im Internet über die Fremden hetzen, sie können fordern, Mauern zu bauen, Deutschland oder gar Europa abzuschotten, die bereits hier lebenden Flüchtlinge wieder auszuweisen oder zu kasernieren. Und manche Partei unterfüttert die irrationale Verheißung, dass wir alle Probleme, die uns ängstigen, verbannen oder zumindest eindämmen können, wenn wir die Flüchtlinge verbannen oder zumindest ihre Zahl stark eindämmen.

Diese Projektion diffuser Zukunftsängste auf Flüchtlinge funktioniert umso besser, je weniger reale Erfahrungen ein Mensch mit einem Flüchtling hat. Das ist einer der Gründe, wieso die Angst und die Aversion gegenüber Flüchtlingen vor allem in den Regionen besonders hoch ist, in denen die Menschen kaum die Möglichkeit haben, in einen direkten Kontakt mit ihnen zu kommen. In der konkreten Begegnung wird der Flüchtling zu einem Menschen, der einem befremdlich oder sympathisch ist, mit dem man spricht oder streitet und der irgendwann einmal zum gern oder ungern gesehenen Teil des eigenen Alltags wird.

Geschwisterrivalität – ungleiche Brüder und Schwestern