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In Gustave Flauberts Werk 'Die Erziehung der Gefühle' taucht der Leser ein in die Welt des jungen Protagonisten Frédéric Moreau, der sich auf der Suche nach Liebe und Erfüllung befindet. Flaubert präsentiert dieses Werk in einem präzisen und detailgenauen Stil, der als Höhepunkt des Realismus angesehen wird. Er porträtiert die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und deren moralische Werte mit einer Klarheit, die sowohl fesselnd als auch provokativ ist. Die Geschichte enthüllt die Sehnsüchte und inneren Kämpfe eines jungen Mannes, der zwischen seinen Träumen und den Realitäten des Lebens hin- und hergerissen ist. Flauberts literarische Meisterschaft zeigt sich in seiner scharfen Beobachtungsgabe und seiner Fähigkeit, die Tiefen der menschlichen Natur zu durchdringen. 'Die Erziehung der Gefühle' ist ein bedeutendes Werk des französischen Realismus, das die Leser zum Nachdenken anregt und sie in eine Welt voller Leidenschaft und Selbstreflexion entführt. Gustave Flaubert, einer der bedeutendsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, war bekannt für seine kritische Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Durch seine detaillierte Recherche und seinen präzisen Schreibstil gelang es ihm, komplexe Charaktere und emotionale Konflikte lebendig werden zu lassen. Flaubert selbst sah 'Die Erziehung der Gefühle' als einen wichtigen Beitrag zur literarischen Welt und als Spiegelbild der damaligen Gesellschaft. Dieses Buch ist ein Muss für Liebhaber des Realismus und der psychologischen Literatur, die sich von einer Geschichte fesseln lassen möchten, die auch heute noch aktuell ist.
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Seitenzahl: 697
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Books
Von »der Ville de Montereau«, die am 15. September 1840 gegen sechs Uhr morgens zur Abfahrt bereit vor dem Quai-Bernard lag, wirbelte dichter Dampf auf.
Atemlos eilten Leute herbei; Fässer, Taue, Wäschekörbe hinderten den Verkehr. Die Matrosen gaben niemand eine Antwort. Man stieß sich; die Gepäckstücke häuften sich zwischen den beiden Luken, und der Lärm verlor sich in dem Zischen des entweichenden Dampfes, der alles in eine weißliche Wolke hüllte, während die Glocke vorn am Bug unablässig läutete.
Endlich stieß das Schiff ab, und die beiden Ufer, durch Lagerhäuser, Werften und Hüttenwerke belebt, glitten vorüber wie zwei breite Bänder, die man aufrollt.
Ein junger Mann von achtzehn Jahren mit langem Haar und einen Album unter dem Arm stand unbeweglich am Steuerrad. Durch den Nebel blickte er auf Kirchtürme und Gebäude, deren Namen er nicht kannte; dann warf er einen letzten Blick auf die Insel Saint-Louis, die Stadt, Notre-Dame, und stieß einen tiefen Seufzer aus, als Paris bald darauf verschwand.
Frédéric Moreau kehrte, nachdem er kürzlich das Baccalaureat erhalten hatte, nach Nogent-sur-Seine zurück, wo er zwei Monate schmachten sollte, ehe er seine Rechtsstudien in Angriff nahm. Seine Mutter hatte ihn, mit den notwendigen Mitteln versehen, zum Besuch eines Oheims nach Havre geschickt, auf dessen Erbschaft sie für ihn hoffte. Er war am vorhergehenden Abend von dort zurückgekehrt; und da er nicht in der Hauptstadt bleiben konnte, entschädigte er sich, indem er auf einem Umwege heimkehrte.
Der Tumult legte sich, alle hatten ihre Plätze eingenommen; einige wärmten sich an der Maschine, und der Schornstein spie mit langsam rhythmischem Stöhnen den schwarzen Rauch aus wie einen Federbusch. Über die Messingbeschläge rannen kleine Tautröpfchen; das Deck erzitterte unter einer leisen inneren Erschütterung, und in rapider Drehung schlugen die beiden Räder das Wasser.
Der Fluß war von flachen, sandigen Ufern begrenzt. Man begegnete Holzflößen, die durch die Wellen des Kielwassers ins Schwanken gerieten, oder einem Boot ohne Segel, in dem ein Mann saß und fischte. Dann zerteilte sich der weichende Nebel, die Sonne kam hervor; die Hügelkette, die sich am rechten Ufer der Seine hinzog, senkte sich allmählich, und eine andere tauchte ganz nah am gegenüberliegenden Ufer auf.
Bäume krönten sie zwischen niedrigen Häusern mit italienischen Dächern. Davor waren abschüssige Gärten, durch neue Mauern voneinander getrennt, mit Eisengittern, Rasenplätzen, Treibhäusern und in regelmäßigen Abständen Geraniumvasen auf Terrassen, wo man sich ausruhen konnte. Beim Anblick dieser koketten, friedlichen Besitzungen ersehnte mehr als einer, ihr Eigentümer zu sein und dort mit einem guten Billard, einem Boot, einer Frau oder sonst einem Traum bis ans Ende seiner Tage zu leben. Das völlig neue Vergnügen einer Wasserfahrt brachte die Leute einander näher. Die Spaßmacher begannen schon mit ihren Possen. Viele sangen; alle waren heiter. Man trank sich gegenseitig zu.
Frédéric dachte an das Zimmer, das er zu Haus bewohnen würde, an den Entwurf eines Dramas, an Sujets für Gemälde, an künftige Liebhabereien. Er fand, daß ein durch die Vortrefflichkeit seines Herzens wohl verdientes Glück allzu lange auf sich warten ließ. Er sprach Verse vor sich hin; er ging mit schnellen Schritten über das Deck, kam bis ans Ende neben die Glocke; – und in einem Kreise von Matrosen und Passagieren sah er einen Herrn, der mit einer Bäuerin schön tat, wobei er das goldene Kreuz auf ihrer Brust berührte. Es war ein lebensfroher Mensch von etwa vierzig Jahren mit krausem Haar. Seine kräftige Gestalt steckte in einer schwarzen Samtjacke, in seinem Batisthemd leuchteten zwei Smaragde, und die langen weißen Beinkleider fielen auf sonderbare rote Stiefel aus Juchtenleder mit blauen Mustern herab.
Die Anwesenheit Frédérics störte ihn nicht. Er zwinkerte ihm mehrmals zu; dann bot er allen Umstehenden Zigarren an. Allein offenbar langweilte ihn diese Gesellschaft und er entfernte sich. Frédéric folgte ihm.
Die Unterhaltung drehte sich anfangs um einige Tabaksorten, dann natürlich um die Frauen. Der Herr in den roten Stiefeln gab dem jungen Mann gute Ratschläge; er entwickelte Theorien, erzählte Anekdoten, stellte sich selbst als Beispiel auf und trug das alles in einem väterlichen Tone, mit der Naivität einer ergötzlichen Verderbtheit vor.
Er war Republikaner, war viel gereist, kannte die Theater, die Restaurants, die Journale, alle berühmten Künstler, die er vertraulich bei ihren Vornamen nannte; Frédéric vertraute ihm bald seine Pläne an und wurde von ihm ermutigt. Allein bald hielt er inne, beobachtete den Schornstein, stellte murmelnd eine lange Berechnung auf, »wieviel jeder Kolbenstoß bei so und so vielen in der Minute kostete und so weiter.« – Und als er die Summe gefunden hatte, bewunderte er eifrig die Landschaft, schätzte sich glücklich, den Geschäften entronnen zu sein.
Frédéric empfand einen gewissen Respekt vor ihm und konnte dem Wunsch nicht widerstehen, seinen Namen zu erfahren. Der Unbekannte erwiderte in einem Atemzuge:
»Jacques Arnoux, Inhaber der Kunsthandlung Boulevard Montmartre.«
Ein Diener mit goldbetreßter Mütze kam, ihn zu fragen:
»Ob der Herr herunterkommen möchte, das kleine Fräulein weine.«
Er verschwand.
Die Kunsthandlung war ein Etablissement, das die Ausgabe einer Kunstzeitschrift mit dem Verkauf von Gemälden verband. Frédéric hatte den Titel öfter in Buchhändlerauslagen seiner Heimat auf ungeheuren Prospekten gesehen, wo der Name Jacques Arnoux sich protzig breit machte.
Die Sonne warf jetzt senkrechte Strahlen, unter denen das Eisen an den Masten, die Platten der Schiffsverschanzung und die Oberfläche des Wassers hell aufleuchteten; am Bug des Schiffes teilte es sich in zwei tiefe Furchen, die sich bis zum Rande der Wiesen hinzogen. Bei jeder Biegung des Flusses erblickte man immer wieder dieselbe Wand bleicher Pappeln. Die Gegend war völlig öde. Am Himmel standen kleine weiße Wolken, – und die Langeweile, die sich verbreitete, schien die Fahrt des Schiffes zu verlangsamen und das Aussehen der Reisenden noch unbedeutender zu machen.
Außer einigen Bürgersleuten waren es meist Arbeiter und kleine Kaufleute mit ihren Frauen und Kindern. Da man sich damals auf Reisen schlecht zu kleiden pflegte, trugen fast alle alte Freiheitsmützen oder verschossene Hüte, schäbige, schwarze, im Bureau abgenutzte Anzüge oder längst ausgediente Überröcke mit durchgescheuerten Knöpfen; hier und da sah man unter einer Tuchweste ein baumwollenes Hemd mit Kaffeeflecken. Unechte Goldnadeln steckten in zerfetzten Kravatten, das Schuhzeug wurde nur noch von den Hosenstegen zusammengehalten; zwei oder drei Strolche, die Bambusstöcke mit Lederschlingen trugen, warfen verdächtige Blicke umher, und Familienväter rissen die Augen auf, wenn sie Fragen stellten. Sie plauderten oder hockten auf ihrem Gepäck, einige schliefen in den Ecken, mehrere im Stehen. Das Deck war schmutzig von Birnen-und Nußschalen, Zigarrenstummeln, Überresten der in Papier mitgebrachten Fleischwaren; drei Kunsttischler in Blusen hatten sich vor der Kantine niedergelassen, ein zerlumpter Harfenspieler ruhte, auf sein Instrument gestützt. In Zwischenräumen vernahm man das Geratter der Steinkohlen in der Maschine, Lärm von Stimmen, ein Lachen; – und der Kapitän wanderte auf der Brücke unaufhörlich von einer Luke zur andern. Frédéric stieß das Gitter zur ersten Klasse auf, um an seinen Platz zu gelangen und belästigte dabei zwei Jäger mit ihren Hunden.
Es war wie eine Erscheinung:
Sie saß mitten auf einer Bank, ganz allein; oder wenigstens konnte er, von dem Anblick geblendet, niemand weiter unterscheiden. In dem Augenblick, als er vorüberging, hob sie den Kopf; unwillkürlich verbeugte er sich; und nachdem er sich in einiger Entfernung an derselben Seite niedergelassen hatte, betrachtete er sie.
Sie trug einen großen Strohhut mit rosa Bändern, die hinter ihr im Winde flatterten. Schwarze Scheitel, die ihr Gesicht bis zu den Spitzen der langen Brauen einrahmten und sehr tief herabfielen, schienen sich zärtlich dem Oval ihres Antlitzes anzuschmiegen. Ihr helles, mit kleinen Tupfen gemustertes Musselinkleid bauschte sich in zahlreichen Falten. Sie war mit einer Stickerei beschäftigt, und ihre gerade Nase, ihr Kinn, ihre ganze Gestalt zeichnete sich scharf von der blauen Luft ab.
Da sie in derselben Stellung verharrte, ging er mehrmals links und rechts vorüber, um seine Absichten zu verbergen, stellte sich darauf dicht neben ihren Sonnenschirm, der an der Bank lehnte, und gab sich den Anschein, als beobachtete er eine Schaluppe auf dem Fluß.
Noch niemals hatte er eine so herrlich braune Hautfarbe gesehen, eine so verführerische Gestalt wie die ihre, noch nie eine solche Zartheit der Finger, durch die das Licht hindurchschimmerte. Mit Staunen, wie etwas Wunderbares, betrachtete er ihren Arbeitskorb. Wie war ihr Name, ihr Wohnort, ihr Leben, ihre Vergangenheit? Er hatte das Verlangen, die Möbel ihres Zimmers zu kennen, alle Kleider, die sie getragen, die Leute, mit denen sie umging; und selbst der Wunsch nach ihrem körperlichen Besitz wich einem viel tieferen Begehren, einer schmerzlichen Neugier, die keine Grenzen kannte.
Eine Negerin in einem seidenen Kopftuch erschien mit einem kleinen Mädchen an der Hand. Das Kind, aus dessen Augen Tränen rollten, war eben erwacht. Sie nahm es auf den Schoß. »Ein Fräulein von bald sieben Jahren und gar nicht artig; Mutter kann es nicht mehr lieb haben, die Launen werden ihm zu oft verziehen.« Und Frédéric bereitete das Anhören dieser Dinge eine Freude, als hätte er eine Entdeckung gemacht, ein Geschenk erhalten.
Er vermutete, daß sie von andalusischer Abkunft, vielleicht Kreolin war; ob sie diese Negerin von den Inseln mitgebracht hatte?
Ein langer Schal mit violetten Streifen lag hinter ihrem Rücken auf der Kupferplanke. Sie mochte sich wohl oftmals auf hoher See, an feuchten Abenden darin eingehüllt, die Füße damit bedeckt, darunter geschlafen haben! Aber von den Fransen heruntergezogen, glitt er allmählich herab, drohte ins Wasser zu fallen. Mit einem Satz fing Frédéric ihn auf.
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte sie.
Ihre Blicke begegneten sich.
»Frau, bist du fertig?« rief Arnoux, der unter dem Dach der Treppe erschien.
Die kleine Marthe lief ihm entgegen, umklammerte seinen Hals und zerzauste ihn am Bart. Die Töne einer Harfe erklangen, sie wollte die Musikanten sehen, und bald betrat der Spieler, von der Negerin geführt, das Deck der ersten Klasse. Arnoux erkannte ein altes Modell in ihm; er duzte ihn zur Verwunderung der Umstehenden. Endlich warf der Harfenspieler sein langes Haar über die Schulter zurück, breitete die Arme aus und begann zu spielen.
Es war eine orientalische Romanze, in der von Dolchen, Blumen und Sternen die Rede war. Der Mann in Lumpen sang sie mit schriller Stimme; die Stöße der Maschine unterbrachen die Melodie in falschem Takt, er spielte lauter: die Saiten schwirrten, und ihre metallischen Töne klangen wie ein Schluchzen, wie eine Klage stolzer, besiegter Liebe. Von den beiden Flußufern neigten sich die Wälder bis zum Rande des Wassers; ein frischer Luftzug strich vorüber; Madame Arnoux blickte ungewiß ins Weite. Als die Musik verstummte, hob sie zögernd die Lider, als erwache sie aus einem Traum. Demütig näherte sich der Harfenspieler. Während Arnoux Geld heraussuchte, streckte Frédéric die geschlossene Hand aus, öffnete sie verschämt und legte einen Louisd’or in die Mütze. Nicht Eitelkeit trieb ihn dazu, vor ihr dieses Almosen zu geben, sondern das Verlangen, Wohltaten zu spenden, mit einer fast religiösen Herzensregung verbunden.
Arnoux forderte ihn freundlich auf, mit hinunterzugehen, indem et ihm den Weg zeigte. Frédéric versicherte, er komme eben vom Frühstück, dabei verging er vor Hunger; und er hatte keinen Pfennig mehr in der Börse.
Dann sagte er sich, daß er wie jedermann das Recht hatte, sich im Salon aufzuhalten.
Es wurde an runden Tischen gespeist, ein Kellner ging hin und her; Monsieur und Madame Arnoux saßen rechts im Hintergrund; er setzte sich auf die lange Samtpolsterbank, nachdem er eine Zeitung aufgenommen hatte, die dort lag.
Sie wollten in Montereau die Post nach Châlons nehmen. Ihre Reise in die Schweiz sollte einen Monat währen. Madame Arnoux machte ihrem Gatten Vorwürfe über seine Schwäche gegen das Kind. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, eine Liebenswürdigkeit offenbar, denn sie lächelte. Darauf bemühte er sich, den Fenstervorhang hinter ihr zu schließen.
Die niedrige, ganz weiße Decke warf das Licht grell zurück. Frédéric konnte von gegenüber den Schatten ihrer Wimpern unterscheiden. Sie nippte an ihrem Glase und zerkrümelte Brotkruste zwischen den Fingern; zuweilen schlug das Medaillon von Lapislazuli, das mit einer Goldkette an ihrem Handgelenk befestigt war, gegen ihren Teller. Die anderen alle schienen sie gar nicht zu bemerken.
Zuweilen sah man durch die Fensterluken eine Barke vorübergleiten, die das Schiff anlief, um Reisende aufzunehmen oder abzusetzen. Die Leute an den Tischen neigten sich aus den Öffnungen und nannten die Namen der Ortschaften am Fluß.
Arnoux beklagte sich über die Küche; er beschwerte sich laut über die Rechnung und ließ sie kürzen. Dann führte er den jungen Mann vorn auf das Schiff, um dort Grog zu trinken. Aber Frédéric kehrte bald unter das Zelt zurück, wo Madame Arnoux sich niedergelassen hatte. Sie las in einem winzigen Bändchen in grauem Einband. Ihre beiden Mundwinkel zogen sich mitunter empor, und ein Strahl von Heiterkeit erhellte ihre Stirn. Er war eifersüchtig auf denjenigen, der die Dinge erdacht hatte, mit denen sie beschäftigt schien. Je länger er sie betrachtete, desto mehr empfand er, wie die Kluft zwischen ihm und ihr sich vertiefte. Er dachte daran, daß er sie bald verlassen mußte, unwiderruflich, ohne ihr ein Wort entlockt zu haben, selbst ohne ihr eine Erinnerung zu lassen!
Zur Rechten dehnte sich eine Ebene, links stiegen Weideplätze die Hügel hinan, auf denen man Weingelände, Nußbäume, eine Mühle im Grünen bemerkte, und von dort aus kleine Pfade, die im Zickzack über den weißen Felsen führten, der zum Himmelsrand emporragte. Welch ein Glück mußte es sein, Seite an Seite mit ihr, den Arm um sie geschlungen, dort hinaufzusteigen und, während ihr Kleid über die vergilbten Blätter fegte, unter dem Leuchten ihrer Augen ihrer Stimme zu lauschen! Das Boot konnte anhalten, sie brauchten nur auszusteigen; und dennoch war diese einfache Sache nicht leichter, als die Sonne zu bewegen!
Etwas weiterhin entdeckte man ein Schloß mit spitzem Dach und eckigen Türmen. Ein Blumengarten dehnte sich vor der Fassade; und unter den hohen Linden vertieften die Alleen sich wie dunkle Gewölbe. Er dachte sie sich an der Weißbuchenhecke vorübergehend. In diesem Augenblick sah man eine junge Dame und einen jungen Mann auf dem Altan zwischen den Orangekübeln. Dann verschwand alles.
Das kleine Mädchen spielte neben ihm. Frédéric wollte es küssen. Es verbarg sich hinter seiner Wärterin; und die Mutter schalt, daß es unfreundlich gegen den Herrn sei, der ihren Schal gerettet habe. War das eine indirekte Einleitung?
»Wird sie mich endlich ansprechen?« fragte er sich.
Die Zeit drängte. Wie war eine Einladung zu Arnoux zu erlangen? Ihm fiel nichts Besseres ein, als ihn auf die Farbe des Herbstes aufmerksam zu machen und hinzuzufügen:
»Bald kommt der Winter, die Zeit der Bälle und Diners!«
Arnoux jedoch war vollauf mit seinem Gepäck beschäftigt. Die Küste von Surville wurde sichtbar, die beiden Brücken näherten sich, sie kamen an einer Seilerei vorüber, darauf an einer Reihe niedriger Häuser; weiter unten sah man Teerkessel, Holzspähne und Gassenbuben, die im Sande Rad schlugen. Frédéric erkannte einen Mann in einem Wams und rief ihm zu:
»Beeile dich!«
Sie landeten. Mit Mühe fand er Arnoux in der Menge der Passagiere, und dieser erwiderte, ihm die Hand schüttelnd:
»Viel Vergnügen, mein Lieber!«
Auf dem Quai angelangt, drehte Frédéric sich um. Sie stand dicht am Steuerrad. Er sandte ihr einen Blick, in den er seine ganze Seele zu legen versuchte; sie blieb unbeweglich, als wäre nichts geschehen. Dann rief er, ohne den Gruß seines Dieners zu beachten:
»Warum hast du den Wagen nicht bis hierher gebracht?«
Der Mann entschuldigte sich.
»Welche Ungeschicklichkeit: Gib mir etwas Geld!«
Und er ging in ein Gasthaus, um zu essen. Eine Viertelstunde darauf verspürte er Lust, wie zufällig in den Posthof einzutreten. Ob er sie noch sehen würde?
»Doch wozu?« sagte er sich.
Und der Wagen fuhr mit ihm davon. Die beiden Pferde gehörten nicht seiner Mutter. Sie hatte sie von Monsieur Chambrion, dem Steuereinnehmer, geliehen, um sie dem eignen Wagen vorzuspannen. Isidore, der Tags zuvor aufgebrochen war, hatte bis zum Abend in Bray gerastet und in Montereau übernachtet, so daß die erfrischten Tiere flink dahintrabten.
Abgemähte Felder zogen sich endlos bin. Zwei Reihen Bäume säumten den Weg ein, wo Kieselsteinhaufen sich aneinander reihten; und nach und nach kam er an Villeneuve-Saint-Georges, Ablon, Châtillon, Corbeil und den übrigen Ortschaften vorüber. Seine ganze Reise kam ihm so deutlich wieder in Erinnerung, daß er jetzt ganz neue Details und intimere Einzelheiten entdeckte. Unter dem letzten Volant ihres Kleides lugte ihr Fuß in winzigen, kastanienbraunen Seidenstiefelchen hervor; das Segeltuchzelt bildete einen Baldachin über ihrem Kopf, und die kleinen roten Quasten der Bordüre zitterten unaufhörlich im Winde.
Sie glich den Frauen aus romantischen Büchern. Er hätte ihrer Person nichts zufügen, nichts von ihr fortlassen mögen. Das Weltall hatte sich plötzlich erweitert. Sie war der Glanzpunkt, in dem alle Dinge zusammenflossen; – und von dem Schwanken des Wagens eingewiegt, die Lider halb geschlossen, den Blick in den Wolken, überließ er sich einer träumerischen, schrankenlosen Freude.
In Bray wartete er nicht, bis die Pferde Hafer bekommen hatten, er ging voraus, die Landstraße hinauf, ganz allein. Arnoux hatte sie »Marie!« genannt. Er rief ganz laut »Marie!« Seine Stimme verhallte in der Luft.
Tiefe Purpurfarbe flammte am westlichen Himmel auf. Hohe Kornschober, die sich mitten in den Stoppelfeldern erhoben, warfen riesenhafte Schatten. Fernab in einem Hof fing ein Hund an zu bellen. Von einer grundlosen Unruhe erfaßt, erschauerte er.
Als Isidore ihn eingeholt hatte, setzte er sich auf den Bock, um zu kutschieren. Seine Schwäche war vorüber. Er war fest entschlossen, sich auf irgendeine Art bei Arnoux einzuführen, in Verkehr mit ihnen zu kommen. Sie führten wohl ein angenehmes Haus, ihm gefiel Arnoux; und dann, wer konnte wissen? Eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht: seine Schläfen hämmerten, er ließ die Peitsche knallen, riß an den Zügeln und trieb die Pferde zu einer solchen Gangart an, daß der alte Kutscher wiederholt ausrief:
»Langsam! aber langsam! Sie kommen außer Atem!«
Allmählich beruhigte sich Frédéric und hörte dem Plaudern des Dieners zu.
Man erwartete den jungen Herrn mit großer Ungeduld. Mademoiselle Louise hatte geweint, weil sie nicht mitfahren durfte.
»Wer ist Mademoiselle Louise?«
»Die Kleine von Monsieur Rogue, Sie wissen doch?«
»Ah! Ich vergaß!« erwiderte Frédéric nachlässig.
Allein die Pferde konnten nicht weiter. Sie hinkten alle beide, und es schlug neun Uhr von Saint-Laurent, als sie auf der Place d’Armes vor dem Hause seiner Mutter anlangten.
Dieses geräumige Haus mit dem nach der Landseite gelegenen Garten erhöhte noch das Ansehen von Madame Moreau, die die geachtetste Persönlichkeit in der Gegend war.
Sie entstammte einer alten, jetzt erloschenen Adelsfamilie. Ihr Mann, ein Bürgerlicher, mit dem ihre Eltern sie verheiratet hatten, war infolge eines Degenstoßes während ihrer Schwangerschaft gestorben und hatte sie in unsicheren Vermögensverhältnissen zurückgelassen. Dreimal wöchentlich empfing sie Gäste und gab von Zeit zu Zeit ein gutes Diner. Doch die Zahl der Kerzen wurde vorher berechnet, und sie erwartete mit Ungeduld ihren Pachtzins. Diese Geldverlegenheiten, die sie wie ein Laster verheimlichte, machten sie ernst. Indessen übte sie Wohltätigkeit ohne jede Bitterkeit. Ihre geringsten Almosen waren wie große Spenden. Man zog sie bei der Wahl der Dienstboten zu Rate, bei der Erziehung der jungen Mädchen, der Kunst des Einmachens, und Hochwürden stieg auf seinen bischöflichen Reisen bei ihr ab.
Madame Moreau hegte großen Ehrgeiz für ihren Sohn. In einer Art voraussehender Klugheit liebte sie es nicht, die Regierung tadeln zu hören. Anfangs würde er Protektion brauchen; dann aber dank seiner Fähigkeiten Staatsrat, Botschafter, Minister werden. Seine Erfolge auf dem Gymnasium rechtfertigten diesen Stolz; er hatte den Ehrenpreis davongetragen.
Als er in den Salon trat, erhoben sich alle sehr geräuschvoll; sie umarmten ihn, und dann bildete sich mit Sesseln und Stühlen ein großer Kreis um den Kamin. Monsieur Gamblin fragte ihn sofort um seine Meinung über Madame Lasarge. Dieser Prozeß, die Sensation der damaligen Zeit, verfehlte nicht, eine heftige Diskussion herbeizuführen. Madame Moreau unterbrach sie jedoch zum Bedauern von Monsieur Gamblin; er hielt sie für den jungen Mann in seiner Eigenschaft als zukünftigen Juristen sehr nützlich und verließ gekränkt den Salon.
Von einem Freunde des Vater Roque konnte nichts überraschen! Von diesem übrigens kam die Rede auf Monsieur Dambreuse, der soeben die Domaine de la Fortelle erworben hatte. Aber der Steuereinnehmer hatte Frédéric beiseite gezogen, um zu hören, was er von Monsieur Guizets letztem Werk halte. Alle wünschten Einblick in seine Angelegenheiten; Madame Benoit wandte sich direkt an ihn und erkundigte sich nach seinem Oheim. Wie ging es diesem guten Verwandten? Er ließ nichts mehr von sich hören. Hatte er nicht einen jungen Neffen in Amerika?
Die Köchin meldete, daß das Essen für den jungen Herrn aufgetragen sei. Rücksichtsvoll entfernten sich alle. Als sie allein waren, fragte die Mutter mit leiser Stimme:
»Nun?«
Der alte Mann hatte ihn sehr herzlich empfangen, aber ohne ihm seine Absichten zu offenbaren.
Madame Moreau seufzte.
»Wo mag sie jetzt sein?« träumte er.
Der Postwagen rollte weiter, und in ihren Schal gehüllt, lehnte sie wohl schlummernd ihren schönen Kopf gegen das Wagenpolster.
Als sie in ihr Zimmer hinaufgingen, brachte ein Bursche aus dem Cygne de la Croix ein Billet.
»Von wem ist das?«
»Deslauriers wünscht mich zu sprechen,« sagte er.
»Ah, dein Kamerad!« sagte Madame Moreau mit verächtlichem Lächeln. »Die Stunde ist gut gewählt, wahrlich!«
Frédéric zögerte. Aber die Freundschaft war stärker. Er nahm seinen Hut.
»Bleibe wenigstens nicht lange!« sagte die Mutter.
Charles Deslauriers’ Vater, ein alter, 1818 abgedankter Hauptmann der Linie, war nach Nogent zurückgekommen, um sich zu verheiraten, und hatte die Mitgift dazu benutzt, das Amt eines Gerichtsvollziehers zu erwerben, das kaum für seinen Lebensunterhalt genügte. Verbittert durch lange Ungerechtigkeiten, an seinen alten Wunden leidend und in Trauer um den Kaiser, ließ er seinen Zorn, an dem er zu ersticken drohte, an seiner Umgebung aus. Wenige Kinder wurden mehr geprügelt als sein Sohn. Der Junge fügte sich nicht, trotz der Schläge. Seine Mutter wurde, wenn sie versuchte, sich einzumischen, angefahren wie er. Schließlich steckte er ihn in seine Schreibstube und ließ ihn den lieben langen Tag, über das Pult gebeugt, Akten abschreiben, wodurch seine rechte Schulter sichtlich stärker hervortrat als die linke.
Im Jahre 1833 gab der Hauptmann, der Aufforderung des Präsidenten folgend, sein Amt auf. Seine Frau war am Krebs gestorben. Er siedelte nach Dijon über. Dann ließ er sich als Seelenverkäufer in Troyes nieder, und nachdem er für Charles eine halbe Freistelle erhalten hatte, brachte er ihn auf das Gymnasium zu Sens, wo Frédéric ihn kennen lernte. Aber der eine war zwölf Jahre alt, der andere fünfzehn; überdies trennten sie tausend Verschiedenheiten des Charakters und der Herkunft.
Frédéric besaß in seiner Kommode allerlei Schätze, zum Beispiel ein Toiletten-Necessaire. Er liebte es, morgens lange zu schlafen, die Schwalben zu beobachten, Theaterstücke zu lesen, und ohne die Annehmlichkeiten des Elternhauses fand er das Schulleben hart.
Der Sohn des Beamten fand es schön. Er lernte so gut, daß er bereits am Ende des zweiten Jahres in die dritte Klasse kam. Doch seiner Armut oder seiner Streitsucht wegen waren alle feindlich gegen ihn gesinnt. Als ihn aber ein Diener einmal aus offenem Schulhof einen Betteljungen nannte, sprang er ihm an die Kehle und hätte ihn getötet, wenn nicht drei Lehrer dazugekommen wären. Von Bewunderung hingerissen, schloß Frédéric ihn in die Arme Von diesem Tage an war die Vertrautheit vollkommen. Die Zuneigung eines Großen schmeichelte dem Kleinen offenbar, und der andere nahm die ihm dargebotene Freundschaft wie ein Glück an.
Sein Vater ließ ihn während der Ferien in der Schule. Eine zufällig offen daliegende Übersetzung des Plato begeisterte ihn. Er vertiefte sich in metaphysische Studien und machte schnelle Fortschritte, denn er widmete sich ihnen mit dem Enthusiasmus der Jugend und einem Verständnis, das ihn stolz machte; Jouffroy, Cousin, Laromiguére, Malebranche, die Schotten, alles, was die Bibliothek enthielt, kam heran. Er hatte den Schlüssel stehlen müssen, um sich die Bücher zu verschaffen.
Frédérics Zerstreuungen waren nicht so ernster Art. Er zeichnete die Stammtafel Christi, die an einem Pfosten in der Rue Trois-Rois in Holz geschnitzt war, und darauf das Portal der Kathedrale. Von den Dramen des Mittelalters ging er zu den Memoiren über: Froissart, Comines. Pierre d’Estoile, Brantôme.
Die Bilder, die sich seinem Geist durch diese Lektüre aufdrängten, beschäftigten ihn so stark, daß er das Bedürfnis empfand, sie wiederzugeben. Er strebte danach, einst der Walter Scott Frankreichs zu werden. Deslauriers ersann ein umfassendes System der Philosophie, das die ausgedehnteste Anwendung finden sollte.
Sie plauderten von alledem während der Pausen auf dem Hof, angesichts der gemalten moralischen Inschrift unter der Uhr, flüsterten davon in der Kapelle des heiligen Ludwig mit dem Bart, und träumten davon im Schlafraum. Auf den Spaziergängen richteten sie es so ein, daß sie hinter den andern gingen und redeten ohne Ende.
Sie sprachen von dem, was sie später tun wollten, wenn sie das Gymnasium verlassen haben würden. Für das erste nahmen sie sich vor, mit dem Gelde, das Frédéric bei seiner Großjährigkeit von seinem Vermögen erhalten sollte, eine große Reise zu machen, darauf nach Paris zurückzukehren, zusammen zu arbeiten und sich niemals zu trennen; – und zur Erholung von ihrer Arbeit würden sie Liebschaften mit Prinzessinnen in seidenen Boudoirs haben oder glänzende Orgien mit berühmten Kurtisanen feiern. Dem Ungestüm ihrer Hoffnungen folgten Zweifel. Nach Krisen wortreicher Fröhlichkeit verfielen sie in tiefes Schweigen.
An Sommerabenden, nachdem sie lange auf steinigen Wegen am Rande von Weingärten oder auf der Landstraße mitten durchs freie Feld gegangen waren, wenn das Korn in der Sonne wogte, während himmlische Düfte die Luft durchzogen, überfiel sie eine Art Beklemmung, und sie streckten sich trunken, wie betäubt, auf dem Rücken aus. Die anderen turnten in Hemdärmeln am Barren oder ließen Drachen steigen. Der beaufsichtigende Lehrer rief sie heran und sie kehrten zurück, an Gärten vorüber, durch die kleine Bäche rieselten, dann die von alten Gemäuern beschatteten Boulevards entlang; in den öden Straßen hallten ihre Schritte wider; das Gitter öffnete sich, sie stiegen die Treppe hinauf und waren niedergedrückt, wie nach großen Ausschweifungen.
Der Inspektor behauptete, daß sie sich gegenseitig exaltierten. Doch wenn Frédéric in den oberen Klassen arbeitete, so geschah es infolge der Ermahnungen seines Freundes; und in den Ferien 1837 nahm er ihn zu seiner Mutter mit.
Der junge Mann mißfiel Madame Moreau. Er aß außergewöhnlich viel, weigerte sich, Sonntags dem Gottesdienst beizuwohnen, und hielt republikanische Reden; endlich glaubte sie zu wissen, daß er ihren Sohn in verrufene Häuser führte. Ihr Verkehr wurde bewacht. Sie liebten sich infolgedessen umso mehr, und es war ein schmerzlicher Abschied, als Deslauriers im folgenden Jahr das Gymnasium verließ, um in Paris die Rechte zu studieren.
Frédéric rechnete darauf, sich dort wieder mit ihm zu vereinigen. Sie hatten sich seit zwei Jahren nicht gesehen, und nach langer Umarmung gingen sie auf die Brücken, um ungezwungener plaudern zu können.
Der Hauptmann, jetzt Inhaber eines Cafés in Villenauxe, war wütend geworden, als sein Sohn die Vormundschaftsabrechnung verlangte, und hatte ihm einfach jede Unterstützung verweigert. Aber da er sich später um eine Professur an der Hochschule bewerben wollte und kein Geld hatte, nahm Deslauriers die Stelle eines Gehilfen bei einem Anwalt in Troyes an. Durch Einschränkungen wollte er viertausend Francs sparen, und wenn er das mütterliche Erbteil nicht anrührte, würde er immer etwas haben, um drei Jahre frei arbeiten zu können, während er auf eine Anstellung wartete. Sie mußten also ihren alten Plan, in der Hauptstadt zusammen zu leben, für jetzt wenigstens, aufgeben.
Frédéric senkte den Kopf; das war der erste seiner Träume, der zusammenstürzte.
»Tröste dich,« sagte der Sohn des Hauptmanns, »das Leben ist lang, und wir sind jung. Ich komme dir nach! Denke nicht mehr daran.«
Sie schüttelten sich die Hände, und um ihn abzulenken, fragte er ihn nach seiner Reise.
Frédéric hatte nicht viel zu erzählen. Aber bei der Erinnerung an Madame Arnoux schwand sein Kummer. Durch Scheu zurückgehalten, sprach er nicht von ihr. Dagegen breitete er sich weitläufig über Arnoux aus, erzählte von seinen Reden, seinen Manieren, seinen Verbindungen; und Deslauriers riet ihm nachdrücklich, diese Bekanntschaft zu pflegen.
Frédéric hatte in der letzten Zeit nichts geschrieben. Seine literarischen Ansichten hatten sich geändert, er schwärmte jetzt vor allem für die leidenschaftlichen Charaktere; Werther, René, Franck, Lélia, Lara und andere mittelmäßigere begeisterten ihn fast in gleicher Weise. Zuweilen schien ihm die Musik allein im stande, seinen inneren Aufruhr auszudrücken; dann träumte er von Symphonien; oder die äußere Erscheinung der Dinge fesselte ihn, und er wollte malen. Er hatte auch Verse gemacht; Deslauriers fand sie sehr schön, ohne jedoch um eine zweite Probe zu bitten.
Er selbst gab sich nicht mehr mit Metaphysik ab. Nationalökonomie und die französische Revolution nahmen ihn ganz in Anspruch. Er war jetzt ein langer hagerer Bursche von zweiundzwanzig Jahren mit großem Mund und entschlossener Miene. An diesem Abend trug er einen schlechten Lasting-Paletot, und seine Stiefel waren weiß von Staub, denn er hatte den Weg von Villenauxe zu Fuß gemacht, um Frédéric noch zu sehen.
Isidore näherte sich ihnen, Madame lasse den jungen Herrn bitten, nach Haus zu kommen, und in der Furcht, er könne sich erkälten, schicke sie ihm seinen Mantel.
»Bleibe doch!« sagte Deslauriers.
Und sie gingen weiter, von einem Ende zum andern der beiden Brücken, die sich auf die schmale, von dem Kanal und dem Fluß gebildete Insel stützten.
Wenn sie an der Seite von Nogent gingen, hatten sie eine Gruppe von Häusern vor sich; rechts sah man die Kirche hinter den Sägemühlen, deren Schleusen gesperrt waren; und links, längs des Flusses, umsäumten Sträucherhecken die Gärten, die kaum zu unterscheiden waren. Aber nach Paris zu führte die Landstraße abwärts in gerader Linie, und in der Ferne verloren sich die Wiesen im nächtlichen Dunst. Die Nacht war still und von weißlicher Klarheit. Der Geruch feuchten Laubes stieg zu ihnen empor, und nur das Plätschern der Brunnen hundert Schritt weiter war wie das dumpfe Geräusch von Wellen im Dunkeln.
Deslauriers blieb stehen und sagte:
»Wie die guten Leute ruhig, schlafen, es ist seltsam! Aber Geduld! Ein neues 89 bereitet sich vor! Man ist der Konstitution, der Verfassungsurkunden, der Spitzfindigleiten und Lügen müde! Ah! hätte ich ein Blatt oder eine Tribüne, wie wollte ich das alles durcheinanderrütteln! Allein um etwas zu unternehmen, was es auch sei, ist Geld nötig! Es ist ein Fluch, der Sohn eines Schankwirts zu sein und seine Jugend auf der Suche nach Brot zu vergeuden!«
Er senkte den Kopf, biß sich auf die Lippen und zitterte vor Kälte in seinen dünnen Kleidern.
Frédéric warf ihm die Hälfte seines Mantels um die Schultern. Sie wickelten sich beide hinein und wandelten, einander umfassend, Seite an Seite weiter.
»Wie soll ich ohne dich dort leben?« sagte Frédéric, den die Bitterkeit seines Freundes ebenfalls traurig stimmte. »Mit einer Frau, die mich liebt, würde ich etwas erreichen können … Warum lachst du? Die Liebe ist die Nahrung und gleichsam die Atmosphäre des Genies. Außerordentliche Erschütterungen bringen erhabene Werke hervor. Ich verzichte übrigens auf die Mühe, eine nach meinem Geschmack zu suchen! Und wenn ich sie je fände, sie stieße mich zurück! Ich gehöre zu dem Stamme der Enterbten und werde als König oder Bettler enden, was weiß ich.«
Ein Schatten reckte sich auf das Pflaster und gleichzeitig vernahmen sie die Worte:
»Ihr Diener, meine Herren!«
Der sie ansprach, war ein kleiner Mann mit einem weiten braunen Überrock und einer Mütze, unter deren Schirm eine spitze Nase hervorsah.
»Monsieur Roque?« sagte Frédéric.
»Der bin ich,« erwiderte die Stimme.
Er rechtfertigte seine Anwesenheit mit der Bemerkung, daß er von einer Besichtigung seiner Wolfseisen in seinem Garten am Ufer komme.
»Und Sie sind wieder zu uns zurückgekehrt? Sehr schön! ich habe es von meinem Töchterchen gehört. Mit Ihrer Gesundheit geht es gut, hoffe ich? Sie reisen doch noch nicht ab?«
Und er ging, augenscheinlich durch Frédérics Empfang zurückgeschreckt.
Madame Moreau verkehrte allerdings nicht mit ihm; Vater Roque lebte mit seiner Haushälterin im Konkubinat und war wenig geachtet, obwohl er Wahlmann und Verwalter von Monsieur Dambreuse war.
»Des Bankiers in der Rue d’Anjou?« begann Deslauriers wieder, »weißt du, was du tun müßtest, mein Guter?«
Isidore unterbrach sie nochmals. Er hatte den Auftrag, Frédéric endlich mitzubringen. Madame beunruhigte sich wegen seines Ausbleibens.
»Gut! gut! er kommt gleich,« sagte Deslauriers, »er wird nicht draußen schlafen.«
Und nachdem der Diener gegangen war:
»Du solltest den Alten bitten, dich bei Dambreuse einzuführen. Nichts ist nützlicher, als in einem reichen Hause zu verkehren. Da du einen schwarzen Anzug und weiße Handschuhe hast, nutze sie aus! Du mußt zu diesen Leuten gehen! Später führst du mich dann ein! Ein Millionär, bedenke! Sieh zu, ihm zu gefallen und seiner Frau ebenfalls. Werde ihr Geliebter!«
Frédéric wehrte lebhaft ab.
»Aber es gibt klassische Beispiele dafür, sage ich dir. Denke an Rastignac in der Comédie humaine! Du wirst sicher Erfolg haben!«
Frédéric hatte so großes Vertrauen zu Deslauriers, daß er schwankend wurde, und indem er Madame Arnoux vergaß oder sie in die auf die andere gemünzte Prophezeiung miteinschloß, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren.
Der Schreiber fügte hinzu:
»Der letzte Rat: Mache deine Examina! Ein Titel ist immer gut; und geh mir mit deinen katholischen und satanischen Poeten, die in der Philosophie ebenso vorgeschritten sind, wie man im XII. Jahrhundert war. Deine Verzweiflung ist albern. Männer von Bedeutung haben einen schwierigeren Anfang gehabt, um mit Mirabeau zu beginnen. Überdies, unsere Trennung wird nicht so lange dauern. Ich werde meinem Gauner von Vater an die Kehle müssen. Es ist Zeit, daß ich zurückkehre, adieu! Hast du fünf Francs, mein Mittagessen zu bezahlen?«
Frédéric gab ihm zehn Francs, den Rest der am Morgen von Isidore entnommenen Summe.
Zwanzig Schritt hinter den Brücken, am linken Ufer, glänzte in dem Dachstübchen eines niedrigen Hauses Licht.
Deslauriers bemerkte es. Da rief er emphatisch, indem er seinen Hut zog:
»Venus, Himmelskönigin, sei gegrüßt! Aber die Not ist die Mutter der Weisheit! Hat man uns deswegen nicht genug verlästert, daß Gott erbarm!«
Diese Anspielung auf ein gemeinsames Abenteuer stimmte sie froh! Sie lachten laut auf der Straße.
Dann, nachdem er seine Rechnung im Gasthaus berichtigt hatte, begleitete Deslauriers Frédéric bis zur nächsten Ecke: – und nach einer langen Umarmung trennten sich die Freunde.
Zwei Monate später beschloß Frédéric, der eines Morgens in der Rue Coq-Héron gelandet war, sogleich seinen großen Besuch zu machen.
Der Zufall war ihm günstig gewesen. Vater Roque hatte ihm eine Rolle Papiere gebracht und ihn gebeten, sie selbst bei Monsieur Dambreuse abzugeben; und er fügte der Sendung ein versiegeltes Schreiben bei, in dem er seinen jungen Landsmann empfahl.
Madame Moreau schien dieser Schritt zu überraschen. Frédéric verbarg seine Freude darüber.
Monsieur Dambreuse hieß eigentlich Graf d’Ambreuse; allein, seit 1825, nachdem er mit der Zeit seinen Adel und seine Partei aufgegeben, hatte er sich der Industrie zugewandt; und unterrichtet über alle Ereignisse, beteiligt an allen Unternehmungen, bei allen guten Gelegenheiten auf der Lauer, verschlagen wie ein Grieche und arbeitsam wie ein Auvergnat, hatte er ein Vermögen angesammelt, das beträchtlich sein sollte; außerdem war er Offizier der Ehrenlegion, Mitglied des Generalrats der Aube, Deputierter, nächstens Pair von Frankreich; selbst gern gefällig, ermüdete er den Minister durch seine beständigen Bitten um Beistand, um Orden, um Tabakbüros, und in seiner Abneigung gegen die Regierung zur Linken schloß er sich dem Zentrum an. Seine Frau, die hübsche Madame Dambreuse, die von den Modejournalen genannt wurde, präsidierte bei Wohltätigkeitsvereinen. Indem sie den Herzoginnen schmeichelte, beschwichtigte sie den Groll des vornehmen Faubourg und erweckte den Glauben, daß Monsieur Dambreuse sein Eindringen vielleicht noch bereuen werde und ihm noch einmal Dienste erweisen könnte.
Der junge Mann war erregt, als er zu ihnen ging.
»Ich hätte besser getan, meinen Frack anzuziehen. Sie laden mich gewiß für die nächste Woche zum Ball ein? Was werden sie sagen?«
Die Zuversicht kehrte ihm bei dem Gedanken zurück, daß Monsieur Dambreuse nur ein Bürger war, und verwegen sprang er von seinem Kabriolett auf das Trottoir der Rue d’Anjou.
Nachdem er durch das eine der beiden Einfahrttore gekommen war, überschritt er den Hof, stieg die Freitreppe hinan und trat in ein Vestibül, das mit farbigem Marmor ausgelegt war.
Eine gerade Doppeltreppe mit rotem Teppich und Messingstangen lief die hohe, mit reichem Stuck verzierte Mauer entlang. Am Fuß der Stufen stand ein Bananenbaum, dessen breite Blätter auf die Samtrampe fielen. Zwei Bronzekandelaber trugen Porzellanglocken, die an kleinen Kettchen hingen. Den Luftlöchern der Heizung entströmte eine trockene Hitze; und man vernahm nur das Ticktack einer großen Uhr, die am andern Ende des Vestibüls unter einem Waffengestell stand.
Eine Glocke erklang; ein Diener erschien und führte Frédéric in einen kleinen Raum, in dem man zwei Geldschränke mit Fächern voller Mappen gewahrte. Monsieur Dambreuse schrieb in der Mitte an einem Zylinderbüro.
Er las flüchtig den Brief Vater Roques, schnitt mit seinem Taschenmesser die Leinenhülle auf, die die Papiere umschloß, und prüfte sie.
Aus der Entfernung konnte er seiner schmächtigen Gestalt wegen noch jung erscheinen. Aber seine spärlichen weißen Haare, seine kraftlosen Glieder und besonders sein außerordentlich fahles Gesicht verrieten einen zerrütteten Körper. Unerbittliche Energie lag in seinen meergrünen Augen, die kälter waren als Glasaugen. Er hatte vorstehende Backenknochen und Hände mit knochigen Gelenken.
Endlich stand er auf und richtete an den jungen Mann einige Fragen über Personen ihrer Bekanntschaft, über Nogent, über seine Studien; dann verabschiedete er ihn, indem er sich verneigte. Frédéric ging durch einen andern Korridor hinaus und befand sich am unteren Ende des Hofes bei den Stallungen.
Ein blaues Coupé mit einem Rappen vorgespannt stand an der Freitreppe. Der Schlag öffnete sich, eine Dame stieg ein, und der Wagen rollte mit dumpfem Geräusch auf dem Kies davon.
Frédéric langte von der anderen Seite zu gleicher Zeit mit ihr unter der Einfahrt an. Da der Raum nicht groß genug war, sah er sich gezwungen zu warten. Die junge Frau neigte sich aus dem kleinen Schiebefenster und sprach leise mit dem Pförtner. Er konnte nichts weiter sehen als ihren Rücken, den ein violetter Mantel verhüllte. Indessen musterte er das Innere des Wagens, in blauem Rips mit seidenen Passementerien und Fransen gehalten. Die Gewänder der Dame füllten ihn ganz aus; dem kleinen, gepolsterten Kasten entströmte Irisparfüm wie eine Duftwoge weiblicher Eleganz. Der Kutscher lockerte die Zügel, das Pferd streifte ungestüm den Prellstein, und alles verschwand.
Frédéric ging zu Fuß die Boulevards entlang zurück. Er bedauerte, Madame Dambreuse nicht gesehen zu haben.
Etwas hinter der Rue Montmartre veranlaßte ihn eine Wagenstockung, den Kopf zu wenden, und an der andern Seite, gegenüber, las er auf einer Marmorplatte:
Jacques Arnoux.
Warum hatte er nicht früher an sie gedacht? Das war Deslauriers’ Schuld, und er ging auf den Laden zu, trat jedoch nicht ein, in der Erwartung, daß sie sich zeigen könnte.
Durch die hohen, durchsichtigen Spiegelscheiben hatte man den Blick auf eine geschmackvolle Anordnung von Statuetten, Zeichnungen, Gravüren, Katalogen und Nummern der Kunsthandlung; und auf der Tür, in der Mitte mit den Initialen des Herausgebers dekoriert, waren die Preise des Abonnements wiederholt. An den Wänden lehnten große Gemälde, deren Firnis glänzte, und im Hintergrund sah man zwei Truhen mit Porzellan, Bronzen und lockenden Kuriositäten beladen; eine kleine Treppe, oben durch eine Samtportiere geschlossen, trennte sie; und ein alter Meißner Kronleuchter, ein grüner Teppich auf dem Fußboden, sowie ein Tisch mit eingelegter Arbeit gaben diesem Interieur eher das Aussehen eines Salons als eines Ladens.
Frédéric gab sich den Anschein, als mustere er die Zeichnungen. Nach endlosem Zögern trat er ein.
Ein Angestellter hob die Portiere und erwiderte, daß der Chef nicht vor fünf Uhr im Magazin sein werde. Aber wenn der Auftrag sich übermitteln ließe …
»Nein! ich werde wiederkommen.« entgegnete Frédéric freundlich.
Die folgenden Tage wurden angewandt, um eine Wohnung zu suchen; und er entschied sich für ein Zimmer in der zweiten Etage eines Hotel garni in der Rue Saint-Hyacinthe.
Mit nagelneuen Heften unter dem Arm begab er sich zur Eröffnung der Vorlesungen. Dreihundert junge Leute mit bloßen Köpfen füllten ein Amphitheater, in dem ein Greis in roter Robe mit monotoner Stimme vortrug; Federn kratzten auf dem Papier. Er fand in diesem Saal den Staubgeruch der Klasse, ein Katheder in gleicher Form, dieselbe Langeweile wieder! Vierzehn Tage lang ging er hin. Aber man war noch nicht bei Artikel drei, als er das Studium des Bürgerlichen Gesetzbuches im Stich ließ und die Vorlesungen aufgab.
Die Freuden, die er sich versprochen hatte, blieben aus; und als er sich durch ein Lesekabinett durchgearbeitet hatte, die Sammlungen im Louvre durchlaufen und verschiedene Theater besucht hatte, verfiel er völlig dem Müßiggang.
Tausend neue Dinge vermehrten seine Niedergeschlagenheit. Er mußte seine Wäsche zählen und den Hausmeister, einen Grobian mit dem Gebaren eines Krankenwärters, dulden, der nach Alkohol roch und morgens mürrisch sein Bett machte. Sein Zimmer, mit einer Alabasteruhr geschmückt, mißfiel ihm. Die Zwischenwände waren dünn, er hörte die Studenten Punsch bereiten, lachen, singen.
Dieser Einsamkeit müde, suchte er einen seiner Kameraden namens Baptiste Martinon auf, und er entdeckte ihn, über seiner Prozeßordnung büffelnd, vor einem Steinkohlenfeuer, in einer kleinbürgerlichen Pension der Rue Saint-Jacques.
Ihm gegenüber saß ein Mädchen in einem Kattunkleid und stopfte Strümpfe.
Martinon war, was man einen sehr schönen Menschen nennt: groß, voll, mit regelmäßigen Gesichtszügen und bläulichen, schöngeschnittenen Augen. Sein Vater, ein tüchtiger Landwirt, hatte ihn zum Richterstand bestimmt, – und da er schon gesetzt erscheinen wollte, trug er einen Vollbart.
Da Frédérics Verdruß seinen vernünftigen Grund hatte und ein Unglück ihm ausgeschlossen schien, begriff Martinon seine beständige Unzufriedenheit nicht. Er selbst ging täglich zur Universität, machte daraus seinen Spaziergang im Luxembourg, ging abends in ein kleines Café und fühlte sich mit fünfzehnhundert Francs jährlich und der Liebe dieses Mädchens vollkommen glücklich.
»Welch ein Glück!« dachte Frédéric bei sich.
Er hatte auf der Universität eine andere Bekanntschaft gemacht, Monsieur de Cisy, Sohn einer vornehmen Familie und in seinen Manieren anmutig wie ein Mädchen.
Monsieur de Cisy beschäftigte sich mit Zeichnen, namentlich liebte er Gothik. Mehrmals gingen sie zusammen die Heilige Kapelle und Notre-Dame bewundern. Aber die Vornehmheit des jungen Patriziers barg eine höchst dürftige Intelligenz. Alles versetzte ihn in Erstaunen; er lachte laut über den geringsten Scherz und zeigte anfangs eine so vollkommen naive Unschuld, daß Frédéric ihn zuerst für einen Spaßvogel hielt, ihn schließlich aber als Dummkopf betrachtete.
Ein Gedankenaustausch war also mit niemand möglich, und er erwartete immer noch die Einladung der Dambreuse.
Am Neujahrstag sandte er ihnen Visitenkarten, er aber erhielt keine.
Er war nochmals in der Kunsthandlung gewesen.
Er ging ein drittes Mal hin und sah endlich Arnoux, der inmitten von fünf oder sechs Personen disputierte und seinen Gruß kaum erwiderte; das verletzte Frédéric. Doch überlegte er darum nicht weniger, wie er zu ihr gelangen könnte.
Anfangs hatte er die Idee, oft vorzusprechen, um nach Bildern zu fragen. Dann dachte er daran, einige sehr kräftige Artikel in der Zeitung anzubringen, wodurch Beziehungen angeknüpft werden könnten. Vielleicht war es das beste, gerade auf sein Ziel loszugehen und ihr seine Liebe zu erklären. Er verfaßte also einen Brief von zwölf Seiten voll lyrischer Empfindungen und Apostrophen, aber er zerriß ihn, und – in der Furcht vor Mißerfolg tat er nichts und versuchte nichts.
Über dem Laden Arnoux’ befanden sich in der ersten Etage drei Fenster, die jeden Abend erleuchtet waren. Schatten bewegten sich dahinter, besonders einer, das mußte der ihre sein – und er scheute die Mühe nicht, von weit her zu kommen, um diese Fenster zu sehen und diesen Schatten zu betrachten.
Eine Negerin mit einem kleinen Mädchen an der Hand, die in den Tuilerien an ihm vorüberging, erinnerte ihn an die Negerin von Madame Arnoux. Sie mußte wie die andern hierher kommen; jedesmal, wenn er die Tuilerien durchschritt, klopfte sein Herz in der Hoffnung, ihr zu begegnen. An sonnigen Tagen setzte er seinen Spaziergang bis zu den Champs-Elysées fort.
Nachlässig in Kaleschen sitzend, fuhren Damen, deren Schleier im Winde wehten, unter dem festen Tritt ihrer Pferde mit unmerklichem Schwanken, das das lackierte Leder knirschen machte, dicht an ihm vorüber. Die Wagen wurden zahlreicher, und beim Ausgang des Rond-Point langsamer werdend, nahmen sie die ganze Straße ein. Mähne stand dicht an Mähne, Laterne dicht an Laterne; die stählernen Steigbügel, die silbernen Kinnketten, die Kupferschnallen waren hier und dort leuchtende Punkte inmitten der kurzen Hosen, der weißen Handschuhe und dem auf das Wappen der Wagenschläge herabfallenden Pelzwerk. Er fühlte sich wie verloren in einer fernen Welt. Seine Augen irrten über die Frauenköpfe, und vage Ähnlichkeiten brachten ihm Madame Arnoux in Erinnerung. Er stellte sie sich mitten unter den andern vor, in einem dieser kleinen Coupés wie dem von Madame Dambreuse. – Aber die Sonne sank und der kalte Wind wirbelte den Staub empor. Die Kutscher versenkten das Kinn in ihre Krawatten, die Räder fingen an, sich schneller zu drehen, das Pflaster aus zerstobenem Granit knirschte, und alte Wagen fuhren in schnellem Trabe die lange Avenue hinunter, einander streifend, überholend, ausweichend, um sich dann auf der Place de la Concorde zu zerstreuen. Hinter den Tuilerien nahm der Himmel die Färbung des Schiefers an. Die Bäume des Gartens bildeten zwei enorme, in den Wipfeln veilchenblaue Massen. Die Gaslaternen wurden angezündet und das grünliche Wasser der Seine brach sich an den Brückenpfeilern in Silberwellenlinien.
Er speiste für dreiundvierzig Sous im Abonnement in einem Restaurant in der Rue de la Harpe.
Er betrachtete mit Verachtung das alte Mahagony-Büffet, die fleckigen Tischtücher, das unsaubere Silberzeug und die an der Wand hängenden Hüte. Alle um ihn her waren Studenten wie er. Sie unterhielten sich über ihre Professoren, ihre Geliebten. Was kümmerten ihn die Professoren! Hatte er eine Geliebte? Um ihrer Fröhlichkeit auszuweichen, kam er so spät wie möglich. Speisereste bedeckten alle Tische. Die beiden ermüdeten Kellner schliefen in den Ecken, und der Geruch von Küche, Lampen und Tabak erfüllte den leeren Saal.
Dann ging er langsam wieder die Straße hinauf. Die Laternen schaukelten und ließen auf dem Schmutz lange gelbliche Reflexe zittern. Schatten unter Regenschirmen glitten am Rande des Trottoirs hin. Das Pflaster war schlüpfrig, der Nebel fiel, und ihm war, als senkte die feuchte Dunkelheit sich tief in sein Herz hinab.
Gewissensbisse erfaßten ihn. Er kehrte zu den Vorlesungen zurück. Doch da er nichts von den vorgetragenen Materien wußte, brachten ihn die einfachsten Dinge in Verlegenheit.
Er fing an, einen Roman zu schreiben, mit dem Titel: »Sylvio, der Sohn des Fischers«. Die Geschichte spielte in Venedig. Der Held war er selber, die Heldin Madame Arnoux. Sie hieß Antonia – und um sie zu besitzen, tötete er mehrere Edelleute, brannte einen Teil der Stadt nieder und sang unter ihrem Balkon, wo die roten Damastvorhänge sich wie am Boulevard Montmartre im Winde bewegten. Allein die allzu zahlreichen Reminiszenzen, bei denen er sich ertappte, entmutigten ihn; er gab es auf, und seine Trägheit steigerte sich noch.
Nun bat er Deslauriers, sein Zimmer mit ihm zu teilen. Sie würden sich einrichten, mit seinen zweitausend Francs zu leben; alles sei besser als diese unerträgliche Existenz. Deslauriers konnte Troyes noch nicht verlassen. Er schlug ihm vor, sich zu zerstreuen, Sénécal zu besuchen.
Sénécal war ein Hilfslehrer der Mathematik, ein Mensch von starkem Geist und republikanischen Überzeugungen, ein zukünftiger Saint-Just, wie der Schreiber sagte, Frédéric hatte dreimal seine fünf Stockwerke erstiegen, ohne danach einen Besuch zu erhalten. Er ging nicht wieder hin. Er wollte sich amüsieren. Er ging auf die Opernbälle. Die lärmende Fröhlichkeit stieß ihn schon beim Eintritt ab. Überdies hielt ihn die Furcht vor pekuniären Verlegenheiten zurück, denn er stellte sich ein Souper mit einem Domino als ein sehr kostspieliges Abenteuer vor.
Trotzdem glaubte er, daß er geliebt werden würde. Zuweilen erwachte er mit einem Herzen voll Hoffnung, kleidete sich sorgfältig wie zu einem Rendezvous an und machte endlose Streifzüge durch Paris. Bei jeder Frau, die vor ihm ging oder ihm entgegenkam, sagte er sich: »Das ist sie!« Es war jedesmal eine neue Enttäuschung. Der Gedanke an Madame Arnoux verstärkte seine Begierde. Vielleicht begegnete er ihr auf seinem Wege; und er erdachte, um sie anzusprechen, zufällige Schwierigkeiten, außerordentliche Gefahren, aus denen er sie retten würde.
So gingen die Tage in der Wiederholung derselben Verdrießlichkeiten und angenommenen Gewohnheiten hin. Er durchblätterte die Broschüren unter den Arcaden des Odéon, ging ins Café, die Revue des Deux Mondes zu lesen, trat in einen Saal des Collège de France und hörte eine Stunde lang Chinesisch oder Staatsökonomie. In all diesen Wochen schrieb er ausführlich an Deslauriers, speiste zuweilen mit Martinon und besuchte mitunter Monsieur de Cisy.
Er mietete ein Piano und komponierte deutsche Walzer.
Eines Abends bemerkte er im Theater des Palais-Royal Arnoux neben einer Frau in einer Proszeniumloge. War sie es? Die grüne Taffet-Gardine am Rande der Loge verdeckte ihr Gesicht. Endlich ging der Vorhang auf, die Gardine wurde zurückgeschoben. Es war eine große, verblühte Person von etwa dreißig Jahren, deren volle Lippen beim Lachen prachtvolle Zähne enthüllten. Sie sprach vertraulich mit Arnoux und schlug ihm mit dem Fächer auf die Finger. Später saß ein junges, blondes Mädchen zwischen ihnen, dessen Lider etwas gerötet waren, als hätte es eben geweint. Arnoux blieb von da ab halb über ihre Schulter geneigt und redete auf sie ein, was das Mädchen anhörte, ohne zu antworten.
Frédéric zerbrach sich den Kopf, um den Stand dieser Frauen in bescheidenen dunkeln Kleidern und glatten Umlegekragen zu erraten.
Am Schluß des Schauspiels stürzte er in die Couloirs, die voll von Menschen waren. Vor ihm schritt Arnoux Stufe um Stufe die Treppe hinab, an jedem Arme eine der Frauen.
Plötzlich fiel das Licht einer Gasflamme auf ihn. Er trug Krepp an seinem Hut. War sie vielleicht gestorben? Dieser Gedanke peinigte Frédéric so sehr, daß er am nächsten Morgen in die Kunsthandlung eilte, und indem er schnell eine der Gravuren kaufte, die vor der Uhr ausgelegt waren, fragte er den Verkäufer, wie es Monsieur Arnoux ginge.
Der Mann erwiderte:
»Aber sehr gut!«
Frédéric fügte erbleichend hinzu:
»Und Madame?«
»Madame ebenfalls.«
Frédéric vergaß, seine Gravüre mitzunehmen.
Der Winter ging zu Ende. Im Frühjahr war er weniger schwermütig, begann sich zum Examen vorzubereiten und nachdem er es mittelmäßig bestanden hatte, reiste er nach Nogent.
Er besuchte seinen Freund in Troyes nicht, um den Bemerkungen seiner Mutter auszuweichen. Dann, nach seiner Rückkehr verließ er seine Wohnung und nahm auf dem Quai Napoleon zwei Zimmer, die er möblierte. Die Hoffnung, von Dambreuse eine Einladung zu erhalten, hatte er aufgegeben; seine große Leidenschaft für Madame Arnoux begann zu erlöschen.
Eines Morgens im Monat Dezember glaubte er auf seinem Wege zum Kolleg in der Straße Saint-Jacques mehr Lebhaftigkeit als sonst zu bemerken. Die Studenten kamen aus den Cafés gestürzt oder riefen sich durch die offenen Fenster von einem Hause zum andern zu; die Ladenbesitzer blickten mitten auf dem Trottoir unruhig umher; die Fensterläden wurden geschlossen, und als er in die Rue Soufflot kam, bemerkte er einen großen Auflauf am Panthéon.
Junge Leute in ungleichen Reihen gingen Arm in Arm und schlossen sich größeren, hier und da stationierten Gruppen an; im Hintergrunde des Platzes, am Gitter, hielten Männer in Blusen hochtrabende Reden, während Polizisten, den Dreispitz auf dem Ohr, die Hände auf dem Rücken, an den Häusern entlang eilten, daß es unter ihren schweren Stiefeln auf den Fliesen schallte.
Alle hatten eine geheimnisvolle, verdutzte Miene, man erwartete augenscheinlich etwas; jeder unterdrückte eine Frage, die ihm auf den Lippen lag.
Frédéric stand neben einem jungen blonden Mann von einnehmendem Gesicht, der Schnurr-und Kinnbart wie ein Stutzer aus der Zeit Ludwigs XIII. trug. Er fragte ihn nach der Ursache der Unordnung.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte der andere, »und sie ebenfalls nicht! Das ist jetzt so Mode! Ein guter Spaß!«
Und er brach in Lachen aus.
Die Petitionen wegen der Reformen, die man in der Nationalgarde unterzeichnen ließ, vereint mit der Volkszählung Humanns und noch andere Ereignisse, hatten seit sechs Monaten zu unerklärlichen Zusammenrottungen in Paris geführt, die sich so häufig wiederholten, daß die Zeitungen gar nicht mehr davon redeten.
»Es fehlt an Grazie und an Farbe,« fuhr Frédérics Nachbar fort. »Mir deucht, mein Herr, daß wir entartet sind! In dem guten Zeitalter Ludwigs des Elften, ja, selbst Benjamin Constants gab es mehr Meuterei unter den Scholaren. Ich finde sie friedlich wie die Hammel, dumm wie das Rindvieh und tauglich zu Gewürzkrämern, meiner Treu! Und das nennt man die Jugend der Hochschulen!«
Er breitete die Arme weit aus, wie Frédéric Lemaitre in »Robert Macaire«.
»Jugend der Hochschulen, ich segne dich!«
Dann redete er einen Lumpensammler an, der im Rinnstein vor dem Laden eines Weinhändlers in Austernschalen wühlte:
»Gehörst du auch dazu, zu der Jugend der Hochschulen?«
Der Greis hob sein garstiges Gesicht, in dem man inmitten eines grauen Bartes eine rote Nase und zwei stupide, vertrunkene Augen unterschied.
»Nein, du gleichst mir eher einem jener Galgenstricke, die man hier und da mit vollen Händen Gold ausstreuen sieht.
… O! streue, mein Patriarch, streue es aus! Verführe mich mit den Schätzen Albions! Are you English? Ich weise die Gaben von Artaxerxes nicht zurück! Laß uns ein wenig von der Zollunion reden.«
Frédéric fühlte, daß jemand seine Schulter berührte, und drehte sich um. Es war Martinon, auffallend blaß.
»Sieh!« – rief er mit einem tiefen Seufzer. »Wieder ein Aufruhr!«
Er fürchtete, kompromittiert zu werden, und beklagte sich. Besonders beunruhigten ihn die Männer in Blusen, als gehörten sie einem Geheimbunde an.
»Gibt es denn Geheimbünde?« fragte der junge Mann mit dem Schnurrbart. »Das ist ein alter Kniff der Regierung, um die Bürger zu erschrecken!«
Aus Furcht vor der Polizei forderte Martinon ihn auf, leiser zu sprechen.
»Sie glauben noch an die Polizei? Wie können Sie übrigens wissen, ob ich nicht selber ein Spitzel bin?«
Und er betrachtete ihn in solcher Weise, daß Martinon, sehr erschrocken, zuerst gar nicht den Scherz verstand. Die Menge stieß sie vorwärts, und sie waren alle drei gezwungen, sich auf die kleine Treppe im Gang zu flüchten, die zu dem neuen Hörsaal führte.
Bald teilte sich die Menge, mehrere Köpfe entblößten sich; man begrüßte den berühmten Professor Samuel Rondelot, der, in einen weiten Mantel gehüllt, seine silberne Brille in die Höhe schob und keuchend in seinem Asthma mit ruhigen Schritten daherkam, um seine Vorlesung zu halten. Dieser Mann war einer der Sterne der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, ein Rivale von Zachariae und Ruhdorff. Die neue Würde eines Pair von Frankreich hatte nichts in seinem Wesen verändert. Man wußte, daß er arm war, und zollte ihm große Ehrfurcht.
Indessen riefen einige hinten vom Platz:
»Nieder mit Guizot!«
»Nieder mit Pritchard!«
»Nieder mit den Verkauften.«
»Nieder mit Louis-Philippe!«
Die Menge drängte sich gegen das geschlossene Tor des Hofes und verhinderte so den Professor am Weitergehen. Er blieb an der Treppe stehen. Bald wurde er auf der letzten der drei Stufen bemerkt. Er sprach; ein Murren übertönte seine Stimme. So sehr man ihn eben noch geliebt hatte, jetzt haßte man ihn, denn er repräsentierte die Obrigkeit. Bei jedem Versuch, sich Gehör zu verschaffen, begannen die Rufe von neuem. Mit einer großen Geberde forderte er die Studenten auf, ihm zu folgen. Allgemeines Geschrei antwortete ihm. Verächtlich zuckte er die Achseln und verschwand in den Gang. Martinon hatte die Gelegenheit benutzt, um gleichzeitig zu verschwinden.
»Dieser Feigling!« sagte Frédéric.
»Er ist vorsichtig!« erwiderte der andere.
Die Menge brach in Beifallsbezeugungen aus, denn dieser Rückzug des Professors war ein Sieg für sie. Aus allen Fenstern schauten Neugierige. Einige stimmten die Marseillaise an; andere machten den Vorschlag, zu Béranger zu gehen.
»Zu Laffite!«
»Zu Chateaubriand!«
»Zu Voltaire!« brüllte der junge Mann mit dem blonden Schnurrbart.
Die Polizisten versuchten einzugreifen, indem sie so sanft wie möglich sagten:
»Gehen Sie, meine Herren, gehen Sie auseinander, ziehen Sie sich zurück!«
Einer schrie: »Nieder mit den Totschlägern!«
Das war seit den September-Unruhen die gewöhnliche Drohung. Alle wiederholten sie. Man verspottete die Wächter der öffentlichen Ordnung und pfiff sie aus; sie entfärbten sich; einer von ihnen konnte nicht widerstehen, einen jungen Mann, der ihm zu nahe kam und ihm ins Gesicht lachte, so grob zurückzustoßen, daß er fünf Schritt weiter vor dem Laden des Weinhändlers auf den Rücken fiel. Alle stoben auseinander; aber fast unmittelbar darauf rollte er ebenfalls, von einem wahren Herkules zu Boden geschlagen, dessen Haarschopf wie ein Bündel Werg unter einer Wachstuchmütze hervorquoll.
Einige Minuten an der Ecke der Rue Saint-Jacques aufgehalten, hatte er sich einer Schachtel, die er trug, schnell entledigt, sich auf den Polizisten gestürzt, und ihn unter sich festhaltend, bearbeitete er sein Gesicht mit heftigen Faustschlägen. Die andern Polizisten eilten herbei, allein der schreckliche Bursche war so stark, daß mindestens vier nötig waren, ihn zu bändigen. Zwei schüttelten ihn am Kragen, zwei andere zogen ihn an den Armen, ein fünfter versetzte ihm Rippenstöße mit dem Knie, und alle nannten ihn Brigant, Mörder, Aufrührer. Mit nackter Brust, die Kleider in Fetzen, beteuerte er seine Unschuld; mit kaltem Blut könne er kein Kind schlagen sehen.
»Ich heiße Dussardier! Bei Gebr. Valinçart, Spitzen-und Modeneuheiten, Rue de Cléry. Wo ist mein Karton?« Er wiederholte: »Dussardier! … Rue de Cléry. Mein Karton!«
Aber er beruhigte sich und ließ sich mit stoischer Miene auf die Wache in der Rue Descartes führen. Eine Flut von Leuten folgte ihm. Frédéric und der junge Mann mit dem Schnurrbart gingen, voll Bewunderung für den Kommis und empört über die Gewalttätigkeit der Obrigkeit, dicht hinter ihm. Je weiter man vorwärts schritt, desto geringer wurde die Menge.
Die Polizisten drehten sich von Zeit zu Zeit wütend um; und da es für die Lärmer nichts mehr zu tun, für die Neugierigen nichts mehr zu sehen gab, entfernten sich nach und nach alle. Passanten, denen man begegnete, betrachteten Dussardier und machten laut boshafte, beleidigende Bemerkungen. Eine alte Frau rief sogar an ihrer Tür, daß er ein Brot gestohlen habe; diese Ungerechtigkeit steigerte die Erbitterung der beiden Freunde. Endlich langte man vor der Wache an. Es waren nur noch etwa zwanzig Personen da. Der Anblick der Soldaten genügte, sie zu zerstreuen.
Frédéric und sein Kamerad forderten kühn die Herausgabe des soeben Verhafteten. Die Schildwache drohte, sie selber einzustecken, wenn sie noch weiter davon redeten. Sie fragten nach dem Wachthauptmann, nannten ihre Namen, stellten sich vor als Studenten der Rechte und beteuerten, daß der Gefangene ihr Kollege sei.
Man ließ sie in einen völlig fahlen Raum eintreten, in dem sich vier Bänke längs der verräucherten, gemauerten Wände hinzogen. Im Hintergrunde öffnete sich ein Schiebefenster. Darauf erschien das robuste Gesicht Dussardiers, der mit seinem zerzausten Haarschopf, den kleinen, freimütigen Augen und der Stumpfnase dunkel an die Physiognomie eines treuen Hundes erinnerte.
»Du erkennst uns nicht?« sagte Hussonnet.
Das war der Name des jungen Mannes mit dem Schnurrbart.
»Aber …,« stammelte Dussardier.
»Stell dich nicht länger einfältig,« entgegnete der andere, »man weiß, daß du wie wir Student der Rechte bist.«
Trotz ihres Augenzwinkerns begriff Dussardier nichts. Er schien sich zu sammeln und rief dann plötzlich:
»Ist mein Karton gefunden?«
Frédéric blickte entmutigt auf. Hussonnet erwiderte:
»Ach, dein Karton, in dem du deine Vorlesungsnotizen aufhebst? Ja, ja, beruhige dich.«
Sie verstärkten ihr Mienenspiel. Dussardier verstand endlich, daß sie gekommen waren, um ihm zu helfen, und er schwieg in der Furcht, sie zu kompromittieren. Überdies empfand er eine Art Scham, sich zum sozialen Rang eines Studenten und zum Gefährten dieser jungen Leute erhoben zu sehen, die so weiße Hände hatten.
»Willst du jemand eine Nachricht geben?« fragte Frédéric.
»Nein, danke, niemand.«
»Aber deiner Familie?«
Er senkte den Kopf, ohne zu antworten; der arme Bursche war ein uneheliches Kind. Die beiden Freunde wunderten sich über sein Schweigen.
»Hast du etwas zu rauchen?« fragte Frédéric.
Er betastete sich und zog dann tief aus seiner Tasche die Bruchstücke einer Pfeife hervor, – einer schönen Meerschaumpfeife mit schwarzem Holzrohr, silbernem Deckel und Bernsteinmundstück.
Seit drei Jahren arbeitete er, daraus ein Meisterstück zu machen. Er hatte den Kopf stets sorgfältig in einem Futteral von Gemsleder bewahrt, so langsam wie möglich daraus geraucht, sie niemals auf Marmor gelegt und sie jeden Abend am Kopfende seines Bettes aufgehängt. Jetzt schüttete er die Stücke in seine Hand, deren Nägel bluteten, und mit gesenktem Kopf, die Augen starr und weit offen, betrachtete er die Trümmer seiner Freude mit einem Blick unaussprechlicher Trauer.
»Ob wir ihm Zigarren geben, wie?« sagte Hussonnet ganz leise und machte Miene, sie herauszunehmen. Frédéric hatte bereits eine gefüllte Zigarrentasche auf den Fensterrand gelegt.
»Nimm doch! Lebwohl, nur Mut!«
Dussardier riß die beiden Hände an sich, die sich ihm entgegenstreckten. Er schüttelte sie ungestüm und rief, von Schluchzen unterbrochen:
»Wie? … für mich! … für mich?«
Die beiden Freunde entzogen sich seiner Dankbarkeit, gingen fort und frühstückten zusammen im Café Tabourey vor dem Luxembourg.
Während er ein Beefsteak verzehrte, teilte Hussonnet seinem Gefährten mit, daß er Mitarbeiter der Mode-Journale sei und Reklamen für die Kunsthandlung anfertige.
»Für Jacques Arnoux,« sagte Frédéric.
»Sie kennen ihn?«
»Ja! nein! – Das heißt, ich habe ihn gesehen, bin ihm begegnet.«
Nachlässig fragte er Hussonnet, ob er seine Frau zuweilen sehe.
»Von Zeit zu Zeit,« erwiderte der Bohémien.