Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sieben mythische Erzählungen, erzählt von sieben Tönen aus der Flöte des Pan, die vom Zusammenspiel zwischen Gott, Mensch und Tier handeln. Vom "Hauptmann von Kapernaum" über "Die Fahrt um die Liebe" bis hin zu "Pan im Dorfe", diese Novellensammlung hält viele spannende Geschichten für den Leser bereit.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 288
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ernst Wiechert
Saga
Die Flöte des Pan – Novellen
Beinhaltet:
Der Hauptmann von Kapernaum
Die Fahrt um die Liebe
Der Mann von vierzig Jahren
Pan im Dorfe
Die Häßliche
Der Schnitter im Mond
Niels der Schlangentöter
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1930, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726927375
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Hier soll nicht gemeint sein, daß das Betörende abendlicher Flöte, von rötlichen Hügeln fallend, in diesen sieben Erzählungen gleich den sieben Tönen des Pan aufgefangen sei. Weil keiner Kunst vergönnt sein wird, den goldnen Hintergrund mythischer Zeiten noch einmal emporzuzaubern, in denen nur eine brüderliche Grenze zwischen Gott und Mensch und Tier verlief.
Hier soll nur gemeint sein, daß die Siebenzahl der Schicksale gleich der jener Töne untereinander verbunden sei, derart, daß sie wohl für sich allein ein Besonderes des Tones, der Färbung, der schmerzlichen Wirkung darstellen, aber daß sie auf der anderen Seite auch nicht den Ursprung aus dem dunkel Tönenden des gleichen Instrumentes verhehlen können, das unter Gottes Hand aus stummer Form ein Schicksal wird.
Hier sollte offenbar werden, wie das scheinbar Ruhende und des Lebens in irgendeiner Form Gewisse von spielender und übergeordneter Hand berührt und erweckt wird, zum Tönen erweckt, das immer, in menschlicher Gebundenheit, ein Tönen der Klage wird, nicht des Schmerzes, aber jener rätselvollen Klage, mit der Pan durch die abendlichen Wälder geht, um Gras und Baum und Tier aus gebundenem Dasein des Schweigens zu lösen.
Und es sollte auch offenbar werden, daß die aus sieben Tönen geschlungene Melodie, wiewohl im Kreis der Liebe verharrend, von Gott bis zu dem Dunklen seines Gegenbildes zu reichen vermag, vom Hauptmann, der an Christo stirbt, bis zu dem Verstoßenen der Erde, der an der Schlange stirbt.
Und es sollte von dem Kinde Pans, als von einem nicht nur äußerlichen Mittelpunkt, ein Kreis der sieben Töne sich gütig und umfassend um diese beiden schlingen wie um alle die anderen, denen aus der ›panischen‹ Sehnsucht nach den letzten Dingen ein gerechtes und unantastbares Schicksal erwuchs.
Ernst Wiechert
An einem Sommermorgen nach dem großen Kriege, zu einer Zeit, als bei Siegern und Besiegten das Unerhörte ihrer Kreuzzüge noch in leisen Krämpfen nachzitterte, begegneten einander auf der Krone eines der blauen Hügel zwischen dem Rhein und der Weser zwei Truppenkolonnen, über denen der Staub der Frühe gleich einem rötlichen Zeichen Gottes stand. Die der Sonne entgegenziehende kam mit Verwundeten und Gefangenen aus dem Aufruhrgebiet der Zechen und Schornsteine, die andere, die ihren eigenen Schatten zertrat, stieg zu blutiger Arbeit in das Tal hinunter, aus dessen beglänzter Weite vereinzelter Kanonendonner aufstieg.
Die Führer grüßten einander mit ernsten Gesichtern, und die Soldaten riefen sich Scherzworte zu, nur über die Gruppe der Gefangenen ging jeder Blick mit kaltem Schweigen hinweg, wie über die verächtliche Entblößung einer Schande, die jeden Angehörigen des Volkes mit gleicher Last belud.
Unter ihnen war die befremdlichste Erscheinung die eines Bergmannes, der über einer zerrissenen und verstaubten Kleidung ein ruhiges, stolzes und gleichsam leuchtendes Gesicht durch alle Verachtung der Blicke hindurchtrug. Es war ein Gesicht, das der auslöschenden Hand der Dumpfheit einer lebenslangen Fron so wenig entgangen war wie dem zerstörenden Rausch fanatischer Leidenschaft, aber alles dieses hatte die große Absicht nicht zu entstellen vermocht, die die Natur mit diesem Gesicht gehabt hatte, das Vorwärtsdrängende und Aufwärtsgehobene eines großen Glaubens, dessen Ziel auf hohen Bergen oder in den Sternen liegt, hinter Schwertern oder hinter Kreuzen, und der sein Leuchten als einen Widerschein von den Stirnen derer zu empfangen scheint, für die er leidet: von den Stirnen nicht der einzelnen oder eines Volkes, sondern von denen der Menschheit.
Es war ein großes Gesicht, und wie es sich aufhob aus dem Staub der Kolonnen, über die dumpfen Gesichter seiner Gefährten und die erschöpften seiner Häscher, und furchtlos über die Begegnung aller Augen glitt, ohne Haß, ohne Demut, mit der schweigenden Sicherheit eines Unberührbaren, mochte es einem unbestechlichen Auge scheinen, als schreite hier ein gefesselter König unter schwachem Menschenrecht, das Anmaßung um ihn gelegt hatte.
Als die beiden Kolonnen schon im Begriff waren, sich voneinander zu lösen, wendete einer der feindwärts reitenden Offiziere sein Pferd, holte im Trabe die Bedeckungsmannschaft der Gefangenen ein und befragte sie, gleichsam verlegen über das Unschickliche seiner Neugier, nach ihrem Marschziel und dem Schicksal der Aufrührer. Als er den Namen einer Ortschaft im Tale und die für die Nacht wahrscheinliche Erschießung des größten Teils der Rebellen erfahren hatte, ritt er bis an die Seite des Bergmannes, dessen Gesicht ihn zum Wenden seines Pferdes veranlaßt hatte, beugte sich zu ihm nieder und fragte leise mit einer unvermuteten und deshalb bezwingenden Güte, weshalb er sterben solle.
Der Angeredete, ohne zu erschrecken, nur mit einer leisen Spannung in seinem immer wachsamen Gesicht, erwiderte ohne Zögern, daß er sterben müsse, weil er getötet habe.
Und weshalb er getötet habe?
Damit seine Kindeskinder nicht mehr zu töten und den Tod durch Menschenhand zu erleiden brauchten.
Darauf schwieg der Offizier lange Zeit, immer neben dem Gefangenen herreitend, den Kopf auf die Brust gesenkt, als reite er hinter dem Sinn dieser Worte her.
»Und Christus?« fragte er plötzlich.
Der Bergmann lächelte, ein kindliches, ganz haßloses Lächeln. Und dann sagte er, die Augen einmal über die Täler zu ihren Füßen wandern lassend, daß Christus, wenn er zu dieser Stunde bei ihnen wäre, der größte Töter der Menschen sein würde.
Über dieser Antwort zog der Offizier die Zügel so jäh an, daß das erschreckte Pferd sich bäumte und das Ende der Kolonne schneller ausschritt, so daß über das rückwärts gerichtete Gesicht des Gefangenen der Staub sich gleich einer Wolke hob und es auslöschte aus der Landschaft gleich dem vergehenden Glanze eines Tautropfens.
Das Pferd, der Willenlosigkeit seines Reiters bewußt, trug ihn wieder zur Krone des Hügels empor, von wo der Erwachende die beiden grauen Schlangen nun sich langsam abwärts winden sah. Gleich dem Gefangenen ließ er seine Augen über die blauen Täler wandern, über das in sich ruhende Gold der Weizenfelder, die noch von leisem Nebel verhüllten Wiesen, das wache und dem Tage schon aufgeschlossene Rot der Dächer. Er vernahm das Dengeln der Sensen und frohen Zuruf von Kindern, hineingeflochten in aufsteigendes Lerchenlied, und plötzlich nahm er den Stahlhelm ab und legte seine Hände um die graue Kühle des Metalls. Er fühlte, ohne seiner Gedanken bewußt zu sein, seine Gestalt als etwas Fremdes und Böses in der nun lautlosen Stille des Hügels, als etwas Bekleidetes und Gerüstetes, eine Empörung gegen das stille Wachsen der fruchttragenden Erde und Gottes schweigendes Wachen über seinem Werk. Und scheu, der Straße ausweichend, ritt er seiner Truppe nach.
In der Kolonne aber, die mit den Gefangenen sich ihrem Bestimmungsort näherte, flog unter einem Lächeln, das zwischen Spott und Verlegenheit sich schwankend änderte, ein Wort von Gruppe zu Gruppe, das einer der Offiziere dem anderen achtlos zugerufen hatte und das nun wie eine Erklärung und Erleichterung auf das Gewesene zurückstrahlte: »Der Hauptmann von Kapernaum ...«
Sein Name war Christoph von Soden, aber vom Divisionskommandeur bis zum jüngsten Rekruten hieß er der Hauptmann von Kapernaum. Seit jenem Gottesdienst in der Garnisonkirche vor dem großen Kriege, in dem der Geistliche zu Beginn seiner Predigt das Evangelium verlesen hatte: »Da aber Jesus einging zu Kapernaum, trat ein Hauptmann zu ihm, der bat ihn und sprach ...« Und bei den Worten: »Gehe hin, dir geschehe, wie du geglaubt hast« war der Hauptmann von seinem Platz neben dem Altar aufgestanden und ein paar Schritte zur Kanzel vorgegangen. Er hatte inmitten des freien Raumes zwischen den Kirchenbänken gestanden, lauschend, in leise vorgebeugter Haltung, als habe sein oberster Kriegsherr ihn von ferne gerufen. Seine Augen hinter der goldgefaßten Brille hatten mit einer fast quälenden Erwartung an dem verwirrten und nun gänzlich leer gewordenen Gesicht des Geistlichen gehangen, und seine viel zu kleinen Hände waren regungslos um die Spitze seines Helmes gefaltet gewesen.
So hatte er bis zum letzten Wort der Predigt gestanden, Hunderte von spottenden, lächelnden, bestürzten, ergriffenen Augenpaaren ohne Wissen auf sich sammelnd, und da er der rangälteste Offizier in der Kirche gewesen war, hatte niemand gewagt, ein mahnendes Wort zu flüstern oder mit einer Gebärde verstohlen an seine Versunkenheit zu rühren. Auch auf dem Kasernenhof war sein Gesicht noch immer gleichsam von ferne beleuchtet erschienen, aber gleichzeitig von einer strengen Zugeschlossenheit, wie ein einsamer Stein.
Beim Mittagesten im Kasino hatte es bereits die jüngste Ordonnanz gewußt. Alle Gespräche waren gezwungen, verhalten, lauschend gewesen. Alle Worte waren in eine schweigende Schale getropft, zu nichts nütze als den Augenblick zu erreichen, in dem die Schale überfließen und der erlösende Tropfen aus der Enthüllung des Geheimnisses niederstürzen würde.
Als nichts geschehen war, außer daß die stillen Augen des Hauptmanns durch die verschwebenden Wolken seiner Zigarre mit einer grundlosen Aufmerksamkeit den Bewegungen der Ordonnanzen gefolgt waren, hatte der Adjutant, der jeder Situation gewachsen war, sich ein wenig zu nachlässig, aber nicht ohne Teilnahme über die Tafel gebeugt und gefragt, was es denn sei und ob es noch nicht vorübergehe.
Er hatte wie ein Arzt zu einem Kinde gesprochen und seine Hand ausgestreckt, als wollte er nach dem Puls des Hauptmanns greifen.
Aber der andere hatte nur die Teilnahme, nicht die Überlegenheit gefühlt. Daß es ein ganzes Leben sei, hatte er erwidert. Ein ganzes Leben, das man gelebt habe, ohne von dieser Bibelstelle zu wissen. Daß er sie vergessen habe, hatte der Adjutant gutmütig gemeint. Aber Soden hatte die Augen, die wie von Angst erfüllt erschienen waren, auf eine der Nebentüren gerichtet, durch die eben eine der Ordonnanzen eingetreten war. »Komm her!« hatte er leise gesagt. Der Soldat, wie alle anderen berührt von der seltsamen Gespanntheit der Stunde, war schnell um die Tafel herumgekommen und in strammer Haltung neben dem Stuhl des Hauptmanns stehengeblieben. Auch seine Augen waren von einer leisen Angst erfüllt gewesen.
»Geh hin!« hatte der Hauptmann ebenso leise gesagt.
Der Soldat hatte eine Kehrtwendung gemacht und den Saal durch dieselbe Tür verlassen, und während des ganzen Weges hatte es geschienen, als sei nicht er selbst gegangen, sondern als hätten die Augen des Hauptmanns ihn mit sanfter aber unwiderstehlicher Gewalt durch einen gehorsam sich öffnenden Raum gedrängt.
Ob man es gesehen habe, hatte er gefragt, und was er sei? Ein Mensch, der Obrigkeit untertan ... Ob man es nun verstehe? Ob er denn nicht hätte gehorchen sollen? hatte ein Oberleutnant gefragt, der nichts begriffen hatte.
Aber der Hauptmann hatte durch ihn hindurch nach der Tür gesehen. Er hatte die Frage gar nicht gehört. »Dir geschehe, wie du geglaubt hast,« hatte er leise gesprochen, und sein Gesicht hatte sich unter unsichtbaren Schmerzen verändert.
Niemand hatte etwas zu sagen gewußt, und dann hatte aus einen Wink des Adjutanten die Musik wieder zu spielen begonnen.
Als man sich von der Tafel erhoben hatte, hatte der Stabsarzt ein vorsichtiges Gespräch mit dem Hauptmann versucht. Aber noch bevor er zu dem Beginn einer Diagnose gekommen war, hatte ein peinlicher Zwischenfall die ersten Fäden seines Gespinstes zerrissen. Einer der jüngsten Leutnants, der diesen »Testamentsfimmel« schon eine geraume Zeit »einfach idiotisch« gefunden hatte, war, nicht ohne Schuld des genossenen Weines, auf einen Ulk verfallen, der ihm von seinen jungen Kameraden und der kleinen Zahl der Fähnriche mit reichlichem und bald allgemein auffälligem Beifall gelohnt wurde. Soden besaß eine Setterhündin, die er zärtlich liebte, und die auf den seltsamen Namen »Immergrün« hörte. Dieses Tier hatte aus der Küche den Weg in den Speisesaal gefunden, und sobald der Leutnant es erblickt hatte, war in seinem leise umnebelten Gehirn das »Kriegsknechtspiel« entstanden, das nachher im ganzen Regiment, zwar heimlich, aber unter zahllosen Formen, eine Berühmtheit geworden war. »Komm her!« hatte der Leutnant gesagt. Das Tier hatte gehorcht und schweifwedelnd mit klugen Augen vor der erhobenen Hand gesessen. »Geh hin!« Ein verstohlener Fußtritt, und der Hund war ein paar Schritte zurückgesprungen.
Unter sich steigerndem Jubel hatte das Spiel mit automatenhafter Sinnlosigkeit seinen Fortgang genommen, bis die gedankenlos abirrenden Augen des Hauptmanns es bemerkt hatten.
Er war so heftig aufgesprungen, daß seine Kaffeetasse auf den Boden geklirrt war. Daß es die Handlungsweise eines Buben sei, hatte er geschrien, und es war allen erschienen, als sei er im Begriff gewesen, sich auf den Schuldigen zu stürzen, um ihn zu züchtigen.
Der Zwischenfall, der bis vor den Kommandeur gelangt war, hatte eine gütliche Erledigung gefunden. Aber in der Erinnerung des Regiments wie der ganzen Stadt war dieser Sonntag als merkwürdig haften geblieben, obwohl sich ähnliches nicht mehr ereignet hatte und der Alltag über die Erscheinung eines Sonderlings hinweggespült hatte wie die Welle über eine Furche im Sande.
Dies war der Hauptmann von Kapernaum, den um sein vierzigstes Jahr eine Bibelstelle gleich einem Pfeil getroffen hatte, der durch die Panzer eines ganzen Lebens, eines verhärtenden Berufes, eines abschließenden Kastengefühls gedrungen war, und besten Schaft nicht aufhören wollte, leise nachzubeben, wie seine Spitze nicht aufhören wollte, Schmerzen an einer Stelle zu bereiten, die im kultivierten Leben des Abendlandes als unempfindlich zu gelten hatte.
Er war von beiden Eltern her das Kind uralter Soldatenfamilien, deren Väter verabschiedete Oberste waren, streng, preußisch, dem König ergeben, deren Mütter mit Mühe den Schein einer bevorzugten Kaste zu wahren hatten, mit versteckten Sorgenfalten, schlicht in der Lebensführung, herb im Urteil, hochmütig noch in ihren Särgen. Gott kam erst hinter dem König, und hinter Gott kamen die roten Generalsstreifen. Dahinter war die Masse, eine stolze, geschlossene Masse, die das Recht auf Achselstücke und Degen hatte, die aber nach den roten Streifen strebte wie nach der Verheißung eines Paradieses.
Solange der Hauptmann zurückdenken konnte, gab es die Rangliste, das Diner des Winters, den Regimentsball, die große Besichtigung. Alle Urteile waren gleich der Uniform, die man trug: sauber, streng, mit acht Knöpfen. Juden waren unrein, Sozialisten Pack, die Bürger ein leise mißglücktes Erzeugnis des sechsten Schöpfungstages. Er hatte eine Schwester, die Tennis spielte, ritt und mit einiger Mühe einen Hauptmann in einer kleinen Garnison heiratete, wo sie ihre Töchter im Tennisspielen, Reiten und Heiraten unterwies. Er hatte einen Bruder, der ihm während des Kadettenurlaubs heimlich die Knöpfe von der Uniform zu schneiden pflegte und der nun Regierungsassessor und mit der Tochter eines Landrats verlobt war. Sie hakten das gleiche Ahnenblut, trugen die gleichen Namen, hatten dasselbe Muttermal auf der linken Schulter. Aber wenn der Hauptmann »Gott« sagte und ein bestimmtes Wesen von strenger Heiligkeit vor sich sah, sah sein Bruder die Erscheinung eines Oberpräsidenten und seine Schwester eine Gestalt mit Generalsstreifen.
Sie waren einander fremder als Völker.
Was Kadettenanstalt, Dienst, Kaste in dem Hauptmann nicht zu zerbrechen vermochten, war eine gewisse Labilität seines Wesens. Es war, als drücke die Last aller Geschlechter seines Namens so unerträglich auf die empfangende Schale seiner Seele, daß sie einmal brechen oder zum mindesten ausweichen, sich plötzlich neigen könnte, so daß alles jahrhundertealte Gut an Stolz, Pflichtgefühl, Tradition klirrend ins Bodenlose stürzen und nichts übrig lassen würde als ein entleertes, nachschwankendes Gefäß, zu allem Ersten, Neuen, Unerhörten auf eine gleichsam fromme Weise bereit.
Auch war nicht zu übersehen, daß in der Abgeschlossenheit seines Lebens, in dem für lange Zeit der Mensch weniger galt als das Buch, sich Neigungen und Gewohnheiten entwickelten, die, an der Norm eines harten Berufes gemessen, befremdlich, ja beängstigend erscheinen mußten: Selbstgespräche, in denen das Selbst allmählich zu einer zweiten Gestalt wurde, die im Dämmerlicht ihm gegenübersaß; Orakelversuche, Vorentscheidungen, mit Knöpfen, Fenstern, Blumenblättern angestellt; der Zwang, lautlos bis zwölf zu zählen, bevor er ein Kommando abgab und ähnliches. Doch war dies alles verschwiegen und fast spielerisch, so daß es in die ahnende Erkenntnis nur weniger trat.
Auffällig war, daß seine Burschen nach geraumer Zeit um ihre Entlastung aus seinem Dienst zu bitten pflegten. Nicht etwa weil er sie hart behandelte, sondern weil es geschehen konnte, daß sie in tiefer Nacht erwachten und der Hauptmann stand vor ihrem Lager, eine Kerze in der Hand, und sah mit grübelnder Versunkenheit in ihr Gesicht. »Was bist du für ein Mensch?« konnte er fragen. »Weißt du, was du für ein Mensch bist?«
Er war dreimal verlobt, und jedesmal wurden die Verlöbnisse von seinen künftigen Schwiegereltern gelöst. Aus »weltanschaulichen Gründen«. Er fragte, wonach nicht gefragt werden durfte. Er sprach aus, was nicht ausgesprochen werden durfte. Und so war es mit seinem Lächeln, seinen Zweifeln, seiner Beredtheit, seinem Schweigen.
Er wurde von allen seinen Leuten hochgeachtet, von einigen geliebt, von wenigen angebetet. Er hatte keinen Ehrgeiz, keine Mißgunst, kein berufliches Streben. Er las viel, besonders über Ethik und Soziologie, und er konnte über einem Grundsatz, einer Tabelle stundenlang grübelnd sitzen, die Augen gleichsam weit hinter die Worte und Zahlen gerichtet, mit dem staunenden Erschrecken eines Kindes, vor dem ein Gehäuse sich lautlos und geheimnisvoll öffnet und wieder schließt.
Er war nicht unglücklich zu nennen, aber er war erfüllt von einer leise bebenden Unruhe, gleich einem Tier des Waldes, das auf freiem Felde vom hellen Morgen überrascht wird, oder gleich einem Baum, der mit tausend Zellen unter dem Nahen eines Gewitters bebt. Er war gleich einem der Horchposten der Menschheit, die sie vor den Entladungen ihrer großen Schicksale hinauszuschicken pflegt: Dichter, Märtyrer, Propheten, damit sie an ihren Ekstasen, ihrem Schreien, ihrem Sterben fühle, ob es Zeit sei, die Würfel über die Erde zu schleudern. Der Boden des Alltags bebte unter seinen suchenden Füßen, und so konnte es geschehen, daß er, der ein gänzlich unmilitärischer Mensch wiewohl ein hochbefähigter Offizier war, den Ausbruch des großen Krieges als eine Erlösung empfand. Der Boden gab nach, zerriß, stürzte donnernd ein, und es würde sich nun zeigen, ob die aufgespaltenen Abgründe das Antlitz Gottes oder das Antlitz des Satans enthüllen würden.
Aber nichts dergleichen geschah. Tod war und Vernichtung, Grauen und Leid, Lüge und Heiliges, aber es war nur ein Mehr an Masse, war Häufung und geballte Steigerung, war Krampf und Übersättigung. Es war keine vierte Dimension, es waren Erscheinungen, Gesetze, Notwendigkeiten der bekannten Dimensionen. Weder Gott noch Satan enthüllten sich, sondern nur der Mensch, bis seine ganze Blöße enthüllt war, Jahrtausende zurück, und aus den Bränden der Verheerung das verbogene Skelett, geglüht aber ungeläutert, aus den Trümmern sich finster abzuzeichnen begann.
Es fror den Hauptmann und es ekelte ihn ein wenig. Es ekelte ihn der Krieg wie der Friede, der Hunger wie das Sattsein, die Furcht wie die Hoffnung. Er blieb im Dienst, weil er nicht wußte, wo er bleiben sollte. Nur daß er aufrechter ging, weil er die Last nicht zeigen wollte, die er heimlich auf seinen Schultern trug, die furchtbare Last eines Wortes, das seinen Schlaf wie sein Wachsein durchdrang:
»Dir geschehe, wie du geglaubt hast!«
Der Tag, an dessen Morgen der Hauptmann den Gefangenen gesehen hatte, war blutig, haßvoll und zermürbend zu Ende gegangen, und erst gegen Abend war das Ziel des Angriffs erreicht worden und das Bataillon zur Ruhe übergegangen. Die Sterne standen schon blaß am unruhigen, vom Licht der Leuchtkugeln geblendeten Himmel, als der Hauptmann sein Pferd sattelte und in schonungslosem Galopp nach der Ortschaft ritt, deren Namen er am Morgen erfragt hatte.
Mensch und Tier lagen im Schlaf der Erschöpfung, und es dauerte geraume Zeit, bis der Hauptmann das Gehöft zu finden vermochte, in dessen Kellern man die Gefangenen verwahrte. Er schlug den Kragen seines Umhanges auf, und während er langsam auf den Hof ritt, wobei er den aufschreckenden Posten Rede und Antwort stand, versuchte er, Örtlichkeit und Gegenstände aus dem Dunkel zu lösen und sich einzuprägen, als habe er nach seiner Rückkehr darüber Meldung zu erstatten.
In dem steinernen Flur brannte eine Kerze und warf im Luftzug den Schatten des schlafenden Posten über die Stufen. Der Hauptmann sah, wiewohl seine Hände fieberten, eine Weile in das blutjunge, in der Übermüdung fast tot erscheinende Gesicht. Dann berührte er den Arm des Schlafenden und blickte ohne Strenge in die verwirrten Augen. »Ist gut,« sagte er, »waren schwere Tage ... ich möchte dort hinein ... habe mit ihm zu sprechen ... mit dem Bergmann ... kennst du mich?«
»Herr Hauptmann sind ... Herr Major waren heute früh ...«
»Ganz recht ... dort unten sind sie? Was wird denn mit ihnen?«
»Heute früh ...« Der Soldat sprach plötzlich leise und sah zur Seite, wo ihre Schatten sich an den Mauern emporstürzten ... »Der Herr Leutnant ist zu Seiner Exzellenz, wegen der Unterschrift ...«
Der Hauptmann nickte, nahm ein Licht aus der Tasche und entzündete es an der brennenden Kerze. »Ein Licht brennt am andern,« dachte er flüchtig, »weshalb nicht der Mensch am Menschen?«
Er wußte, daß der andere nicht schlafen würde, und er verwunderte sich nicht, als in einem der Nebenkeller von einem Bündel Stroh das Gesicht sich ihm ruhig entgegenhob. Er stellte das Licht auf ein Obstbrett, in halber Höhe der Mauer, zog sich eine Holzkiste heran, nahm den Stahlhelm ab und saß nun, ein wenig gebeugt, die Hände um die Knie gefaltet, und blickte durch die Gläser seiner Brille aufmerksam aber mit einer leisen Bescheidenheit in das schweigende Gesicht des Gefangenen.
Dieser betrachtete ihn mit der kühnen Offenheit eines Gegners, nicht ohne Neugier, aber schon mit der leisen Überlegenheit des Todgezeichneten.
»Es gibt schlechtere Gesichter unter den Mördern,« sagte er endlich.
Der Hauptmann zuckte ein wenig zusammen, aber dann lächelte er statt einer Antwort. »Man nennt mich den Hauptmann von Kapernaum,« meinte er schließlich.
Der Gefangene bat, ihm das zu erklären, und der Hauptmann erzählte den Anlaß jener Namengebung. »Es trifft nicht zu auf mich,« sagte er am Ende. »Er muß anders gewesen sein, ganz anders ... und heute früh dachte ich, er müßte dir ähnlich gewesen sein.«
»Und deshalb?«
»Ja, deshalb ...«
Sie schwiegen, einer in den Anblick des anderen versunken. Sie wußten, daß sie unter der Erde waren, und daß einer unter ihr bleiben würde, und sie hörten die schweren Atemzüge der Schlafenden und fühlten die Zeit an den Wänden herniedertropfen. Und sie fühlten auch, daß sie sich voreinander noch verbargen, daß noch etwas kommen würde, hinter den Worten, dem Lächeln, dem Schweigen.
Der Gefangene, in dessen Seele die Schalen schon im Gleichgewicht standen, durchbrach als ein natürlicherer Mensch zuerst den Raum, der undeutbar zwischen ihnen schwieg.
»Und nun möchten Sie wissen,« sagte er, »wie es kommt, daß einer zum Tode geht und froh aussehen kann?«
»Es ist der Glaube,« erwiderte der Hauptmann leise.
»Ja, es ist der Glaube!« Er richtete sich plötzlich auf, und in seinem Gesicht erwachten mit einem Schlage tausend ausgelöschte Linien des Lebens. »Sie glauben nicht, keiner von euch glaubt. Ihr gehorcht, ihr denkt, ihr behauptet. Aber ihr glaubt nicht. Woran solltet ihr glauben? Man kann nur leben, wenn man an das Künftige glaubt, aber ihr kniet vor dem Vergangenen. Nein, nicht einmal knien könnt ihr: ihr steht stramm vor dem Vergangenen. Gott, König, Vaterland, Kirche und so weiter. Wie Steine steht ihr, in einem blühenden Wald. ›Wir sind die Ältesten‹, sagt ihr, ›seit Anbeginn‹. Aber ihr wißt nicht, daß die wachsende Wurzel auch Steine sprengt. Und die Wurzel wächst, wißt ihr das? Der Wald wächst. Er wächst durch Blut ... meinetwegen, aber er wächst. Moos wird euch bedecken, Schweigen, Vergessenheit. Denn der Mensch ist wieder auf der Erde, verstehst du? Nicht der Adlige, nicht der Herr, nicht der Besitzer. Nur der Mensch. Der Krieg hat ihn aus der Erde gegraben, und nun geht er. Er taumelt noch, er stammelt noch. Aber er geht, über die Steine, über die Paläste, über die Kirchen, immerzu ... immerzu ...«
Sein Gesicht brannte wie eine Flamme in des Hauptmanns Gesicht, bis es leise kälter wurde und erlosch. Er legte sich auf sein Lager zurück, faltete die Hände unter seinem Kopf und schloß die Augen.
»Und Christus?« fragte der Hauptmann nach einer Weile leise. »Weshalb sagtest du das von Christus?«
»Er trieb sie aus dem Tempel,« erwiderte der Gefangene. »Er wollte, daß die neuen Eimer schöpfen und die alten zerschlagen werden. Er war die Wurzel, die den Stein zersprengt ... Oder glaubt ihr, er würde sich noch einmal kreuzigen lassen?
Der Hauptmann nickte. Sein Gesicht war nun ganz froh und klar. »Welcher von uns beiden verdient zu leben?« fragte er lächelnd.
»Der Glaube,« erwiderte der Gefangene ohne Zögern. »Weder der Hauptmann noch der Bergmann. Nur das Gefäß des Glaubens.«
Der Hauptmann ging bis an den Fuß der Kellertreppe und blieb dort eine Weile lauschend. Noch während er zurückkam, knöpfte er seine Uniform aus. »Du mußt dich beeilen,« sagte er, »das Pferd steht gleich links an der Haustür ... der Zügel ist nur über den Zaun gelegt ... du mußt zurückreiten bis zu dem Hügel von heute früh und dann nach Norden ... kennst du den Polarstern? Die Losung heißt ›Helgoland‹. Vergiß es nicht ...«
Der Gefangene gehorchte ohne Zögern, nur sein Gesicht hatte sich verändert. Es war sehr bleich geworden, so daß es scheinen konnte, als erschrecke das Leben ihn mehr als der Tod. Und während er Stück für Stück seiner Kleidung mit der des Hauptmanns tauschte, wobei jede seiner Bewegungen überlegt und ohne Hast blieb, wichen seine Augen nicht von dem lächelnden Gesicht seines Retters und hingen an der zugeschlossenen Fläche wie eine tastende und dann immer tiefer sich einbohrende Frage.
Zuletzt empfing er Brille und Stahlhelm, und dann schlug der Hauptmann sorglich den Kragen des Umhangs hoch und führte den Gefangenen bis an die Treppe.
Das Licht fiel hier nur als ein matter Schein über die feuchten Steine und lag als ein bedeutsamer Glanz über den Stufen, die ins Leben führten.
»Geh!« flüsterte der Hauptmann. »Und ... dir geschehe, wie du geglaubt hast ... ein Schimmer ist auch auf mich gefallen ... ich danke dir.«
Der Gefangene lehnte sich an die Mauer, und es sah aus, als habe er nun Mühe, aufrechtzustehen.
»Weshalb tun Sie das?« fragte er.
»Daß die neuen Eimer schöpfen können,« erwiderte der Hauptmann. »Nur der Glaube verdient zu leben, das Gefäß, vergiß es nicht.«
Sie reichten einander die Hände, und dann blieb der Hauptmann allein. Das war die Tür ... nun der Flur ... die Absätze des Postens schlugen zusammen ... zwei menschliche Füße, aber das Schicksal hing an ihnen ... Schweigen, Schweigen, das sich über den Keller warf, das Haus, die Erde ... und dann die Hufe des Pferdes, langsame, müde Hufe ... Eisen, das an einen Stein schlug ... die Straße ... die Freiheit ... die Erlösung ...
Der Hauptmann kehrte auf das Strohlager zurück. Er löschte das Licht und lag dann mit auf der Brust gefalteten Händen. Es würde nicht leicht sein: das Kriegsgericht ... wahrscheinlich würden die Ärzte ihn für gestört erklären ... Schande, Ächtung, Ausstoßung ... der Vater, die Geschwister ... aber einmal würde es zu Ende sein, und man konnte ein Bergmann werden, ein Bauer, auslöschen, noch einmal anfangen, zu den Füßen Christi – ja, das konnte man ... Christoph von Soden ... ja, Christophorus hatte die Last getragen, die Gotteslast, durch den Strom vergangener Zeit ...
Er hörte den dröhnenden Gang von Kraftwagen, Kommandos, Türenschlagen, eilige Schritte ... ein Horn blies seltsam erregend durch die Nacht ... Alarm ... »Sie werden abgelöst,« dachte er ... »aber er reitet, schon ferne reitet er, die Stirn zu den Sternen erhoben ... uns geschehe, wie wir geglaubt ... Amen ...«
Er war eingeschlafen, als man ihn vom Lager riß. Stahlhelme, Gewehrläufe, harte Gesichter. Seine Augen ohne Brille sahen nur einen böse flimmernden Schein. Er erwachte schnell. Es fröstelte ihn etwas. »Ich möchte vor den Offizier geführt werden,« sagte er leise, »ich bin Major von Soden.«
»Hier ist einer übergeschnappt,« erwiderte eine heisere Stimme. »Paßt auf, daß er nicht zu toben anfängt.«
Man stieß sie die Kellertreppe hinauf und auf den Hof. Dämmerung stand weiß um die Giebel, und über den Feldern stieg eine unsichtbare Lerche bis unter die verblassenden Sterne. Geschützfeuer dröhnte, und zerrissene Fetzen des Maschinengewehrfeuers schlugen wie Peitschen um die Dächer.
Der Hauptmann sah den Offizier, ein junges, mühsam zusammengehaltenes Gesicht. Seine rechte Hand im Handschuh wies auf die Mauer eines Stalles.
»Ich bin Major von Soden,« sagte der Hauptmann. »Ich möchte zu Protokoll geben, daß ich heute Nacht einen Gefangenen befreit habe.«
Der Leutnant sah ihn an, ohne zu verstehen. Der Zug stockte, da der Hauptmann nicht vom Platze weichen wollte. Eine schwere Detonation von der Front warf sich wie ein Gewölbe über den Hof.
»Vorwärts!« schrie der Leutnant. »Worauf wartet ihr?« Ein Kolbenstoß traf den Hauptmann. Er sah sich um, mit nun wirklich verstörten Augen, und sah den Tod. Er begriff. Seine Lippen wurden bleich, und es drängte ihn zu schreien. Aber ein zweiter Stoß traf ihn in die Seite. Er hatte keine Zeit, sich zu wehren, denn die Erkenntnis überstürzte ihn wie eine stürzende Wand. Er mußte durch den Staub hindurchsehen, die Ursache, die Absicht, die Offenbarung. Was geschah, war zu begreifen, eine Angelegenheit des Irrtums, der Hast, des Scheines. Aber weshalb es geschah, die Hand, die es geschehen ließ, das mußte begriffen werden. Der Mensch durfte irren, aber Gott durfte nicht irren, durfte nicht spielen.
Und nun verwandelte sich plötzlich sein Gesicht. Ohne Übergang wurde es ein stilles, klares, friedvolles Gesicht. Er begriff nicht nur das Seiende, sondern auch das Kommende. Er hatte es nicht gewollt, aber Gott würde es wohl gewollt haben. Er hatte spielen wollen, ein gewagtes aber ein betrügerisches Spiel. Mit der Rechten hatte er den Schatz verstreut, aber in der Linken hatte er den Schlüssel zur Truhe gehalten. Und nun öffnete Gott die Linke und warf den Schlüssel zur Zerstreuung des übrigen. Es war Gerechtigkeit, eine große und harte Gerechtigkeit. Er hatte nur beginnen wollen, aber Gott wollte vollenden ... Sie würden ihm nicht glauben, er hatte nichts, keinen Beweis. Und sie hatten keine Zeit, keine Neigung, an Wunder zu glauben. Sie wollten, daß dies fertig sei, das Schwere, Böse, Widerwärtige. Und er selbst, er wollte nicht mehr, daß sie glaubten. »Gottes Wille,« dachte er, »Gottes Wille, daß die alten Eimer zerschlagen werden ... man wird es merken, nachforschen ... sie werden es verheimlichen wollen, aber das kleine Licht meines Todes wird sich nicht verlöschen lassen ... es wird brennen ... der Glaube wird brennen ... der Mensch wird sich am Menschen entzünden ... und er reitet, immer noch reitet er ...«
Er riß die Binde wieder von seinen Augen und sah das weiße Licht der Frühe sich rötlich färben. Er sah die Textstelle des Evangeliums, mit der es begonnen hatte, schwarze, feierliche Buchstaben auf weißem Grunde, und den seltsamen Namen der galiläischen Stadt, in der es sich zugetragen hatte, das Schöne und so Wunderbare, das Kraft gehabt hatte über zweitausend Jahre ...
Und dann sank er vornüber, auf seine klare Stirn, gestützt von den Leichen der anderen, und seine Hände lagen auf dem Gras des Hofes, still und feierlich, wie auf einem Kanzeltuch.
Merkwürdig,« dachte der Freiherr, als das Mädchen im Vorzimmer des Professors ihm in den Mantel half. »Eine belanglose Angelegenheit, seinen Mantel anzuziehen, bis zur Unwirklichkeit belanglos durch tausend Wiederholungen ... und nun, eben? Wieviele Male noch? So hat es eben gesprochen in mir. Der Keim zu tausend ähnlichen Fragen, sinnlosen, feigen und erbärmlichen Fragen, aber doch Fragen ... Der Pfeil hat getroffen, der lautlose und dunkel befiederte ... mitten zwischen die Schultern ...«
Er fühlte ein leises Erschauern vor seinem Spiegelbild, als er, ohne zu eilen, sein Halstuch band, und lauschte, gleichsam verborgen vor sich selbst, nach der Tür des Sprechzimmers, ob sie sich nicht noch einmal öffnen und die erregte Stimme des Professors ihn aufhalten würde, schnell, überstürzt, wie einen Fallenden, den man in letzter Sekunde ergreift, bevor das Brausen des Abgrunds ihn verschlingt. »Diese Ärzte,« dachte er weiter, »sind nicht klug. Vielleicht klug, aber nicht weise. Sie müßten eine Sterbekammer haben hinter ihrem Sprechzimmer, heiter, froh und ganz still. Und in solchen Fällen wie bei mir müßten sie die Leute nicht mit einem teilnehmenden und vielsagenden, ach so vielsagenden Händedruck entlassen, sondern sie müßten sagen: »Nein, mein Lieber, lassen Sie das, dies auf die Straße Gehen, dies Nocheinmal nach Hause, letzte Verfügungen und so weiter ... diese ein wenig feigen Verdunkelungsmanöver der Kreatur ... kommen Sie hier hinein, ruhen Sie etwas und denken Sie an die wenigen schönen Stunden Ihres Daseins, die von keiner Reue beschwerten, von keiner Bitterkeit durchtränkten ...«
Und da müßte man einschlafen, von ungemerkten Mitteln, und hinübergehen, von ungemerkten Händen ... Das müßten sie so einrichten können, diese Spezialisten besonders ...«
Er nahm den Hut, den das Mädchen ihm reichte, sagte »Danke« mit seiner leisen, ein wenig belegten Stimme und ging mit guter Haltung hinaus.
Die läuferbedeckte Treppe tat ihm wohl, und er stieg sie langsam hinab, an der Lautlosigkeit seines Schreitens sich erfreuend und daß er dem allen nun ein wenig entronnen war, der irgendwie gefährlichen Luft des Sprechzimmers, dem erbarmungslosen Blitzen der Instrumente, dem grellen Licht der Untersuchungslampe und den etwas traurigen Augen des Professors, die so ruhig in das verborgene Antlitz des Todes sahen, das allen verborgen schien und nur ihm sich enthüllte.
Er nahm eine seiner schweren türkischen Zigaretten, zögerte ein wenig, bevor er das Streichholz anrieb und zündete es dann lächelnd an. Der leise, fast nur zu ahnende Schmerz in der Kehle kam wieder mit den ersten Zügen, blieb, nahm Besitz und milderte sich zum Unvermeidlichen, kaum Bewußten, wie das Atmen oder der Schlag des Herzens.
»Larynx ...« sagte der Freiherr leise, »so ist es also ... wie Kaiser Friedrich ... ein dunkles Wort, voller Klage und Gefahr ... Syrinx, das kannte ich, es erinnerte an Syringen und war dunkel und süß wie nur der Flieder sein kann ... Margaretens Haar duftete danach, die ich die Amsel nannte, und es war ihr Duft, aus dem ich das Adagio schrieb im ersten Streichquartett ... ja, aber Larynx, das ist unheimlich, ein dunkles Holzinstrument, seltsam gebogen, mit silbernen Klappen, wie jene Instrumente dort oben in seinem Zimmer ... daraus werden wir kein Adagio schreiben ... höchstens eine Marcia funebre ...«
Er stützte sich ein wenig auf das Geländer und schloß die Augen. Eine Melodie trat aus weiter Ferne in seine Seele, vom Winde noch geweht, ein noch ungeflochtener Kranz, wie die Melodien immer in seine Seele traten. Und er lauschte ihr wie einem Regen Gottes, lautlos und regungslos. Aber der dunkle Bogen ihrer Wölbung ließ ihn erschauern, der Klang jenes dunklen Instrumentes, das eine blasse Hand zu seinem Tode zu spielen begann. »Drei Jahre ... also wird es die Hälfte sein ... nicht viel, mein Freund, wenn man den Kranz herabreißen wollte vom Stern der Ewigkeit ... aber gleichviel, wir wollen nicht vergessen, was wir uns schuldig sind.«