Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen - Kristina Porsche - E-Book

Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen E-Book

Kristina Porsche

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Beschreibung

Das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) steckt voller Herausforderungen; schwierige Schüler, hohe Abbruchquoten und bisweilen überlastete Lehrkräfte. Dass dieser Bildungsgang für die Schüler dennoch eine Chance darstellen kann, die erste Schwelle in das Berufsleben erfolgreich zu meistern, wird in diesem Buch anhand von Gestaltungsempfehlungen aufgezeigt. Mittels einer ausführlichen Zielgruppenanalyse sowie der Komplementaritätstheorie der Bildung als theoretischer Grundlage werden insbesondere makrodidaktische Ansätze erarbeitet, um die Berufsfähigkeit benachteiligter Jugendlicher zu verbessern und deren Persönlichkeitsentwicklung positiv zu beeinflussen. Der Fokus liegt dabei auf der Ausgestaltung der Praxisphasen in Schule und Betrieb sowie der inneren Differenzierung der BVJ-Klasse.

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Die Autorin:

Kristina Porsche, geb. 1980 in Leisnig, ist in der Personalentwicklung eines deutschen Automobilherstellers tätig. Sie studierte und promovierte im Fach Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Technischen Universität Chemnitz.

VORWORT DER AUTORIN

Die erste Schwelle in das Berufsleben erfolgreich zu bewältigen, ist für viele Jugendliche nicht selbstverständlich. Dafür gibt es vielfältige Ursachen für unterschiedliche Zielgruppen. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die meines Erachtens noch zu wenig Unterstützung in der Bewältigung ihrer teils multiplen Problemlagen erfahren – die Schülerinnen und Schüler in den Berufsvorbereitungsjahren. Im Rahmen meiner Recherchen nutzte ich die Gelegenheit, sowohl BVJ-Schüler als auch Lehrkräfte und einen Schulsozialarbeiter des BVJ zu interviewen, und ich betrachte diese Gespräche als wertvolle Erfahrung und Bereicherung, da sie mir unter anderem aufzeigten, dass Normalität immer vom Standpunkt des Betrachters abhängt. Die Interviews und Hospitationen haben mich zudem darin bestärkt, mich der Fragestellung zu widmen, wie man diese Jugendlichen fördern und im selben Atemzug den Lehrern Hilfen im Umgang mit der Zielgruppe aufzeigen kann.

Heute blicke ich auf eine spannende Zeit zurück, die durch Tiefen, in größerem Maße jedoch durch Höhen gezeichnet ist. Ich fühle mich daher all jenen zu tiefem Dank verpflichtet, die mich während der Zeit der Promotion unterstützt und begleitet haben. Besonderer Dank gilt dabei meinem Doktorvater Prof. Dr. Volker Bank für die wertvollen Anregungen, die kritischen Kommentare sowie für die Ermutigung und sein Vertrauen. Ich möchte mich auch herzlich bei Prof. em. Dr. Hans-Carl Jongebloed bedanken, der die Rolle des Zweitgutachters übernommen hat, sowie bei Prof. Dr. Josef Schmied, Hon.-Prof. Dr. Lothar Abicht und Dr. Andreas Neubert für die Mitwirkung am Promotionskolloquium, das einiges an Spannung und Aufregung in sich barg.

Ganz herzlicher Dank gebührt den Interviewpartnern an den Schulen, die mir tiefe Einblicke in das Leben der BVJ-Schüler und in die Praxis des BVJ gewährt haben, sowie allen sächsischen Lehrkräften und Schulsozialarbeitern, die in unerwartet großer Anzahl an der umfangreichen Fragebogenerhebung teilgenommen haben. Dr. Dorit Stenke und Dr. Elke Wällnitz vom Sächsischen Bildungsinstitut haben mir die Teilnahme an einer Fachtagung zum BVJ ermöglicht und mich mit ihrem Expertenwissen in rechtlichen und organisatorischen Fragen zum BVJ sowie zum Modellversuch G-BVJ unterstützt. Eines meiner ersten Experteninterviews habe ich an den Berufsbildenden Schulen in Neustadt am Rübenberge geführt, deren Schulleiter Bernhard Marsch den Jugendlichen im BVJ seit vielen Jahren Chancen auf eine Berufsausbildung eröffnet. Auch ihm und seinem Team, aus dem ich namentlich Marina Poppe und Christine Buchholz-Straßer erwähnen möchte, bin ich zu Dank verpflichtet.

Für die tolle Zusammenarbeit und Arbeitsatmosphäre am Lehrstuhl Berufsund Wirtschaftspädagogik der TU Chemnitz bedanke ich mich bei allen Kollegen, die mich ein Stück auf meinem Weg begleitet haben. Namentlich möchte ich hier vor allem Yvonne Mälzer, M.A. und Karin Schulz hervorheben. Für die Umsetzung der Lehrerbefragung bin ich allen beteiligten Studenten des Projektseminars im Wintersemester 2013/14 für ihren Einsatz, die nützlichen Hinweise und ihre sorgfältige Arbeit dankbar.

Schließlich danke ich allen Personen in meinem persönlichen Umfeld, insbesondere meinen Eltern Manfred und Marion, meinem Partner Tobias sowie meinen Schwestern Kornelia und Manuela, jedoch auch allen Freunden und Verwandten, die mir jederzeit Rückhalt boten und zwei offene Ohren für meine Fragen und Probleme hatten.

Stuttgart, im April 2015

Kristina Porsche

VORWORT DER HERAUSGEBER

Mit dem Einsetzen des demographischen Wandels findet eine Zielgruppe in den Fokus politischer wie wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, die bislang allenfalls am Rande der Disziplinen und bei einigen wenigen Spezialisten Beachtung gefunden hat: Die Gruppe junger Menschen, welche im Hinblick auf die Chancenzuweisungsfunktion der Schule (Fend 1980) aus den unterschiedlichsten Gründen in der letzten oder vorletzten Reihe gelandet sind. Diese Gruppe junger Menschen musste auch nicht stets und immer im Blick der Aufmerksamkeit stehen: Solange in der Bundesrepublik die industriellen Strukturen in der explosiven Expansion der Nachkriegsphase steckte, solange das technische Anspruchsniveau bei Hilfstätigkeiten moderat blieb, gab es auch für sie Arbeit in mehr als ausreichendem Maße.

Später dann jedoch wurde etwa in den Siebziger Jahren aus den potentiellen An- und Ungelernten eine Gruppe von potentiellen Beziehern von Arbeitslosenhilfe oder gar gleich von Sozialhilfe. Da aber die geltende volkswirtschaftliche Doktrin des Kapitalismus schon immer für ein Funktionieren des Arbeitsmarktes auf wachsende (Güter-)Märkte angewiesen war, hat man bis heute kein alternatives Konzept aufzuweisen, das sich für eine steuernde Anreizsetzung für die Märkte einsetzen ließe, die einen stabilen Arbeitsmarkt auch bei stagnierender oder gar schrumpfender Produktion von Gütern und Dienstleistungen ermöglichen würde. Immerhin hat dieses für die hier in den Blick genommene Zielgruppe von Vor-Berufsanfängern einen Vorteil: Auch sie werden bei sinkenden Zahlen junger Menschen und einer kaum zureichenden Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt wieder als Anbieter von Arbeitskraft interessant. Allerdings wird das nur dann der Fall sein, wenn sie sich immerhin so weit ausbilden lassen, dass sie den Anforderungen relativ elaborierter Produktionsstandards genüge leisten können. Das aber wiederum ist eine arbeits- oder berufsdidaktisch zu leistende Aufgabe, und damit eine ureigene Aufgabe der Vokationomie (Berufs- und Wirtschaftspädagogik).

Die Zielgruppe der potentiellen Berufsanfänger, die entweder gar keinen oder nur einen überaus schwachen allgemeinbildenden schulischen Abschluss verfügt, ist aber nun nicht ‚mal eben so‘ für die Wahrnehmung von Tätigkeiten mit Erwerbsabsicht zu gewinnen, indem man mit einem Bündel Geldscheinen wedelt. Es genügt auch nicht, sie einfach in irgendwelche Formen schulischer Aufbewahrung zu geben, bei denen sie zugleich ihrer Schulpflicht nachkommen als auch die nötigen Inhalte und Fähigkeiten erlernten, die sie bis zum Zeitpunkt des Verlassens der allgemeinbildenden Schule verabsäumt haben. Die Angehörigen dieser Zielgruppe sind in aller Regel schulmüde, sie haben ein schwaches Selbstbild oder sie hängen – mit entsprechenden Auswirkungen auf ihr Frustrations- und Aggressionspotential – unrealistischen Surrogaten eines Selbstbildes nach. Es bedarf für solche Institutionen der Erziehung besonders ausgefeilter didaktischer Konzeptionen, die die Fehler, die in der Zeit des Besuchs der allgemeinbildenden Schulen begangen worden sind, nach aller Möglichkeit zu vermeiden helfen. Es muss den Schülerinnen und Schülern schnellstens klar werden, dass die Einrichtung, in die sie nun eingetreten sind, keine Fortsetzung der ihnen leid gewordenen Schule in anderen Gebäuden ist. Es muss vor allem damit gearbeitet werden, dass die verbliebenen Reste von Interesse und Motivation kultiviert und ausgebaut werden. Des Weiteren kommt der Stärkung des Selbstbildes eine besondere Rolle zu.

Für die oben umrissene Zielgruppe von in zumeist multipel prekären Lebenszusammenhängen lebenden jungen Menschen gibt es in den einzelnen Bundesländern verschiedene Lernangebote. Hervorzuheben ist von diesen das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ). Hier ist bereits das hier erhobene didaktische Postulat in der Konstruktion dieser Institution selbst ein Stück weit eingelöst worden. Das BVJ ermöglicht gleichermaßen die Einlösung der Schulpflicht und das Nachholen formaler Abschlüsse. Vor allem aber erfolgt das Lernen in einem bis zu dem Zeitpunkt des Eintritts in das BVJ vernachlässigten Interessenbereichs, der Sphäre des Beruflichen. Die Schüler des BVJ assoziieren mit Beruflichkeit vorzugsweise die Freiheit von schulischen Zwängen und die Aussicht auf Erzielung eines eigenen Einkommens. Zugleich aber fehlt es in der Regel an einer klaren beruflichen Orientierung und Positionierung am Arbeitsmarkt.

Vielleicht hat man das Gefühl, mit den hier umrissenen, klischeehaft bekannten Eigenschaften der Schüler über ausreichend Information zu verfügen: Es ist eigentümlich, dass über die Klienten des BVJ kaum Studien vorzuliegen scheinen und man insofern nicht viel Objektives weiß. Studien zu den soziokulturellen Charakteristika dieser Schülergruppe sind so dünn gesät, dass aus jüngerer Zeit eine einzige aufgefunden werden konnte, die überdies gerade einmal regionale Bezüge (München) aufarbeitet. Eine erste Studie in Richtung dieses Desideratums ist ein noch zu veröffentlichendes Nebenprodukt dieser an der Professur für Vokationomie der TU Chemnitz durchgeführten Dissertationsschrift.

Zunächst aber hat sich Kristina Porsche unterdessen der Erarbeitung didaktischer Gestaltungsempfehlungen zugewandt. Sie geht dieses Unterfangen in Ermangelung einer Freigabe des Untersuchungsgegenstandes durch die sächsischen Schulbehörden in einer im Wesentlichen literaturrezeptiven Form an. Da das Thema, wie dargelegt, von erheblicher Bedeutung ist und es vor dem Hintergrund des demographischen Wandels weiter an Dringlichkeit und Aufmerksamkeit gewinnen wird, ist die von ihr vorgelegte Analyse als ein erster Schritt gleichwohl hoch relevant.

Die analytische Auseinandersetzung mit dem Ziel, eine effizientere Didaktik für prekäre Zielgruppen zu entwickeln, wird auf der Folie des Referenzrahmens des Entscheidungsmodells der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik nach Bank angestrebt, das in einer noch unveröffentlichten Vorlesung vorgetragen wird. Die zweite theoretische Bezugsgröße ist das berühmte Bronfenbrennersche Ökologiemodell. Obzwar es zunächst nur zu einer losen Verbindung zwischen den beiden Grundmodellen kommt, ist hervorzuheben, dass die Autorin hiermit ein fortbestehendes Desiderat für die Fortentwicklung der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik ausweist. Der gewählte modellhafte Rahmen führt, thematisch zentral in die didaktische Analyse. Anders als bei Klafki wird hier dieser Terminus nicht für die Auswahl inhaltlicher Lerngegenstände, sondern für die Analyse der Bedingungsfelder genutzt, die nach verschiedenen mikro-, meso- und makrosystemischen Zusammenhängen des Ökologiemodells gegliedert werden. Hierfür wird der Leser dankbar sein – ohne diesen theoretischen Rahmen würde man sich im riesigen Konvolut der referierten Fakten kaum mehr wiederfinden. Frau Porsche verarbeitet in diesem Kapitel zielstrebig eine gewaltige Menge an Literatur, die in den letzten vierzig Jahren zur Zielgruppe des BVJ angefertigt worden ist. So hält der Rezipient dieser Arbeit ein Werk in den Händen, das vermutlich an Vollständigkeit der Informationen – bei aller konstatierten Dürftigkeit der Quellenlage – kaum durch ein Drittes Werk überboten wird und so gesehen kompendiale Qualitäten aufweist.

So richtig würdigen wird man die Bedeutung dieser (Vor-)Arbeiten jedoch erst dann, wenn es an die Zusammenfassung der Ergebnisse geht. Im Kapitel 11 entdeckt sich die Weite des in dieser Schrift errungenen Erkenntnishorizonts, indem die Erkenntnisse aus der Bronfenbrennerschen Systemanalyse (re-)didaktisiert werden. Dabei hervorzuheben ist die Untersuchung des Zusammenhangs von didaktischem Handeln und seinen Handlungsbedingungen. Anders als in verschiedenen Strukturmodellen (Heimann, Schulz sowie Jongebloed & Twardy), die die Bedingungsfelder nomenklatorisch irreführend und sachlich nicht ausreichend disjunkt als anthropogene und soziokulturelle Faktoren beschrieben hatten, wird hier ein klarerer begrifflicher Ansatz vorgestellt, der die zu beachtenden Bedingungen nach physischen und psychischen Dispositionen sowie nach sozialen Faktoren unterteilt. Während Karl Wilbers jüngst in seiner Wirtschaftsdidaktik die Bedingungsfeldanalyse als resignativ und von daher unpädagogisch verworfen hat, wird hier in sehr löblicher Weise nicht von starren Bedingungen ausgegangen, sondern die Rückwirkung des didaktischen Handelns auf die Bedingungsstrukturen mit einbezogen. Im Hinblick auf die bedingenden Strukturen konnten dann doch noch Daten erhoben und in die hier vorgelegte Studie an vielen Stellen mit eingebracht werden. Die Befragung der Lehrkräfte dieser Schulform zeigt im Abgleich mit den immerhin vorgefundenen Quellen, dass sie relativ gut über die Schülerstrukturen informiert sind und die von ihnen gelieferten Beschreibungen durchaus als Grundlage einer empirischen Studie geeignet sind. So gibt es nun wenigstens für den Freistaat Sachsen eine verlässliche Informationsgrundlage.

Schließlich fehlt auch nicht der Schritt von einer analytisch-deskriptiven zu einer präskriptiven Herangehensweise, die nicht weniger ambitioniert ist als im Hinblick der in der Praxis vorgefundenen Strukturen von BVJ und seiner Klientel eine Modifikation der Komplementaritätstheorie der Bildung einzufordern. Man merkt hier deutlich die Vertrautheit der Autorin mit den komplementaritätstheoretischen Überlegungen nicht nur in der Urfassung von Jongebloed, sondern auch in der Elaboration von Reinhard Spieß. Die auf dieser Grundlage und der Begehung manches BVJ über die Dauer der Erarbeitung dieser Studie vorgetragene Grundidee besteht darin, dass die Erkenntnis- und die Erfahrungskomponente über die Dauer des BVJ-Besuchs im gegenläufigen Sinne reduziert werden sollten. Während sie vorschlägt, dass am Lernort Betrieb, typischerweise ganzheitlich (systemisch), zunächst auch systematische Elemente die Didaktik mitbestimmen sollten, unterdessen der typischerweise systematische Lernort Schule für den Anfang auch systemische Aspekte mit aufgreifen solle, ist dann vorzusehen, dass über die Dauer des BVJ die beiden Lernorte zu ihren jeweiligen spezifischen Stärken zurückkehren sollten.

Strenggenommen weicht dieser Vorschlag vom theoretischen Weg des Komplementaritätsprinzips ab. Als Ausgangslage wird eine Art dialektischer Verschränkung von Erkenntnis und Erfahrung zugelassen, die dann im Verlaufe des curricularen und didaktischen Geschehens zu einer komplementären Trennung von Erkenntnis und Erfahrung führen soll. Ob eine solche intervenierende Entwicklung von dialektischer Verschränkung und komplementärer Trennung tatsächlich möglich ist, darüber ist letztendlich lediglich zu spekulieren oder empirisch im Einzelfall zu befinden. Zuzustimmen ist vor allem der Feststellung, dass in der Beruflichen Schule nicht direkt wieder an die ‚trockene‘ Systematik der Allgemeinbildenden Schulen anknüpft werden darf. Ein ungerichtetes und ungeordnetes Basteln am Lernort Betrieb scheint demgegenüber zunächst weniger bedenklich. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Aspiranten des BVJ durchweg schulmüde sein dürften. Es muss die Stufe der Schwierigkeit mithin gerade zu Anfang des BVJ aus einer anderen Quelle als dem Unterricht selbst gewonnen werden. Insofern wäre es aus diesem Ansatz heraus nicht unvernünftig zu fordern, dass eine Beschulung überhaupt erst nach einer gewissen Karenzzeit aufgenommen werden sollte.

Unter Umständen sind diese Vorschläge viabel, weil die für das Komplementaritätsprinzip eigentlich notwendige Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel nicht explizit herausgestellt wird, sodass unter Beachtung dieser Differenz sich die theoretischen Disparitäten zwischen dialektischer Voraussetzung und komplementären Ziel auflösen könnten. Für eine praktische Umsetzung wäre zu bedenken zu geben, dass die bildungsförderlichen Stärken des systemischen und des systematischen Lernortes nicht zu spät angestrebt werden.

Die in dieser Arbeit gefundenen Ergebnisse und deren theoretische Fundierung in dieser Form bislang wohl einmalig; und es wäre den auf diesem Feld tätigen Praktikern der Gestaltung des Übergangssystems auf allen Systemebenen durchaus anzuraten, die in dieser Dissertation gewonnenen Einsichten bei ihrem Tun sorgfältig zu berücksichtigen. Von daher ist dieser Schrift eine vielfältige Rezeption zu wünschen.

Paris und Nortorf, im April 2015

INHALTSVERZEICHNIS

V

ORWORT DER

A

UTORIN

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ORWORT DER

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ERAUSGEBER

A

BBILDUNGSVERZEICHNIS

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ABELLENVERZEICHNIS

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BKÜRZUNGS

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YMBOLVERZEICHNIS

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INLEITUNG

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B

ERUFSAUSBILDUNG

II T

HEORETISCHER

R

EFERENZRAHMEN

1 Das Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik

1.1 Die Grundanlage des Modells

1.2 Didaktischer Fokus 1: Die Abduktion als Zielbestimmungsverfahren

1.3 Didaktischer Fokus 2: Die Stufe der Schwierigkeit

1.4 Didaktischer Fokus 3: Die Binnendifferenzierung des Unterrichts

2 Die Ökologie der menschlichen Entwicklung

2.1 Die Struktur des Modells

2.2 Proximale Prozesse als Wirkungsmechanismen

2.3 Weiterentwicklung und kritische Betrachtung

3 Der Beruf als didaktische Zielkategorie für den Übergang in die Erwerbstätigkeit

3.1 Die Zwei-Schwellen-Theorie

3.2 Zur Aktualität des Berufskonzepts

3.3 Berufe in der Benachteiligtenförderung

4 Das Berufsvorbereitungsjahr als Brücke in eine Berufsausbildung

4.1 Das BVJ unter rechtlichem und curricularem Aspekt

4.2 Regionale Schulversuche im BVJ

4.3 Kritische Würdigung des BVJ

5 Das didaktische Prinzip komplementärer Dualität

III D

IDAKTISCHE

A

NALYSE

6 Systemchronologische Aspekte des Übergangs an der ersten Schwelle

6.1 Berufliche Übergangswege in historischer Betrachtung

6.2 Die Übergangswege prekärer Zielgruppen

7 Die Einbettung prekärer Zielgruppen in das Makrosystem

7.1 Die Zielgruppe im politischen Diskurs

7.2 Die Maßnahmen zwischen allgemeinbildender Schule und Berufsausbildung

7.3 Die demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungen

7.4 Herkunft als Aspekt des Makrosystems: Milieu und Migration

8 Individuelle Voraussetzungen der Zielgruppe

8.1 Geistige und emotionale Entwicklung

8.2 Attributionstheoretische Überlegungen

8.3 Selbstkonzept und erlernte Hilflosigkeit

8.4 Die Lernmotivation schulmüder Jugendlicher

8.5 Volitionale Aspekte des Handelns

9 Die Mikrosysteme prekärer Zielgruppen

9.1 Familie und betreutes Wohnen

9.2 Freundeskreis und Partnerschaft

9.3 Institutionalisierte Erziehungsräume und deren Akteure

9.3.1 Die Schule als Handlungsraum im BVJ

9.3.2 Das pädagogische Personal im BVJ

9.3.3 Der Betrieb als Handlungsraum im BVJ

9.4 Die Jugendgerichtsbarkeit

10 Die Meso- und Exosysteme prekärer Zielgruppen

10.1 Das Mesosystem

10.2 Das Exosystem

11 Gesamtschau der didaktischen Analyse

IV D

IDAKTISCHE

F

OLGERUNGEN FÜR DAS

BVJ

12 Eine Modifikation der Komplementaritätstheorie der Bildung

13 Makrodidaktische Ansätze für die Mikrosysteme Schule und Betrieb

13.1 Vorschläge für die curriculare Ausgestaltung des BVJ

13.1.1 Zur Ausgestaltung des berufsbezogenen Bereiches

13.1.2 Weitere Optionen der makrodidaktischen Gestaltung des BVJ

13.2 Vorschläge für die personelle Ausstattung des BVJ

14 Mikrodidaktische Ansätze der Binnendifferenzierung

14.1 Gruppe 1: Die Ausbildungswilligen

14.2 Gruppe 2: Die Unentschlossenen

14.3 Flexible Differenzierung im Schuljahresverlauf

V Z

USAMMENFASSUNG UND

A

USBLICK

L

ITERATURVERZEICHNIS

A

NHANG

: K

LASSENLEHRERFRAGEBOGEN ZUR

L

EHRERBEFRAGUNG IM

F

REISTAAT

S

ACHSEN

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik

Abbildung 2: Ablauf der Mäeutik als didaktische Gesprächsform

Abbildung 3: Flexible Differenzierung

Abbildung 4: Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner

Abbildung 5: Potentielle Mikrosysteme von BVJ-Schülern

Abbildung 6: Komplementaritätsprinzip der Bildung

Abbildung 7: Das Verfahren der Biversion

Abbildung 8: Altersverteilung der BVJ-Schüler

Abbildung 9: Lernmotivation und Lernumgebungsmerkmale

Abbildung 10: Extrinsische Motivation und Regulation

Abbildung 11: Problembelastung Jugendlicher im BVJ/ AVJ

Abbildung 12: Straftaten sächsischer Schüler im gestreckten BVJ

Abbildung 13: Entwicklungsförderliche Beziehungsmerkmale

Abbildung 14: Verknüpfung von Mesosystemen über das Exosystem

Abbildung 15: Einflüsse und Wirkungen auf der Ebene des Exosystems

Abbildung 16: Eckpunkte der Zielgruppenanalyse

Abbildung 17: Widersprüchliche Erfahrungen und Erkenntnisse bei BVJ-Schülern

Abbildung 18: Innere Komplementarität

Abbildung 19: Idealtypischer Verlauf von Systemik und Systematik im BVJ

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1: Problembereiche der zwei Schwellen

Tabelle 2: Globale und vertikale Probleme an der ersten Schwelle 2011

Tabelle 3: Höchster Schulabschluss der Auszubildenden im ersten Ausbildungsjahr (2011)

Tabelle 4: Attributionsdimensionen potentieller Erfolgs-/ Misserfolgsursachen

Tabelle 5: Höchste berufliche Qualifikation der Eltern

Tabelle 6: Delinquente Verhaltensweisen im Jugendalter

Tabelle 7: Zusammenschau potentieller Problembereiche von BVJ-Schülern

Tabelle 8: Ausprägungsformen einer Lernstörung

Tabelle 9: Rahmenstundentafel des BVJ in Sachsen

ABKÜRZUNGS- UND SYMBOLVERZEICHNIS

abH

ausbildungsbegleitende Hilfen

AEVO

Ausbildereignungsverordnung

AFG

Arbeitsförderungsgesetz

AVJ

Ausbildungsvorbereitendes Jahr

BA

Bundesagentur für Arbeit

BaE

Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen

BAG UB

Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung

BAVKA

Berufsausbildungsvorbereitung und duale kooperative Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher

BBiG

Berufsbildungsgesetz

BBS

Berufsbildende Schule

BFS

Berufsfachschule

BGJ

Berufsgrundbildungsjahr

BIBB

Bundesinstitut für Berufsbildung

BMBF

Bundesministerium für Bildung und Forschung

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BSO

Berufsschulordnung

BvB

berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (der BA)

BVJ

Berufsvorbereitungsjahr

BWP

Berufs- und Wirtschaftspädagogik

BZRG

Bundeszentralregistergesetz/ Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister

DJI

Deutsches Jugendinstitut

EQ(J)

Einstiegsqualifizierung (für Jugendliche)

ESF

Europäischer Sozialfonds

EU

Europäische Union

EZ

Erziehungsziel

FOS

Fachoberschule

G-BVJ

Gestrecktes Berufsvorbereitungsjahr

GG

Grundgesetz

GWU

Grundwerturteil

HS

Hauptschule

HSA

Hauptschulabschluss

HwO

Handwerksordnung

I

Inhalt als Struktur

I

Erschließen von Inhalten als Prozess

I°V|Sit

Verknüpfung von Inhalt und Verhaltensweise bedingt durch die Situation

IG Metall

Industriegewerkschaft Metall

IW

Institut der Deutschen Wirtschaft

JGG

Jugendgerichtsgesetz

K-BVJ

Kooperatives Berufsvorbereitungsjahr

KMK

Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland

mv

missing values

n

Anzahl aller befragten Klassen- und Fachlehrer sowie Sozialpädagogen

n

FL

Anzahl der befragten Fachlehrer (ohne Klassenlehrerfunktion)

n

KL

Anzahl der befragten Klassenlehrer

n

L

Anzahl der befragten Lehrer (ohne Sozialpädagogen)

n

SP

Anzahl der befragten Sozialpädagogen

n

t+1

erste Nachbefragung

n

t+2

zweite Nachbefragung

Neustadt a. Rbge.

Neustadt am Rübenberge

NVQ

National Vocational Qualification

OWiG

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PISA

Programme for International Student Assessment

SA

Schulabschluss

SGB

Sozialgesetzbuch

StGB

Strafgesetzbuch

TU

Technische Universität

t

y

ökologisches System eines Menschen zu Zeitpunkt y

t

y-1

ökologisches System eines Menschen vor Zeitpunkt y

t

y+1

, t

y+2

ökologisches System eines Menschen nach Zeitpkt. y

V

Verhalten als Struktur

V

Erlernen von Verhaltensweisen als Prozess

VwV

Verwaltungsvorschrift

°

in Verbindung mit

|

unter der Bedingung von

I EINLEITUNG – AUF DEM WEG IN DIE BERUFSAUSBILDUNG

Für einige Jugendliche stellt der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in einen beruflichen Bildungsgang eine große Hürde dar. Einer überwältigenden Anzahl von Möglichkeiten stehen diverse Restriktionen gegenüber. Und auf das Versäumnis einer rechtzeitigen Berufsorientierung folgt im ungünstigen Fall der Besuch ungeliebter Alternativen, wie beispielsweise das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) für viele Jugendliche eine darstellt. Jugendlichen, die sich letztlich für jenen Bildungsgang bewerben (müssen), wird unterstellt, die erste Schwelle des Übergangs in den Beruf nicht erfolgreich gemeistert zu haben. Sie befinden sich in einer Übergangsphase an der Schwelle zur Berufsausbildung beziehungsweise zur Erwerbsarbeit. Ein erfolgreicher Übergang bemisst sich demzufolge daran, ob eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufgenommen wird beziehungsweise die berufliche Orientierung sich in der Entscheidung für einen weiterführenden Bildungsgang widerspiegelt.

Überdies geben gesellschaftliche Aspekte Anlass für eine Betrachtung des Berufsvorbereitungsjahres. Zum einen schrumpft aufgrund der demographischen Entwicklung in Deutschland das Fachkräftepotential, woraus sich zukünftig ein Problem für die Wirtschaft sowie für viele soziale Bereiche ergeben wird. Zum anderen bleiben trotz des Überangebots an Ausbildungsplätzen noch immer viele Jugendliche nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht ohne Ausbildung, da sie keinen Schulabschluss erreichen konnten oder ein Hauptschulabschluss für den gewünschten Ausbildungsberuf nicht mehr ausreicht. Im Zuge der Teilnahme am BVJ bietet sich indessen die Chance für die Jugendlichen, durch Anstrengung und gute Leistungen die Misserfolgserfahrungen zu überformen, da die Unternehmen immer häufiger auch Jugendlichen aus dem BVJ eine Chance geben.

Insgesamt zeigt sich, dass in der schulischen Berufsvorbereitung seit einigen Jahren eine bestimmte Klientel immer stärker vertreten ist, welche hier unter dem Begriff der ‚prekären Zielgruppen‘ gefasst wird, mithin jene Jugendliche, die unter erschwerten Bedingungen, seien sie psychischer oder sozialer Natur, ihre Schullaufbahn trotz, in einigen Fällen akuter, Schulmüdigkeit weiterverfolgen sollen, um die Berufsschulpflicht zu erfüllen. Die Aufgabe des Schülers besteht dabei darin, den Übergang an der ersten Schwelle mit schulischen Mitteln schaffen zu wollen, die des pädagogischen Personals, Hilfen bereitzustellen, um den Übergang zu erleichtern und strukturiert zu begleiten. In der Umsetzung dieser Aufgaben bestehen jedoch didaktische Hindernisse, die einerseits das Ausschöpfen des Potentials der Jugendlichen hemmen, sich jedoch andererseits in der Überforderung der Lehrkräfte zeigen.

In der Beurteilung der Jugendlichen in berufsvorbereitenden Maßnahmen steht beispielsweise häufig die mangelnde schulische Lernmotivation im Fokus, wohingegen etwaige praktische Begabungen zu selten einbezogen werden. Für die Schüler andererseits zeigt sich in weiteren, insbesondere vollzeitschulischen Bildungsgängen kein zusätzlicher Nutzen beziehungsweise lassen diese keine höhere Lebensqualität erwarten, zumal die Jugendlichen bisher zumeist verinnerlicht haben, dass sie in der Schule ohnehin Versager sind. Zudem sind insbesondere Jugendliche aus Zuwandererfamilien von Schulversagen betroffen, da sie aufgrund von Sprachbarrieren und bisweilen kritischen Lebensereignissen schulische Leistungen nicht abrufen können (vgl. Hurrelmann/ Quenzel 2012: 130 f.).

Die vielfältigen außerschulischen Probleme, denen einige Schüler des BVJ in den Lebensbereichen ausgesetzt sind, verhindern darüber hinaus überdauernde schulische Anstrengungen, da menschliche Grundbedürfnisse teilweise nicht im notwendigen Maß befriedigt werden und schulische Belange folglich nicht als bedeutend genug eingeschätzt werden (können). Die Integrationsprobleme, die sich dann in privater und beruflicher Hinsicht ergeben, führen überdies zu den Stigmata Bildungsferne und fehlende Ausbildungsreife, mithin gilt der Jugendliche als unvermittelbar und sozial auffällig. Im Umgang mit Behörden und anderen Personen des öffentlichen Lebens wird ihnen ihr Stand in der Gesellschaft und ihre von Misserfolgen geprägte Biographie überdeutlich vor Augen geführt. Dabei sind es gerade diese Effekte, die Jugendliche auf der Suche nach Sicherheit, Anerkennung und Identität, welche sie von wichtigen Bezugspersonen häufig nicht erfahren, illegale Pfade beschreiten lassen.

Für die Lehrer bedeutet das BVJ insbesondere eine psychische Herausforderung, da diese Klientel nicht dem als normal betrachteten Schülerbild entspricht und sehr viel mehr Aufmerksamkeit verlangt, jedoch auch ein gehöriges Maß an Unruhe- und Aggressionspotential in sich birgt – teils offenbart sich dies in umfangreichen Strafakten –, dem zu entgegnen nur selten Teil der Lehrerausbildung war und ist. Auch methodisch ist ein Umdenken erforderlich, ob der Unterschiede in den Lernvoraussetzungen, die sich in einer BVJ-Klasse zeigen. Folglich ist die Einsatzbereitschaft, im BVJ zu unterrichten entsprechend gering, wiewohl einige Lehrkräfte den Schülern mit sehr viel Elan, Ehrgeiz und Empathie begegnen und dann auch Erfolge erleben.

Das BVJ steht zudem zuweilen in der Kritik, den Herausforderungen, denen dieser Bildungsgang unterliegt, nicht gerecht werden zu können und als „Sammelbecken“ zu dienen (Müller 1983:13), wobei insbesondere hohe Abbruchquoten und eine geringe Übergangsquote in eine Berufsausbildung (vgl. Schumann 2006: 122) Anlass zur Sorge geben. Ist also ein weiteres Pflichtschuljahr kontraproduktiv für die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung prekärer Zielgruppen? Dies muss vehement verneint werden, sind doch gerade Maßnahmen im Übergangswesen von besonderer Bedeutung, um die Entwicklung auch nach Ende der Regelschule weiterhin pädagogisch begleiten zu können. Ziel muss es also vielmehr sein, mit Hilfe didaktischer Überlegungen bezüglich des BVJ eine effizientere Integration der prekären Zielgruppen in eine vollwertige duale Ausbildung zu ermöglichen. Effizienz soll hierbei insbesondere vor dem Hintergrund einer zügigen Eingliederung sowie einer den Eignungen und Neigungen entsprechenden Berufswahl erreicht werden. Die Überlegungen basieren dabei auf den Charakteristika, die die Zielgruppe sowohl in individueller als auch in soziokultureller Hinsicht aufweist. Darauf aufbauend und unter Berücksichtigung der komplementären Theorie der Bildung nach Jongebloed werden schließlich Handlungsempfehlungen für eine Umgestaltung des BVJ entwickelt.

Der Fokus liegt dabei besonders auf der Ausgestaltung der Praxisphase, da hier der Effekt zwischen Anstrengung und Erfolgserleben vermutlich sehr hoch ist und dies die Selbstwahrnehmung und den Selbstwert positiv zu beeinflussen vermag. Lernen muss sich insbesondere für die BVJ-Schüler spürbar lohnen. Dies ist jedoch nur zu bewerkstelligen, wenn neben den schulischen auch die betrieblichen Rahmenbedingungen für die Praktika in didaktischer Hinsicht verbessert werden.

In Teil II wird zunächst der theoretische Referenzrahmen der Thematik gezogen, wobei das der Arbeit zugrunde liegende didaktische Modell knapp umrissen wird, um in den nächsten Schritten die für die Bearbeitung herangezogenen theoretischen Ansätze vorzustellen. Für die Zielgruppenanalyse ist insbesondere die Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner von Bedeutung. Darüber hinaus ist das Berufskonzept zu beleuchten, welches in der Berufsvorbereitung als Zieldimension wahrgenommen wird, sowie die schulische Berufsvorbereitung im Sinne des BVJ. Abschließend wird der bildungstheoretische Ansatz der komplementären Theorie der Bildung vorgestellt, welcher in Teil IV hinsichtlich der Zielgruppe zu modifizieren ist und dann gemeinsam mit den herausgestellten Zielgruppencharakteristika als Ausgangspunkt für die didaktischen Schlussfolgerungen dient.

Teil III ist vollständig der didaktischen Analyse der Zielgruppe gewidmet, wobei sich der Umfang dieses Teils aus der Vielfalt einzubeziehender Faktoren legitimiert. In Anlehnung an Bronfenbrenner werden die Lebensbereiche sowie deren Verknüpfungen auf höheren Systemebenen angereichert um die psychischen und teilweise auch die physischen Voraussetzungen der BVJ-Schüler. Hierfür wurde neben der theoretischen Analyse eine Lehrerbefragung im Freistaat Sachsen organisiert, an der 116 Lehrer und Sozialpädagogen teilnahmen. Darüber hinaus wurden sechs leitfadengestützte Interviews mit Lehrern zweier Berufsschulzentren sowie Hospitationen in zwei BVJ-Klassen durchgeführt. Die Erkenntnisse aus der didaktischen Analyse münden in Teil IV in Schlussfolgerungen, die sich insbesondere auf die Bildungsganggestaltung beziehen, weniger auf die konkrete Unterrichtsdurchführung.

Die Erarbeitung des Themas ist vorrangig theoriegeleitet und trägt sowohl hermeneutische als auch phänomenologische Züge. Zur Stützung und Hinterfragung der daraus resultierenden Erkenntnisse bedurfte es jedoch zusätzlich einer empirischen Herangehensweise. Das Vorgehen der Datenerhebung wird im den Teil III einleitenden Abschnitt erläutert, da die Ergebnisse der Befragung vor allem für die didaktische Analyse von Bedeutung sind.

II THEORETISCHER REFERENZRAHMEN

Der Arbeit werden vier grundlegende theoretische Konzepte sowie die Beschreibung des Berufsvorbereitungsjahres (BVJ) als besonderes Erkenntnisinteresse vorangestellt. Den Ausgangspunkt bildet die Allgemeine Fachoffene Didaktik nach Bank (2013b; Kapitel 1 dieser Arbeit), welche das Gerüst der Argumentation darstellt, denn mittels der Didaktik als Wissenschaft vom Lehren und Lernen (vgl. u.a. Peterßen 2001: 22) kann intentionale Erziehung, in dieser Arbeit am Beispiel des BVJ dargestellt, sinnvoll strukturiert werden. Didaktisches Denken und Handeln umschließt dabei verschiedene wissenschaftliche Methoden der Erkenntnisgewinnung und zieht zudem die Erkenntnisse pädagogischer Bezugsdisziplinen heran, um Lehr-Lernprozesse zu reflektieren und zu verbessern (vgl. ebd.: 22 f.). Das Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik ist die jüngste Weiterentwicklung etablierter didaktischer Modelle und beinhaltet die Komponenten Analyse und Entscheidung, Implementation sowie die Evaluation. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem Analyse, Entscheidung und Evaluation von Bedeutung, die Bank im Entscheidungsmodell als Teilmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik zusammenfasst (vgl. Bank 2013b: 93). Aufgrund der Besonderheiten der Zielgruppe der Jugendlichen in berufsvorbereitenden Bildungsgängen ist eine intensive und differenzierte didaktische Analyse der Bedingungsfelder erforderlich, die in dieser Arbeit anhand der Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner durchgeführt wird (Kapitel 2).

Darüber hinaus wird das Berufskonzept erläutert (Kapitel 3), denn der Beruf stellt für Jugendliche, auch und vor allem für diejenigen in prekären Lebenslagen, eine didaktische Zielkategorie dar, indem durch diesen eine gesellschaftliche Integration greifbar erscheint. Dafür wird ferner das Zwei-Schwellen-Modell nach Mertens und Parmentier (1988) herangezogen, wodurch die gesellschaftlichen Strukturen bezüglich der Erlangung beruflicher Teilhabe verdeutlicht werden. Für Jugendliche ohne Schulabschluss kommt es dabei an der ersten Schwelle immer wieder zu Problemen. Ein Mittel auf dem Weg in eine Berufsausbildung und somit zur Überquerung der ersten Schwelle stellt das BVJ dar, welches in Kapitel 4 beschrieben wird.

In allen jenen theoretischen Zugängen ist indessen auch der Begriff der Bildung von Bedeutung, wenngleich dieser nicht immer explizit benannt wird. Aufgrund dessen wird in Kapitel 5 die Komplementaritätstheorie der Bildung nach Jongebloed besprochen, welche auf die Ermöglichung von Bildungsprozessen abzielt und in ihrer Übertragung auf die Zielgruppe für den präskriptiven Teil dieser Arbeit (Teil IV) relevant ist.

1 Das Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik

Didaktisches Handeln bestimmt den Unterrichtsalltag von Lehrkräften sowie von allen, die professionelle Erziehungshandlungen in institutionalisierten Umgebungen durchführen (vgl. Bank 2013b: 2). Im Kontext des Berufsvorbereitungsjahres betrifft dies die Klassen- und Fachlehrer sowie die Schulsozialarbeiter. Didaktik ist dabei in einem weiten Begriffsverständnis als die Wissenschaft vom Lehren und Lernen zu verstehen (vgl. u.a. Peterßen 2001: 22). Dies umschließt folglich Aspekte des Lehrens, mithin die Themen- und Methodenwahl sowie die Implementation und Evaluation der geplanten Unterrichts- und Beratungssequenzen. Andererseits muss der Lerner mit seinen Voraussetzungen bezüglich der physischen und psychischen Konstitution sowie der sozialen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, um überhaupt Entscheidungen für oder gegen bestimmte Methoden oder curriculare Modelle treffen zu können. Im Zuge dessen ist die Lehrkraft angehalten, auch ihre eigenen Voraussetzungen und deren Einfluss auf das eigene Lehrhandeln zu reflektieren. Demzufolge erfordert die didaktische Planung drei Ebenen der Betrachtung: das (zu planende) Lehrhandeln, das (erwartete) Lernhandeln und die (potentiellen) Lehr-Lern-Interaktionen (vgl. Bank 2013b: 100).

Weiterhin formuliert Bank bezüglich des didaktischen Handelns zwei Postulate, die auch hier zum Anspruch erhoben werden:

„Postulat 1: Eine wohlverstandene Didaktik muß helfen, die analytische Grundstruktur erkenntnisorientierten Lernens bewußtzumachen und in gezieltem didaktischen Handeln auszugestalten.“ (Bank 2013b: 68, im Original mit Hervorhebungen)

„Postulat 2: Eine wohlverstandene Didaktik muß helfen, praktische Lebensvollzüge systematisch zu reflektieren und Erkenntnisse in die Lebensvollzüge zu transferieren.“ (ebd.: 69, im Original mit Hervorhebungen)

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Bewusstsein um die „analytische Grundstruktur erkenntnisorientierten Lernens“ (vgl. ebd.: 68) zielgruppenabhängig ist, worin sich unterschiedliche Handlungsweisen der Lehrkräfte bezüglich verschiedener Bildungsgänge legitimieren. Im zweiten Postulat tritt insbesondere die Bedeutung des Transfers des Gelernten in die Lebenswelt der Lernenden in den Vordergrund. Beide Postulate werden im präskriptiven Teil der Arbeit (Teil IV) nochmals aufgegriffen.

Die Grundlage für die didaktischen Überlegungen in dieser Arbeit ist das Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik nach Bank (2013b), in welchem jene Aspekte umfassend analysiert werden. Die Bezeichnung des Gesamtmodells ergibt sich dabei aus dem Allgemeinheitsanspruch, das heißt, das Modell soll für alle Lernenden gelten, sowie aus einem geringen Grad an Bestimmtheit, mithin für alle Lehr-Lern-Kontexte (vgl. ebd.: 311). In seiner Gesamtheit ist die Allgemeine Fachoffene Didaktik als das aktuell vollständigste didaktische Modell zu betrachten. Kapitel 1.1 beinhaltet zunächst einen Überblick über die Modellstruktur in ihrer zyklischen Grundanlage (vgl. ebd.: 93), wobei vor allem das Entscheidungsmodell betrachtet wird. Im Anschluss daran werden ausgewählte Themen herausgegriffen, die im Hinblick auf die vorliegende Arbeit besonders relevant sind (Kapitel 1.2 bis Kapitel 1.4).

1.1 Die Grundanlage des Modells

Bank greift in der Erarbeitung seines Modells auf bereits vorliegende Didaktikmodelle und -ansätze (Berliner Modell, Bildungstheoretischer Zugang, Informationstheoretisches Modell, Curriculumtheorie, Kölner Modell2) sowie Lern-, Transfer- und Kommunikationstheorien zurück und integriert diese in das Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik, welches zwei Teilmodelle beinhaltet: das Entscheidungsmodell und das Implementationsmodell (vgl. Bank 2013b: 4 f.). Während das Entscheidungsmodell vorrangig strukturorientiert ist und zur Planung und Auswertung einer Unterrichtseinheit anleiten soll, liegt der Fokus des Implementationsmodells insbesondere auf den prozessualen Aspekten des Unterrichts, mithin der sinnvollen Artikulation, Fragen der Motivierung und der Bereitstellung des Gelernten sowie der Beachtung von Kommunikationsregeln während des Unterrichts- oder Beratungsprozesses (vgl. ebd.: 4).

Die Phasen des Gesamtmodells sind Analyse und Entscheidung, Implementation und Evaluation. Da Letztere bereits wieder der Analyse der nächsten Unterrichtseinheit dient, differenziert Bank zwei Teilmodelle, wobei die Evaluation dem Entscheidungsmodell zugeordnet wird (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik

Quelle: vgl. Bank 2012: 4; 2013a: 97.

Die Analyse umfasst die Zielbestimmung auf unterschiedlichen Ebenen. Die Ebene der höchsten pädagogischen Ziele wird dabei über Grundwerturteile (GWU) abgebildet, über welche bezüglich des Schulwesens mittels gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse demokratisch abgestimmt wird und die somit nicht von der einzelnen Lehrkraft beschlossen werden (ausführlicher dazu vgl. Bank 2013b: 102 ff.). Dennoch dienen Grundwerturteile als Richtlinie für jegliches pädagogisch-didaktische Handeln und alle nachrangigen Ziele müssen auf diese rückgebunden werden und besitzen folglich instrumentellen Charakter (vgl. ebd.: 101).

Zwischen den Zielen verschiedener Ebenen sollen mittels eines wissenschaftlich korrekten Zielbestimmungsverfahrens Transparenz und Widerspruchsfreiheit sichergestellt werden. Die einzig mögliche Art der Zielbestimmung ist nach Bank das Verfahren der Abduktion, welches einer deontologischen Modifizierung unterworfen wird, mithin einen normativen Anspruch erhält (vgl. ebd.: 119). In den didaktischen Vorgängermodellen ist die Zielbestimmung hingegen oft nicht nachvollziehbar (vgl. ebd.: 92), wobei die Deduktion von Lehr-Lernzielen von Bank zudem als unzulässiges Schlussverfahren beschrieben wird, da keine logische Folgerung von einem höheren Ziel auf die feineren Modalziele möglich ist. Die Entscheidung für die Verfolgung eines Ziels und damit gegen ein anderes ist nicht logisch herzuleiten (vgl. ebd.: 115 f.).

Bezüglich der Analyse der Bedingungsfelder sind zwei Abduktionsschritte notwendig, da „ohne hinreichende Kenntnis der individuellen und soziokulturellen… Merkmale keine fundierten Auswahlentscheidungen… zu treffen [sind]“ (ebd.: 95). Nachrangige Ziele sind demnach unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen des Lehr-Lern-Kontextes zu bestimmen, wodurch sich eine Ausdifferenzierung verschiedener Zielniveaus ergibt (vgl. ebd.: 116). Ein dritter Abduktionsschritt besteht nach Bank in den Auswahlentscheidungen bezüglich des Themen-, des Aspekt- und des Methodenfeldes, wobei er aufgrund der Vielfalt der Entscheidungen von einem Abduktionsprozess spricht (vgl. ebd.: 149). Die getroffenen Entscheidungen spiegeln sich in einem singulären Curriculum wider, mithin einer zeitlichen oder einer thematischen Unterrichtseinheit (vgl. ebd.: 97). Damit wird das Entscheidungsmodell beschlossen. Jedoch stellt das singuläre Curriculum gleichzeitig die Verbindung zum Implementationsmodell dar, welches die konkrete unterrichtliche Umsetzung dessen umfasst und dem schließlich die Evaluation der Lehr- und Lernhandlungen im Rahmen des Entscheidungsmodells folgt (vgl. ebd.: 94). Die Schritte der unterrichtsspezifischen Entscheidungen sowie der Implementation werden in dieser Arbeit nur vereinzelt angesprochen. Bezüglich des Methodenfeldes ist beispielsweise in Kapitel 13 und 14 die Mäeutik (Aktionsform), in Kapitel 14 zusätzlich die Binnendifferenzierung der BVJ-Klasse (Sozialform) von Bedeutung. Die Evaluation erfolgt in Teil IV auf der Ebene der Rekonstruktion, indem aufgrund der Befunde der didaktischen Analyse (Teil III) Anregungen vor allem für die makrodidaktische Ausgestaltung des BVJ erarbeitet werden, um „getroffene Entscheidungen unter Umständen zu revidieren“ und nachfolgenden BVJ-Generationen bessere Rahmenbedingungen zu ermöglichen (ebd.: 7).

Im Folgenden sollen verschiedene Aspekte des Modells ausführlicher erörtert werden. Hierzu zählen die Zielbestimmung nach der deontologisch modifizierten Abduktion (Kapitel 1.2), die Stufe der Schwierigkeit als Leitgedanke für die Mäeutik (Kapitel 1.3) sowie die Binnendifferenzierung des Unterrichts (Kapitel 1.4). Andere Aspekte, wie die Beschreibung der soziokulturellen und individuellen Voraussetzungen sowie die schulischen Rahmenbedingungen, werden in Teil III, der didaktischen Analyse, umfassend erläutert und finden deshalb hier keine weitere Berücksichtigung.

1.2 Didaktischer Fokus 1: Die Abduktion als Zielbestimmungsverfahren

Als Zielbestimmungsverfahren wählt Bank die Abduktion, welche von Peirce neben der Induktion und der Deduktion als drittes Schlussverfahren beschrieben wurde und auch als Hypothese bezeichnet wird, da mittels dieses Schlussverfahrens Hypothesen bezüglich eines beobachteten Phänomens unter Annahme einer bestehenden Regel generiert werden (vgl. Peirce 1878/ 1991: 231 ff.; Bank 2013b: 118). Hypothesen sollen einen Sachverhalt klären, der über die eigene Erfahrung hinausgeht und sind folglich, unter der Voraussetzung, dass die Regel bewährt ist, erkenntniserweiternd (vgl. Bank 2013b: 119). Ein anschauliches Beispiel von Peirce (1878/ 1991: 233) befindet sich in der nachfolgenden Textbox.

Phänomen:Im Landesinneren werden Fossilien gefunden, die aussehen, als wären sie von Fischen.Regel:Fische leben im Wasser.Hypothese:Das Landesinnere war früher von der See überspült.

Quelle: vgl. Peirce 1878/ 1991: 233.

In der Bestimmung von schulischen oder betrieblichen Lehr-Lernzielen muss das ontologische Verfahren nach Peirce jedoch für normative, mithin deontologische3 Zusammenhänge modifiziert werden (vgl. Bank 2013b: 119). Hierfür tritt an die Stelle des Phänomens eine Norm beziehungsweise ein Grundwerturteil im ersten Abduktionsschritt. Unter bestimmten Bedingungen (Regel) können daraus Ziele (Hypothese) entwickelt werden, welche die Norm für weitere nachrangige Ziele darstellen (vgl. ebd.). Der hypothetische Charakter der Ziele zeigt sich darin, dass erst nach der Lehr-Lern-Sequenz abschließend festgestellt werden kann, ob das Ziel für das erwünschte Verhalten geeignet war.

Die unterrichtlichen Rahmenbedingungen werden im Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik in das primäre und das sekundäre Bedingungsfeld unterteilt (vgl. ebd.: 119; Bank 2013a: 97). Mittels der primären Bedingungen werden die Erziehungsziele bestimmt, indem die individuellen und soziokulturellen Voraussetzungen der zu Erziehenden eruiert werden. Nachdem die möglichen Erziehungsziele für die Zielgruppe festgelegt wurden, werden die makrodidaktischen Handlungsbedingungen (sekundäre Bedingungen) analysiert, woraus eine situationsspezifische Lehrintention oder ein Unterrichtsziel herzuleiten ist (vgl. Bank 2013a: 97; siehe oben Abbildung 1). Bank greift dabei zum einen auf die Anlage-Umwelt-Kontroverse zurück und andererseits auf die Makrodidaktik, wie von Braukmann (u.a. 1993) beschrieben.

In dieser Arbeit wird indessen die Ökologische Theorie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner zugrunde gelegt. Im Grunde erfordert auch diese Herangehensweise zwei Abduktionsschritte, da die psychischen und physischen Voraussetzungen des Individuums bei Bronfenbrenner nicht explizit betrachtet werden. Der situative Rahmen der Schule beziehungsweise des Unterrichts stellt hingegen nach Bronfenbrenners theoretischem Ansatz ein Mikrosystem des Jugendlichen dar und ist folglich neben der familiären Herkunft, der Wohnregion oder dem Freundeskreis (vgl. Bank 2013b: 127 ff.) zunächst zwar den soziokulturellen Voraussetzungen zuzuordnen. Eine Verdichtung des Abduktionsprozesses auf einen Schritt würde indessen zu kurz greifen, weil die Schule zwar in soziokultureller Betrachtung ein Erfahrungsfeld der Schüler darstellt, jedoch muss sie darüber hinaus als Struktureinheit für das Lehrhandeln begriffen werden, sodass die aktuellen und für jede Schule unterschiedlichen makrodidaktischen Rahmenbedingungen, mithin die räumliche, sächliche und personelle Ausstattung der Schule (vgl. ebd.: 143 ff.), eine weitere Zielebene unterhalb der Erziehungsziele verlangen.

Im Folgenden wird die deontologisch modifizierte Abduktion zunächst beispielhaft hinsichtlich der Bestimmung von Erziehungszielen für BVJ-Schüler aufgezeigt, das heißt unter Berücksichtigung der Zielgruppenspezifika (vgl. ebd.: 123). Trotz des stets vorherrschenden Maßes an Diversität in Schulklassen (vgl. Bank et al. 2011) sollte die Zielgruppe dennoch in mindestens einem Merkmal homogen sein (vgl. Bank 2013b: 123).

Norm (GWU):Allen Erziehungsmaßnahmen soll das Ideal der Chancengerechtigkeit (§3 GG, §20 Abs. 1 GG) zugrunde liegen.Bedingung:BVJ-Schüler weisen schwierige individuelle und/ oder soziokulturelle Voraussetzungen auf, wodurch Entwicklungs- und Bildungsprozesse gehemmt werden.Erziehungsziel 1:Um Chancengerechtigkeit herzustellen, sollen BVJ-Schüler im Rahmen der schulischen Maßnahme in besonderer Weise auf die Initiierung von Bildungsprozessen vorbereitet werden.Erziehungsziel 2:Um Chancengerechtigkeit herzustellen, sollen BVJ-Schüler im Rahmen der schulischen Maßnahme in besonderer Weise auf die Aufnahme einer (geeigneten) Berufsausbildung vorbereitet werden.

Im zweiten Schritt erfolgt die deontologisch modifizierte Abduktion der Lehrintention aus den bereits abgeleiteten Erziehungszielen (hier am Beispiel von Erziehungsziel (EZ) 1) unter Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen.

Norm (EZ 1):Um Chancengerechtigkeit herzustellen, sollen BVJ-Schüler im Rahmen der schulischen Maßnahme in besonderer Weise auf die Initiierung von Bildungsprozessen vorbereitet werden.Bedingung:Berufliche Schulen eröffnen die Möglichkeit, sowohl Erfahrungen (Praktika) als auch Erkenntnisse (Schulunterricht) bezüglich eines Bildungsgegenstandes zu erwerben.Lehrintention 1:Die Schuljahresplanung des BVJ soll zu den schulisch vermittelten Erkenntnissen auch Erfahrungsfelder in entsprechendem Umfang beinhalten.Lehrintention 2:Je nach Entwicklungsfortschritt der Schüler soll die Planung des BVJ mittels binnendifferenzierender Maßnahmen Flexibilität in Umfang und Dauer der Praktika ermöglichen.

Die abduktiv ermittelten Ziele müssen ferner nach der Durchführung der Unterrichtseinheit auf ihre Effektivität und Effizienz bezüglich der Erreichung höherer Ziele sowie im Vergleich zu anderen Zielen auf derselben Hierarchiestufe überprüft werden (vgl. Bank 2013b: 119). Wurde das Ziel nicht erreicht, muss reflektiert werden, an welcher Stelle der Entscheidungsfindung oder der Implementation es der Revision bedarf (vgl. ebd.).

Schule und Unterricht werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit dabei nicht bezüglich der Implementation einer konkreten Unterrichtseinheit betrachtet, sondern lediglich in allgemeiner Form als Mikrosystem, in dem Lehrer und Schüler interagieren. Die Untersuchung des Gestaltungspotentials bezüglich der makrodidaktischen Handlungsbedingungen wird ferner nicht von einer Lehrkraft im BVJ vorgenommen, um die nachfolgenden didaktischen Schritte zu planen. Das Lehrhandeln ist jedoch insofern relevant, als es wesentlich zum Erfolg des Lernhandelns beiträgt. Damit erlangen in dieser Arbeit im Hinblick auf das pädagogische Personal insbesondere deren Ausbildung sowie deren Einstellungen zu prekären Zielgruppen an Bedeutung (Kapitel 9.3.2).

Anhand der Aufarbeitung von Literaturrecherchen, Lehrerbefragungen an sächsischen Berufsschulzentren, Hospitationen in BVJ-Klassen und Lehrerinterviews (Teil III) erfolgt dann in Teil IV eine Rekonstruktion des BVJ im Sinne der Evaluation im Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik. Es wird demnach nicht die einzelne Unterrichtseinheit und deren zugrunde liegendes singuläres Curriculum für die Evaluation herangezogen, sondern eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse hinsichtlich des Lehr- und Lernhandelns.

1.3 Didaktischer Fokus 2: Die Stufe der Schwierigkeit

Bezüglich der Artikulation des Lernens, insbesondere bei „erzieherisch gelenktem Lernen“, verweist Roth auf sechs Stufen, die zu durchlaufen sind, um Lernprozesse durch Lehrhandlungen pädagogisch zu unterstützen (Roth 1960: 395, 402). Grundsätzlich unterscheidet er zwischen funktionalem („naturhaft“) und intentionalem („gezieltes Steuern“) Lernen (1960: 402). Während beim funktionalen Lernen, welches nicht durch Erzieher und Lehrer gelenkt wird, die Stufen nicht zwingend in einer vorgegebenen Reihenfolge ablaufen, sondern vielmehr wie eine „Zickzacklinie“, sollte beim intentionalen Lernen auf eine Stufenabfolge geachtet werden, um den Lernprozess anzuregen und zu begleiten (ebd.). Die Stufenabfolge für schulisches Lernen besteht dabei aus den folgenden Stufen: Motivation, Widerstand (auch: Schwierigkeit), Einsicht (auch: Lösung), Tun, Üben und Bereitstellen (vgl. ebd.: 402 ff.).

Zur Initiierung eines Lernvorganges sind die Stufe der Motivation und die der Schwierigkeit von besonderer Bedeutung, da es ohne „Widerstandserlebnis“ kein sinnvolles Lernen geben kann (Roth 1960: 402). Beide Stufen sind dabei nicht eindeutig voneinander zu trennen, da eine echte, mithin nichtdidaktische Fragestellung des Schülers die Motivation zu deren Lösung häufig beinhaltet (vgl. Bank 2013b: 298). Das Konstrukt der Lernmotivation wird im Weiteren in Kapitel 8.4 vertiefend erläutert. Nach Roth können sich

„ohne Widerstand keine neuen Kräfte [entfalten]. Das Erleben des Widerstandes, des Nicht-weiter-Kommens, des Sich-ändern-Müssens, des Sich-umstellen-Müssens gehört als notwendiger Bestandteil zum Lerngeschehen. Ja, der Lehrende muß gerade dieses Widerstandserlebnis herbeiführen, wo es sich nicht von selbst aus dem Spannungsgefälle zwischen Ausgangslage und Endziel ergibt. Erst am Widerstand erfahre ich den unmißverständlichen Antrieb, meine Kräfte zu steigern, meine Methoden umzustellen, alle früheren Erfahrungen ins Spiel zu bringen, andere Menschen um Hilfe zu bitten usw. Die richtige individuelle Steuerung und Dosierung des Widerstandes stellt geradezu eine der wirksamsten Lernhilfen dar.“ (Roth 1960: 402)

Unter Berücksichtigung dieses Zitates sowie Roths Beschreibung der Stufe der Einsicht, die als überzeugend und echt erfahren werden solle, um der Neugier, welche aus der Stufe der Schwierigkeit erwachsen ist, gerecht zu werden und für die eine aktive Beteiligung der Lernenden von Vorteil sei (vgl. ebd.: 402 f.), bietet sich eine Unterrichtsmethode besonders an: die Mäeutik.

Die Mäeutik ist eine Form der didaktischen Gesprächsführung (vgl. Bank 2011b: 79 f.), die auf Sokrates zurückgeführt wird (vgl. ebd.: 81) und insbesondere für den Philosophieunterricht nutzbar gemacht wurde (vgl. Nelson 1922/ 2002: 21), thematisch jedoch grundsätzlich universell einsetzbar ist (vgl. Bank 2011b: 80). Sie stellt allgemein betrachtet eine Aktionsform des Unterrichts dar und zielt darauf ab, bestehende Vorurteile der Schüler „zu begründeten Urteilen weiterzuentwickeln“ (ebd.: 81), mithin Lernvorgänge zu initiieren ohne dabei das zu Vermittelnde, sogenannte „allgemeine Wahrheiten“ (Nelson 1922/ 2002: 33), bereits als Lösung zu präsentieren und den Schüler als passiven Rezipienten zu betrachten (vgl. Bank 2011b: 81) 4.

„Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich, sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu Gehör bringen. Aber sie werden darum keineswegs eingesehen. Einsehen kann sie nur derjenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem er selbst den Rückgang zu den Voraussetzungen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen seine eigenen Voraussetzungen wiedererkennt.“ (Nelson 1922/ 2002: 33 f.)

Der Lehrkraft kommt demnach die Aufgabe zu, die Schüler bewusst und gezielt vor ein Problem zu stellen, das sie vorher nicht als solches betrachtet haben (vgl. ebd.: 39; Bank 2011b: 81), sodass sie gezwungen sind, ihre auf Erfahrungen beruhenden Vorurteile zu hinterfragen und gegebenenfalls zu widerlegen. Nelson konstatiert dazu, dass die sokratische Methode nicht darauf abzielt, die Schüler den Weg ohne Anleitung finden zu lassen, sondern die Lehrer sollen die Schüler in die Selbständigkeit begleiten, bis sie das „Alleingehen wagen“ (1922/ 2002: 46 f.). Nur so können die Schüler die „Methode der Lösung“ erkennen (ebd.: 46). Die Steuerung des Lernprozesses dient ferner dem Vorbeugen von Motivationsverlusten und der Förderung der Lernerfolge (vgl. Bank 2011b: 81).

Für das Gelingen der Mäeutik fasst Bank drei grundlegende Voraussetzungen zusammen: (1) die Logik, vor dem Hintergrund der Widerspruchsfreiheit der (wissenschaftlichen) Sätze sowie der Unmöglichkeit einer Zwischenlösung, (2) eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und (3) die Bereitschaft beider, in einen Diskurs zu treten und Verständnisfragen zuzulassen, da Schüler und Lehrer prinzipiell voneinander lernen können (vgl. ebd.: 84 f.). Der Lehrer muss folglich bereit sein, auch das eigene Wissen als Doxa (vgl. Abbildung 2) auf den Prüfstand zu stellen (vgl. ebd.: 85).

Da die Mäeutik nicht auf ein Themengebiet begrenzt ist, kann sie als Methode in jedem Unterrichtsfach oder Lernfeld Anwendung finden. Ausgangspunkt ist etwa ein aktuelles Problem, von dem die Gesprächsteilnehmer betroffen sind oder welches sie zumindest nachvollziehen können (vgl. ebd.: 86). Ist das Problem klar herausgestellt (vgl. Nelson 1922/2002: 48 ff.; Bank 2011b: 86), schließt sich die Elenktik an, deren Ziel die „Erkenntnis der Unwissenheit“ (Aporie) ist (Bank 2011b: 86) und somit das Erreichen der Stufe der Schwierigkeit. Diese Unwissenheit wird vom Lehrer genutzt, um den Schüler zum Nachdenken zu ermuntern (Protreptik) und eine zumeist vorläufige Erkenntnis (Epistemé) zu erlangen, welche in einem späteren mäeutischen Gespräch wieder zum Diskurs gestellt werden kann (vgl. ebd.: 87). Die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit ist hierbei als Stufe der Schwierigkeit zu betrachten und damit als entscheidender Aspekt, um einen Lernprozess in Gang zu setzen (Bank 2011b: 86). Die gewonnene Erkenntnis der Schüler stellt die Stufe der Einsicht oder auch der Lösung dar, welcher dann die Anwendung, die Übung und der Transfer in die Erfahrungsfelder folgen muss (vgl. Roth 1960: 402 ff.; Bank 2011b: 87).

Abbildung 2: Ablauf der Mäeutik als didaktische Gesprächsform

Quelle: vgl. Bank 2011b: 89.

Der Ablauf eines mäeutischen Gespräches kann also anhand der ersten drei Artikulationsstufen des Lernens nach Roth nachvollzogen werden, wobei das Ergebnis des Gespräches dazu befähigen soll, die anderen drei Stufen selbständig durchzuführen. Des Weiteren weist Bank darauf hin, dass ein mäeutisches Gespräch trotz des vorgegebenen Ablaufschemas nicht in ein zeitliches Korsett gepresst werden kann, da der Weg in die Aporie und später in die Erkenntnis maßgeblich von den je individuellen Voraussetzungen der Schüler geprägt ist (vgl. Bank 2011b: 90).

Im Folgenden sollen erste Überlegungen unternommen werden, die Mäeutik sinnvoll im BVJ anzuwenden. Das besondere Merkmal der Zielgruppe ist der fehlende Schulabschluss bei gleichzeitiger Schulpflicht und Schulmüdigkeit. Einige der BVJ-Schüler weisen jedoch trotz mangelnder schulischer Lernmotivation großes Interesse an praktischen Tätigkeiten und der Aufnahme einer Berufsausbildung auf. Die Anfangsstruktur besteht folglich in der Annahme: ‚Schule kann ich nicht, Schule brauche ich nicht‘. Mittels des gezielten und gelenkten Einsatzes praktischer Tätigkeiten, vor allem durch Praktika, stellt im Idealfall jeder für sich fest, dass er bestimmte Dinge ohne entsprechende schulische Erkenntnisse praktisch nicht umsetzen kann (Aporie). Sie erkennen die Schwierigkeit, dass das Erlernen eines Berufs unter anderem maßgeblich die Beherrschung grundlegender Kulturtechniken voraussetzt. An dieser Stelle können sowohl die Lehrkräfte als auch die Praktikumsbetreuer ansetzen und den Schüler, im günstigen Fall nun zum schulischen Lernen ermuntert, individuell fördern. Dabei ist auch hier jeder Dogmatismus zu vermeiden, will man den Schülern schulisches Lernen wieder näher bringen.

Der Zusammenhang zwischen den Artikulationsstufen des Lernens nach Roth und der Mäeutik zeigt sich folglich darin, dass durch verschiedene didaktische Varianten in der Schule sowie die Auslagerung bestimmter Lernprozesse in Praktikumsbetriebe die Stufe der Schwierigkeit während der Ausführung einer beruflichen Aufgabe erreicht wird, die Einsicht jedoch in der Regel in der Schule erfolgt (vgl. Eggers/ Scholz 1998: 243). Mittels der Praxis werden die Schüler demnach zum schulischen Lernen motiviert, da sie die Stufe der Schwierigkeit überwinden wollen, um einer Lösung ihres bestehenden Problems näherzukommen. In den Kapiteln 13 und 14 wird dieser Zusammenhang im Rahmen der Anregungen zur Ausgestaltung des BVJ nochmals besprochen.

1.4 Didaktischer Fokus 3: Die Binnendifferenzierung des Unterrichts

Das Konzept der Binnendifferenzierung oder auch der inneren Differenzierung wird in Deutschland seit etwa dreißig Jahren verstärkt diskutiert, wobei es bisher an konkreten Ergebnissen aus der Schulpraxis weitestgehend mangelt (vgl. Trautmann/ Wischer 2008: 168). In didaktischer Hinsicht wird die Binnendifferenzierung des Unterrichts den Sozialformen zugeordnet und beinhaltet alle Unterrichtsmethoden, die nicht mit der gesamten Klasse durchgeführt werden (vgl. Bank 2013b: 190). Die Schüler lernen in Gruppen-, Partner- oder Einzelarbeit (Individualisierung), wobei die verschiedenen Teams nach unterschiedlichen Aspekten zusammengesetzt werden (vgl. ebd.: 192 f.). Demnach kann die Heterogenität oder die Homogenität bei der Gruppenbildung im Vordergrund stehen oder auch die zufällige Zuteilung. Darüber hinaus ist eine aufgabenbezogene Differenzierung denkbar, wobei entweder der gleiche Arbeitsauftrag an alle Gruppen vergeben wird, jede Gruppe einen eigenen Arbeitsauftrag erhält, der dann zum Gesamtverständnis der Thematik beiträgt, oder gänzlich verschiedene Themen bearbeitet werden, die jedoch letztlich im Klassenverband zu diskutieren sind (vgl. ebd.: 193). Bei leistungshomogenen Gruppen besteht außerdem die Möglichkeit, das Thema für die einzelnen Gruppen unterschiedlich stark zu reduzieren beziehungsweise den Grad der Reduktion mit Fortschreiten der Thematik auf verschiedene Weise wieder aufzuheben (vgl. ebd.: 194).

Vor einer Gruppierung der Schüler sind im Lehrerkollegium beziehungsweise in der eigenen didaktischen Analyse zunächst die Ziele zu klären, die mit einer Differenzierung einhergehen (vgl. Morawietz 1981: 111). Bezüglich der Differenzierungsmuster ist dabei immer zu hinterfragen, inwiefern dies methodisch und lernerspezifisch sinnvoll ist, wobei neben den Chancen, die eine Teilung der Klasse bietet, immer auch die Risiken zu betrachten sind (vgl. Trautmann/ Wischer 2008: 169 f.). Darüber hinaus muss die Lehrkraft für die Möglichkeiten und Vorteile sensibilisiert werden sowie auch für den Einsatz differenzierender Methoden, „ohne sich selbst heillos zu überfordern“ (ebd.: 170). Bestehenden Nachteilen des Differenzierungskonzeptes ist durch adäquate Entscheidungen zu Thematik, Methodik oder bezüglich der didaktischen Vereinfachung zu begegnen (vgl. Morawietz 1981: 111 f.; Bank 2013b: 149–208).

Für Lehrer ergibt sich mit der Einführung von Maßnahmen der Binnendifferenzierung in der Regel ein deutlich erhöhter Aufwand in der Vorbereitung des Unterrichts (vgl. Trautmann/ Wischer 2008: 167), der jedoch erheblich von der jeweils gewählten Differenzierungsform abhängt. Probleme, die in der Umsetzung auftreten, werden zudem häufig den Lehrkräften angelastet, da diese der Idee teilweise kritisch gegenüberstehen (vgl. ebd.: 169). Hier zeigt sich eine Lücke zwischen Theorie und Praxis. Den Lehrkräften werden Ansätze vorgeschlagen, die weder empirisch getestet noch ausreichend theoretisch reflektiert wurden (vgl. ebd.: 170), denn die Wissenschaft vermag lediglich grobe Konzepte zu entwickeln, da nur die Lehrer diese anhand der jeweiligen und für jede Klasse und in jedem Fach unterschiedlichen Lernvoraussetzungen konkretisieren können, und übergibt damit die Verantwortung für die Implementation an die Schulen (vgl. ebd.: 169). Strukturell muss also an der Bildungspolitik angesetzt werden, um in den Schulen die für die Umsetzung von innerer Differenzierung notwendigen Rahmenbedingungen herzustellen, insbesondere mittels der Erhöhung der personellen Ressourcen, um „das Engagement zahlreicher Lehrer“ bezüglich der Erprobung der Differenzierungsformen zu erhöhen (Morawietz 1981: 113).

Für die vorliegende Arbeit ist das Konzept der flexiblen Differenzierung (vgl. Abbildung 3) besonders interessant, welches eine Differenzierungsoption darstellt, die sich über den Wechsel leistungsheterogener und leistungshomogener Gruppierungen definiert (vgl. ebd.: 99).

Abbildung 3: Flexible Differenzierung

Quelle: vgl. Morawietz 1981: 98.

Nach der Feststellung des Leistungsniveaus – beziehungsweise im vorliegenden Fall zusätzlich der Leistungsbereitschaft – wird die Klasse in homogene Gruppen aufgeteilt, die jeweils unterschiedliche Lernziele verfolgen. Nach der Gruppenphase werden erneut die Leistungen getestet und für anschließende Unterrichtseinheiten wiederum Gruppen gebildet, die sich jedoch dann anders zusammensetzen können (vgl. ebd.). Vorteilhaft an dieser Form der Differenzierung ist die „gezielte Förderung der leistungsstärkeren und der leistungsschwächeren Schüler“ sowie die Kursdurchlässigkeit und hohe Chancengerechtigkeit (ebd.). Als nachteilig stellt sich auch hier vor allem der hohe Organisations- und Vorbereitungsaufwand der Lehrkräfte dar (vgl. ebd.).

Bezüglich des BVJ sollen zwei Hauptgruppen definiert werden. Die Zuteilung zu der einen oder der anderen Gruppe erfordert zu Beginn des Schuljahres eine umfassende Potentialanalyse, inklusive der Defizite. Die Jugendlichen, die im Grunde zwar schulmüde sind, aber gerne eine Berufsausbildung aufnehmen möchten, stehen denen gegenüber, die weder für die Schule noch für das Arbeiten Interesse zeigen. Diese Gruppen sind dabei nicht als statisch zu betrachten, sondern es sollen im Verlauf des Schuljahres Aus- und Eintritte ermöglicht werden, wodurch für die zweite Gruppe ein Anreiz gesetzt wird, sollten die didaktisch erwünschten und angeregten Entwicklungen erreicht werden. In den berufsübergreifenden Fächern wird gemeinsam gelernt, mit der Hoffnung auf positive Effekte auf die gesamte Gruppe, da Erfolge der ersten Gruppe in den praktischen Phasen die Motivation der zweiten Gruppe wecken können (vgl. vertiefend dazu die Kapitel 13 und 14).

1   Bezüglich des Allgemeinheits- und des Bestimmtheitsgrades bezieht Bank sich auf die kategoriale Betrachtung wissenschaftlicher Sätze nach Karl R. Popper, wonach der Informationsgehalt einer wissenschaftlichen Aussage umso höher ist, je allgemeiner und bestimmter diese formuliert ist (vgl. Popper 1934/ 2005: 100 ff.). Bank hat diese Systematisierung auf die Didaktik übertragen, um diese nach innen zu ordnen (2013b: 27–33).

2   Das Kölner Modell ist auch unter der Bezeichnung Strukturmodell Fachdidaktik Wirtschaftswissenschaften bekannt und stellt seinerseits eine Integration didaktischer Vorgängermodelle und deren Weiterentwicklung dar (Jongebloed/ Twardy 1983).

3   Die Ontologie ist die Lehre des Seins, die Deontologie die Lehre des Sollens.

4   Die Bezeichnung Mäeutik ist dabei auf die Hebammenkunst zurückzuführen, indem angenommen wird, dass der Lernende mit dem hervorzubringenden Wissen bereits „schwanger geht“ und der Lehrer dieses wie eine Hebamme zu Tage fördert (Platon ca. 360 v. Chr./ 2002: 15–20).

2 Die Ökologie der menschlichen Entwicklung

Wie bereits dargelegt, kann Bronfenbrenners Modell einer Ökologie der menschlichen Entwicklung im Rahmen der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik für die Zielgruppenanalyse eingesetzt werden. Bronfenbrenner versucht, die Entwicklungschancen und -erschwernisse anhand der Wechselwirkungen innerhalb und zwischen sozialen Systemen unterschiedlicher Reichweite zu erklären (1979; 1981; 1986; 1995; 2001). Ihrem Grunde nach ist die Ökologie der menschlichen Entwicklung ein entwicklungspsychologischer Ansatz, mit dem auch soziale Strukturen und Prozesse nachgezeichnet werden können. Folglich beinhaltet soziales Handeln nicht nur eine subjektive Komponente, sondern wird zudem „auf das Verhalten anderer bezogen und [ist] daran in seinem Ablauf orientiert“ (Weber 1921/1972: 1). Soziale Handlungen werden also vom Menschen sowohl empfangen als auch ausgeführt5.

2.1 Die Struktur des Modells

Bronfenbrenners Erkenntnisinteresse liegt in der menschlichen Entwicklung beziehungsweise in der Entwicklung menschlicher Verhaltensweisen, wobei er einen interdisziplinären Ansatz6 verfolgt, mit welchem sich nicht nur die Charakteristika der Individuen und deren Handlungen beschreiben und nachvollziehen lassen, sondern ebenso die Umweltmerkmale derjenigen Lebensbereiche, die sich ihnen direkt und indirekt eröffnen (vgl. Bronfenbrenner 1981: 32 ff.). Dabei wirken die Ereignisse und Bedingungen aller Lebensbereiche als Multiplikatoren des individuellen Verhaltens (vgl. ebd.: 34). Ereignissen in einem Lebensbereich kann sich der Mensch demzufolge nicht entziehen, indem er lediglich in einen anderen Lebensbereich ‚flüchtet‘ – körperlich also „aus dem Feld geht“ (Lewin 1931/1964: 12 ff.) –, da sich Erfahrungen und Wahrnehmungen stets auf das gesamte ökologische System des Individuums auswirken (vgl. Bronfenbrenner 1981: 37). Wird das Feld also verlassen, hat dies dennoch Auswirkungen auf alle beteiligten Akteure. Demnach sind die ökologischen Systeme anderer involvierter Personen von den eigenen sozialen Handlungen betroffen. Bronfenbrenner spricht hierbei von der Reziprozität der Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt (vgl. ebd.: 38).

Zwischenmenschliche Beziehungen involvieren zunächst zwei Individuen und können sich aus diesen dyadischen Formen weiter ausdifferenzieren und immer mehr Personen einbeziehen (vgl. ebd.: 71). Ferner sind affektive Beziehungen jedweder Art zwischen den Personen zu berücksichtigen, ob beiderseits positiv oder negativ, ob asymmetrisch oder ambivalent (vgl. ebd.). Im Fall einer beidseits positiven Beziehung kann sich die Lernmotivation der sich entwickelnden Person7 erhöhen (vgl. ebd.: 73 f.). Indessen müsste eine beidseits negative oder eine asymmetrische Dyade ebenso Auswirkungen auf die Lernmotivation haben, welche dann im Umkehrschluss absänke. Hegt ein Schüler beispielsweise solch negative Gefühle für einen Lehrer, dass ihn auch zuhause diese Gedanken nicht loslassen, würde er die Erledigung der Hausaufgaben in diesem Fach des Lehrers wegen vermutlich weniger gründlich durchführen oder gar verweigern, gegebenenfalls sogar dem Unterricht fernbleiben.

Befinden sich, wie im Beispiel der Schulklasse mehrere Personen in einem Lebensbereich, ändert sich die Interaktion zwischen Schüler und Lehrer allein durch die Anwesenheit anderer Schüler (vgl. ebd.: 83). In diesem Beispiel wird neben dem Beziehungsaspekt auch die Rollenwahrnehmung angesprochen, der in Bronfenbrenners Modell große Bedeutung beigemessen wird (vgl. ebd.: 95 ff.). Den Begriff der ‚Rolle‘ definiert Bronfenbrenner als „ein[en] Satz von Aktivitäten und Beziehungen, die von einer Person in einer bestimmten Gesellschaftsstellung und von anderen ihr gegenüber erwartet werden“ (ebd.: 97). Die Definition beinhaltet folglich nicht nur die Erwartungen, die an die Person als Rolleninhaber gestellt werden, sondern ebenso diejenigen, wie sich andere Personen gegenüber dem Rolleninhaber zu verhalten haben (vgl. ebd.).

Das ökologische System eines Individuums lässt sich graphisch als eine konzentrische Struktur darstellen (vgl. Abbildung 4), die zunächst vier ineinander verschachtelte Systemebenen umfasst (vgl. Bronfenbrenner 1981: 38).

Abbildung 4: Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner

Quelle: vgl. Bronfenbrenner 1981: 38ff.

Später kam das Chronosystem hinzu8, welches die Dynamik der einzelnen Systeme im Lebensverlauf beinhaltet, mit allen dazugehörigen Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen im historischen und für die Zukunft erwarteten beziehungsweise angestrebten Kontext (vgl. Bronfenbrenner 1986: 724; 2001: 6965). Jedoch ist der Begriff Chronosystem unglücklich gewählt, handelt es sich doch eigentlich um eine Systemchronologie, eine Veränderung der Systeme im Zeitverlauf9.

Bronfenbrenner stellt mit seinem Modell somit die Aneignung und Ausgestaltung unterschiedlicher Lebensbereiche durch das Individuum dar (vgl. 1981: 37 f.; Grundmann/ Kunze 2008: 174). Als Lebensbereich definiert Bronfenbrenner dabei einen „Ort, an dem Menschen leicht direkte Interaktionen mit anderen aufnehmen können“ (1981: 38). Das heißt, in einem Lebensbereich befinden sich mindestens zwei Personen, da ansonsten keine soziale Handlung (Tätigkeit/ Aktivität) möglich ist (vgl. Weber 1921/1972: 11; Bronfenbrenner 1981: 38). In jedem Lebensbereich kommt dem Individuum dabei eine bestimmte Rolle zu (vgl. Bronfenbrenner 1981: 116), die zugleich als Ursache und Folge zwischenmenschlicher Beziehungen betrachtet werden kann. Zudem folgt jede der eingenommenen Rollen bestimmten sozialen Erfordernissen (vgl. ebd.), sodass das Verhalten daran angepasst werden muss. Folglich verhalten wir uns in unserer Rolle in der Familie anders als in der Rolle im Arbeitskollegium oder zu anderen formellen Anlässen (vgl. ebd.).

Jugendliche, deren ökologische Systeme das Zentrum der hier angestellten Überlegungen darstellen, sind bereits in mehrere Mikrosysteme eingebunden (vgl. Abbildung 5), wobei jedoch interindividuelle Unterschiede zu bedenken sind. Für Schüler im BVJ sind neben den Mikrosystemen ‚Familie‘, ‚Schule/ Klasse‘ und ‚Freundeskreis‘ beispielsweise die Lebensbereiche ‚betreutes Wohnen‘ und Jugendarrest/ -strafe‘10 zu beachten oder auch der Praktikumsbetrieb. Des Weiteren müssen der Partner oder die Partnerin in die Analyse einbezogen werden, welche im Zuge der Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter eine höhere Bedeutung erlangen (vgl. Raithel 2011: 95 f.).

Abbildung 5: Potentielle Mikrosysteme von BVJ-Schülern

Der Verein11 als Mikrosystem wird hier schließlich nur genannt, da eine eingehende Untersuchung den Rahmen sprengen würde, zumal sich BVJ-Schüler nur selten in Vereinen engagieren (vgl. Ahrens 2010: 52 f.; Erban 2010: 319). Dabei vermag eine Mitgliedschaft in Sport- oder Musikvereinen die Stabilität des Netzwerks zu sichern und eine Integration in die Arbeitswelt durch die Bekanntschaft mit älteren Vereinsmitgliedern zu begünstigen. Als Vereinstätigkeit sollen hier alle Aktivitäten verstanden werden, mittels derer das Individuum seinen Interessen mit Gleichgesinnten in organisierter und strukturierter Form, zumeist unter Anleitung, nachgeht. Dies kann zum Teil mit dem Freundeskreis zusammenfallen, bildet in der Regel jedoch lediglich eine Schnittmenge mit diesem.

Bezüglich der in Abbildung 5 angeführten Lebensbereiche wird indessen kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, da unmöglich jeder Lebensbereich jedes Individuums abgebildet werden kann. So fehlt in der Abbildung beispielsweise das Konsumverhalten, welches sich über Videospiele, Modeschmuck, Bekleidung, Mobiltelefone etc. ableiten lässt und Ursache von Schulden und Pfändungen sein kann (vgl. Hiller 1994a: 276). Des Weiteren fehlt das Suchtverhalten, wie beispielsweise Drogen- oder Alkoholmissbrauch12, welches das Eingehen destruktiver Beziehungen fördert (vgl. ebd.), oft jedoch auch darauf zurückzuführen ist.