Die Erziehung des Herzens - Gustave Flaubert - E-Book

Die Erziehung des Herzens E-Book

Gustave Flaubert

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Beschreibung

"Die Erziehung der Gefühle" (französischer Originaltitel: "L'Éducation sentimentale", in anderer Übersetzung "Die Erziehung des Herzens", "Die Erziehung des Gefühls", "Lehrjahre des Herzens") erschien 1869 und ist Gustave Flauberts letzter vollendeter Roman. Er gilt heute als einer der einflussreichsten Romane des 19. Jahrhunderts. Erzählt wird die schicksalhafte Geschichte von Frédéric Moreau, eines leidenschaftlichen, jungen Mannes, der nach Paris zieht, um sein Glück zu machen. Er ist ein schwärmerischer Romantiker, der an seinen Idealen festhaltend, an der Realität scheitern muss. Die unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau tut ihr Übriges. 1864 schrieb Flaubert über sein Werk: "Ich will über die moralische Geschichte der Menschen meiner Generation schreiben - oder genauer über die Geschichte ihrer Gefühle. Es ist ein Buch über Liebe und Leidenschaft; aber eine Leidenschaft, wie sie heute existieren kann - nämlich eine untätige." Null Papier Verlag

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Gustave Flaubert

Die Erziehung des Herzens

oder auch: Die Schule der Empfindsamkeit

Gustave Flaubert

Die Erziehung des Herzens

oder auch: Die Schule der Empfindsamkeit

(L’éducation sentimentale)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Luise Wolf EV: J.C.C. Bruns Verlag Minden, 1915 3. Auflage, ISBN 978-3-954181-28-5

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Zwei­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Drit­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

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Erster Teil

1.

Von »der Vil­le de Mon­te­reau«, die am 15. Sep­tem­ber 1840 ge­gen sechs Uhr mor­gens zur Ab­fahrt be­reit vor dem Quai-Ber­nard lag, wir­bel­te dich­ter Dampf auf.

Atem­los eil­ten Leu­te her­bei; Fäs­ser, Taue, Wä­sche­kör­be hin­der­ten den Ver­kehr. Die Ma­tro­sen ga­ben nie­mand eine Ant­wort. Man stieß sich; die Ge­päck­stücke häuf­ten sich zwi­schen den bei­den Lu­ken, und der Lärm ver­lor sich in dem Zi­schen des ent­wei­chen­den Damp­fes, der al­les in eine weiß­li­che Wol­ke hüll­te, wäh­rend die Glo­cke vorn am Bug un­abläs­sig läu­te­te.

End­lich stieß das Schiff ab, und die bei­den Ufer, durch La­ger­häu­ser, Werf­ten und Hüt­ten­wer­ke be­lebt, glit­ten vor­über wie zwei brei­te Bän­der, die man auf­rollt.

Ein jun­ger Mann von acht­zehn Jah­ren mit lan­gem Haar und einen Al­bum un­ter dem Arm stand un­be­weg­lich am Steu­er­rad. Durch den Ne­bel blick­te er auf Kirchtür­me und Ge­bäu­de, de­ren Na­men er nicht kann­te; dann warf er einen letz­ten Blick auf die In­sel Saint-Louis, die Stadt, Notre-Dame, und stieß einen tie­fen Seuf­zer aus, als Pa­ris bald dar­auf ver­schwand.

Frédéric Mo­reau kehr­te, nach­dem er kürz­lich das Bac­ca­lau­re­at er­hal­ten hat­te, nach No­gent-sur-Sei­ne zu­rück, wo er zwei Mo­na­te schmach­ten soll­te, ehe er sei­ne Rechts­stu­di­en in An­griff nahm. Sei­ne Mut­ter hat­te ihn, mit den not­wen­di­gen Mit­teln ver­se­hen, zum Be­such ei­nes Oheims nach Ha­vre ge­schickt, auf des­sen Erb­schaft sie für ihn hoff­te. Er war am vor­her­ge­hen­den Abend von dort zu­rück­ge­kehrt; und da er nicht in der Haupt­stadt blei­ben konn­te, ent­schä­dig­te er sich, in­dem er auf ei­nem Um­we­ge heim­kehr­te.

Der Tu­mult leg­te sich; alle hat­ten ihre Plät­ze ein­ge­nom­men; ei­ni­ge wärm­ten sich an der Ma­schi­ne, und der Schorn­stein spie mit lang­sam rhyth­mi­schem Stöh­nen den schwar­zen Rauch aus wie einen Fe­der­busch. Über die Mes­sing­be­schlä­ge ran­nen klei­ne Tau­tröpf­chen; das Deck er­zit­ter­te un­ter ei­ner lei­sen in­ne­ren Er­schüt­te­rung, und in ra­pi­der Dre­hung schlu­gen die bei­den Rä­der das Was­ser.

Der Fluss war von fla­chen, san­di­gen Ufern be­grenzt. Man be­geg­ne­te Holz­flö­ßen, die durch die Wel­len des Kiel­was­sers ins Schwan­ken ge­rie­ten, oder ei­nem Boot ohne Se­gel, in dem ein Mann saß und fisch­te. Dann zer­teil­te sich der wei­chen­de Ne­bel, die Son­ne kam her­vor; die Hü­gel­ket­te, die sich am rech­ten Ufer der Sei­ne hin­zog, senk­te sich all­mäh­lich, und eine an­de­re tauch­te ganz nah am ge­gen­über­lie­gen­den Ufer auf.

Bäu­me krön­ten sie zwi­schen nied­ri­gen Häu­sern mit ita­lie­ni­schen Dä­chern. Da­vor wa­ren ab­schüs­si­ge Gär­ten, durch neue Mau­ern von­ein­an­der ge­trennt, mit Ei­sen­git­tern, Ra­sen­plät­zen, Treib­häu­sern und in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den Gera­ni­um­va­sen auf Ter­ras­sen, wo man sich aus­ru­hen konn­te. Beim An­blick die­ser ko­ket­ten, fried­li­chen Be­sit­zun­gen er­sehn­te mehr als ei­ner, ihr Ei­gen­tü­mer zu sein und dort mit ei­nem gu­ten Bil­lard, ei­nem Boot, ei­ner Frau oder sonst ei­nem Traum bis ans Ende sei­ner Tage zu le­ben. Das völ­lig neue Ver­gnü­gen ei­ner Was­ser­fahrt brach­te die Leu­te ein­an­der nä­her. Die Spaß­ma­cher be­gan­nen schon mit ih­ren Pos­sen. Vie­le san­gen; alle wa­ren hei­ter. Man trank sich ge­gen­sei­tig zu.

Frédéric dach­te an das Zim­mer, das er zu Haus be­woh­nen wür­de, an den Ent­wurf ei­nes Dra­mas, an Su­jets für Ge­mäl­de, an künf­ti­ge Lieb­ha­be­rei­en. Er fand, dass ein durch die Vor­treff­lich­keit sei­nes Her­zens wohl ver­dien­tes Glück all­zu lan­ge auf sich war­ten ließ. Er sprach Ver­se vor sich hin; er ging mit schnel­len Schrit­ten über das Deck, kam bis ans Ende ne­ben die Glo­cke; – und in ei­nem Krei­se von Ma­tro­sen und Pas­sa­gie­ren sah er einen Herrn, der mit ei­ner Bäue­rin schön tat, wo­bei er das gol­de­ne Kreuz auf ih­rer Brust be­rühr­te. Es war ein le­bens­fro­her Mensch von etwa vier­zig Jah­ren mit krau­sem Haar. Sei­ne kräf­ti­ge Ge­stalt steck­te in ei­ner schwar­zen Samt­ja­cke, in sei­nem Ba­tisthemd leuch­te­ten zwei Sma­rag­de, und die lan­gen wei­ßen Bein­klei­der fie­len auf son­der­ba­re rote Stie­fel aus Juch­ten­le­der mit blau­en Mus­tern her­ab.

Die An­we­sen­heit Frédérics stör­te ihn nicht. Er zwin­ker­te ihm mehr­mals zu; dann bot er al­len Um­ste­hen­den Zi­gar­ren an. Al­lein of­fen­bar lang­weil­te ihn die­se Ge­sell­schaft und er ent­fern­te sich. Frédéric folg­te ihm.

Die Un­ter­hal­tung dreh­te sich an­fangs um ei­ni­ge Ta­bak­sor­ten, dann na­tür­lich um die Frau­en. Der Herr in den ro­ten Stie­feln gab dem jun­gen Mann gute Ratschlä­ge; er ent­wi­ckel­te Theo­ri­en, er­zähl­te An­ek­do­ten, stell­te sich selbst als Bei­spiel auf und trug das al­les in ei­nem vä­ter­li­chen Tone, mit der Nai­vi­tät ei­ner er­götz­li­chen Ver­derbt­heit vor.

Er war Re­pu­bli­ka­ner, war viel ge­reist, kann­te die Thea­ter, die Re­stau­rants, die Jour­na­le, alle be­rühm­ten Künst­ler, die er ver­trau­lich bei ih­ren Vor­na­men nann­te; Frédéric ver­trau­te ihm bald sei­ne Plä­ne an und wur­de von ihm er­mu­tigt. Al­lein bald hielt er inne, be­ob­ach­te­te den Schorn­stein, stell­te mur­melnd eine lan­ge Be­rech­nung auf, »wie viel je­der Kol­ben­stoß bei so und so vie­len in der Mi­nu­te kos­te­te und so wei­ter.« – Und als er die Sum­me ge­fun­den hat­te, be­wun­der­te er eif­rig die Land­schaft, schätz­te sich glück­lich, den Ge­schäf­ten ent­ron­nen zu sein.

Frédéric emp­fand einen ge­wis­sen Re­spekt vor ihm und konn­te dem Wunsch nicht wi­der­ste­hen, sei­nen Na­men zu er­fah­ren. Der Un­be­kann­te er­wi­der­te in ei­nem Atem­zu­ge:

»Jac­ques Ar­noux, In­ha­ber der Kunst­hand­lung Bou­le­vard Mont­mar­tre.«

Ein Die­ner mit gold­be­treß­ter Müt­ze kam, ihn zu fra­gen:

»Ob der Herr her­un­ter­kom­men möch­te, das klei­ne Fräu­lein wei­ne.«

Er ver­schwand.

Die Kunst­hand­lung war ein Eta­blis­se­ment, das die Aus­ga­be ei­ner Kunst­zeit­schrift mit dem Ver­kauf von Ge­mäl­den ver­band. Frédéric hat­te den Ti­tel öf­ter in Buch­händ­leraus­la­gen sei­ner Hei­mat auf un­ge­heu­ren Pro­spek­ten ge­se­hen, wo der Name Jac­ques Ar­noux sich prot­zig breit mach­te.

Die Son­ne warf jetzt senk­rech­te Strah­len, un­ter de­nen das Ei­sen an den Mas­ten, die Plat­ten der Schiffs­ver­schan­zung und die Ober­flä­che des Was­sers hell auf­leuch­te­ten; am Bug des Schif­fes teil­te es sich in zwei tie­fe Fur­chen, die sich bis zum Ran­de der Wie­sen hin­zo­gen. Bei je­der Bie­gung des Flus­ses er­blick­te man im­mer wie­der die­sel­be Wand blei­cher Pap­peln. Die Ge­gend war völ­lig öde. Am Him­mel stan­den klei­ne wei­ße Wol­ken, – und die Lan­ge­wei­le, die sich ver­brei­te­te, schi­en die Fahrt des Schif­fes zu ver­lang­sa­men und das Aus­se­hen der Rei­sen­den noch un­be­deu­ten­der zu ma­chen.

Au­ßer ei­ni­gen Bür­gers­leu­ten wa­ren es meist Ar­bei­ter und klei­ne Kauf­leu­te mit ih­ren Frau­en und Kin­dern. Da man sich da­mals auf Rei­sen schlecht zu klei­den pfleg­te, tru­gen fast alle alte Frei­heits­müt­zen oder ver­schos­se­ne Hüte, schä­bi­ge, schwar­ze, im Büro ab­ge­nutz­te An­zü­ge oder längst aus­ge­dien­te Über­rö­cke mit durch­ge­scheu­er­ten Knöp­fen; hier und da sah man un­ter ei­ner Tuch­wes­te ein baum­wol­le­nes Hemd mit Kaf­fee­fle­cken. Unech­te Gold­na­deln steck­ten in zer­fetz­ten Kra­vat­ten, das Schuh­zeug wur­de nur noch von den Ho­sen­ste­gen zu­sam­men­ge­hal­ten; zwei oder drei Strol­che, die Bam­bus­stö­cke mit Le­der­schlin­gen tru­gen, war­fen ver­däch­ti­ge Bli­cke um­her, und Fa­mi­li­en­vä­ter ris­sen die Au­gen auf, wenn sie Fra­gen stell­ten. Sie plau­der­ten oder hock­ten auf ih­rem Ge­päck, ei­ni­ge schlie­fen in den Ecken, meh­re­re im Ste­hen. Das Deck war schmut­zig von Bir­nen- und Nuss­scha­len, Zi­gar­ren­stum­meln, Über­res­ten der in Pa­pier mit­ge­brach­ten Fleisch­wa­ren; drei Kunst­tisch­ler in Blu­sen hat­ten sich vor der Kan­ti­ne nie­der­ge­las­sen, ein zer­lump­ter Har­fen­spie­ler ruh­te, auf sein In­stru­ment ge­stützt. In Zwi­schen­räu­men ver­nahm man das Ge­rat­ter der Stein­koh­len in der Ma­schi­ne, Lärm von Stim­men, ein La­chen; – und der Ka­pi­tän wan­der­te auf der Brücke un­auf­hör­lich von ei­ner Luke zur an­de­ren. Frédéric stieß das Git­ter zur ers­ten Klas­se auf, um an sei­nen Platz zu ge­lan­gen und be­läs­tig­te da­bei zwei Jä­ger mit ih­ren Hun­den.

Es war wie eine Er­schei­nung:

Sie saß mit­ten auf ei­ner Bank, ganz al­lein; oder we­nigs­tens konn­te er, von dem An­blick ge­blen­det, nie­mand wei­ter un­ter­schei­den. In dem Au­gen­blick, als er vor­über­ging, hob sie den Kopf; un­will­kür­lich ver­beug­te er sich; und nach­dem er sich in ei­ni­ger Ent­fer­nung an der­sel­ben Sei­te nie­der­ge­las­sen hat­te, be­trach­te­te er sie.

Sie trug einen großen Stroh­hut mit rosa Bän­dern, die hin­ter ihr im Win­de flat­ter­ten. Schwar­ze Schei­tel, die ihr Ge­sicht bis zu den Spit­zen der lan­gen Brau­en ein­rahm­ten und sehr tief her­ab­fie­len, schie­nen sich zärt­lich dem Oval ih­res Ant­lit­zes an­zu­schmie­gen. Ihr hel­les, mit klei­nen Tup­fen ge­mus­ter­tes Mus­se­lin­kleid bausch­te sich in zahl­rei­chen Fal­ten. Sie war mit ei­ner Sti­cke­rei be­schäf­tigt, und ihre ge­ra­de Nase, ihr Kinn, ihre gan­ze Ge­stalt zeich­ne­te sich scharf von der blau­en Luft ab.

Da sie in der­sel­ben Stel­lung ver­harr­te, ging er mehr­mals links und rechts vor­über, um sei­ne Ab­sich­ten zu ver­ber­gen, stell­te sich dar­auf dicht ne­ben ih­ren Son­nen­schirm, der an der Bank lehn­te, und gab sich den An­schein, als be­ob­ach­te­te er eine Scha­lup­pe auf dem Fluss.

Noch nie­mals hat­te er eine so herr­lich brau­ne Haut­far­be ge­se­hen, eine so ver­füh­re­ri­sche Ge­stalt wie die ihre, noch nie eine sol­che Zart­heit der Fin­ger, durch die das Licht hin­durch­schim­mer­te. Mit Stau­nen, wie et­was Wun­der­ba­res, be­trach­te­te er ih­ren Ar­beits­korb. Wie war ihr Name, ihr Wohn­ort, ihr Le­ben, ihre Ver­gan­gen­heit? Er hat­te das Ver­lan­gen, die Mö­bel ih­res Zim­mers zu ken­nen, alle Klei­der, die sie ge­tra­gen, die Leu­te, mit de­nen sie um­ging; und selbst der Wunsch nach ih­rem kör­per­li­chen Be­sitz wich ei­nem viel tiefe­ren Be­geh­ren, ei­ner schmerz­li­chen Neu­gier, die kei­ne Gren­zen kann­te.

Eine Ne­ge­rin in ei­nem sei­de­nen Kopf­tuch er­schi­en mit ei­nem klei­nen Mäd­chen an der Hand. Das Kind, aus des­sen Au­gen Trä­nen roll­ten, war eben er­wacht. Sie nahm es auf den Schoß. »Ein Fräu­lein von bald sie­ben Jah­ren und gar nicht ar­tig; Mut­ter kann es nicht mehr lieb ha­ben, die Lau­nen wer­den ihm zu oft ver­zie­hen.« Und Frédéric be­rei­te­te das An­hö­ren die­ser Din­ge eine Freu­de, als hät­te er eine Ent­de­ckung ge­macht, ein Ge­schenk er­hal­ten.

Er ver­mu­te­te, dass sie von an­da­lu­si­scher Ab­kunft, viel­leicht Kreo­lin war; ob sie die­se Ne­ge­rin von den In­seln mit­ge­bracht hat­te?

Ein lan­ger Schal mit vio­let­ten Strei­fen lag hin­ter ih­rem Rücken auf der Kup­fer­plan­ke. Sie moch­te sich wohl oft­mals auf ho­her See, an feuch­ten Aben­den dar­in ein­gehüllt, die Füße da­mit be­deckt, dar­un­ter ge­schla­fen ha­ben! Aber von den Fran­sen her­un­ter­ge­zo­gen, glitt er all­mäh­lich her­ab, droh­te ins Was­ser zu fal­len. Mit ei­nem Satz fing Frédéric ihn auf.

»Ich dan­ke Ih­nen, mein Herr,« sag­te sie.

Ihre Bli­cke be­geg­ne­ten sich.

»Frau, bist du fer­tig?« rief Ar­noux, der un­ter dem Dach der Trep­pe er­schi­en.

Die klei­ne Mar­the lief ihm ent­ge­gen, um­klam­mer­te sei­nen Hals und zer­zaus­te ihn am Bart. Die Töne ei­ner Har­fe er­klan­gen, sie woll­te die Mu­si­kan­ten se­hen, und bald be­trat der Spie­ler, von der Ne­ge­rin ge­führt, das Deck der ers­ten Klas­se. Ar­noux er­kann­te ein al­tes Mo­dell in ihm; er duz­te ihn zur Ver­wun­de­rung der Um­ste­hen­den. End­lich warf der Har­fen­spie­ler sein lan­ges Haar über die Schul­ter zu­rück, brei­te­te die Arme aus und be­gann zu spie­len.

Es war eine ori­en­ta­li­sche Ro­man­ze, in der von Dol­chen, Blu­men und Ster­nen die Rede war. Der Mann in Lum­pen sang sie mit schril­ler Stim­me; die Stö­ße der Ma­schi­ne un­ter­bra­chen die Me­lo­die in falschem Takt, er spiel­te lau­ter: die Sai­ten schwirr­ten, und ihre me­tal­li­schen Töne klan­gen wie ein Schluch­zen, wie eine Kla­ge stol­zer, be­sieg­ter Lie­be. Von den bei­den Flus­sufern neig­ten sich die Wäl­der bis zum Ran­de des Was­sers; ein fri­scher Luft­zug strich vor­über; Ma­da­me Ar­noux blick­te un­ge­wiss ins Wei­te. Als die Mu­sik ver­stumm­te, hob sie zö­gernd die Li­der, als er­wa­che sie aus ei­nem Traum. De­mü­tig nä­her­te sich der Har­fen­spie­ler. Wäh­rend Ar­noux Geld her­aus­such­te, streck­te Frédéric die ge­schlos­se­ne Hand aus, öff­ne­te sie ver­schämt und leg­te einen Louis­d’or in die Müt­ze. Nicht Ei­tel­keit trieb ihn dazu, vor ihr die­ses Al­mo­sen zu ge­ben, son­dern das Ver­lan­gen, Wohl­ta­ten zu spen­den, mit ei­ner fast re­li­gi­ösen Her­zens­re­gung ver­bun­den.

Ar­noux for­der­te ihn freund­lich auf, mit hin­un­ter­zu­ge­hen, in­dem er ihm den Weg zeig­te. Frédéric ver­si­cher­te, er kom­me eben vom Früh­stück, da­bei ver­ging er vor Hun­ger; und er hat­te kei­nen Pfen­nig mehr in der Bör­se.

Dann sag­te er sich, dass er wie je­der­mann das recht hat­te, sich im Sa­lon auf­zu­hal­ten.

Es wur­de an run­den Ti­schen ge­speist, ein Kell­ner ging hin und her; Mon­sieur und Ma­da­me Ar­noux sa­ßen rechts im Hin­ter­grund; er setz­te sich auf die lan­ge Samt­pols­ter­bank, nach­dem er eine Zei­tung auf­ge­nom­men hat­te, die dort lag.

Sie woll­ten in Mon­te­reau die Post nach Châlons neh­men. Ihre Rei­se in die Schweiz soll­te einen Mo­nat wäh­ren. Ma­da­me Ar­noux mach­te ih­rem Gat­ten Vor­wür­fe über sei­ne Schwä­che ge­gen das Kind. Er flüs­ter­te ihr et­was ins Ohr, eine Lie­bens­wür­dig­keit of­fen­bar, denn sie lä­chel­te. Da­rauf be­müh­te er sich, den Fens­ter­vor­hang hin­ter ihr zu schlie­ßen.

Die nied­ri­ge, ganz wei­ße De­cke warf das Licht grell zu­rück. Frédéric konn­te von ge­gen­über den Schat­ten ih­rer Wim­pern un­ter­schei­den. Sie nipp­te an ih­rem Gla­se und zer­krü­mel­te Brot­krus­te zwi­schen den Fin­gern; zu­wei­len schlug das Me­dail­lon von La­pis­la­zu­li,1 das mit ei­ner Gold­ket­te an ih­rem Hand­ge­lenk be­fes­tigt war, ge­gen ih­ren Tel­ler. Die an­de­ren alle schie­nen sie gar nicht zu be­mer­ken.

Zu­wei­len sah man durch die Fens­ter­lu­ken eine Bar­ke vor­über­glei­ten, die das Schiff an­lief, um Rei­sen­de auf­zu­neh­men oder ab­zu­set­zen. Die Leu­te an den Ti­schen neig­ten sich aus den Öff­nun­gen und nann­ten die Na­men der Ort­schaf­ten am Fluss.

Ar­noux be­klag­te sich über die Kü­che; er be­schwer­te sich laut über die Rech­nung und ließ sie kür­zen. Dann führ­te er den jun­gen Mann vorn auf das Schiff, um dort Grog zu trin­ken. Aber Frédéric kehr­te bald un­ter das Zelt zu­rück, wo Ma­da­me Ar­noux sich nie­der­ge­las­sen hat­te. Sie las in ei­nem win­zi­gen Bänd­chen in grau­em Ein­band. Ihre bei­den Mund­win­kel zo­gen sich mit­un­ter em­por, und ein Strahl von Hei­ter­keit er­hell­te ihre Stirn. Er war ei­fer­süch­tig auf den­je­ni­gen, der die Din­ge er­dacht hat­te, mit de­nen sie be­schäf­tigt schi­en. Je län­ger er sie be­trach­te­te, de­sto mehr emp­fand er, wie die Kluft zwi­schen ihm und ihr sich ver­tief­te. Er dach­te dar­an, dass er sie bald ver­las­sen muss­te, un­wi­der­ruf­lich, ohne ihr ein Wort ent­lockt zu ha­ben, selbst ohne ihr eine Erin­ne­rung zu las­sen!

Zur Rech­ten dehn­te sich eine Ebe­ne, links stie­gen Wei­de­plät­ze die Hü­gel hin­an, auf de­nen man Wein­ge­län­de, Nuss­bäu­me, eine Müh­le im Grü­nen be­merk­te, und von dort aus klei­ne Pfa­de, die im Zick­zack über den wei­ßen Fel­sen führ­ten, der zum Him­mels­rand em­por­rag­te. Welch ein Glück muss­te es sein, Sei­te an Sei­te mit ihr, den Arm um sie ge­schlun­gen, dort hin­auf­zu­stei­gen und, wäh­rend ihr Kleid über die ver­gilb­ten Blät­ter feg­te, un­ter dem Leuch­ten ih­rer Au­gen ih­rer Stim­me zu lau­schen! Das Boot konn­te an­hal­ten, sie brauch­ten nur aus­zu­stei­gen; und den­noch war die­se ein­fa­che Sa­che nicht leich­ter, als die Son­ne zu be­we­gen!

Et­was wei­ter­hin ent­deck­te man ein Schloss mit spit­zem Dach und ecki­gen Tür­men. Ein Blu­men­gar­ten dehn­te sich vor der Fassa­de; und un­ter den ho­hen Lin­den ver­tief­ten die Al­leen sich wie dunkle Ge­wöl­be. Er dach­te sie sich an der Weiß­bu­chen­he­cke vor­über­ge­hend. In die­sem Au­gen­blick sah man eine jun­ge Dame und einen jun­gen Mann auf dem Al­tan2 zwi­schen den Oran­ge­kü­beln. Dann ver­schwand al­les.

Das klei­ne Mäd­chen spiel­te ne­ben ihm. Frédéric woll­te es küs­sen. Es ver­barg sich hin­ter sei­ner Wär­te­rin; und die Mut­ter schalt, dass es un­freund­lich ge­gen den Herrn sei, der ih­ren Schal ge­ret­tet habe. War das eine in­di­rek­te Ein­lei­tung?

»Wird sie mich end­lich an­spre­chen?« frag­te er sich.

Die Zeit dräng­te. Wie war eine Ein­la­dung zu Ar­noux zu er­lan­gen? Ihm fiel nichts Bes­se­res ein, als ihn auf die Far­be des Herbs­tes auf­merk­sam zu ma­chen und hin­zu­zu­fü­gen:

»Bald kommt der Win­ter, die Zeit der Bäl­le und Di­ners!«

Ar­noux je­doch war vollauf mit sei­nem Ge­päck be­schäf­tigt. Die Küs­te von Sur­ville wur­de sicht­bar, die bei­den Brücken nä­her­ten sich, sie ka­men an ei­ner Sei­le­rei vor­über, dar­auf an ei­ner Rei­he nied­ri­ger Häu­ser; wei­ter un­ten sah man Teer­kes­sel, Holz­späh­ne und Gas­sen­bu­ben, die im San­de Rad schlu­gen. Frédéric er­kann­te einen Mann in ei­nem Wams und rief ihm zu:

»Be­ei­le dich!«

Sie lan­de­ten. Mit Mühe fand er Ar­noux in der Men­ge der Pas­sa­gie­re, und die­ser er­wi­der­te, ihm die Hand schüt­telnd:

»Viel Ver­gnü­gen, mein Lie­ber!«

Auf dem Quai an­ge­langt, dreh­te Frédéric sich um. Sie stand dicht am Steu­er­rad. Er sand­te ihr einen Blick, in den er sei­ne gan­ze See­le zu le­gen ver­such­te; sie blieb un­be­weg­lich, als wäre nichts ge­sche­hen. Dann rief er, ohne den Gruß sei­nes Die­ners zu be­ach­ten:

»Wa­rum hast du den Wa­gen nicht bis hier­her ge­bracht?«

Der Mann ent­schul­dig­te sich.

»Wel­che Un­ge­schick­lich­keit! Gib mir et­was Geld!«

Und er ging in ein Gast­haus, um zu es­sen. Eine Vier­tel­stun­de dar­auf ver­spür­te er Lust, wie zu­fäl­lig in den Post­hof ein­zu­tre­ten. Ob er sie noch se­hen wür­de?

»Doch wozu?« sag­te er sich.

Und der Wa­gen fuhr mit ihm da­von. Die bei­den Pfer­de ge­hör­ten nicht sei­ner Mut­ter. Sie hat­te sie von Mon­sieur Cham­bri­on, dem Steuer­ein­neh­mer, ge­lie­hen, um sie dem eig­nen Wa­gen vor­zu­span­nen. Isi­do­re, der tags zu­vor auf­ge­bro­chen war, hat­te bis zum Abend in Bray ge­ras­tet und in Mon­te­reau über­nach­tet, so­dass die er­frisch­ten Tie­re flink da­hin­trab­ten.

Ab­ge­mäh­te Fel­der zo­gen sich end­los hin. Zwei Rei­hen Bäu­me säum­ten den Weg ein, wo Kie­sel­stein­hau­fen sich an­ein­an­der reih­ten; und nach und nach kam er an Vil­le­neu­ve-Saint-Ge­or­ges, Ablon, Châtil­lon, Cor­beil und den üb­ri­gen Ort­schaf­ten vor­über. Sei­ne gan­ze Rei­se kam ihm so deut­lich wie­der in Erin­ne­rung, dass er jetzt ganz neue De­tails und in­ti­me­re Ein­zel­hei­ten ent­deck­te. Un­ter dem letz­ten Vo­lant ih­res Klei­des lug­te ihr Fuß in win­zi­gen, kas­ta­ni­en­brau­nen Sei­dens­tie­fel­chen her­vor; das Se­gel­tuch­zelt bil­de­te einen Bal­da­chin über ih­rem Kopf, und die klei­nen ro­ten Quas­ten der Bor­dü­re zit­ter­ten un­auf­hör­lich im Win­de.

Sie glich den Frau­en aus ro­man­ti­schen Bü­chern. Er hät­te ih­rer Per­son nichts zu­fü­gen, nichts von ihr fort­las­sen mö­gen. Das Wel­tall hat­te sich plötz­lich er­wei­tert. Sie war der Glanz­punkt, in dem alle Din­ge zu­sam­men­flos­sen; – und von dem Schwan­ken des Wa­gens ein­ge­wiegt, die Li­der halb ge­schlos­sen, den Blick in den Wol­ken, über­ließ er sich ei­ner träu­me­ri­schen, schran­ken­lo­sen Freu­de.

In Bray war­te­te er nicht, bis die Pfer­de Ha­fer be­kom­men hat­ten, er ging vor­aus, die Land­stra­ße hin­auf, ganz al­lein. Ar­noux hat­te sie »Ma­rie!« ge­nannt. Er rief ganz laut »Ma­rie!« Sei­ne Stim­me ver­hall­te in der Luft.

Tie­fe Pur­pur­far­be flamm­te am west­li­chen Him­mel auf. Hohe Korn­scho­ber, die sich mit­ten in den Stop­pel­fel­dern er­ho­ben, war­fen rie­sen­haf­te Schat­ten. Fern­ab in ei­nem Hof fing ein Hund an zu bel­len. Von ei­ner grund­lo­sen Un­ru­he er­fasst, er­schau­er­te er.

Als Isi­do­re ihn ein­ge­holt hat­te, setz­te er sich auf den Bock, um zu kut­schie­ren. Sei­ne Schwä­che war vor­über. Er war fest ent­schlos­sen, sich auf ir­gend­ei­ne Art bei Ar­noux ein­zu­füh­ren, in Ver­kehr mit ih­nen zu kom­men. Sie führ­ten wohl ein an­ge­neh­mes Haus, ihm ge­fiel Ar­noux; und dann, wer konn­te wis­sen? Eine Blut­wel­le stieg ihm ins Ge­sicht: sei­ne Schlä­fen häm­mer­ten, er ließ die Peit­sche knal­len, riss an den Zü­geln und trieb die Pfer­de zu ei­ner sol­chen Gan­gart an, dass der alte Kut­scher wie­der­holt aus­rief:

»Lang­sam! aber lang­sam! Sie kom­men au­ßer Atem!«

All­mäh­lich be­ru­hig­te sich Frédéric und hör­te dem Plau­dern des Die­ners zu.

Man er­war­te­te den jun­gen Herrn mit großer Un­ge­duld. Ma­de­moi­sel­le Loui­se hat­te ge­weint, weil sie nicht mit­fah­ren durf­te.

»Wer ist Ma­de­moi­sel­le Loui­se?«

»Die Klei­ne von Mon­sieur Ro­que, Sie wis­sen doch?«

»Ah! Ich ver­gaß!« er­wi­der­te Frédéric nach­läs­sig.

Al­lein die Pfer­de konn­ten nicht wei­ter. Sie hin­k­ten alle bei­de, und es schlug neun Uhr von Saint-Lau­rent, als sie auf der Place d’Ar­mes vor dem Hau­se sei­ner Mut­ter an­lang­ten.

Die­ses ge­räu­mi­ge Haus mit dem nach der Land­sei­te ge­le­ge­nen Gar­ten er­höh­te noch das An­se­hen von Ma­da­me Mo­reau, die die ge­ach­tets­te Per­sön­lich­keit in der Ge­gend war.

Sie ent­stamm­te ei­ner al­ten, jetzt er­lo­sche­nen Adels­fa­mi­lie. Ihr Mann, ein Bür­ger­li­cher, mit dem ihre El­tern sie ver­hei­ra­tet hat­ten, war in­fol­ge ei­nes De­gen­sto­ßes wäh­rend ih­rer Schwan­ger­schaft ge­stor­ben und hat­te sie in un­si­che­ren Ver­mö­gens­ver­hält­nis­sen zu­rück­ge­las­sen. Drei­mal wö­chent­lich emp­fing sie Gäs­te und gab von Zeit zu Zeit ein gu­tes Di­ner. Doch die Zahl der Ker­zen wur­de vor­her be­rech­net, und sie er­war­te­te mit Un­ge­duld ih­ren Pacht­zins. Die­se Geld­ver­le­gen­hei­ten, die sie wie ein Las­ter ver­heim­lich­te, mach­ten sie ernst. In­des­sen übte sie Wohl­tä­tig­keit ohne jede Bit­ter­keit. Ihre ge­rings­ten Al­mo­sen wa­ren wie große Spen­den. Man zog sie bei der Wahl der Dienst­bo­ten zu Rate, bei der Er­zie­hung der jun­gen Mäd­chen, der Kunst des Ein­ma­chens, und Hoch­wür­den stieg auf sei­nen bi­schöf­li­chen Rei­sen bei ihr ab.

Ma­da­me Mo­reau heg­te großen Ehr­geiz für ih­ren Sohn. In ei­ner Art vor­aus­se­hen­der Klug­heit lieb­te sie es nicht, die Re­gie­rung ta­deln zu hö­ren. An­fangs wür­de er Pro­tek­ti­on brau­chen; dann aber dank sei­ner Fä­hig­kei­ten Staats­rat, Bot­schaf­ter, Mi­nis­ter wer­den. Sei­ne Er­fol­ge auf dem Gym­na­si­um recht­fer­tig­ten die­sen Stolz; er hat­te den Ehren­preis da­von­ge­tra­gen.

Als er in den Sa­lon trat, er­ho­ben sich alle sehr ge­räusch­voll; sie um­arm­ten ihn, und dann bil­de­te sich mit Ses­seln und Stüh­len ein großer Kreis um den Ka­min. Mon­sieur Gam­b­lin frag­te ihn so­fort um sei­ne Mei­nung über Ma­da­me La­far­ge. Die­ser Pro­zess, die Sen­sa­ti­on der da­ma­li­gen Zeit, ver­fehl­te nicht, eine hef­ti­ge Dis­kus­si­on her­bei­zu­füh­ren. Ma­da­me Mo­reau un­ter­brach sie je­doch zum Be­dau­ern von Mon­sieur Gam­b­lin; er hielt sie für den jun­gen Mann in sei­ner Ei­gen­schaft als zu­künf­ti­gen Ju­ris­ten sehr nütz­lich und ver­ließ ge­kränkt den Sa­lon.

Von ei­nem Freun­de des Va­ter Ro­que konn­te nichts über­ra­schen! Von die­sem üb­ri­gens kam die Rede auf Mon­sieur Dam­breu­se, der so­eben die Do­mai­ne de la For­tel­le er­wor­ben hat­te. Aber der Steuer­ein­neh­mer hat­te Frédéric bei­sei­te ge­zo­gen, um zu hö­ren, was er von Mon­sieur Gui­zets letz­tem Werk hal­te. Alle wünsch­ten Ein­blick in sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten; Ma­da­me Be­noit wand­te sich di­rekt an ihn und er­kun­dig­te sich nach sei­nem Oheim.3 Wie ging es die­sem gu­ten Ver­wand­ten? Er ließ nichts mehr von sich hö­ren. Hat­te er nicht einen jun­gen Nef­fen in Ame­ri­ka?

Die Kö­chin mel­de­te, dass das Es­sen für den jun­gen Herrn auf­ge­tra­gen sei. Rück­sichts­voll ent­fern­ten sich alle. Als sie al­lein wa­ren, frag­te die Mut­ter mit lei­ser Stim­me:

»Nun?«

Der alte Mann hat­te ihn sehr herz­lich emp­fan­gen, aber ohne ihm sei­ne Ab­sich­ten zu of­fen­ba­ren.

Ma­da­me Mo­reau seufz­te.

»Wo mag sie jetzt sein?« träum­te er.

Der Post­wa­gen roll­te wei­ter, und in ih­ren Schal gehüllt, lehn­te sie wohl schlum­mernd ih­ren schö­nen Kopf ge­gen das Wa­gen­pols­ter.

Als sie in ihr Zim­mer hin­auf­gin­gen, brach­te ein Bur­sche aus dem Cy­g­ne de la Croix ein Bil­let.

»Von wem ist das?«

»Des­lau­ri­ers wünscht mich zu spre­chen,« sag­te er.

»Ah, dein Ka­me­rad!« sag­te Ma­da­me Mo­reau mit ver­ächt­li­chem Lä­cheln. »Die Stun­de ist gut ge­wählt, wahr­lich!«

Frédéric zö­ger­te. Aber die Freund­schaft war stär­ker. Er nahm sei­nen Hut.

»Blei­be we­nigs­tens nicht lan­ge!« sag­te die Mut­ter.

na­tür­lich vor­kom­men­des, tief­blau­es Ge­stein; oft als Schmuck­stein ver­wen­det  <<<

ab­ge­stütz­ter Austritt an ei­nem Ge­bäu­de  <<<

On­kel  <<<

2.

Charles Des­lau­rier­s’ Va­ter, ein al­ter, 1818 ab­ge­dank­ter Haupt­mann der Li­nie, war nach No­gent zu­rück­ge­kom­men, um sich zu ver­hei­ra­ten, und hat­te die Mit­gift dazu be­nutzt, das Amt ei­nes Ge­richts­voll­zie­hers zu er­wer­ben, das kaum für sei­nen Le­bens­un­ter­halt ge­nüg­te. Ver­bit­tert durch lan­ge Un­ge­rech­tig­kei­ten, an sei­nen al­ten Wun­den lei­dend und in Trau­er um den Kai­ser, ließ er sei­nen Zorn, an dem er zu er­sti­cken droh­te, an sei­ner Um­ge­bung aus. We­ni­ge Kin­der wur­den mehr ge­prü­gelt als sein Sohn. Der Jun­ge füg­te sich nicht, trotz der Schlä­ge. Sei­ne Mut­ter wur­de, wenn sie ver­such­te, sich ein­zu­mi­schen, an­ge­fah­ren wie er. Schließ­lich steck­te er ihn in sei­ne Schreib­stu­be und ließ ihn den lie­ben lan­gen Tag, über das Pult ge­beugt, Ak­ten ab­schrei­ben, wo­durch sei­ne rech­te Schul­ter sicht­lich stär­ker her­vor­trat als die lin­ke.

Im Jah­re 1833 gab der Haupt­mann, der Auf­for­de­rung des Prä­si­den­ten fol­gend, sein Amt auf. Sei­ne Frau war am Krebs ge­stor­ben. Er sie­del­te nach Di­jon über. Dann ließ er sich als See­len­ver­käu­fer in Troy­es nie­der, und nach­dem er für Charles eine hal­be Frei­stel­le er­hal­ten hat­te, brach­te er ihn auf das Gym­na­si­um zu Sens, wo Frédéric ihn ken­nen lern­te. Aber der eine war zwölf Jah­re alt, der an­de­re fünf­zehn; über­dies trenn­ten sie tau­send Ver­schie­den­hei­ten des Cha­rak­ters und der Her­kunft.

Frédéric be­saß in sei­ner Kom­mo­de al­ler­lei Schät­ze, zum Bei­spiel ein Toi­let­ten-Ne­ces­saire. Er lieb­te es, mor­gens lan­ge zu schla­fen, die Schwal­ben zu be­ob­ach­ten, Thea­ter­stücke zu le­sen, und ohne die An­nehm­lich­kei­ten des El­tern­hau­ses fand er das Schul­le­ben hart.

Der Sohn des Be­am­ten fand es schön. Er lern­te so gut, dass er be­reits am Ende des zwei­ten Jah­res in die drit­te Klas­se kam. Doch sei­ner Ar­mut oder sei­ner Streit­sucht we­gen wa­ren alle feind­lich ge­gen ihn ge­sinnt. Als ihn aber ein Die­ner ein­mal auf of­fe­nem Schul­hof einen Bet­tel­jun­gen nann­te, sprang er ihm an die Keh­le und hät­te ihn ge­tö­tet, wenn nicht drei Leh­rer da­zu­ge­kom­men wä­ren. Von Be­wun­de­rung hin­ge­ris­sen, schloss Frédéric ihn in die Arme. Von die­sem Tage an war die Ver­traut­heit voll­kom­men. Die Zu­nei­gung ei­nes Gro­ßen schmei­chel­te dem Klei­nen of­fen­bar, und der an­de­re nahm die ihm dar­ge­bo­te­ne Freund­schaft wie ein Glück an.

Sein Va­ter ließ ihn wäh­rend der Fe­ri­en in der Schu­le. Eine zu­fäl­lig of­fen da­lie­gen­de Über­set­zung des Pla­to be­geis­ter­te ihn. Er ver­tief­te sich in me­ta­phy­si­sche Stu­di­en und mach­te schnel­le Fort­schrit­te, denn er wid­me­te sich ih­nen mit dem En­thu­si­as­mus der Ju­gend und ei­nem Ver­ständ­nis, das ihn stolz mach­te; Jouf­froy, Cou­sin, Laro­mi­guiè­re, Ma­le­bran­che, die Schot­ten, al­les, was die Biblio­thek ent­hielt, kam her­an. Er hat­te den Schlüs­sel steh­len müs­sen, um sich die Bü­cher zu ver­schaf­fen.

Frédérics Zer­streu­un­gen wa­ren nicht so erns­ter Art. Er zeich­ne­te die Stamm­ta­fel Chris­ti, die an ei­nem Pfos­ten in der Rue Trois-Rois in Holz ge­schnitzt war, und dar­auf das Por­tal der Ka­the­dra­le. Von den Dra­men des Mit­tel­al­ters ging er zu den Me­moi­ren über: Froiss­art, Co­mi­nes, Pier­re d’E­stoi­le, Brantô­me.

Die Bil­der, die sich sei­nem Geist durch die­se Lek­tü­re auf­dräng­ten, be­schäf­tig­ten ihn so stark, dass er das Be­dürf­nis emp­fand, sie wie­der­zu­ge­ben. Er streb­te da­nach, einst der Wal­ter Scott Frank­reichs zu wer­den. Des­lau­ri­ers er­sann ein um­fas­sen­des Sys­tem der Phi­lo­so­phie, das die aus­ge­dehn­tes­te An­wen­dung fin­den soll­te.

Sie plau­der­ten von al­le­dem wäh­rend der Pau­sen auf dem Hof, an­ge­sichts der ge­mal­ten mo­ra­li­schen In­schrift un­ter der Uhr, flüs­ter­ten da­von in der Ka­pel­le des hei­li­gen Lud­wig mit dem Bart, und träum­ten da­von im Schlaf­raum. Auf den Spa­zier­gän­gen rich­te­ten sie es so ein, dass sie hin­ter den an­de­ren gin­gen und re­de­ten ohne Ende.

Sie spra­chen von dem, was sie spä­ter tun woll­ten, wenn sie das Gym­na­si­um ver­las­sen ha­ben wür­den. Für das ers­te nah­men sie sich vor, mit dem Gel­de, das Frédéric bei sei­ner Groß­jäh­rig­keit von sei­nem Ver­mö­gen er­hal­ten soll­te, eine große Rei­se zu ma­chen, dar­auf nach Pa­ris zu­rück­zu­keh­ren, zu­sam­men zu ar­bei­ten und sich nie­mals zu tren­nen; – und zur Er­ho­lung von ih­rer Ar­beit wür­den sie Lieb­schaf­ten mit Prin­zes­sin­nen in sei­de­nen Bou­doirs ha­ben oder glän­zen­de Or­gi­en mit be­rühm­ten Kur­ti­sa­nen fei­ern. Dem Un­ge­stüm ih­rer Hoff­nun­gen folg­ten Zwei­fel. Nach Kri­sen wort­rei­cher Fröh­lich­keit ver­fie­len sie in tie­fes Schwei­gen.

An Som­mer­aben­den, nach­dem sie lan­ge auf stei­ni­gen We­gen am Ran­de von Wein­gär­ten oder auf der Land­stra­ße mit­ten durchs freie Feld ge­gan­gen wa­ren, wenn das Korn in der Son­ne wog­te, wäh­rend himm­li­sche Düf­te die Luft durch­zo­gen, über­fiel sie eine Art Be­klem­mung, und sie streck­ten sich trun­ken, wie be­täubt, auf dem Rücken aus. Die an­de­ren turn­ten in Hem­d­är­meln am Bar­ren oder lie­ßen Dra­chen stei­gen. Der be­auf­sich­ti­gen­de Leh­rer rief sie her­an und sie kehr­ten zu­rück, an Gär­ten vor­über, durch die klei­ne Bä­che rie­sel­ten, dann die von al­ten Ge­mäu­ern be­schat­te­ten Bou­le­vards ent­lang; in den öden Stra­ßen hall­ten ihre Schrit­te wi­der; das Git­ter öff­ne­te sich, sie stie­gen die Trep­pe hin­auf und wa­ren nie­der­ge­drückt, wie nach großen Aus­schwei­fun­gen.

Der In­spek­tor be­haup­te­te, dass sie sich ge­gen­sei­tig ex­al­tier­ten. Doch wenn Frédéric in den obe­ren Klas­sen ar­bei­te­te, so ge­sch­ah es in­fol­ge der Er­mah­nun­gen sei­nes Freun­des; und in den Fe­ri­en 1837 nahm er ihn zu sei­ner Mut­ter mit.

Der jun­ge Mann miss­fiel Ma­da­me Mo­reau. Er aß au­ßer­ge­wöhn­lich viel, wei­ger­te sich, Sonn­tags dem Got­tes­dienst bei­zu­woh­nen, und hielt re­pu­bli­ka­ni­sche Re­den; end­lich glaub­te sie zu wis­sen, dass er ih­ren Sohn in ver­ru­fe­ne Häu­ser führ­te. Ihr Ver­kehr wur­de be­wacht. Sie lieb­ten sich in­fol­ge­des­sen umso mehr, und es war ein schmerz­li­cher Ab­schied, als Des­lau­ri­ers im fol­gen­den Jahr das Gym­na­si­um ver­ließ, um in Pa­ris die Rech­te zu stu­die­ren.

Frédéric rech­ne­te dar­auf, sich dort wie­der mit ihm zu ver­ei­ni­gen. Sie hat­ten sich seit zwei Jah­ren nicht ge­se­hen, und nach lan­ger Umar­mung gin­gen sie auf die Brücken, um un­ge­zwun­ge­ner plau­dern zu kön­nen.

Der Haupt­mann, jetzt In­ha­ber ei­nes Cafés in Vil­lenau­xe, war wü­tend ge­wor­den, als sein Sohn die Vor­mund­schafts­ab­rech­nung ver­lang­te, und hat­te ihm ein­fach jede Un­ter­stüt­zung ver­wei­gert. Aber da er sich spä­ter um eine Pro­fes­sur an der Hoch­schu­le be­wer­ben woll­te und kein Geld hat­te, nahm Des­lau­ri­ers die Stel­le ei­nes Ge­hil­fen bei ei­nem An­walt in Troy­es an. Durch Ein­schrän­kun­gen woll­te er vier­tau­send Fran­cs spa­ren, und wenn er das müt­ter­li­che Erb­teil nicht an­rühr­te, wür­de er im­mer et­was ha­ben, um drei Jah­re frei ar­bei­ten zu kön­nen, wäh­rend er auf eine An­stel­lung war­te­te. Sie muss­ten also ih­ren al­ten Plan, in der Haupt­stadt zu­sam­men zu le­ben, für jetzt we­nigs­tens, auf­ge­ben.

Frédéric senk­te den Kopf; das war der ers­te sei­ner Träu­me, der zu­sam­men­stürz­te.

»Trös­te dich,« sag­te der Sohn des Haupt­manns, »das Le­ben ist lang, und wir sind jung. Ich kom­me dir nach! Den­ke nicht mehr dar­an.«

Sie schüt­tel­ten sich die Hän­de, und um ihn ab­zu­len­ken, frag­te er ihn nach sei­ner Rei­se.

Frédéric hat­te nicht viel zu er­zäh­len. Aber bei der Erin­ne­rung an Ma­da­me Ar­noux schwand sein Kum­mer. Durch Scheu zu­rück­ge­hal­ten, sprach er nicht von ihr. Da­ge­gen brei­te­te er sich weit­läu­fig über Ar­noux aus, er­zähl­te von sei­nen Re­den, sei­nen Ma­nie­ren, sei­nen Ver­bin­dun­gen; und Des­lau­ri­ers riet ihm nach­drück­lich, die­se Be­kannt­schaft zu pfle­gen.

Frédéric hat­te in der letz­ten Zeit nichts ge­schrie­ben. Sei­ne li­te­ra­ri­schen An­sich­ten hat­ten sich ge­än­dert, er schwärm­te jetzt vor al­lem für die lei­den­schaft­li­chen Cha­rak­tere; Wer­ther, René, Franck, Lé­lia, Lara und an­de­re mit­tel­mä­ßi­ge­re be­geis­ter­ten ihn fast in glei­cher Wei­se. Zu­wei­len schi­en ihm die Mu­sik al­lein im stan­de, sei­nen in­ne­ren Aufruhr aus­zu­drücken; dann träum­te er von Sym­pho­ni­en; oder die äu­ße­re Er­schei­nung der Din­ge fes­sel­te ihn, und er woll­te ma­len. Er hat­te auch Ver­se ge­macht; Des­lau­ri­ers fand sie sehr schön, ohne je­doch um eine zwei­te Pro­be zu bit­ten.

Er selbst gab sich nicht mehr mit Me­ta­phy­sik ab. Na­tio­nal­öko­no­mie und die fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on nah­men ihn ganz in An­spruch. Er war jetzt ein lan­ger ha­ge­rer Bur­sche von zwei­und­zwan­zig Jah­ren mit großem Mund und ent­schlos­se­ner Mie­ne. An die­sem Abend trug er einen schlech­ten Las­ting-Pa­le­tot,1 und sei­ne Stie­fel wa­ren weiß von Staub, denn er hat­te den Weg von Vil­lenau­xe zu Fuß ge­macht, um Frédéric noch zu se­hen.

Isi­do­re nä­her­te sich ih­nen, Ma­da­me las­se den jun­gen Herrn bit­ten, nach Haus zu kom­men, und in der Furcht, er kön­ne sich er­käl­ten, schi­cke sie ihm sei­nen Man­tel.

»Blei­be doch!« sag­te Des­lau­ri­ers.

Und sie gin­gen wei­ter, von ei­nem Ende zum an­de­ren der bei­den Brücken, die sich auf die schma­le, von dem Kanal und dem Fluss ge­bil­de­te In­sel stütz­ten.

Wenn sie an der Sei­te von No­gent gin­gen, hat­ten sie eine Grup­pe von Häu­sern vor sich; rechts sah man die Kir­che hin­ter den Sä­ge­müh­len, de­ren Schleu­sen ge­sperrt wa­ren; und links, längs des Flus­ses, um­säum­ten Sträu­cher­he­cken die Gär­ten, die kaum zu un­ter­schei­den wa­ren. Aber nach Pa­ris zu führ­te die Land­stra­ße ab­wärts in ge­ra­der Li­nie, und in der Fer­ne ver­lo­ren sich die Wie­sen im nächt­li­chen Dunst. Die Nacht war still und von weiß­li­cher Klar­heit. Der Ge­ruch feuch­ten Lau­bes stieg zu ih­nen em­por, und nur das Plät­schern der Brun­nen hun­dert Schritt wei­ter war wie das dump­fe Geräusch von Wel­len im Dun­keln.

Des­lau­ri­ers blieb ste­hen und sag­te:

»Wie die gu­ten Leu­te ru­hig schla­fen, es ist selt­sam! Aber Ge­duld! Ein neu­es 89 be­rei­tet sich vor! Man ist der Kon­sti­tu­ti­on, der Ver­fas­sungs­ur­kun­den, der Spitz­fin­dig­kei­ten und Lü­gen müde! Ah! hät­te ich ein Blatt oder eine Tri­bü­ne, wie woll­te ich das al­les durch­ein­an­der­rüt­teln! Al­lein um et­was zu un­ter­neh­men, was es auch sei, ist Geld nö­tig! Es ist ein Fluch, der Sohn ei­nes Schank­wirts zu sein und sei­ne Ju­gend auf der Su­che nach Brot zu ver­geu­den!«

Er senk­te den Kopf, biss sich auf die Lip­pen und zit­ter­te vor Käl­te in sei­nen dün­nen Klei­dern.

Frédéric warf ihm die Hälf­te sei­nes Man­tels um die Schul­tern. Sie wi­ckel­ten sich bei­de hin­ein und wan­del­ten, ein­an­der um­fas­send, Sei­te an Sei­te wei­ter.

»Wie soll ich ohne dich dort le­ben?« sag­te Frédéric, den die Bit­ter­keit sei­nes Freun­des eben­falls trau­rig stimm­te. »Mit ei­ner Frau, die mich liebt, wür­de ich et­was er­rei­chen kön­nen … Wa­rum lachst du? Die Lie­be ist die Nah­rung und gleich­sam die At­mo­sphä­re des Ge­nies. Au­ßer­or­dent­li­che Er­schüt­te­run­gen brin­gen er­ha­be­ne Wer­ke her­vor. Ich ver­zich­te üb­ri­gens auf die Mühe, eine nach mei­nem Ge­schmack zu su­chen! Und wenn ich sie je fän­de, sie stie­ße mich zu­rück! Ich ge­hö­re zu dem Stam­me der Ent­erb­ten und wer­de als Kö­nig oder Bett­ler en­den, was weiß ich.«

Ein Schat­ten reck­te sich auf das Pflas­ter und gleich­zei­tig ver­nah­men sie die Wor­te:

»Ihr Die­ner, mei­ne Her­ren!«

Der sie an­sprach, war ein klei­ner Mann mit ei­nem wei­ten brau­nen Über­rock und ei­ner Müt­ze, un­ter de­ren Schirm eine spit­ze Nase her­vor­sah.

»Mon­sieur Ro­que?« sag­te Frédéric.

»Der bin ich,« er­wi­der­te die Stim­me.

Er recht­fer­tig­te sei­ne An­we­sen­heit mit der Be­mer­kung, dass er von ei­ner Be­sich­ti­gung sei­ner Wolf­sei­sen in sei­nem Gar­ten am Ufer kom­me.

»Und Sie sind wie­der zu uns zu­rück­ge­kehrt? Sehr schön! ich habe es von mei­nem Töch­ter­chen ge­hört. Mit Ih­rer Ge­sund­heit geht es gut, hof­fe ich? Sie rei­sen doch noch nicht ab?«

Und er ging, au­gen­schein­lich durch Frédérics Empfang zu­rück­ge­schreckt.

Ma­da­me Mo­reau ver­kehr­te al­ler­dings nicht mit ihm; Va­ter Ro­que leb­te mit sei­ner Haus­häl­te­rin im Kon­ku­bi­nat und war we­nig ge­ach­tet, ob­wohl er Wahl­mann und Ver­wal­ter von Mon­sieur Dam­breu­se war.

»Des Ban­kiers in der Rue d’An­jou?« be­gann Des­lau­ri­ers wie­der, »weißt du, was du tun müss­test, mein Gu­ter?«

Isi­do­re un­ter­brach sie noch­mals. Er hat­te den Auf­trag, Frédéric end­lich mit­zu­brin­gen. Ma­da­me be­un­ru­hig­te sich we­gen sei­nes Aus­blei­bens.

»Gut! gut! er kommt gleich,« sag­te Des­lau­ri­ers, »er wird nicht drau­ßen schla­fen.«

Und nach­dem der Die­ner ge­gan­gen war:

»Du soll­test den Al­ten bit­ten, dich bei Dam­breu­se ein­zu­füh­ren. Nichts ist nütz­li­cher, als in ei­nem rei­chen Hau­se zu ver­keh­ren. Da du einen schwar­zen An­zug und wei­ße Hand­schu­he hast, nut­ze sie aus! Du musst zu die­sen Leu­ten ge­hen! Spä­ter führst du mich dann ein! Ein Mil­lio­när, be­den­ke! Sieh zu, ihm zu ge­fal­len und sei­ner Frau eben­falls. Wer­de ihr Ge­lieb­ter!«

Frédéric wehr­te leb­haft ab.

»Aber es gibt klas­si­sche Bei­spie­le da­für, sage ich dir. Den­ke an Ras­ti­gnac in der Comé­die hu­mai­ne! Du wirst si­cher Er­folg ha­ben!«

Frédéric hat­te so großes Ver­trau­en zu Des­lau­ri­ers, dass er schwan­kend wur­de, und in­dem er Ma­da­me Ar­noux ver­gaß oder sie in die auf die an­de­re ge­münz­te Pro­phe­zei­ung mit­ein­schloss, konn­te er sich ei­nes Lä­chelns nicht er­weh­ren.

Der Schrei­ber füg­te hin­zu:

»Der letz­te Rat: Ma­che dei­ne Exa­mi­na! Ein Ti­tel ist im­mer gut; und geh mir mit dei­nen ka­tho­li­schen und sa­ta­ni­schen Poe­ten, die in der Phi­lo­so­phie eben­so vor­ge­schrit­ten sind, wie man im XII. Jahr­hun­dert war. Dei­ne Verzweif­lung ist al­bern. Män­ner von Be­deu­tung ha­ben einen schwie­ri­ge­ren An­fang ge­habt, um mit Mi­ra­beau zu be­gin­nen. Über­dies, un­se­re Tren­nung wird nicht so lan­ge dau­ern. Ich wer­de mei­nem Gau­ner von Va­ter an die Keh­le müs­sen. Es ist Zeit, dass ich zu­rück­keh­re, adieu! Hast du fünf Fran­cs, mein Mit­ta­ges­sen zu be­zah­len?«

Frédéric gab ihm zehn Fran­cs, den Rest der am Mor­gen von Isi­do­re ent­nom­me­nen Sum­me.

Zwan­zig Schritt hin­ter den Brücken, am lin­ken Ufer, glänz­te in dem Dach­stüb­chen ei­nes nied­ri­gen Hau­ses Licht.

Des­lau­ri­ers be­merk­te es. Da rief er em­pha­tisch, in­dem er sei­nen Hut zog:

»Ve­nus, Him­mels­kö­ni­gin, sei ge­grüßt! Aber die Not ist die Mut­ter der Weis­heit! Hat man uns des­we­gen nicht ge­nug ver­läs­tert, dass Gott er­barm!«

Die­se An­spie­lung auf ein ge­mein­sa­mes Aben­teu­er stimm­te sie froh! Sie lach­ten laut auf der Stra­ße.

Dann, nach­dem er sei­ne Rech­nung im Gast­haus be­rich­tigt hat­te, be­glei­te­te Des­lau­ri­ers Frédéric bis zur nächs­ten Ecke; – und nach ei­ner lan­gen Umar­mung trenn­ten sich die Freun­de.

leich­ter, zwei­rei­hi­ger Her­ren­man­tel  <<<

3.

Zwei Mo­na­te spä­ter be­schloss Frédéric, der ei­nes Mor­gens in der Rue Coq-Héron ge­lan­det war, so­gleich sei­nen großen Be­such zu ma­chen.

Der Zu­fall war ihm güns­tig ge­we­sen. Va­ter Ro­que hat­te ihm eine Rol­le Pa­pie­re ge­bracht und ihn ge­be­ten, sie selbst bei Mon­sieur Dam­breu­se ab­zu­ge­ben; und er füg­te der Sen­dung ein ver­sie­gel­tes Schrei­ben bei, in dem er sei­nen jun­gen Lands­mann emp­fahl.

Ma­da­me Mo­reau schi­en die­ser Schritt zu über­ra­schen. Frédéric ver­barg sei­ne Freu­de dar­über.

Mon­sieur Dam­breu­se hieß ei­gent­lich Graf d’Am­breu­se; al­lein, seit 1825, nach­dem er mit der Zeit sei­nen Adel und sei­ne Par­tei auf­ge­ge­ben, hat­te er sich der In­dus­trie zu­ge­wandt; und un­ter­rich­tet über alle Er­eig­nis­se, be­tei­ligt an al­len Un­ter­neh­mun­gen, bei al­len gu­ten Ge­le­gen­hei­ten auf der Lau­er, ver­schla­gen wie ein Grie­che und ar­beit­sam wie ein Au­ver­gnat, hat­te er ein Ver­mö­gen an­ge­sam­melt, das be­trächt­lich sein soll­te; au­ßer­dem war er Of­fi­zier der Ehren­le­gi­on, Mit­glied des Ge­ne­ral­rats der Aube, De­pu­tier­ter, nächs­tens Pair von Frank­reich; selbst gern ge­fäl­lig, er­mü­de­te er den Mi­nis­ter durch sei­ne be­stän­di­gen Bit­ten um Bei­stand, um Or­den, um Ta­bak­bü­ros, und in sei­ner Ab­nei­gung ge­gen die Re­gie­rung zur Lin­ken schloss er sich dem Zen­trum an. Sei­ne Frau, die hüb­sche Ma­da­me Dam­breu­se, die von den Mo­de­jour­na­len ge­nannt wur­de, prä­si­dier­te bei Wohl­tä­tig­keits­ver­ei­nen. In­dem sie den Her­zo­gin­nen schmei­chel­te, be­schwich­tig­te sie den Groll des vor­neh­men Fau­bourg und er­weck­te den Glau­ben, dass Mon­sieur Dam­breu­se sein Ein­drin­gen viel­leicht noch be­reu­en wer­de und ihm noch ein­mal Diens­te er­wei­sen könn­te.

Der jun­ge Mann war er­regt, als er zu ih­nen ging.

»Ich hät­te bes­ser ge­tan, mei­nen Frack an­zu­zie­hen. Sie la­den mich ge­wiss für die nächs­te Wo­che zum Ball ein? Was wer­den sie sa­gen?«

Die Zu­ver­sicht kehr­te ihm bei dem Ge­dan­ken zu­rück, dass Mon­sieur Dam­breu­se nur ein Bür­ger war, und ver­we­gen sprang er von sei­nem Ka­brio­lett auf das Trot­toir der Rue d’An­jou.

Nach­dem er durch das eine der bei­den Ein­fahrt­to­re ge­kom­men war, über­schritt er den Hof, stieg die Freitrep­pe hin­an und trat in ein Ves­ti­bül, das mit far­bi­gem Mar­mor aus­ge­legt war.

Eine ge­ra­de Dop­pel­trep­pe mit ro­tem Tep­pich und Mes­sing­stan­gen lief die hohe, mit rei­chem Stuck ver­zier­te Mau­er ent­lang. Am Fuß der Stu­fen stand ein Bana­nen­baum, des­sen brei­te Blät­ter auf die Sam­tram­pe fie­len. Zwei Bron­ze­kan­de­la­ber tru­gen Por­zel­langlo­cken, die an klei­nen Kett­chen hin­gen. Den Luft­lö­chern der Hei­zung ent­ström­te eine tro­ckene Hit­ze; und man ver­nahm nur das Tick­tack ei­ner großen Uhr, die am an­de­ren Ende des Ves­ti­büls un­ter ei­nem Pa­nop­lie1 stand.

Eine Glo­cke er­klang; ein Die­ner er­schi­en und führ­te Frédéric in einen klei­nen Raum, in dem man zwei Geld­schrän­ke mit Fä­chern vol­ler Map­pen ge­wahr­te. Mon­sieur Dam­breu­se schrieb in der Mit­te an ei­nem Zy­lin­der­bü­ro.

Er las flüch­tig den Brief Va­ter Ro­ques, schnitt mit sei­nem Ta­schen­mes­ser die Lei­nen­hül­le auf, die die Pa­pie­re um­schloss, und prüf­te sie.

Aus der Ent­fer­nung konn­te er sei­ner schmäch­ti­gen Ge­stalt we­gen noch jung er­schei­nen. Aber sei­ne spär­li­chen wei­ßen Haa­re, sei­ne kraft­lo­sen Glie­der und be­son­ders sein au­ßer­or­dent­lich fah­les Ge­sicht ver­rie­ten einen zer­rüt­te­ten Kör­per. Uner­bitt­li­che Ener­gie lag in sei­nen meer­grü­nen Au­gen, die käl­ter wa­ren als Glasau­gen. Er hat­te vor­ste­hen­de Ba­cken­kno­chen und Hän­de mit kno­chi­gen Ge­len­ken.

End­lich stand er auf und rich­te­te an den jun­gen Mann ei­ni­ge Fra­gen über Per­so­nen ih­rer Be­kannt­schaft, über No­gent, über sei­ne Stu­di­en; dann ver­ab­schie­de­te er ihn, in­dem er sich ver­neig­te. Frédéric ging durch einen an­de­ren Kor­ri­dor hin­aus und be­fand sich am un­te­ren Ende des Ho­fes bei den Stal­lun­gen.

Ein blau­es Coupé mit ei­nem Rap­pen vor­ge­spannt stand an der Freitrep­pe. Der Schlag öff­ne­te sich, eine Dame stieg ein, und der Wa­gen roll­te mit dump­fem Geräusch auf dem Kies da­von.

Frédéric lang­te von der an­de­ren Sei­te zu glei­cher Zeit mit ihr un­ter der Ein­fahrt an. Da der Raum nicht groß ge­nug war, sah er sich ge­zwun­gen zu war­ten. Die jun­ge Frau neig­te sich aus dem klei­nen Schie­be­fens­ter und sprach lei­se mit dem Pfört­ner. Er konn­te nichts wei­ter se­hen als ih­ren Rücken, den ein vio­let­ter Man­tel ver­hüll­te. In­des­sen mus­ter­te er das In­ne­re des Wa­gens, in blau­em Rips mit sei­de­nen Pas­se­men­te­ri­en und Fran­sen ge­hal­ten. Die Ge­wän­der der Dame füll­ten ihn ganz aus; dem klei­nen, ge­pols­ter­ten Kas­ten ent­ström­te Irispar­füm wie eine Duft­wo­ge weib­li­cher Ele­ganz. Der Kut­scher lo­cker­te die Zü­gel, das Pferd streif­te un­ge­stüm den Prell­stein, und al­les ver­schwand.

Frédéric ging zu Fuß die Bou­le­vards ent­lang zu­rück. Er be­dau­er­te, Ma­da­me Dam­breu­se nicht ge­se­hen zu ha­ben.

Et­was hin­ter der Rue Mont­mar­tre ver­an­lass­te ihn eine Wa­gen­sto­ckung, den Kopf zu wen­den, und an der an­de­ren Sei­te, ge­gen­über, las er auf ei­ner Mar­mor­plat­te:

Jac­ques Ar­noux.

Wa­rum hat­te er nicht frü­her an sie ge­dacht? Das war Des­lau­rier­s’ Schuld, und er ging auf den La­den zu, trat je­doch nicht ein, in der Er­war­tung, dass sie sich zei­gen könn­te.

Durch die ho­hen, durch­sich­ti­gen Spie­gel­schei­ben hat­te man den Blick auf eine ge­schmack­vol­le An­ord­nung von Sta­tu­et­ten, Zeich­nun­gen, Gra­vu­ren, Ka­ta­lo­gen und Num­mern der Kunst­hand­lung; und auf der Tür, in der Mit­te mit den Ini­tia­len des Her­aus­ge­bers de­ko­riert, wa­ren die Prei­se des Abon­ne­ments wie­der­holt. An den Wän­den lehn­ten große Ge­mäl­de, de­ren Fir­nis glänz­te, und im Hin­ter­grund sah man zwei Tru­hen mit Por­zel­lan, Bron­zen und lo­cken­den Ku­rio­si­tä­ten be­la­den; eine klei­ne Trep­pe, oben durch eine Samt­por­tie­re ge­schlos­sen, trenn­te sie; und ein al­ter Meiß­ner Kron­leuch­ter, ein grü­ner Tep­pich auf dem Fuß­bo­den, so­wie ein Tisch mit ein­ge­leg­ter Ar­beit ga­ben die­sem In­te­rieur eher das Aus­se­hen ei­nes Sa­lons als ei­nes La­dens.

Frédéric gab sich den An­schein, als mus­te­re er die Zeich­nun­gen. Nach end­lo­sem Zö­gern trat er ein.

Ein An­ge­stell­ter hob die Por­tie­re und er­wi­der­te, dass der Chef nicht vor fünf Uhr im Ma­ga­zin sein wer­de. Aber wenn der Auf­trag sich über­mit­teln lie­ße …

»Nein! ich wer­de wie­der­kom­men,« ent­geg­ne­te Frédéric freund­lich.

Die fol­gen­den Tage wur­den an­ge­wandt, um eine Woh­nung zu su­chen; und er ent­schied sich für ein Zim­mer in der zwei­ten Eta­ge ei­nes Ho­tel gar­ni in der Rue Saint-Hya­cin­the.

Mit na­gel­neu­en Hef­ten un­ter dem Arm be­gab er sich zur Er­öff­nung der Vor­le­sun­gen. Drei­hun­dert jun­ge Leu­te mit blo­ßen Köp­fen füll­ten ein Am­phi­thea­ter, in dem ein Greis in ro­ter Robe mit mo­no­to­ner Stim­me vor­trug; Fe­dern kratz­ten auf dem Pa­pier. Er fand in die­sem Saal den Staub­ge­ruch der Klas­se, ein Ka­the­der in glei­cher Form, die­sel­be Lan­ge­wei­le wie­der! Vier­zehn Tage lang ging er hin. Aber man war noch nicht bei Ar­ti­kel drei, als er das Stu­di­um des Bür­ger­li­chen Ge­setz­bu­ches im Stich ließ und die Vor­le­sun­gen auf­gab.

Die Freu­den, die er sich ver­spro­chen hat­te, blie­ben aus; und als er sich durch ein Le­se­ka­bi­nett durch­ge­ar­bei­tet hat­te, die Samm­lun­gen im Lou­vre durch­lau­fen und ver­schie­de­ne Thea­ter be­sucht hat­te, ver­fiel er völ­lig dem Mü­ßig­gang.

Tau­send neue Din­ge ver­mehr­ten sei­ne Nie­der­ge­schla­gen­heit. Er muss­te sei­ne Wä­sche zäh­len und den Haus­meis­ter, einen Gro­bi­an mit dem Ge­ba­ren ei­nes Kran­ken­wär­ters, dul­den, der nach Al­ko­hol roch und mor­gens mür­risch sein Bett mach­te. Sein Zim­mer, mit ei­ner Ala­bas­ter­uhr ge­schmückt, miss­fiel ihm. Die Zwi­schen­wän­de wa­ren dünn, er hör­te die Stu­den­ten Punsch be­rei­ten, la­chen, sin­gen.

Die­ser Ein­sam­keit müde, such­te er einen sei­ner Ka­me­ra­den na­mens Bap­tis­te Mar­ti­non auf, und er ent­deck­te ihn, über sei­ner Pro­zess­ord­nung büf­felnd, vor ei­nem Stein­koh­len­feu­er, in ei­ner klein­bür­ger­li­chen Pen­si­on der Rue Saint-Jac­ques.

Ihm ge­gen­über saß ein Mäd­chen in ei­nem Kat­tun­kleid und stopf­te St­rümp­fe.

Mar­ti­non war, was man einen sehr schö­nen Men­schen nennt: groß, voll, mit re­gel­mä­ßi­gen Ge­sichts­zü­gen und bläu­li­chen, schön­ge­schnit­te­nen Au­gen. Sein Va­ter, ein tüch­ti­ger Land­wirt, hat­te ihn zum Richter­stand be­stimmt, – und da er schon ge­setzt er­schei­nen woll­te, trug er einen Voll­bart.

Da Frédérics Ver­druss kei­nen ver­nünf­ti­gen Grund hat­te und ein Un­glück ihm aus­ge­schlos­sen schi­en, be­griff Mar­ti­non sei­ne be­stän­di­ge Un­zu­frie­den­heit nicht. Er selbst ging täg­lich zur Uni­ver­si­tät, mach­te dar­auf sei­nen Spa­zier­gang im Lu­xem­bourg, ging abends in ein klei­nes Café und fühl­te sich mit fünf­zehn­hun­dert Fran­cs jähr­lich und der Lie­be die­ses Mäd­chens voll­kom­men glück­lich.

»Welch ein Glück!« dach­te Frédéric bei sich.

Er hat­te auf der Uni­ver­si­tät eine an­de­re Be­kannt­schaft ge­macht, Mon­sieur de Cisy, Sohn ei­ner vor­neh­men Fa­mi­lie und in sei­nen Ma­nie­ren an­mu­tig wie ein Mäd­chen.

Mon­sieur de Cisy be­schäf­tig­te sich mit Zeich­nen, na­ment­lich lieb­te er Go­thik. Mehr­mals gin­gen sie zu­sam­men die Hei­li­ge Ka­pel­le und Notre-Dame be­wun­dern. Aber die Vor­nehm­heit des jun­gen Pa­tri­zi­ers barg eine höchst dürf­ti­ge In­tel­li­genz. Al­les ver­setz­te ihn in Er­stau­nen; er lach­te laut über den ge­rings­ten Scherz und zeig­te an­fangs eine so voll­kom­men nai­ve Un­schuld, dass Frédéric ihn zu­erst für einen Spaß­vo­gel hielt, ihn schließ­lich aber als Dumm­kopf be­trach­te­te.

Ein Ge­dan­ken­aus­tausch war also mit nie­mand mög­lich, und er er­war­te­te im­mer noch die Ein­la­dung der Dam­breu­se.

Am Neu­jahrs­tag sand­te er ih­nen Vi­si­ten­kar­ten, er aber er­hielt kei­ne.

Er war noch­mals in der Kunst­hand­lung ge­we­sen.

Er ging ein drit­tes Mal hin und sah end­lich Ar­noux, der in­mit­ten von fünf oder sechs Per­so­nen dis­pu­tier­te und sei­nen Gruß kaum er­wi­der­te; das ver­letz­te Frédéric. Doch über­leg­te er dar­um nicht we­ni­ger, wie er zu ihr ge­lan­gen könn­te.

An­fangs hat­te er die Idee, oft vor­zu­spre­chen, um nach Bil­dern zu fra­gen. Dann dach­te er dar­an, ei­ni­ge sehr kräf­ti­ge Ar­ti­kel in der Zei­tung an­zu­brin­gen, wo­durch Be­zie­hun­gen an­ge­knüpft wer­den könn­ten. Vi­el­leicht war es das bes­te, ge­ra­de auf sein Ziel los­zu­ge­hen und ihr sei­ne Lie­be zu er­klä­ren. Er ver­fass­te also einen Brief von zwölf Sei­ten voll ly­ri­scher Emp­fin­dun­gen und Apostro­phen, aber er zer­riss ihn, und – in der Furcht vor Mis­ser­folg tat er nichts und ver­such­te nichts.

Über dem La­den Ar­noux’ be­fan­den sich in der ers­ten Eta­ge drei Fens­ter, die je­den Abend er­leuch­tet wa­ren. Schat­ten be­weg­ten sich da­hin­ter, be­son­ders ei­ner, das muss­te der ihre sein – und er scheu­te die Mühe nicht, von weit her zu kom­men, um die­se Fens­ter zu se­hen und die­sen Schat­ten zu be­trach­ten.

Eine Ne­ge­rin mit ei­nem klei­nen Mäd­chen an der Hand, die in den Tui­le­ri­en an ihm vor­über­ging, er­in­ner­te ihn an die Ne­ge­rin von Ma­da­me Ar­noux. Sie muss­te wie die an­de­ren hier­her kom­men; je­des Mal, wenn er die Tui­le­ri­en durch­schritt, klopf­te sein Herz in der Hoff­nung, ihr zu be­geg­nen. An son­ni­gen Ta­gen setz­te er sei­nen Spa­zier­gang bis zu den Champs-Elysées fort.

Nach­läs­sig in Ka­le­schen sit­zend, fuh­ren Da­men, de­ren Schlei­er im Win­de weh­ten, un­ter dem fes­ten Tritt ih­rer Pfer­de mit un­merk­li­chem Schwan­ken, das das la­ckier­te Le­der knir­schen mach­te, dicht an ihm vor­über. Die Wa­gen wur­den zahl­rei­cher, und beim Aus­gang des Rond-Point lang­sa­mer wer­dend, nah­men sie die gan­ze Stra­ße ein. Mäh­ne stand dicht an Mäh­ne, La­ter­ne dicht an La­ter­ne; die stäh­ler­nen Steig­bü­gel, die sil­ber­nen Kinn­ket­ten, die Kup­fer­schnal­len wa­ren hier und dort leuch­ten­de Punk­te in­mit­ten der kur­z­en Ho­sen, der wei­ßen Hand­schu­he und dem auf das Wap­pen der Wa­gen­schlä­ge her­ab­fal­len­den Pelz­werk. Er fühl­te sich wie ver­lo­ren in ei­ner fer­nen Welt. Sei­ne Au­gen irr­ten über die Frau­en­köp­fe, und vage Ähn­lich­kei­ten brach­ten ihm Ma­da­me Ar­noux in Erin­ne­rung. Er stell­te sie sich mit­ten un­ter den an­de­ren vor, in ei­nem die­ser klei­nen Coupés wie dem von Ma­da­me Dam­breu­se. – Aber die Son­ne sank und der kal­te Wind wir­bel­te den Staub em­por. Die Kut­scher ver­senk­ten das Kinn in ihre Kra­wat­ten, die Rä­der fin­gen an, sich schnel­ler zu dre­hen, das Pflas­ter aus zer­sto­ße­nem Gra­nit knirsch­te, und alle Wa­gen fuh­ren in schnel­lem Tra­be die lan­ge Ave­nue hin­un­ter, ein­an­der strei­fend, über­ho­lend, aus­wei­chend, um sich dann auf der Place de la Con­cor­de zu zer­streu­en. Hin­ter den Tui­le­ri­en nahm der Him­mel die Fär­bung des Schie­fers an. Die Bäu­me des Gar­tens bil­de­ten zwei enor­me, in den Wip­feln veil­chen­blaue Mas­sen. Die Gas­la­ter­nen wur­den an­ge­zün­det und das grün­li­che Was­ser der Sei­ne brach sich an den Brücken­pfei­lern in Sil­ber­wel­len­li­ni­en.

Er speis­te für drei­und­vier­zig Sous im Abon­ne­ment in ei­nem Re­stau­rant in der Rue de la Har­pe.

Er be­trach­te­te mit Ver­ach­tung das alte Ma­ha­gony-Büf­fet, die fle­cki­gen Tisch­tü­cher, das un­sau­be­re Sil­ber­zeug und die an der Wand hän­gen­den Hüte. Alle um ihn her wa­ren Stu­den­ten wie er. Sie un­ter­hiel­ten sich über ihre Pro­fes­so­ren, ihre Ge­lieb­ten. Was küm­mer­ten ihn die Pro­fes­so­ren! Hat­te er eine Ge­lieb­te? Um ih­rer Fröh­lich­keit aus­zu­wei­chen, kam er so spät wie mög­lich. Spei­se­res­te be­deck­ten alle Ti­sche. Die bei­den er­mü­de­ten Kell­ner schlie­fen in den Ecken, und der Ge­ruch von Kü­che, Lam­pen und Ta­bak er­füll­te den lee­ren Saal.

Dann ging er lang­sam wie­der die Stra­ße hin­auf. Die La­ter­nen schau­kel­ten und lie­ßen auf dem Schmutz lan­ge gelb­li­che Re­fle­xe zit­tern. Schat­ten un­ter Re­gen­schir­men glit­ten am Ran­de des Trot­toirs hin. Das Pflas­ter war schlüpf­rig, der Ne­bel fiel, und ihm war, als senk­te die feuch­te Dun­kel­heit sich tief in sein Herz hin­ab.

Ge­wis­sens­bis­se er­fass­ten ihn. Er kehr­te zu den Vor­le­sun­gen zu­rück. Doch da er nichts von den vor­ge­tra­ge­nen Ma­te­ri­en wuss­te, brach­ten ihn die ein­fachs­ten Din­ge in Ver­le­gen­heit.

Er fing an, einen Ro­man zu schrei­ben, mit dem Ti­tel: »Syl­vio, der Sohn des Fi­schers«. Die Ge­schich­te spiel­te in Ve­ne­dig. Der Held war er sel­ber, die Hel­din Ma­da­me Ar­noux. Sie hieß An­to­nia – und um sie zu be­sit­zen, tö­te­te er meh­re­re Edel­leu­te, brann­te einen Teil der Stadt nie­der und sang un­ter ih­rem Bal­kon, wo die ro­ten Da­mast­vor­hän­ge sich wie am Bou­le­vard Mont­mar­tre im Win­de be­weg­ten. Al­lein die all­zu zahl­rei­chen Re­mi­nis­zen­zen, bei de­nen er sich er­tapp­te, ent­mu­tig­ten ihn; er gab es auf, und sei­ne Träg­heit stei­ger­te sich noch.

Nun bat er Des­lau­ri­ers, sein Zim­mer mit ihm zu tei­len. Sie wür­den sich ein­rich­ten, mit sei­nen zwei­tau­send Fran­cs zu le­ben; al­les sei bes­ser als die­se un­er­träg­li­che Exis­tenz. Des­lau­ri­ers konn­te Troy­es noch nicht ver­las­sen. Er schlug ihm vor, sich zu zer­streu­en, Séné­cal zu be­su­chen.

Séné­cal war ein Hilfs­leh­rer der Ma­the­ma­tik, ein Mensch von star­kem Geist und re­pu­bli­ka­ni­schen Über­zeu­gun­gen, ein zu­künf­ti­ger Saint-Just, wie der Schrei­ber sag­te. Frédéric hat­te drei­mal sei­ne fünf Stock­wer­ke er­stie­gen, ohne da­nach einen Be­such zu er­hal­ten. Er ging nicht wie­der hin. Er woll­te sich amü­sie­ren. Er ging auf die Opern­bäl­le. Die lär­men­de Fröh­lich­keit stieß ihn schon beim Ein­tritt ab. Über­dies hielt ihn die Furcht vor pe­ku­ni­ären Ver­le­gen­hei­ten zu­rück, denn er stell­te sich ein Sou­per mit ei­nem Do­mi­no als ein sehr kost­spie­li­ges Aben­teu­er vor.

Trotz­dem glaub­te er, dass er ge­liebt wer­den wür­de. Zu­wei­len er­wach­te er mit ei­nem Her­zen voll Hoff­nung, klei­de­te sich sorg­fäl­tig wie zu ei­nem Ren­dez­vous an und mach­te end­lo­se Streif­zü­ge durch Pa­ris. Bei je­der Frau, die vor ihm ging oder ihm ent­ge­gen­kam, sag­te er sich: »Das ist sie!« Es war je­des Mal eine neue Ent­täu­schung. Der Ge­dan­ke an Ma­da­me Ar­noux ver­stärk­te sei­ne Be­gier­de. Vi­el­leicht be­geg­ne­te er ihr auf sei­nem Wege; und er er­dach­te, um sie an­zu­spre­chen, zu­fäl­li­ge Schwie­rig­kei­ten, au­ßer­or­dent­li­che Ge­fah­ren, aus de­nen er sie ret­ten wür­de.

So gin­gen die Tage in der Wie­der­ho­lung der­sel­ben Ver­drieß­lich­kei­ten und an­ge­nom­me­nen Ge­wohn­hei­ten hin. Er durch­blät­ter­te die Bro­schü­ren un­ter den Ar­ca­den des Odéon, ging ins Café, die Re­vue des Deux Mon­des zu le­sen, trat in einen Saal des Collè­ge de Fran­ce und hör­te eine Stun­de lang Chi­ne­sisch oder Staats­öko­no­mie. In all die­sen Wo­chen schrieb er aus­führ­lich an Des­lau­ri­ers, speis­te zu­wei­len mit Mar­ti­non und be­such­te mit­un­ter Mon­sieur de Cisy.

Er mie­te­te ein Pia­no und kom­po­nier­te deut­sche Wal­zer.

Ei­nes Abends be­merk­te er im Thea­ter des Palais-Roy­al Ar­noux ne­ben ei­ner Frau in ei­ner Pro­sze­ni­um­lo­ge. War sie es? Die grü­ne Taf­fet-Gar­di­ne2 am Ran­de der Loge ver­deck­te ihr Ge­sicht. End­lich ging der Vor­hang auf, die Gar­di­ne wur­de zu­rück­ge­scho­ben. Es war eine große, ver­blüh­te Per­son von etwa drei­ßig Jah­ren, de­ren vol­le Lip­pen beim La­chen pracht­vol­le Zäh­ne ent­hüll­ten. Sie sprach ver­trau­lich mit Ar­noux und schlug ihm mit dem Fä­cher auf die Fin­ger. Spä­ter saß ein jun­ges, blon­des Mäd­chen zwi­schen ih­nen, des­sen Li­der et­was ge­rötet wa­ren, als hät­te es eben ge­weint. Ar­noux blieb von da ab halb über ihre Schul­ter ge­neigt und re­de­te auf sie ein, was das Mäd­chen an­hör­te, ohne zu ant­wor­ten.

Frédéric zer­brach sich den Kopf, um den Stand die­ser Frau­en in be­schei­de­nen dun­keln Klei­dern und glat­ten Um­le­ge­kra­gen zu er­ra­ten.

Am Schluss des Schau­spiels stürz­te er in die Cou­loirs, die voll von Men­schen wa­ren. Vor ihm schritt Ar­noux Stu­fe um Stu­fe die Trep­pe hin­ab, an je­dem Arme eine der Frau­en.

Plötz­lich fiel das Licht ei­ner Gas­flam­me auf ihn. Er trug Krepp an sei­nem Hut. War sie viel­leicht ge­stor­ben? Die­ser Ge­dan­ke pei­nig­te Frédéric so sehr, dass er am nächs­ten Mor­gen in die Kunst­hand­lung eil­te, und in­dem er schnell eine der Gra­vu­ren kauf­te, die vor der Uhr aus­ge­legt wa­ren, frag­te er den Ver­käu­fer, wie es Mon­sieur Ar­noux gin­ge.

Der Mann er­wi­der­te:

»Aber sehr gut!«

Frédéric füg­te er­blei­chend hin­zu:

»Und Ma­da­me?«

»Ma­da­me eben­falls.«

Frédéric ver­gaß, sei­ne Gra­vu­re mit­zu­neh­men.

Der Win­ter ging zu Ende. Im Früh­jahr war er we­ni­ger schwer­mü­tig, be­gann sich zum Ex­amen vor­zu­be­rei­ten und nach­dem er es mit­tel­mä­ßig be­stan­den hat­te, reis­te er nach No­gent.

Er be­such­te sei­nen Freund in Troy­es nicht, um den Be­mer­kun­gen sei­ner Mut­ter aus­zu­wei­chen. Dann, nach sei­ner Rück­kehr ver­ließ er sei­ne Woh­nung und nahm auf dem Quai Na­po­le­on zwei Zim­mer, die er mö­blier­te. Die Hoff­nung, von Dam­breu­se eine Ein­la­dung zu er­hal­ten, hat­te er auf­ge­ge­ben; sei­ne große Lei­den­schaft für Ma­da­me Ar­noux be­gann zu er­lö­schen.

Be­zeich­ne­te in der Re­naissance und im Ba­rock eine de­ko­ra­ti­ve Zu­sam­men­stel­lung aus Ele­men­ten ei­ner an­ti­ken Rüs­tung, Schil­den, Waf­fen und Fah­nen.  <<<

Taf­fet=Taft, Stoff aus Sei­de oder Kunst­sei­de  <<<

4.

Ei­nes Mor­gens im Mo­nat De­zem­ber glaub­te er auf sei­nem Wege zum Kol­leg in der Stra­ße Saint-Jac­ques mehr Leb­haf­tig­keit als sonst zu be­mer­ken. Die Stu­den­ten ka­men aus den Cafés ge­stürzt oder rie­fen sich durch die of­fe­nen Fens­ter von ei­nem Hau­se zum an­de­ren zu; die La­den­be­sit­zer blick­ten mit­ten auf dem Trot­toir un­ru­hig um­her; die Fens­ter­lä­den wur­den ge­schlos­sen, und als er in die Rue Souf­flot kam, be­merk­te er einen großen Auf­lauf am Pan­théon.

Jun­ge Leu­te in un­glei­chen Rei­hen gin­gen Arm in Arm und schlos­sen sich grö­ße­ren, hier und da sta­tio­nier­ten Grup­pen an; im Hin­ter­grun­de des Plat­zes, am Git­ter, hiel­ten Män­ner in Blu­sen hoch­tra­ben­de Re­den, wäh­rend Po­li­zis­ten, den Drei­spitz auf dem Ohr, die Hän­de auf dem Rücken, an den Häu­sern ent­lang eil­ten, dass es un­ter ih­ren schwe­ren Stie­feln auf den Flie­sen schall­te.

Alle hat­ten eine ge­heim­nis­vol­le, ver­dutz­te Mie­ne, man er­war­te­te au­gen­schein­lich et­was; je­der un­ter­drück­te eine Fra­ge, die ihm auf den Lip­pen lag.

Frédéric stand ne­ben ei­nem jun­gen blon­den Mann von ein­neh­men­dem Ge­sicht, der Schnurr- und Kinn­bart wie ein Stut­zer1 aus der Zeit Lud­wigs XIII. trug. Er frag­te ihn nach der Ur­sa­che der Un­ord­nung.

»Ich weiß es nicht,« er­wi­der­te der an­de­re, »und sie eben­falls nicht! Das ist jetzt so Mode! Ein gu­ter Spaß!«

Und er brach in La­chen aus.

Die Pe­ti­tio­nen we­gen der Re­for­men, die man in der Na­tio­nal­gar­de un­ter­zeich­nen ließ, ver­eint mit der Volks­zäh­lung Hu­manns und noch an­de­re Er­eig­nis­se, hat­ten seit sechs Mo­na­ten zu un­er­klär­li­chen Zu­sam­men­rot­tun­gen in Pa­ris ge­führt, die sich so häu­fig wie­der­hol­ten, dass die Zei­tun­gen gar nicht mehr da­von re­de­ten.

»Es fehlt an Gra­zie und an Far­be,« fuhr Frédérics Nach­bar fort. »Mir deucht, mein Herr, dass wir ent­ar­tet sind! In dem gu­ten Zeit­al­ter Lud­wigs des Elf­ten, ja, selbst Ben­ja­min Con­stants gab es mehr Meu­te­rei un­ter den Schol­a­ren. Ich fin­de sie fried­lich wie die Ham­mel, dumm wie das Rind­vieh und taug­lich zu Ge­würz­krä­mern, mei­ner Treu! Und das nennt man die Ju­gend der Hoch­schu­len!«

Er brei­te­te die Arme weit aus, wie Frédéric Le­maitre in »Ro­bert Ma­caire«.

»Ju­gend der Hoch­schu­len, ich seg­ne dich!«

Dann re­de­te er einen Lum­pen­samm­ler an, der im Rinn­stein vor dem La­den ei­nes Wein­händ­lers in Aus­tern­scha­len wühl­te:

»Ge­hörst du auch dazu, zu der Ju­gend der Hoch­schu­len?«

Der Greis hob sein gars­ti­ges Ge­sicht, in dem man in­mit­ten ei­nes grau­en Bar­tes eine rote Nase und zwei stu­pi­de, ver­trun­ke­ne Au­gen un­ter­schied.

»Nein, du gleichst mir eher ei­nem je­ner Gal­gen­stri­cke, die man hier und da mit vol­len Hän­den Gold aus­streu­en sieht … O! streue, mein Pa­tri­arch, streue es aus! Ver­füh­re mich mit den Schät­zen Al­bi­ons! Are you Eng­lish? Ich wei­se die Ga­ben von Ar­ta­xer­xes nicht zu­rück! Lass uns ein we­nig von der Zoll­uni­on re­den.«

Frédéric fühl­te, dass je­mand sei­ne Schul­ter be­rühr­te, und dreh­te sich um. Es war Mar­ti­non, auf­fal­lend blass.

»Sieh!« – rief er mit ei­nem tie­fen Seuf­zer. »Wie­der ein Aufruhr!«

Er fürch­te­te, kom­pro­mit­tiert zu wer­den, und be­klag­te sich. Be­son­ders be­un­ru­hig­ten ihn die Män­ner in Blu­sen, als ge­hör­ten sie ei­nem Ge­heim­bun­de an.

»Gibt es denn Ge­heim­bün­de?« frag­te der jun­ge Mann mit dem Schnurr­bart. »Das ist ein al­ter Kniff der Re­gie­rung, um die Bür­ger zu er­schre­cken!«

Aus Furcht vor der Po­li­zei for­der­te Mar­ti­non ihn auf, lei­ser zu spre­chen.

»Sie glau­ben noch an die Po­li­zei? Wie kön­nen Sie üb­ri­gens wis­sen, ob ich nicht sel­ber ein Spit­zel bin?«

Und er be­trach­te­te ihn in sol­cher Wei­se, dass Mar­ti­non, sehr er­schro­cken, zu­erst gar nicht den Scherz ver­stand. Die Men­ge stieß sie vor­wärts, und sie wa­ren alle drei ge­zwun­gen, sich auf die klei­ne Trep­pe im Gang zu flüch­ten, die zu dem neu­en Hör­saal führ­te.

Bald teil­te sich die Men­ge, meh­re­re Köp­fe ent­blö­ßten sich; man be­grüß­te den be­rühm­ten Pro­fes­sor Sa­mu­el Ron­de­lot, der, in einen wei­ten Man­tel gehüllt, sei­ne sil­ber­ne Bril­le in die Höhe schob und keu­chend in sei­nem Asth­ma mit ru­hi­gen Schrit­ten da­her­kam, um sei­ne Vor­le­sung zu hal­ten. Die­ser Mann war ei­ner der Ster­ne der Ju­rispru­denz des 19. Jahr­hun­derts, ein Ri­va­le von Za­cha­riae und Ruh­dorff. Die neue Wür­de ei­nes Pair von Frank­reich hat­te nichts in sei­nem We­sen ver­än­dert. Man wuss­te, dass er arm war, und zoll­te ihm große Ehr­furcht.

In­des­sen rie­fen ei­ni­ge hin­ten vom Platz:

»Nie­der mit Gui­zot!«

»Nie­der mit Prit­chard!«

»Nie­der mit den Ver­kauf­ten!«

»Nie­der mit Louis-Phil­ip­pe!«

Die Men­ge dräng­te sich ge­gen das ge­schlos­se­ne Tor des Ho­fes und ver­hin­der­te so den Pro­fes­sor am Wei­ter­ge­hen. Er blieb an der Trep­pe ste­hen. Bald wur­de er auf der letz­ten der drei Stu­fen be­merkt. Er sprach; ein Mur­ren über­tön­te sei­ne Stim­me. So sehr man ihn eben noch ge­liebt hat­te, jetzt hass­te man ihn, denn er re­prä­sen­tier­te die Ob­rig­keit. Bei je­dem Ver­such, sich Ge­hör zu ver­schaf­fen, be­gan­nen die Rufe von Neu­em. Mit ei­ner großen Ge­bär­de for­der­te er die Stu­den­ten auf, ihm zu fol­gen. All­ge­mei­nes Ge­schrei ant­wor­te­te ihm. Verächt­lich zuck­te er die Ach­seln und ver­schwand in den Gang. Mar­ti­non hat­te die Ge­le­gen­heit be­nutzt, um gleich­zei­tig zu ver­schwin­den.

»Die­ser Feig­ling!« sag­te Frédéric.

»Er ist vor­sich­tig!« er­wi­der­te der an­de­re.

Die Men­ge brach in Bei­falls­be­zeu­gun­gen aus, denn die­ser Rück­zug des Pro­fes­sors war ein Sieg für sie. Aus al­len Fens­tern schau­ten Neu­gie­ri­ge. Ei­ni­ge stimm­ten die Mar­seil­lai­se an; an­de­re mach­ten den Vor­schlag, zu Béran­ger zu ge­hen.

»Zu Laf­fi­te!«

»Zu Cha­teau­bri­and!«

»Zu Vol­taire!« brüll­te der jun­ge Mann mit dem blon­den Schnurr­bart.

Die Po­li­zis­ten ver­such­ten ein­zu­grei­fen, in­dem sie so sanft wie mög­lich sag­ten:

»Ge­hen Sie, mei­ne Her­ren, ge­hen Sie aus­ein­an­der, zie­hen Sie sich zu­rück!«

Ei­ner schrie: »Nie­der mit den Tot­schlä­gern!«

Das war seit den Sep­tem­ber-Un­ru­hen die ge­wöhn­li­che Dro­hung. Alle wie­der­hol­ten sie. Man ver­spot­te­te die Wäch­ter der öf­fent­li­chen Ord­nung und pfiff sie aus; sie ent­färb­ten sich; ei­ner von ih­nen konn­te nicht wi­der­ste­hen, einen jun­gen Mann, der ihm zu nahe kam und ihm ins Ge­sicht lach­te, so grob zu­rück­zu­sto­ßen, dass er fünf Schritt wei­ter vor dem La­den des Wein­händ­lers auf den Rücken fiel. Alle sto­ben aus­ein­an­der; aber fast un­mit­tel­bar dar­auf roll­te er eben­falls, von ei­nem wah­ren Her­ku­les zu Bo­den ge­schla­gen, des­sen Haar­schopf wie ein Bün­del Werg un­ter ei­ner Wachs­tuch­müt­ze her­vor­quoll.

Ei­ni­ge Mi­nu­ten an der Ecke der Rue Saint-Jac­ques auf­ge­hal­ten, hat­te er sich ei­ner Schach­tel, die er trug, schnell ent­le­digt, sich auf den Po­li­zis­ten ge­stürzt, und ihn un­ter sich fest­hal­tend, be­ar­bei­te­te er sein Ge­sicht mit hef­ti­gen Faust­schlä­gen. Die an­de­ren Po­li­zis­ten eil­ten her­bei, al­lein der schreck­li­che Bur­sche war so stark, dass min­des­tens vier nö­tig wa­ren, ihn zu bän­di­gen. Zwei schüt­tel­ten ihn am Kra­gen, zwei an­de­re zo­gen ihn an den Ar­men, ein fünf­ter ver­setz­te ihm Rip­pen­stö­ße mit dem Knie, und alle nann­ten ihn Bri­gant, Mör­der, Auf­rüh­rer. Mit nack­ter Brust, die Klei­der in Fet­zen, be­teu­er­te er sei­ne Un­schuld; mit kal­tem Blut kön­ne er kein Kind schla­gen se­hen.

»Ich hei­ße Dussar­dier! Bei Gebr. Va­linçart, Spit­zen- und Mo­den­eu­hei­ten, Rue de Cléry. Wo ist mein Kar­ton?« Er wie­der­hol­te: »Dussar­dier! … Rue de Cléry. Mein Kar­ton!«

Aber er be­ru­hig­te sich und ließ sich mit stoi­scher Mie­ne auf die Wa­che in der Rue Des­car­tes füh­ren. Eine Flut von Leu­ten folg­te ihm. Frédéric und der jun­ge Mann mit dem Schnurr­bart gin­gen, voll Be­wun­de­rung für den Kom­mis2 und em­pört über die Ge­walt­tä­tig­keit der Ob­rig­keit, dicht hin­ter ihm. Je wei­ter man vor­wärts schritt, de­sto ge­rin­ger wur­de die Men­ge.

Die Po­li­zis­ten dreh­ten sich von Zeit zu Zeit wü­tend um; und da es für die Lär­mer nichts mehr zu tun, für die Neu­gie­ri­gen nichts mehr zu se­hen gab, ent­fern­ten sich nach und nach alle. Passan­ten, de­nen man be­geg­ne­te, be­trach­te­ten Dussar­dier und mach­ten laut bos­haf­te, be­lei­di­gen­de Be­mer­kun­gen. Eine alte Frau rief so­gar an ih­rer Tür, dass er ein Brot ge­stoh­len habe; die­se Un­ge­rech­tig­keit stei­ger­te die Er­bit­te­rung der bei­den Freun­de. End­lich lang­te man vor der Wa­che an. Es wa­ren nur noch etwa zwan­zig Per­so­nen da. Der An­blick der Sol­da­ten ge­nüg­te, sie zu zer­streu­en.

Frédéric und sein Ka­me­rad for­der­ten kühn die Her­aus­ga­be des so­eben Ver­haf­te­ten. Die Schild­wa­che droh­te, sie sel­ber ein­zu­ste­cken, wenn sie noch wei­ter da­von re­de­ten. Sie frag­ten nach dem Wacht­haupt­mann, nann­ten ihre Na­men, stell­ten sich vor als Stu­den­ten der Rech­te und be­teu­er­ten, dass der Ge­fan­ge­ne ihr Kol­le­ge sei.

Man ließ sie in einen völ­lig kah­len Raum ein­tre­ten, in dem sich vier Bän­ke längs der ver­räu­cher­ten, ge­mau­er­ten Wän­de hin­zo­gen. Im Hin­ter­grun­de öff­ne­te sich ein Schie­be­fens­ter. Da­rauf er­schi­en das ro­bus­te Ge­sicht Dussar­diers, der mit sei­nem zer­zaus­ten Haar­schopf, den klei­nen, frei­mü­ti­gen Au­gen und der Stumpf­na­se dun­kel an die Phy­sio­gno­mie3 ei­nes treu­en Hun­des er­in­ner­te.

»Du er­kennst uns nicht?« sag­te Hus­son­net.

Das war der Name des jun­gen Man­nes mit dem Schnurr­bart.

»Aber …,« stam­mel­te Dussar­dier.

»Stell dich nicht län­ger ein­fäl­tig,« ent­geg­ne­te der an­de­re, »man weiß, dass du wie wir Stu­dent der Rech­te bist.«

Trotz ih­res Au­gen­zwin­kerns be­griff Dussar­dier nichts. Er schi­en sich zu sam­meln und rief dann plötz­lich:

»Ist mein Kar­ton ge­fun­den?«

Frédéric blick­te ent­mu­tigt auf. Hus­son­net er­wi­der­te:

»Ach, dein Kar­ton, in dem du dei­ne Vor­le­sungs­no­ti­zen auf­hebst? Ja, ja, be­ru­hi­ge dich.«

Sie ver­stärk­ten ihr Mie­nen­spiel. Dussar­dier ver­stand end­lich, dass sie ge­kom­men wa­ren, um ihm zu hel­fen, und er schwieg in der Furcht, sie zu kom­pro­mit­tie­ren. Über­dies emp­fand er eine Art Scham, sich zum so­zia­len Rang ei­nes Stu­den­ten und zum Ge­fähr­ten die­ser jun­gen Leu­te er­ho­ben zu se­hen, die so wei­ße Hän­de hat­ten.

»Willst du je­mand eine Nach­richt ge­ben?« frag­te Frédéric.

»Nein, dan­ke, nie­mand.«

»Aber dei­ner Fa­mi­lie?«

Er senk­te den Kopf, ohne zu ant­wor­ten; der arme Bur­sche war ein un­ehe­li­ches Kind. Die bei­den Freun­de wun­der­ten sich über sein Schwei­gen.

»Hast du et­was zu rau­chen?« frag­te Frédéric.

Er be­tas­te­te sich und zog dann tief aus sei­ner Ta­sche die Bruch­stücke ei­ner Pfei­fe her­vor, – ei­ner schö­nen Meer­schaum­pfei­fe mit schwar­zem Holz­rohr, sil­ber­nem De­ckel und Bern­stein­mund­stück.