Die Galerie der Lügen oder der unachtsame Schläfer - Ralf Isau - E-Book

Die Galerie der Lügen oder der unachtsame Schläfer E-Book

Ralf Isau

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die Polizei steht vor einem Rätsel. Zahlreiche Attentate auf berühmte Kunstwerke und Anschläge in Museen lassen die Polizei im Dunklen tappen. Schließlich wird die junge Journalistin Alex Daniels in die Ermittlungen verstrickt und versucht ihrerseits, den Fall zu lösen. Mysteriöse Botschaften und verschlüsselte Codes in einem Kunstwerk bringen Alex schließlich auf die Spur des Täters und sie erkennt, dass sie weit mehr mit den Taten verbindet, als sie ahnte ...-

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Seitenzahl: 809

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Ralf Isau

Die Galerie der Lügen oder der unachtsame Schläfer

Roman

Saga

Die Galerie der Lügen oder der unachtsame Schläfer

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2005 im Ehrenwirth Verlag erschienen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright ©2005, 2023 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390405

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

»Darwins Theorie wird nun durch alles verfügbare sachdienliche Beweismaterial unterstützt, und ihre Wahrhaftigkeit wird von keinem ernst zu nehmenden modernen Biologen angezweifelt.«

Richard Dawkins

»Eine Theorie, zu der alle Fakten passen, ist mit ziemlicher Sicherheit falsch, da einige der vorliegenden Fakten mit Sicherheit falsch sind.«

Francis H. C. Crick

»Wer da nämlich erfindet, dem erscheinen die Erzeugnisse seiner Phantasie so notwendig und naturgegeben, dass er sie nicht für Gebilde des Denkens, sondern für gegebene Realitäten ansieht und angesehen wissen möchte.«

Albert Einstein

Gewidmet all den Mutigen,

die den Kreis des Schweigens

zu durchbrechen wagen.

Prolog

»Hermaphrodit

›[... mythologischer Sohn von Hermes und Aphrodite, welcher mit der Nymphe Salmacis in einem Körper vereint wurde] 1a: eine abnorme individuelle Besonderheit unter den höheren Wirbeltieren mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsorganen – auch Androgynie genannt ... 2: eine Kombination verschiedenartiger Elemente ...‹«

Webster’s Third New International Dictionary

PARIS (FRANKREICH), Sonntag, 9. September, 23.56 Uhr

Diese Nacht unterschied sich für Donatien Demis auf mancherlei Weise von den Tausenden davor. Gewöhnlich verwandelte sich das Museum in der Stunde des Zwielichts. Es verschmolz mit den Schatten, glitt übergangslos wie die Dämmerung selbst ins Land der Träume. Während der Puls von Paris außerhalb des alten Königspalastes weiterpochte, wurden hier drinnen aus Bildern Fenster, durch die man flüchtige Blicke in fantastische Reiche erhaschen konnte. Steinfiguren erwachten zum Leben. So zumindest empfand Demis die Zeit der Stille im Musée du Louvre.

Unter den Kollegen witzelte man über ihn, wenn er mit ernster Miene von seinen nächtlichen Eindrücken erzählte – dem koketten Blinzeln der Venus von Milo oder dem Hufgeklapper des Zentauren –, aber solche Spöttelei ließ ihn kalt. Seine Kollegen waren Ignoranten. Nette Ignoranten zwar, aber eben doch nur Männer, die zur Nachtschicht in das Museum kamen, um hier zu arbeiten. Demis diente dem Louvre, und das seit nunmehr fast dreißig Jahren. Er verdiente hier nicht einfach seine Brötchen, sondern er hütete die Schätze der Nation. Das Wort »Nachtwächter« hatte er von jeher als Verhöhnung seiner Berufung empfunden. Wozu die Nacht bewachen? Die würde schon niemand stehlen. Nein, er bewachte die unersetzlichen Kunstwerke des Louvre, des ehrwürdigsten Museums von Frankreich, wenn nicht des bedeutendsten der ganzen Welt.

An diesem Abend hetzte der untersetzte Mittfünfziger jedoch achtlos an den Kunstschätzen vorbei. Selbst das beharrliche Lächeln der Mona Lisa im ersten Stock hatte seine Stimmung nicht aufhellen können. So schnell er konnte, stapfte Demis die Treppe zum Erdgeschoss hinab. Jeder hastige Schritt pumpte Daten in den Computer der Überwachungszentrale. Das einundzwanzigste Jahrhundert sei gepriesen! Über den Zustand seiner Eingeweide wusste die schweineteure Technik nichts. Manchmal sehnte sich Demis nach der guten alten Zeit der Stechuhren, als ...

Sein Funkgerät knackte.

Er blieb abrupt stehen, fluchte leise, führte dann das Walkie-Talkie zum Mund und drückte die Sprechtaste. »Ja?«

»Was ist los, Donatien? Erst kommst du nicht vom Fleck, und jetzt sprintest du wie Hermes durch die Säle. Hast du heute Nacht noch eine Verabredung im Maxim?« Die Stimme von Jerrard Tonnelier, dem Schichtleiter, spritzte förmlich aus dem kleinen Lautsprecher.

»Die Pastete von Marie muss verdorben gewesen sein.«

»Soweit ich mich erinnere, hat du drei Pasteten gegessen. Wenn du den Ranzen nicht voll kriegen kannst, ist das noch lange kein Grund, die Hälfte der Kontrollpunkte auszulassen?«

»Ich mache mir gleich in die Hosen, Chef.«

»Im Haus gibt’s ungefähr eintausend Klos.«

»Und die Hälfte davon hab ich auch schon besucht. Aber davon gehen die Krämpfe nicht weg. So schlimm war’s noch nie. Ich brauche dringend meine Tropfen.«

Ein Moment der Stille trat ein, der nur vom leisen Rauschen des Sprechfunkgerätes und dem Rumoren der Eingeweide seines Trägers gestört wurde. Im Lautsprecher knackte es. »Na schön. Ich lass dich ablösen, Donatien, damit du deine Medizin nehmen kannst. Eigentlich melde ich mich, weil dein roter Marker gerade von unserem Überwachungsbildschirm verschwunden ist. Wo treibst du dich rum?«

»Im Treppenhaus. Komme gerade aus dem ersten Stock des Sully-Flügels nach unten.«

»Wo genau?«

»Aufgang I.«

»Das trifft sich gut. Warte im Saal 17 bei den Karyatiden. Rund um die Cour Carrée sind vorhin die Überwachungskameras ausgefallen. War nur ein Flackern, aber es kann nicht schaden, wenn du trotzdem mal nach dem Rechten siehst. Armand wird gleich bei dir sein und deine Runde übernehmen.«

»Aber bitte schnell, Chef!«

»Reiß dich zusammen, Mann. Wenn du da oben irgendeine Schweinerei anrichtest, dann bist du derjenige, der sie wieder aufwischt. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt? «

»Ja, Chef.«

Das Gespräch endete, wie es begonnen hatte: mit einem Knacken.

Der Nachtwächter stöhnte und machte sich wieder an den Abstieg. Jeder Schritt tat ihm weh. In seinem Gedärm schien ein wildes Tier eingesperrt zu sein, das knurrte und stieß und manchmal sogar biss. Normalerweise hatte er seinen Reizdarm gut im Griff, aber in dieser Nacht ...

Als Demis die letzten Stufen zum Erdgeschoss überwand, stockte er abermals. Die zweiflügelige Tür zur Salle des Caryatides stand offen, zweifellos wieder eine Schludrigkeit der Kollegen von der Tagschicht. Wie oft hatte er sich schon darüber beschwert! Das Licht vom Treppenhaus fiel auf den roten und weißen Marmorboden des Saals, der seinen Namen den vier weiblichen Säulenstatuen verdankte, die hier beim Nordeingang einen Balkon auf ihren Köpfen trugen. Die Halle selbst war stockfinster. Normalerweise brannte in den Ausstellungsräumen auch nachts immer eine »Sparflamme«, so nannte Demis das reduzierte, rote Servicelicht, das die Leuchten dicht über dem Boden verströmten. Es diente dem Schutz der kostbaren Gemälde, deren Farben so weniger schnell ausbleichten. Die Überwachungskameras, die um diese Zeit bestenfalls verwaschene Schemen zeigten, dienten hauptsächlich zur Abschreckung bei Tage für jene Museumsbesucher, die das Wort »Begreifen« ohne das Gefühl ständiger Überwachung leicht allzu wörtlich nahmen. Ohnehin war das Museum viel zu riesig und die Sicherheitstruppe bei weitem zu klein, um sämtliche Räume und Winkel einer ständigen Videoüberwachung zu unterziehen. Solange die Bewegungsmelder nicht ausgewählte Sektionen auf die Bildschirme schalteten, warteten die Kameras im Standby-Betrieb. So lange sie mit Elektrizität versorgt wurden.

Demis führte das Funkgerät zum Mund, um seine Beobachtung der Zentrale zu melden. Vielleicht war jetzt der Strom im ganzen Sully-Flügel ausgefallen.

Ehe er die Ruftaste drücken konnte, hörte er ein Geräusch. War das ein Flüstern gewesen? Er schloss die Augen und lauschte. Nichts. Völlige Stille – abgesehen vom Rumoren aus den Tiefen seines Verdauungstrakts. Demis schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte er sich geirrt. Jetzt ließ er sich schon vom eigenen Dickdarm narren.

Sekundenlang stand er auf der Treppe, das Walkie-Talkie vor dem Mund. Obwohl die Anweisungen für solche Fälle eindeutig waren, zauderte Demis. Er konnte sich noch lebhaft an seinen letzten Fehlalarm erinnern. Damals war das Flüstern aus der Etruskischen Abteilung gekommen. Ein Besucher hatte seinen eingeschalteten Walkman samt Kopfhörern unter einer Bank liegen lassen. Die Polizei war in Mannschaftswagen angerückt und Donatien von der Museumsleitung abgemahnt worden. Man hatte ihm einige denkwürdige Dinge zu verstehen gegeben. Er werde allmählich alt und neige offensichtlich zu Fehlern. Die moderne Überwachungstechnik kenne dagegen keine Ermüdungserscheinungen, keine Grippe, keinen Urlaub, sie organisiere sich nicht in Gewerkschaften und habe auch nie einen schlechten Tag. Abschließend hatte der Personalchef dem dienstältesten Nachtwächter des Museums von seiner Hochachtung für dessen langjährigen Dienst erzählt wie auch von der Unmöglichkeit, Frankreichs Nationalschätze einem Träumer anzuvertrauen. Ob M. Demis ihm denn versichern könne, dass es einen Vorfall wie den mit dem Walkman niemals wieder geben werde.

»Niemals wieder«, wiederholte Demis flüsternd die Worte des jungen Personalleiters. Wie in Zeitlupe ließ er die Hand mit dem Funkgerät sinken. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht, was nicht allein am Gerangel seiner Gedanken lag. Er legte die Hand auf seinen Unterleib und wartete, bis das schmerzhafte Ziehen wieder nachließ. Besser nicht unnötig die Pferde scheu machen, sagte er sich. Einen kurzen Blick in den Saal konnte er riskieren. Armand würde ohnehin gleich hier sein. Der junge Kollege war belastbar. Er hatte seinen ersten Fehlalarm noch vor sich.

Leise stieg Demis die letzten Stufen zum Erdgeschoss hinab. Dabei zog er seine Halogenlampe aus der Gürteltasche, ließ sie aber ausgeschaltet. Notfalls würde er sie als Keule benutzen können. Das Tragen von Waffen war laut Dienstvorschrift in den Ausstellungsräumen verboten, da solche mehr Schaden anrichten als nützen konnten.

Demis lugte um einen der beiden Türflügel herum in den lang gestreckten Saal, der sich ungefähr über die halbe Westseite des quadratischen Innenhofs erstreckte. Von den zahlreichen altrömischen Statuen – die meisten waren Kopien griechischer Vorbilder – konnte er nur die nahe gelegenen ausmachen. Hinter der Diana, die mit ihrem Hirsch allein auf der Mittelachse des Raumes stand, verschwamm alles in Dunkelheit. Das durch die Fensterfronten zu beiden Seiten des Saales eindringende Streulicht konnte die Schatten nicht fortspülen, aber es beflügelte die Fantasie des Nachtwächters.

Hatte sich der kleine Amor auf dem Rücken des Zentauren nicht eben bewegt? Demis hätte schwören können, aus den Augenwinkeln einen huschenden Schatten gesehen zu haben. Er brachte ein verkniffenes Lächeln zu Stande – vermutlich nur ein Vogel, der das von draußen hereinfallende Licht gekreuzt hatte. Demis trat durch die Tür und blieb zwischen den beiden inneren der vier Gewandfiguren stehen, die dem Balkon als Gebälkstütze dienten. Zu seiner Linken lag der Schlafende Hermaphrodit, eine antike Marmorplastik, die von den Museumsbesuchern gewöhnlich mit scheuer Neugier beäugt wurde. Kein Geringerer als Gianlorenzo Bernini, der begnadete Schöpfer der Kolonnaden des vatikanischen Petersplatzes, hatte das mythische Geschöpf auf eine opulente Matratze gebettet. Von hinten sah man den wohl gestalteten Körper einer Frau, die sich so geschickt in ein Laken verwickelt hatte, dass sie praktisch hüllenlos war. Die Überraschung stellte sich ein, sobald man um die Figur herumging, denn ihr Unterleib war in jeder Beziehung männlich.

Im Karyatidensaal herrschte völlige Stille. Der Nachtwächter trat zwei, drei Schritte weit unter dem Balkon hervor, etwa bis zu dem viereckigen Messinggitter, das ins rot-weiße Rautenmuster des Marmorbodens eingelassen war. Er schüttelte den Kopf. Was immer er gehört hatte, es war wohl wieder einmal eine Ausgeburt seiner überbordenden Fantasie gewesen.

Einmal mehr verkrampften sich seine Gedärme. Demis kniff die Augen zusammen und krümmte sich. Flach atmend wartete er auf das Nachlassen des Schmerzes. Als das Ziehen allmählich schwächer wurde, richtete er sich wieder auf. Das Beste wäre wohl, sich für den Rest der Nacht frei zu nehmen. Aber zuerst sollte er den Stromausfall melden. Es zu unterlassen könnte ihn bei seinen Vorgesetzten erneut in Misskredit bringen. Er hob das Walkie-Talkie.

Plötzlich spürte er, wie sein Handgelenk gepackt und wieder nach unten gedrückt wurde. Was darauf folgte, spielte sich in nur wenigen Sekunden ab.

Flüchtig gewahrte er neben sich eine vermummte Person mit schlanker Statur, die ihn um einen halben Kopf überragte. Sie schob ihr unter einer wollenen Skimaske verborgenes Gesicht dicht an das seine. Ihm stockte das Blut in den Adern, als er durch die Sehschlitze in ein Paar violetter Augen blickte. Sie strahlten förmlich in dem vom Treppenhaus hereinfallenden Licht, was jeden Zweifel über ihre ungewöhnliche Färbung von vornherein ausschloss. Ihr Leuchten war weder grün noch braun oder grau, nicht einmal rot, sondern von einem Ton, der zwischen Purpur und Veilchenblau lag. Der Rest des Einbrechers war schwarz.

»Du bist zu früh!«, zischte der Gauner in unüberhörbar englisch gefärbtem Französisch. Die Schrecksekunde reichte ihm, um Demis das Funkgerät zu entreißen und es gegen den Steinsockel des Schlafenden Hermaphroditen zu schleudern, wo es in seine Einzelteile zerbrach. Für einen Moment sah Demis am unteren Rand seines Gesichtskreises etwas aufblitzen. Eine Waffe? Schon schnellte die Linke des Vermummten an seine Kehle, krallte sich förmlich hinein, und gleichzeitig wurde ihm ein fester Gegenstand in die Rippen gedrückt. »Hände hoch! Wenn dir dein Leben lieb ist, dann mach keine Dummheiten.«

Der Nachtwächter gehorchte. Er hatte nicht die Absicht, den Mann zu provozieren. Zwar ließ der Kerl seinen Hals los, machte ansonsten aber immer noch einen gefährlich nervösen Eindruck. Offenbar war die legendäre Pünktlichkeit des Donatien Demis eine feste Größe in seiner Planung gewesen. Jetzt drohte der Bursche durchzudrehen. Nicht anders konnte man seine zischelnden Worte deuten.

»Musstest du alles durcheinander bringen? Bis eben war’s so gut gelaufen. Was jetzt passiert, hast du dir selbst zuzuschreiben.«

»Bleiben Sie ruhig«, sagte Demis in beschwörendem Ton. Er wusste, sein Kollege würde jeden Augenblick kommen, und hoffte inständig auf Armands Besonnenheit.

»Was bilden Sie sich denn ein, wie’s nun weitergeht? Denken Sie, ich stelle mich der Polizei?«

»Warum nicht? Ich werde sagen, Sie hätten mich anständig ...«

»Schnauze, alter Mann! Sie kapieren nicht das Geringste ...«

Aus dem Treppenhaus scholl ein Knacken.

»Was war das?«, fragte der Einbrecher.

»Ich habe nichts gehört«, log Demis und hoffte, Armand würde ihn hören. Aber anscheinend spielte der junge Kollege nur mit seinem Funkgerät. Das Geräusch schlurfender Schritte näherte sich.

»Da kommt doch jemand«, zischte der Einbrecher. »Sie haben Verstärkung angefordert.«

»Nein!«, beteuerte der Nachtwächter. Er glaubte in den violetten Augen des anderen den Wahnsinn funkeln zu sehen. Demis hatte nie eine Ausbildung in Selbstverteidigung genossen. Sein Gegenangriff war nichts als Überlebensinstinkt.

Mit einem Ruck stieß er die Rechte des Gegners von seinen Rippen weg, leider nicht heftig genug, um ihn gleich zu entwaffnen. Verblüfft erkannte Demis, dass der Gauner ihn nicht mit einer Pistole in Schach gehalten hatte, sondern ... mit dem Stiel eines Handspiegels?

Beide starrten einen Atemzug lang auf den ausgestreckten Arm mit dem nicht gerade üblichen Einbrecherutensil. Dann packte den Museumswärter die Wut. Ausgerechnet er, der erfahrenste Nachtwächter des Louvre, hatte sich von diesem frechen Burschen zum Narren halten lassen. So konfus, wie der Heißsporn war, musste er noch grün hinter den Ohren sein. Demis wollte wissen, wer ihn gefoppt hatte, wollte in das Gesicht dieses Bengels sehen. Ehe sein Gegenüber zur Besinnung kommen konnte, riss er ihm die Skimaske vom Kopf. Die schwarze Gestalt taumelte zwei Schritte zurück, und Demis erstarrte.

Der Einbrecher war eine Blondine, eine kühle Schönheit, in deren Gesicht sich jedoch wenig Liebreiz spiegelte. Ihre Züge waren irr verzerrt. Mehr noch als der Umstand, eine Frau vor sich zu haben, erschreckte den Nachtwächter allerdings ein anderes Phänomen: Die Haut der Diebin leuchtete in einem fluoreszierenden Grün!

Sie vergrub ihre Rechte samt Spiegel in der aufgesetzten Tasche am Hosenbein, was Demis als Zeichen der Kapitulation deutete. Er legte den Kopf zur Seite und rief über die Schulter: »Armand, komm schnell! Der alte Donatien hat einen Dieb gestellt und könnte deine Hilfe gebrauchen.«

Als die Hand der Blondine wieder aus der Tasche kam, wurde Demis klar, dass er die Situation verkannt hatte. Eine rote Leuchtdiode strahlte zwischen den Fingern hindurch. Die Diebin verzog den Mund zu einem Lächeln, aber ihre violetten Augen blieben ernst.

Ehe Armand unter den Karyatiden erschien, war sie mit zwei schnellen Schritten bei der niedrigen Metallabsperrung, die den Schlafenden Hermaphroditen umgab, ein weiterer brachte sie darüber hinweg. Und dann verwirrte sie den Nachtwächter noch einmal. Sie schwang sich auf die Bernini-Matratze und schmiegte sich – fast wie eine Liebende – von hinten an die nackte Sagenfigur.

Das Letzte, was Donatien Demis in seinem Leben sah, war der Blitz einer gewaltigen Detonation.

LONDON (ENGLAND), Montag, 17. September, 8.48 Uhr

Wenn Millionen rote Ziegelsteine mit einer kühnen Konstruktion aus Stahl und Glas in den Dialog traten, dann konnte einen das nicht kalt lassen. Gerade dieser Kontrast zwischen der sechzig Jahre alten Industriearchitektur und der neuzeitlichen Umgestaltung verlieh der Tate Modern ihre Faszination. Das ehemalige Elektrizitätswerk am Ufer der Themse war Heimstatt einer der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst, und das galt nicht nur für Großbritannien, sondern weltweit. Der viereckige gemauerte Schlot verlieh dem wuchtigen Backsteinbau etwas Monumentales, das sich drinnen in der fünfhundert Fuß langen, Schwindel erregend hohen Turbinenhalle fortsetzte. Peter Blueberry konnte sich keinen besseren Ort für seine Kollektion vorstellen.

Der Kustos des Museums war in mancherlei Beziehung mindestens so exzentrisch wie viele der ausgestellten Plastiken und Gemälde. Seinem gezwirbelten Schnurrbart verdankte er den Spitznamen B. D., was für British Dalí stand. Selbstverständlich umfasste die Sammlung des Museums auch Werke des spanischen Künstlers Salvador Dalí. Zu Blueberrys sonderlichem Gehabe passte die Eigenheit, vom »Krematorium« zu sprechen, wenn er die Tate Modern meinte – eine Anspielung auf den neunundneunzig Meter hohen Schornstein und die darunter befindliche überproportionale Anhäufung toter Meister.

Jeden Morgen, noch bevor um zehn die Besucher in die Galerie strömten, machte B. D. seine Runde durch die Ausstellungsräume. So hielt er es schon seit sechs Jahren. Immer noch verspürte er ein erregendes Prickeln, wenn er sich im Level 3 den Inner Worlds näherte. Der »Innenwelten«-Saal war den großen Surrealisten des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet: Max Ernst, René Magritte, Yves Tanguy und natürlich Salvador Dalí. Hier hingen materialisierte Träume an den Wänden. Bilder aus umgestülpten Seelen.

Blueberry widerstand dem Drang, schneller zu laufen, um endlich in seinen Lieblingsraum einzutauchen. Gemessenen Schrittes durchquerte er den »Natur-in-Aktion«-Saal. Den ausgestellten Kunstwerken schenkte er wenig Beachtung. Ihm ging es um den Gesamteindruck. Alles musste perfekt sein. Es gab einige Dinge, die er unausstehlich fand: defekte Lampen, Schmierereien aller Art, am Boden klebende Kaugummis – seinen scharfen Augen entging nichts, das den Kunstgenuss der Krematoriumsbesucher trüben konnte. Zufrieden durchschritt er das Portal zu den »Innenwelten«, warf Dalís Hummertelefon einen verklärten Blick zu und blieb wie angenagelt stehen.

Der Schläfer war weg.

Wie ein blindes Zyklopenauge starrte ihn der leere Rahmen an, in dem gestern noch Ledormeur téméraire geschlummert hatte, ›Der unachtsame Schläfer‹, eines der berühmtesten Gemälde des belgischen Surrealisten René Magritte.

Blueberry war fassungslos. Warum hatte es keinen Alarm gegeben? Sein Blick wanderte zum Boden. Unter dem Rahmen lag etwas, das dort nicht hingehörte. Staubig. Anscheinend achtlos fallen gelassen. Es sah aus wie ...

Der Kustos näherte sich benommen dem leeren Rahmen, um die merkwürdige Entdeckung genauer in Augenschein zu nehmen. Natürlich wusste er, dass die Spurensicherung der Polizei es als Todsünde betrachtete, wenn ein Unbeteiligter vor ihnen den Tatort betrat, aber seine Füße gehorchten nicht mehr dem Verstand. Wie in Trance folgten sie dem Drängen der Gefühle. Erschüttert starrte er wieder auf den Rahmen. In seiner Vorstellungskraft hing das verschwundene Bild noch da.

Hundertsechzehn Zentimeter hoch sowie einundachtzig breit, musste es auf die meisten Museumsgäste wie ein Rätsel wirken. Oben sah man eine zum Betrachter offene, hölzerne Kiste, in der eine Gestalt, den kahlen Kopf auf ein weißes Kissen gebettet, unter einer roten Decke schlief. Darunter öffnete sich ein dunkler, wolkiger Himmel. Der Weg in diese düstere Weite war jedoch von einer Tafel mit unregelmäßigen Umrissen versperrt, die an einen Grabstein erinnerte. Wie mit dem Meißel herausgearbeitet, hatte der Künstler darauf sechs kolorierte Symbole von Alltagsgegenständen verteilt: eine Kerze mit gelber Flamme, einen orangeroten Apfel, eine blaue Stoffschleife, eine graue Taube, einen schwarzen Bowler und einen goldgefassten Spiegel.

Blueberry hatte das Ölgemälde Besuchern oft als Paradebeispiel für den veristischen Surrealismus präsentiert, dessen Aussagen sich im Gegensatz zur symbolhaften Formensprache seiner abstrakten Variante eng an der Wirklichkeit orientierten. Die Einflüsse der modernen Tiefenpsychologie waren für die gesamte Kunstrichtung typisch, und gerade Der unachtsame Schläfer ließ erkennen, wie nahe auch René Magritte den Ideen von Sigmund Freud gestanden hatte. Seltsam, grübelte der Kustos, und sein Blick wanderte wieder zur verstaubten »Hinterlassenschaft« des Diebes, die zu seinen Füßen lag. Wieso musste er ausgerechnet in diesem Moment an Magrittes Faible für die Theorien Freuds denken? Sollte er nicht endlich Alarm schlagen?

Anstatt zum nächsten Telefon zu laufen, bückte sich Peter Blueberry, um den zurückgelassenen Gegenstand aus der Nähe zu betrachten. Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Als sei sie geradewegs aus dem Bild gefallen.«

Die Medien sollten seinen Eindruck später in alle Welt verbreiten, denn unter dem leeren Rahmen lag am Boden die rote Wolldecke des unachtsamen Schläfers.

WIEN (ÖSTERREICH), Montag, 24. September, 9.35 Uhr

Das Geklicke war künstlich. Nur Mimikry. So nannte man in der Fauna die Nachahmung der Gestalt oder Farbe eines gefürchteten Tieres zum Zwecke des eigenen Schutzes. Der harmlose Hornissenschwärmer verkleidete sich täuschend echt als Hornisse, um sich seine Feinde mit Gift, das er gar nicht hatte, vom Leibe zu halten. Menschen banden sich eine Rolex ums Handgelenk oder kleideten sich mit sündhaft teurer Designermode, um sich als Angehörige eines höheren Standes auszugeben. Auch eine Form der Mimikry. Und digitale Fotoapparate der Touristenklasse klickten eben, als seien sie teure Spiegelreflexkameras. In gewisser Hinsicht fühlte sich Direktor Hofrat Prof. Dr. Alois Stangerl selbst nicht ganz echt.

Das fing schon bei seinem Lächeln an, welches er der zwölfköpfigen Delegation aus dem Land des Lächelns zur Schau stellte. Als Leiter des Kunsthistorischen Museums Wien hätte er beim ersten Aufflackern des Blitzlichtgewitters eigentlich einen strengen Verweis aussprechen müssen. Die in den Ausstellungsräumen allgegenwärtigen Piktogramme sollten selbst für Japaner gut zu lesen sein: Fotografieren verboten! Die Botschaft war klar. Es wurde aber trotzdem fotografiert. Dabei schadete zu viel Licht den Gemälden. Zu wenig Geld allerdings auch.

Die Vertreter des japanischen Automobilriesen hatten großzügige Zuwendungen in Aussicht gestellt. Sollten aus den Absichtserklärungen echte Euro werden, dann stand dem Museum die größte Einzelspende seit seiner Fertigstellung im Jahre 1891 ins Haus. Mittel, die für die aufwändige Restaurierung einiger Werke dringend benötigt wurden. Als Gegenleistung würde die Gemäldegalerie zukünftig einen japanischen Beinamen tragen, was in der traditionsverhafteten österreichischen Hauptstadt schon im Vorfeld für einen Sturm der Entrüstung gesorgt hatte. Aber was sollte man tun? Das Kulturbudget des Staatshaushaltes schrumpfte von Jahr zu Jahr. Die Fördervereine konnten auch keine Wunder vollbringen. Kurzum, es gab Sachzwänge, die in der Generaldirektion des Kunsthistorischen Museums für ein mildes Klima gesorgt hatten, welches den potentiellen Geldgebern aus Fernost fast schon Narrenfreiheit bescherte.

Immerhin, die Gäste zeigten sich beeindruckt. Schon über die von der italienischen Renaissance inspirierte Pracht des Hauptgebäudes am Maria-Theresien-Platz waren sie fast aus dem Häuschen geraten, aber die darin ausgestellten, durch die Habsburger im Laufe von Jahrhunderten zusammengetragenen Kunstschätze begeisterten sie restlos. Obzwar sich der Direktor im Gehege von Regularien und Vorschriften am wohlsten fühlte, konnte man die asiatische Verzückung nicht ganz emotionslos verfolgen, schon gar nicht, wenn dieser Rauschzustand in einem Anfall von Freigebigkeit zu gipfeln drohte. Also verbuchte Hofrat Prof. Dr. Stangerl die Kamerablitze unter der Rubrik »höhere Gewalt«, machte gute Miene zum bösen Spiel und führte die Besucher zum nächsten Saal. Er selbst blieb am Durchgang stehen, um der fotografierwütigen Schar den Vortritt zu lassen – und eventuelle Nachzügler einzufangen. Abgesehen von der Gruppe war das riesige Museum praktisch leer, weil es montags für die Öffentlichkeit geschlossen blieb. Ein Umstand, den Stangerl sehr begrüßte, brauchte er sich so wenigstens nicht vor anderen zu blamieren. An diesem Morgen hatte er seinen unüberhörbar wienerischen Sprachapparat mit einem perfekten englischen Wortschatz bestückt. Um das Knarren der Parkettdielen und die angeregt tuschelnde Meute zu übertönen, musste er seine Stimme heben, als er, durchaus mit Herzblut, zu dozieren begann.

»Hier nun einige alte Meister, die den Ruf unseres Hauses als eines der weltweit führenden Kunstmuseen mitbegründet haben. Ich verweise insbesondere auf die Gemälde von Lukas Cranach dem Älteren. Darunter die Hirschjagd des Kurfürsten Friedrichs des Weisen von 1529, Judith mit dem Haupt des Holofernes, das etwa ein Jahr später entstand, und natürlich Das Paradies. Cranach nutzte hier die Möglichkeit, ungestraft von den gestrengen Sittenwächtern der Kirche, den unbedeckten menschlichen Körper zu erkunden – eine Verlockung, der im 15. und 16. Jahrhundert viele Künstler erlegen sind. Der Hofmaler des sächsischen Kurfürsten liebte Darstellungen des Sündenfalls. Eine andere, im Zweiten Weltkrieg verschollen geglaubte Umsetzung dieses Themas wurde übrigens erst vor zwölf Jahren bei einer Beutekunst-Ausstellung im Moskauer Puschkinmuseum wiederentdeckt. Unser Gemälde hier ist auf Lindenholz gemalt und stammt aus dem Jahr 1530. Wir sind besonders stolz auf das Werk, weil ...«

»Entschuldigen Sie bitte, Professor«, unterbrach den Direktor eine sanfte Stimme. Sie gehörte Dr. Haru Nakamura, dem japanischen Delegationsleiter und Vorsitzenden der Förderkommission. Der grauhaarige, kleine Mann hatte sich einen Weg durch die Gruppe gebahnt, nur um dem Dozenten ins Wort zu fallen. So jedenfalls wertete Stangerl das Manöver. Der Hofrat gab äußerst ungern die Rolle des Museumsführers. Was er aber wirklich hasste, waren Störungen während eines solchen Auftritts.

»Ja, Dr. Nakamura?«

Der Japaner deutete in die Gruppe seiner Landsleute, die sich darauf zu teilen begann wie einst das Rote Meer vor Moses. Höflich sagte er: »Bitte, Professor, meine Mitarbeiter und ich verstehen das nicht ganz. Es ist doch nur ein Apfel da.«

»Was?«, keuchte Stangerl. Er schob sich an dem Delegationsleiter vorbei in die Gasse, die man ihm zuvorkommend offen hielt, und nun erst sah er es mit eigenen Augen.

Das Paradies war verschwunden.

Gestohlen! Stangerls erster Gedanke kam nicht von ungefähr. Die Medienberichte vom Einbruch in der Tate Modern vor einer Woche hatten wohl jeden Museumsdirektor erschüttert. Und erst der Bombenanschlag auf den Louvre sieben Tage davor! Grauenhaft. Obwohl er sich dafür verfluchte — wer würde schon Geld in ein Museum pumpen, das sich auf so dreiste Weise bestehlen ließ –, konnte er beim Anblick des Gegenstandes auf dem Holzfußboden nicht ruhig bleiben. Menschenleben gingen vor. Seine Stimme zitterte, als er sich an den Delegationsleiter wandte.

»Dr. Nakamura, Ihre Leute müssen umgehend den Raum verlassen. Aber bitte geordnet!«

»Stimmt etwas nicht, Professor?« Offenbar hatte Nakamura noch nicht begriffen, was geschehen war. Leihgaben an andere Museen, Restaurierungsarbeiten – es gab viele Gründe, warum ein Bild in einer Ausstellung fehlen mochte.

»Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete der Direktor tonlos. Er wollte eine Panik unter den Besuchern vermeiden. Sein Blick lag auf der vom Dieb zurückgelassenen »Visitenkarte«. Anscheinend hatte ihre Form nur in ihm diese schreckliche Assoziationen heraufbeschworen.

Der rotgoldene Apfel am Boden sah aus wie eine Bombe.

»Alles in Ordnung?«, fragte Nakamura.

Stangerl lächelte. Es war nur Mimikry.

Kapitel 1

»Um manche Delikte zu begreifen, genügt es, die Opfer zu kennen.«

Oscar Wilde

OXFORD (ENGLAND), Dienstag, 25. September, 19.00 Uhr

Selten hatte ein Mensch so viele Widersprüche in sich vereint wie Alex Daniels. Allein das Erzählen ihrer Geschichte ist ein großes Wagnis, nicht nur für den, der sie niederschreibt. Daher gebietet die Fairness, auf die möglichen Auswirkungen der Lektüre hinzuweisen.

Es ist keinesfalls die Materie – Papier, Druckerschwärze, Kleister und Heftfäden –, von der die Gefahr ausgeht, obgleich im Allgemeinen die Übereinkunft herrscht, nur das Materielle sei wirklich und wahr. Dieses Buch beweist, so befremdend es klingen mag, das Gegenteil.

Seine Atome sind lediglich Vehikel. Sie halten die Worte fest, machen sie dem Leser zugänglich. Ebenso könnte die Erzählung auf einem Computerchip oder in den grauen Zellen eines Gedächtnisakrobaten gespeichert sein. Die Materie ist austauschbar, ohne Belang. Unsere Geschichte dagegen – ihre Bedeutung – ist immateriell. Geistig.

Nicht jeder will ein Buch lesen, das seine Gedanken zu ändern vermag. Dies ist daher ein guter Zeitpunkt, es zuzuschlagen und wieder ins Regal zurückzustellen. Sicher ist sicher.

Andererseits kann nur, wer sich weit ins Unbekannte hinauswagt, das Neue entdecken.

 

Die Wissenschaftsjournalistin Alex Daniels war also, um den Faden wieder aufzunehmen, ein Mensch der Gegensätze. Einige beschrieben sie als unnahbar, verletzlich, introvertiert, andere charakterisierten sie eher als angriffslustig, starrköpfig und exzentrisch. Für ihre mit spitzer Feder geschriebenen Artikel wurde sie gehasst und bewundert.

Je nach Lager deutete man ihren Namen auf unterschiedliche Weise: Alex, griechische Kurzform von Aléxandros, stand, frei übersetzt, für »Männerabwehrer«, aber auch für »Beschützer« und »Verteidiger«. Ihre Gegner – zumeist Angehörige des männlichen Geschlechts – bevorzugten das Bild der Amazone, hinter deren kühler Schönheit sich eine gefährliche Kämpferin für obskure Ideen verbarg. Doch es gab auch andere, die in ihr eine Verteidigerin der Wahrheit sahen. Diese Gleichgesinnten hatten ihrer »Stimme« Alex Daniels schon mehrmals Mäßigung ans Herz gelegt, um unnötige Schwierigkeiten zu vermeiden. Leider ohne nennenswerten Erfolg. Zu ihrem widersprüchlichen Naturell gehörte neben Gedankentiefe und einem brillanten Verstand auch die Vorstellung, das Universum aus den Angeln heben zu können – für eine Fünfundzwanzigjährige nichts Ungewöhnliches.

So unerbittlich Alex in der Sache sein konnte, so dünnhäutig war sie in persönlichen Angelegenheiten. Zwischenmenschliche Kontakte beschränkte sie auf ein Minimum. Wenn die Recherchen an einem Artikel Interviews erforderten, wickelte sie diese am liebsten über das Internet ab. Tausende von Meilen Glasfaserkabel zwischen sich und dem Gesprächspartner zu haben war für sie eine ungemein beruhigende Vorstellung. Unter der Rubrik »Albtraum« rangierten für sie dagegen öffentliche Auftritte. An diesem Dienstagabend hatte sie sich aber nicht um ein persönliches Erscheinen im Lady Margaret Hall College herumdrücken können.

Der Campus lag an der Nordseite der University Parks von Oxford. Alex war mit dem Zug aus London angereist und hatte sich von einem Taxi bis zur Porter’s Lodge, dem Haupteingang am Ende von Notham Gardens, fahren lassen. Jetzt saß sie in der ersten Reihe der mit einhundertdreißig Ehrengästen bis zum letzten Platz gefüllten Talbot Hall. Man hatte für das Ereignis einen würdigen Rahmen gewählt, aber Alex nahm die viktorianische Eleganz des holzgetäfelten Saales kaum wahr.

Bereits während des musikalischen Auftaktes durch das aus Studenten bestehende Kammerorchester litt sie unter Kopfschmerzen. Zu ihrem Unwohlsein trug überdies das Gefühl bei, von unsichtbaren Fingern betastet zu werden. Sie wusste, es waren nur die auf ihr ruhenden Blicke der Besucher, aber trotzdem empfand sie diese wie kalte Hände, die sich unter ihre Kleider schoben und über ihre Haut wanderten. Ihre Augen blieben die ganze Zeit starr auf das Rednerpult gerichtet. Inzwischen stand dort Professor Lambert und lächelte ihr aufmunternd zu. Verlegen sah sie nach unten. Auf dem Schoß hielt sie einen Zettel mit ihrem Namen. Die Platzreservierung. Vom Handschweiß war das Papier schon ganz wellig. Sie wünschte, der Abend wäre zu Ende, noch bevor er richtig begonnen hatte.

Es ging nicht etwa um einen Vortrag oder eine Podiumsdiskussion – eine Marter, die sie in seltenen Fällen freiwillig auf sich nahm –, sondern sie sollte in dem ehrwürdigen College, das zur University of Oxford gehörte, einen Preis überreicht bekommen. Die elfköpfige Jury der Society of Critical Scientists – der »Gesellschaft kritischer Wissenschaftler« – hatte Alex Daniels für den diesjährigen idea ausersehen, dem Intelligent Design Encouragement Award. Mit dem Preis wurden die Verfasser von Veröffentlichungen geehrt, welche zum vorurteilsfreien Umgang mit dem Konzept des Intelligent Design ermunterten. Im Gegensatz zu den Anhängern der Evolutionstheorie, die Darwins Idee von einer fortdauernden Höherentwicklung der Organismen als wissenschaftliche Tatsache hinstellten, suchten die Verfechter des »intelligenten Designs« nach Beweisen für eine schöpferische Intelligenz hinter der Komplexität allen Lebens.

Alex Daniels hatte seit ihrer Londoner Studienzeit etliche Artikel in einschlägigen Fachmagazinen, gelegentlich auch in der Tagespresse veröffentlicht, die zu einem kritischeren Umgang mit der Wissenschaft im Allgemeinen und den Darwinisten im Besonderen aufriefen. Obwohl sie immer wieder betonte, nicht wissenschaftsfeindlich zu sein, war die Zahl ihrer Gegner von Jahr zu Jahr größer geworden.

Den vorläufigen Höhepunkt der Anfeindungen hatte ebenjener Aufsatz in der Zeitschrift First Things provoziert, dem Alex ihren »Ermutigungspreis« verdankte. Die Vertreterin der in Oxford ansässigen Society of Critical Scientists betonte in ihrer Begrüßungsansprache den »Mut zur Wahrheit« der jungen Autorin. Eine Gazette nannte die kontrovers besprochene Abhandlung hingegen »ein Pamphlet konzentrierter Dummheit«. Alex hatte in ihrer Veröffentlichung den vorgeblichen experimentellen Nachweis der Entstehung von Leben aus einer Ursuppe als »Schwindel« entlarvt. Die Arbeit war so brisant, weil sie den Extrakt wochenlanger Briefwechsel mit angesehenen Biologen und Chemikern aus aller Welt bildete. In der Vergangenheit hatte man die von ihr vorgebrachten Argumente oft mit dem Hinweis auf ihre mangelnde Qualifikation vom Tisch gewischt: Eine Journalistin solle sich nicht erdreisten, mit Biologen von Weltrang über deren Forschungsergebnisse zu streiten. Diesmal hatte Alex ihre Hausaufgaben gemacht.

Sie räumte ein, dass es zwar Simulationen wie den berühmten Experimenten von Stanley Miller gelungen sei, neben großen Mengen von Verunreinigungen auch einige wichtige organische Verbindungen hervorzubringen, aber man habe diese sofort aus der Versuchsumgebung entfernen müssen, um sie vor dem Zerfall zu retten. Außerdem musste man die Hälfte der Aminosäuren aussortieren, weil sie »rechtsdrehend« waren, in irdischen Organismen treten sie jedoch nur in der L-Form, also »linksdrehend« oder »linkshändig« auf. So gereinigt und isoliert, seien mit den Molekülen Folgeexperimente zur Herstellung von dna -Grundbausteinen durchgeführt worden, und diese habe man medienwirksam als »Beweis für die Entstehung von Leben« präsentiert. Alex resümierte in ihrem Artikel, der geballte Einsatz von Know-how bei den Simulationen sei wohl eher ein Beweis für Intelligent Design als für die schöpferische Macht des Zufalls. Nach wie vor komme niemand um den Grundsatz herum, den Louis Pasteur mit den schlichten Worten formulierte: Omne vivum e vivo –»Alles Leben entsteht von Leben«.

Zuletzt fragte sie, warum die Vertreter einer angeblich bewiesenen Lehre nicht einfach einige der so zahlreich vorhandenen Fakten erläuterten, anstatt sich immer wieder betrügerischer Mittel zu bedienen, um ihren Ursprungshypothesen den Nimbus von Glaubwürdigkeit aufzusetzen. Sei es nicht endlich an der Zeit, die Vogelscheuche der Evolutionstheorie mit fundierten Tatsachen zu beleben, anstatt ihr falsche Pelze anzuziehen? Sollte der Piltdown-Mensch nicht als Warnung betrachtet werden, anstatt sich von ihm zu immer raffinierteren Fälschungen anspornen zu lassen?

Manchmal konnte Alex’ Rhetorik wie ein Rasiermesser sein – man bemerkte den Schnitt erst, wenn er schon durch die Haut gedrungen war. Aber diesmal hatte sie das schartige Breitschwert benutzt. Den so genannten Piltdown-Menschen in eine Reihe mit den Experimenten zur Synthese von Nukleotid-Bausteinen zu stellen provozierte einen Aufschrei im Lager der Neodarwinisten. Über dieses Ding – einst als Bindeglied zwischen dem Menschen und seinen Vorfahren gefeiert – breitete man am liebsten den Schleier des Schweigens.

Tatsächlich stellte der Schädel von Piltdown ein dunkles Kapitel der Ursprungsforschung dar. Nachdem er 1912 in der englischen Grafschaft Sussex entdeckt worden war, hatte das Britische Museum für Naturgeschichte vierzig Jahre lang viel Mühe darin investiert, eine gründliche Untersuchung des Funds durch die Skeptiker zu verhindern. Im Jahr 1953 ließ sich die Fälschung nicht länger vertuschen, und seitdem wurde der Piltdown-Fall auf Seiten der Evolutionsverfechter als bedauerliche Ausnahme und als Verirrung übereifriger Darwin-Jünger heruntergespielt. Durch Alex Daniels’ Bezugnahme auf die peinliche Angelegenheit war das Fass nun zum Überlaufen gekommen. Bei Nature, dem britischen Wissenschaftsmagazin schlechthin, stand sie seitdem auf dem Index. Selbst wenn sie dort mit einer Kreuzung aus Elefant und Giraffe in die Redaktion spaziert wäre, hätte man keinen ihrer Beiträge mehr gedruckt.

Alex versuchte sich wieder auf den Laudator zu konzentrieren. Die Lobrede wurde von Professor Jason C. Lambert gehalten. Er war es auch, der Alex dazu überredet hatte, sich zum Anlass der Preisverleihung in die Öffentlichkeit zu wagen. Lambert gehörte dem Leitungsgremium des benachbarten Green College an und hatte selbst einige viel beachtete Aufsätze veröffentlicht, die den Alleinerklärungsanspruch der Wissenschaft in Frage stellten. In seiner Lehranstalt kümmerte er sich um die seelsorgerische Betreuung der Studenten. Alex verdankte ihm, seit sie vor etwa fünf Jahren zum ersten Mal zu ihm Kontakt aufgenommen hatte, nicht nur Zuspruch, sondern auch wohlmeinende Kritik und manch wertvolles Argument. So hatte sie ihm seine Bitte nicht abschlagen können.

Im Anschluss an die Übergabe des mit dreitausend Pfund Sterling dotierten Preises musste Alex selbst ans Mikrofon. Artig wartete sie, bis der Applaus abgeebbt war.

»Mark Twain war der Überzeugung: ›Eine gute Rede hat einen guten Anfang und ein gutes Ende – und beide sollten möglichst dicht beieinander liegen.‹ Ich finde, er war ein kluger Mann, und will seinen Rat gerne beherzigen.« Mit diesen Worten, die ein spontanes Schmunzeln auf die Gesichter der Anwesenden zauberten, begann sie ihre Ansprache. Sie war geradezu vernarrt in solche Zitate, seit sie die menschliche Eigenart entdeckt hatte, einem großen, jedoch fernen Namen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als einer tiefsinnigen, aber allzu greifbaren Denkerin.

Nachdem sie die Länge von Professor Lamberts Laudatio als »optimal« gelobt hatte, bedankte sie sich für die »außergewöhnliche und völlig unerwartete Ehrung«. Ihre Stimme war nach Ansicht einiger warm und etwas rau, andere dagegen hielten sie für zu tief. Alex selbst hatte sie lange als fremd empfunden, als etwas, das nicht zu ihr passte. In Momenten wie diesen wurde dieses Gefühl übermächtig. Während ihrer kurzen Rede glaubte sie aus einhundertdreißig Augenpaaren angestarrt zu werden. Was verbarg sich hinter den lächelnden Masken dieser Leute? Ob sie sich fragten, was für eine Frau das ist, die schon beim Einlass in den Saal sämtliche Handys abschalten lässt? Nicht dass alle diese exzentrische Bitte ernst genommen hätten, denn Alex spürte immer noch mindestens vierzig funkende Mobiltelefone – vermutlich waren sie lediglich lautlos gestellt worden. Zu ihren stechenden Kopfschmerzen gesellte sich ein unangenehmes Schwindelgefühl.

Nervös suchte sie in ihrem Manuskript eine Abkürzung, um schneller zum Ende zu kommen. Ohne es zu merken, nestelte sie an den Trägern ihres schwarzen Kleides herum. War der Ausschnitt zu tief? Saß die Frisur? Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie in ihren kurzen, hellblonden Haaren herumzupfte. Als wenn das etwas nützen würde! Sagte man nicht, einen schönen Menschen könne nichts entstellen? Ihr analytischer Verstand präsentierte ihr sofort den logischen Umkehrschluss: Einen hässlichen vermochte gar nichts zu schmücken.

Nicht einmal violette Augen.

Sie hätte Kontaktlinsen tragen können, um diese Laune der Natur zu verbergen, tat es aber nicht, weil sie sich einbildete, so besser von ihren anderen Unzulänglichkeiten abzulenken. Manchmal dienten die Augen ihr auch als Waffe. Ein einziger Blick aus ihnen konnte viel Verwirrung stiften, vor allem bei Männern.

Mit dem ersten Satz von Joseph Haydns Symphonie Nr. 92, in einer eigens für das studentische Kammerorchester erstellten Bearbeitung, kam die Zeremonie zum Abschluss. Alex atmete auf. Jetzt noch ein wenig Smalltalk mit den Gratulanten und das Interview, dann konnte sie sich endlich wieder in ihr Londoner Refugium zurückziehen.

 

Die Glückwünsche dauerten noch länger als befürchtet. Alex hätte schwören können, einige Hände mehrfach geschüttelt zu haben. Sogar Autogramme musste sie geben. Sie lächelte, während ihre Kopfschmerzen Orkanstärke erreichten. Ihr war heiß. Ein Team des lokalen Fernsehsenders six tv filmte jeden Schweißtropfen. Sie kam sich vor wie die Barbara Cartland der id -Szene. Irgendwann – eine Ewigkeit schien vergangen zu sein – drängte sich Susan Winter durch die Menge.

»Hallo, Schatz. Was ist mit unserem Interview?«

Susan Winter war Redakteurin beim Daily Mirror, der wohl größten Boulevardzeitung der Insel. Sie kannten einander seit ihrem ersten Semester am Londoner Goldsmiths, als Susan eines Morgens zu spät in die Vorlesung geplatzt war, sich neben Alex in die letzte Reihe gesetzt und von da an wie eine Klette an ihr gehangen hatte. Einige Wochen danach gestand ihr Susan, sie sei unsterblich in sie verliebt. Alex war geschockt. Gar nicht so sehr das Angebot löste ihre Bestürzung aus als vielmehr die Bestätigung der eigenen, bis dahin erfolgreich verdrängten Gefühle.

Beinahe brüsk hatte sie die Avancen ihrer Verehrerin zurückgewiesen. Damit hielt sie den Normalzustand – ihr Einzelgängertum – für wiederhergestellt. Doch Susan überrumpelte sie einmal mehr mit ihrer schonungslosen Offenheit. Freimütig bekannte sie, nie irgendwelche lesbischen Beziehungen gepflegt oder auch nur in Erwägung gezogen zu haben. Ob sie nicht trotzdem Freundinnen sein könnten?

Die Ehrlichkeit verhalf Susan schließlich zum Sieg. Von den wenigen oberflächlichen Freundschaften, die Alex je zugelassen hatte, rangierte die quirlige Reporterin an Platz eins. Ungefähr zweimal im Jahr gingen sie zusammen essen, und vielleicht doppelt so häufig telefonierten sie miteinander. Zuletzt hatte Susan ihrer alten Kommilitonin per E-Mail die Zusage für ein Interview abgetrotzt. Weil sie direkt von einer Dienstreise nach Oxford kommen werde, sei es das Beste, sich mit dem Fotografen am Ort der Preisverleihung zu treffen und dort das offizielle Gespräch zu führen. Anschließend könne man gemeinsam mit dem Zug nach London zurückfahren und von alten Zeiten plaudern.

Endlich wurde es leerer im Saal. Auch das Kamerateam rückte ab. Nachdem sich Alex bei Professor Lambert für seine Laudatio bedankt und der Fotograf vom Mirror seine obligatorischen Fotos geschossen hatte, konnte sie sich endlich ganz ihrer Freundin widmen. Sie saßen am Rand der Bühne, an einem weiß gedeckten Tisch, auf dem eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß stand. Susans Miene war ernster, als es ein Wiedersehen nach Monaten erwarten ließ.

In Alex regte sich ein schlechtes Gewissen. Ihre Freundin hatte in den letzten Wochen zwei oder drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie waren wie viele weitere angehört und wieder vergessen worden. Inzwischen ging auf dem Gerät der Speicherplatz zur Neige. Das neue Projekt hatte Alex mit Haut und Haaren verschlungen.

»Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte sie reumütig.

Die Reporterin verzog die Mundwinkel zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. Sie hatte rotblondes Haar, ein rundes Gesicht voller Sommersprossen und, wie sie nicht oft genug betonen konnte, einige Pfunde zu viel auf den Rippen. Alex, eher der schlanke, drahtige Typ, bewunderte sie ob ihrer Weiblichkeit.

»Mit solchen Situationen konnte ich noch nie umgehen«, erklärte Susan.

»Du könntest sagen: ›Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung.‹ Würde sich auch gut in deinem Artikel machen.«

»Das ist nicht der Grund, warum ich mich so blöd anstelle. Es geht um den Autounfall.«

Das Wort ließ Alex erschauern. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunglück ums Leben gekommen. Seitdem hatte sie keine Angehörigen mehr. Sie war allein.

Susan musste die fragende Miene ihrer Freundin bemerkt haben, denn rasch fügte sie hinzu: »Bestimmt ist es nur ein dummer Zufall, aber die Ähnlichkeit ...« Sie breitete die Arme aus und schüttelte den Kopf.

»Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wovon du sprichst«, sagte Alex.

Die Reporterin wirkte erleichtert. »Im ersten Moment hatte ich gedacht, du seist gegen die Mauer gerast. Aber dann war da der andere Name. Kommt ja vor, dass einer die Papiere von jemand anderem in der Tasche hat. Ich rief bei dir an, aber du bist nicht ans Telefon gegangen ...«

»Susan«, unterbrach Alex die aufgeregte Freundin. »Ich verstehe kein Wort von dem, was du da redest.«

Ein brüchiges Lächeln erschien auf Susans Gesicht. »Entschuldige, aber ... du hast nicht zufällig eine Zwillingsschwester?«

»Ich habe überhaupt keine Geschwister.«

»Ja, aber ... schau selbst.« Susan hievte ihre ausgebeulte Umhängetasche aus schwarzem Kunststoff vom Boden hoch, stellte sie auf ihre Oberschenkel, kramte einige Sekunden darin herum und förderte schließlich eine zusammengefaltete Zeitungsseite zu Tage. Sie legte das Blatt vor Alex auf den Tisch. »Schreckliche Sache. Ist ungefähr drei Wochen her. Der Mirror hatte über den Unfall berichtet. War eine von den Storys, die er gerne bis zum letzten Blutstropfen ausschlachtet. Wundert mich, dass du nichts davon weißt.«

»Ich lese den Daily Mirror nicht. Schon vergessen?«

»Die Schmuddelpresse – ich weiß. Was glaubst du, warum ich sogar in meiner Freizeit an meinen Storys recherchiere und herumfeile? Irgendwann wird jemandem auffallen, dass Susan Winter was auf dem Kasten hat. Der Mirror ist nur eine Durchgangsstation.«

Alex nahm die Zeitungsseite vom Tisch und faltete sie auseinander. Als ihr Blick auf das Foto des Unfallopfers fiel, wurde sie kreidebleich.

Susan bemerkte die Reaktion. »Die Ähnlichkeit ist krass, nicht wahr? Ich hatte im ersten Moment echt geglaubt, das bist du. Ihr Name ist Terri Lovecraft. Ist mit ihrem Honda gegen einen der Pfeiler des Torhauses am Südeingang des Blackwall-Tunnels gerast. Du weißt schon, drüben in Ost-Greenwich. Die Zeugen sagen, der Wagen habe sofort Feuer gefangen. Ehe die Rettungskräfte eintrafen, war er total ausgebrannt. Man konnte nicht mal mehr erkennen, ob die Leiche Männlein oder Weiblein ist. Völlig verkohlt, die Ärmste. Soll ziemlich gestunken ha ...«

»Ist ja schon gut!«, fiel Alex der Reporterin ins Wort. Ihre Augen waren geschlossen. Sie rang sichtlich um ihre Fassung.

»Entschuldige, Schatz. Man kann wohl nicht längere Zeit für ein Skandalblatt arbeiten, ohne irgendwie abzustumpfen. Alles in Ordnung mit dir?«

Alex nickte. Mit flimmernden Lidern öffnete sie wieder die Augen und blickte erneut auf den Artikel in ihren Händen. Ein farbiges Foto zeigte das ausgebrannte Autowrack rechts von der Tunneleinfahrt. Um an den Leitplanken vorbei gegen einen der achteckigen Türme des Torhauses zu rasen, benötigte man schon eine gehörige Portion Pech. Oder Verzweiflung. Alex war schon oft durch diesen steinernen Bogen gefahren, unter der Themse hindurch, um drüben in Poplar an der East India Dock Road wieder ans Tageslicht zurückzukehren.

Sie betrachtete noch einmal das Bild der Toten und stellte sich vor, es wäre das ihrige. Dazu bedurfte es keines Fünkchens Fantasie. Wieder spürte sie den Schauer, der ihr schon beim ersten Mal über den Rücken gefahren war. Die Übereinstimmung war verblüffend. Ihr eigenes Passfoto hätte ihr nicht ähnlicher sehen können.

Es war eine überraschende Begegnung mit der unerforschten Seite ihres Ichs.

Vor Jahren – sie durchlitt gerade die Folter der Pubertät – war sie dahinter gekommen, dass ihre Eltern sie nur adoptiert hatten. Die Entdeckung war ein Schock gewesen, durch den sie sich noch weiter von dem Menschen entfremdet hatte, der ihr eigentlich am nächsten stand: Alex Daniels. Wer war sie wirklich? Wie lautete ihr wahrer Name? Gab es irgendwo Geschwister? Viele ihrer kindlichen Sehnsüchte hatten sich um den Wunsch nach einer Schwester oder einem Bruder gedreht. Wer waren ihre richtigen Eltern? Warum hatten sie ihr Kind fortgegeben? Etwa weil es nicht wie die anderen war? Weil ...?

»In das Gesicht einer perfekten Doppelgängerin zu blicken kann einen ziemlich zu schaffen machen, was?«

Alex spürte Susans Hand auf ihrem Arm und riss sich von dem Foto los. Sie nickte, brachte sogar ein wackeliges Lächeln zustande. »Das kannst du laut sagen. Wenigstens ist mir jetzt klar, warum du mich unbedingt sprechen wolltest. Entschuldige, dass ich dich nicht zurückgerufen habe.«

»Schon in Ordnung. Bin ich ja von dir gewohnt. Woran arbeitest du gerade?«

»An einem Buch.«

»Echt? Worum geht’s?«

»Um die Frage, ob unsere Gedanken tatsächlich frei sind. Seit ich mich mit der Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Evolution und des intelligenten Designs beschäftige, stoße ich immer wieder auf erstaunliche Beispiele menschlichen Verdrängungsvermögens.«

»Du meinst das Den-Wald-vor-Bäumen-nicht-sehen-Syndrom?«

»Ja. Du hältst es nicht für möglich, mit wie vielen Leuten ich gemailt habe, die allen Ernstes glauben, unsere Welt sei in sechs Vierundzwanzig-Stunden-Tagen erschaffen worden.«

»Du meinst die Kreationisten. Ich dachte, du seist auf ihrer Seite.«

Alex schüttelte den Kopf. »Mich konnte dieser Unsinn nie überzeugen. Aber deine Reaktion beweist, wie wirkungsvoll die Propaganda der Neodarwinisten ist. Sie benutzen gerne die haarsträubendsten Auswüchse des Kreationismus, um damit Vorurteile gegen sämtliche Gegner ihrer Lehre zu schüren. Dabei sind etliche Kritiker der Evolutionstheorie nicht mal religiös.«

»Verstehe. Na, mir ist es ziemlich egal, wer am Ende Recht behält.«

»Es tut mir weh, wenn meine beste Freundin so einen Schwachsinn redet. Solange nicht bewiesen ist, wie der blinde Uhrmacher namens Zufall all die komplexen Abläufe im Universum hat entstehen lassen, will ich mich auch keiner Philosophie anvertrauen, die das Überleben des Tüchtigsten zum alleinigen Prinzip erhebt. Wer ernsthaft daran glaubt, dass in der Natur nur der Stärkere vorankommt, wird schwerlich vernünftige Gründe dafür anführen können, warum diese Regel im menschlichen Miteinander nicht gelten soll. Ich meine, wir haben in den letzten beiden Jahrhunderten genug Auswüchse solchen Denkens erlebt. Deshalb schreibe ich das Buch.«

Die Reporterin grinste. »Hört, hört. Die Anwältin der vergessenen Geschöpfe Gottes hat gesprochen.«

»Ich meine es ernst, Susan.«

»Das weiß ich, Schatz. Deswegen sehen so viele in dir auch eine Gefahr, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen ...«

Laute Stimmen am Eingang des Saales ließen Susan verstummen. Die beiden Freundinnen blickten zur Tür.

Durch den Mittelgang zwischen den Stühlen näherte sich ein Hüne im Regenmantel. Der Mann war dunkelhäutig, um die fünfzig, hatte kurzes, krauses Haar und bewegte sich wie ein Boxer auf dem Weg zum Ring. Dicht hinter ihm folgten zwei uniformierte Polizisten. Der breitschultrige Schwarze blieb vor der Bühne stehen. Sein Schnauzbart und die dichten Augenbrauen verliehen ihm eine Aura von Gemütlichkeit, die allerdings durch den grimmigen Ausdruck in seinem Gesicht gründlich ruiniert wurde.

»Ms Alexandra Daniels?«, wandte er sich mit tiefem Bass an die Preisträgerin.

Die Angesprochene erhob sich und trat zum Rand des Podiums vor. »Da muss eine Verwechslung vorliegen. Mein Name ist Alex Daniels. Einfach nur Alex. Und wer sind Sie?«

Der Gefragte griff in die Brusttasche des Mantels, zog eine abgeschabte schwarze Brieftasche hervor und ließ sie unter Alex’ Augen aufklappen. Hinter einem Sichtfenster aus Plastik steckte ein Ausweis, auf dem ein Behördenname stand, der nichts Gutes verhieß: The National Crime Squad of England & Wales. »Ich bin Detective Superintendent Mortimer Longfellow. Die beiden Herren neben mir gehören der örtlichen Polizei an. Warten Sie ...« Seine prankenartige Hand senkte sich in die rechte Außentasche des Mantels und kam mit einem zerknitterten Schriftstück hervor. Er faltete es auf, warf einen Blick hinein und nickte. »Mein Fehler. Hier steht’s ja: Alex Daniels. Sie sind die Richtige.«

»Die Richtige wofür?«

»Um Sie festzunehmen.« Er streckte Alex den Haftbefehl entgegen.

Ihr Puls war schon beim Erscheinen der Polizisten auf Touren gekommen. Jetzt begann er zu rasen. Die »Nationale Kriminalpolizei von England und Wales«? Das war eine überregional arbeitende Behörde. Einer unbequemen Journalistin wie ihr mochte man Rufmord vorwerfen oder die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, aber nichts, was die ncs interessieren würde. Ihr Mund öffnete sich, brachte aber kein einziges Wort hervor.

»Das kann nur ein Missverständnis sein«, sprang Susan für sie in die Bresche. Sie musste gerade den gleichen Gedanken gehabt haben.

»Bitte mischen Sie sich da nicht ein, Miss ...«

»Susan Winter. Daily Mirror.« Sie zog ihren Presseausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Beamten ebenso demonstrativ unter die Nase, wie der zuvor seine Legitimation gezeigt hatte. Mit der freien Hand deutete sie auf Alex. »Wenn hier irgendeine Schweinerei passiert, weil diese Frau einigen Leuten auf die Zehen getreten ist, dann wird meine Zeitung schonungslos darüber berichten. Die ncs ermittelt doch bei organisierter Kriminalität und Kapitalverbrechen, aber nicht, wenn sich eine Publizistin mal im Ton vergreift. Oder weshalb soll sie verhaftet werden?«

»Kein Kommentar. Im Interesse von Ms Daniels möchte ich Sie bitten, die Angelegenheit nicht künstlich hochzuspielen. Wäre ich nicht auf dem Weg von London im Verkehr stecken geblieben, hätten wir die verdächtige Person ohnehin längst in Gewahrsam genommen.«

»Ms Daniels hat gerade einen Preis für ihre Zivilcourage bekommen, und Sie sprechen von ihr, als wäre sie eine Schwerverbrecherin«, erboste sich Susan.

Detective Longfellow wich dem bohrenden Blick der Reporterin aus und wandte sich wieder an die »verdächtige Person«. »Ich bin verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass Sie ein Recht auf einen Anwalt haben. Alles, was sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Bitte strecken Sie mir Ihre Arme entgegen.« Aus einer der Regenmanteltaschen wurde ein Paar Handschellen gezogen.

Alex trat auf dem Podium rasch einen Schritt zurück, um sich dem Kriminalbeamten zu entziehen. »Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich habe nichts verbrochen.«

Schneller als sie es gewahr werden konnte, zogen die beiden Polizeibeamten ihre Dienstwaffen hervor.

»Bitte, Ms Daniels, machen Sie keine Schwierigkeiten.«

Susan hielt sich zwar aus der Schusslinie fern, ließ aber ihrem Unmut freien Lauf. »Sie wollen doch nicht wirklich vor den Augen der Presse diese Frau erschießen.«

»Nur wenn sie uns keine andere Wahl lässt«, erwiderte Longfellow. Seine tiefe Stimme klang beherrscht, aber bedrohlich.

Alex schüttelte ungläubig den Kopf. Der martialische Aufmarsch der Polizei kam ihr immer noch wie ein böser Scherz vor. War es eine Drohkulisse, die ihre Gegner für sie aufgebaut hatten? »Wie lautet die Anklage, Superintendent?«

»Solange Sie nicht dem Haftrichter vorgeführt wurden, ist die Festnahme nur vorläufig.«

»Bitte verschonen Sie mich mit Ihren juristischen Haarspaltereien. Was wirft man mir vor?«

Longfellows Blick wanderte zu Susan.

»Ich habe keine Geheimnisse vor Ms Winter«, fügte Alex schnell hinzu und kam sich dabei wie eine Lügnerin vor. »Wir sind seit Jahren befreundet. Und nun sagen Sie mir endlich, was ich getan haben soll.«

Der Detective atmete so heftig aus, dass seine Nasenflügel sich wie Segel blähten. »Also gut. Wenn wir dadurch um die Schießerei herumkommen, soll es mir recht sein. Ihnen, Ms Alex Daniels, wird die Mittäterschaft am Einbruch in den Pariser Louvre zur Last gelegt, der sich am Sonntag, den 9. September zugetragen hat. Im Tatverlauf wurde ein Mann vom Sicherheitspersonal sowie einer Ihrer mutmaßlichen Komplizen durch eine Bombe getötet, die auch eine kostbare antike Steinfigur zerstört hat. Sind Sie jetzt zufrieden?«

Alex starrte den Polizeibeamten an, als sei er ein Geist. »Was soll ich getan haben?«

»Jetzt ist es genug, Ms Daniels. Treten Sie vor und lassen Sie sich die Handschellen anlegen, sonst zwingen Sie uns, Gewalt anzuwenden.«

»Ich bin unschuldig.«

»Darüber habe ich nicht zu befinden.«

»Aber ich arbeite seit einem Monat an einem Buch und habe meine Wohnung so gut wie nie verlassen.«

»Es genügt, wenn Sie am Tag der Tat in Paris gewesen sind, und daran besteht kein Zweifel, weil ...« Longfellow klappte mitten im Satz den Mund zu. Offenbar hatte er schon mehr gesagt, als ihm erlaubt war.

»Weil ...?«, echote Susan.

»Nicht jetzt«, beschied der Beamte. »Und nicht hier.«

Alex kam sich vor wie in einem Albtraum und fragte sich, warum sie nicht endlich aufwachte. »Wieso sind Sie von meiner ›Mittäterschaft‹ so überzeugt, Superintendent?«, bohrte sie weiter. »Sprechen Sie es ruhig aus. Wenn Ihre Beweise auf Tatsachen beruhen, sagen Sie mir ohnehin nichts Neues.«

»Na schön«, schnaubte Longfellow. »Anscheinend wollen Sie ’s so richtig auskosten, was? Glauben Sie mir, Ms Daniels, Sie wären nicht die Erste, die einen Mord begeht, um ein bisschen Aufmerksamkeit zu erheischen. Vielleicht täusche ich mich auch im Hinblick auf Ihre Motive. An Ihrer Schuld wird das letztlich nichts ändern. Die Indizien sprechen gegen Sie.«

»Was für Indizien? Ich bin seit mindestens zwei Jahren nicht mehr in Paris gewesen.«

Longfellows Gesicht blieb unbewegt. »Eine ziemlich schwache Verteidigung, Ms Daniels. Wir können beweisen, dass Sie vor drei Wochen sogar den Louvre besucht haben, und zwar nicht,um sich die Mona Lisa anzuschauen. Die Apparatur zum Einspeisen eines Fremdsignals in das Videoüberwachungssystem des Museums wurde in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich gefunden.«

»Was für eine Apparatur?«

Der Detective breitete die Hände aus. »Na die, auf der man Ihre Fingerabdrücke sichergestellt hat.«

Kapitel 2

»Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen.«

Albert Einstein

ÜBER ÖSTERREICH, Dienstag, 25. September, 13.05 Uhr

Selbst durch das schlierige Fenster eines Airbusses wirkten die schneebedeckten Gipfel der Alpen noch majestätisch. Darwin Shaw sah auf seine Armbanduhr. Der Kapitän hatte gesagt, die Maschine würde pünktlich in Wien landen. In fünfundzwanzig Minuten also. Genug Zeit, um im Kopf noch einmal alles durchzugehen. Er hatte eine Menge Fragen an den werten Hofrat Professor Dr. Alois Stangerl. Darwin schüttelte den Kopf und musste unweigerlich schmunzeln. Der Titelfetischismus der Österreicher belustigte ihn. Fast so sehr wie der britische.

Das Gefühl der Heiterkeit verflüchtigte sich ebenso schnell, wie es gekommen war. Er befand sich nicht auf einer Vergnügungsreise. Wenn er morgen Abend nach London zurückflog, dann brauchte er mehr als Seifenblasen im Gepäck. Drei ungelöste Fälle waren für seinen Schreibtisch mindestens zwei zu viel.

Es machte ihm nichts aus, Tag und Nacht unter Strom zu stehen. Gegen den Druck in der Army war der Job bei ArtCare bisher eine Entspannungsübung gewesen. Aber jetzt drohte die Sache aus dem Ruder zu laufen. Wenn im Wochentakt neue Museumseinbrüche hinzukamen und der Ruf nach Ergebnissen im Direktorium immer lauter wurde, obwohl die Faktenlage mehr als lückenhaft war, dann roch das verdammt nach einem weiteren Karriereknick.

Darwin Matthew Shaw hatte den Rauswurf bei der Royal Military Police noch nicht ganz verkraftet.

Er war als junger Bursche direkt von der Schule in die Armee Ihrer Majestät gewechselt, hatte eine Ausbildung in der Royal Army School of Mechanical Transport genossen und gerade seinen Ingenieur gemacht, als man sein investigatives Talent entdeckte und ihm vorschlug, zur Militärpolizei zu gehen. Er sagte ja und wurde in Rekordzeit zum Corporal befördert. Kaum zwei Jahre später fragte ihn sein Vorgesetzter, ob er sich eine Zukunft im Special Investigation Branch vorstellen könne. Der sib beschäftigte sich nicht nur mit Schwerverbrechen, sondern auch mit den heiklen Fällen, die besonderes Fingerspitzengefühl benötigten. Wieder hatte Darwin seine Chance genutzt. Im sib stieg er schnell zum Warrant Officer auf. Als er mit zweiunddreißig Provost Marshal, also Kommandeur, geworden war, wurde ihm ein besonders sensibler Fall übertragen.

Und der brach ihm das Genick.

Darwin hatte einen im dritten Golfkrieg hoch dekorierten Offizier einer Reihe besonders schmutziger Verbrechen überführt. Wäre die Angelegenheit an die Öffentlichkeit gekommen, hätte die Royal Army nicht nur einen herben Imageverlust einstecken müssen, sondern sich auch mit horrenden Schadensersatzforderungen konfrontiert gesehen. Die Sache lief darauf hinaus, dass der General ehrenhaft entlassen und Shaw vom Dienst suspendiert wurde. Man gestattete ihm jedoch, »freiwillig« aus der Armee auszutreten. Der Preis war sein Stillschweigen gewesen.

Bei ArtCare hatte man den erfahrenen Ermittler mit Kusshand genommen. Im Vergleich zu den Dinosauriern der Versicherungsbranche war das zum MacKane-Konzern gehörende Unternehmen ein Newcomer. Nichtsdestotrotz hatte es sich unter der Leitung von Dr. Martin Cadwell im Revier der Platzhirsche behaupten können. Sein Rezept klang wie die Quadratur des Kreises: aggressive Preispolitik, Anheuerung von Spitzenkräften und Konzentration aufs Kerngeschäft, das er bei jeder Gelegenheit mit einfachen Worten umriss:

»Wir versichern die kostbarsten Ausstellungsstücke der wichtigsten Museen und Galerien auf diesem Planeten.«

»Was haben Sie gesagt?«

Darwin blinzelte. Hatte er gerade das Kredo seines Chefs vor sich hin gemurmelt, ohne es zu merken? Er wandte sich nach links und blickte in das Gesicht der hübschen Brünetten, die den undankbaren Mittelplatz abbekommen hatte. Ihr Arm drückte warm gegen den seinen. Er verzog das Gesicht. »Nichts. Ich habe nur laut nachgedacht. Bitte entschuldigen Sie.«

Sie lächelte, und ihre dunklen Augen wanderten dabei über sein Gesicht. »Kein Problem. Fliegen Sie geschäftlich nach Wien?«

»Ja.« Flirtet sie mit dir? Darwin empfand seine Wirkung auf Frauen manchmal als lästig, weil er Oberflächlichkeit nicht ausstehen konnte. Eine Freundin – sie war Kunststudentin – hatte einmal geschwärmt, er habe das typische Gesicht eines antiken Helden. Wenn er morgens in den Spiegel blickte, sah er etwas anderes. Das runde Kinn, die markanten Kiefer- und Backenknochen, die zwar gerade, aber ein wenig zu flache Nase und die nach seinem Geschmack etwas zu tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen – war das wirklich der Adonis, den das weibliche Geschlecht unwiderstehlich fand? Immerhin hatte das knallharte Trainingsprogramm bei der Royal Army seinen Körper in eine athletische Form getrimmt. Leider ließen ihm der Büroalltag und die vielen Dienstreisen oft wenig Zeit, um seinen Waschbrettbauch im Fitnessstudio zu konservieren. Aber im Designeranzug machte er mit seinen sechs Fuß und einem Zoll nach wie vor eine akzeptable Figur. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar trug er jetzt länger als früher, wenngleich es immer noch kürzer als ein Streichholz war und so aufrecht stand, wie er sich selbst kerzengerade zu halten wusste – äußerliche Reminiszenzen an den Dienst in der Royal Army.

Weil er mit seinen Gedanken allein sein wollte, widerstand Darwin der Versuchung, sich auf ein Wortgeplänkel einzulassen. Er riss die Zeitung aus der Tasche am Vordersitz und versenkte den Blick darin.

Der warme Ellbogen zog sich zurück. Die Botschaft war angekommen.

Um nicht am Ende doch in ein Gespräch verwickelt zu werden, vertiefte sich Darwin tatsächlich in die Times. Seine Aufmerksamkeit wurde bald von einer fast reißerisch klingenden Überschrift angezogen. Als er die Einleitung überflog, spürte er einen Sog, dem er nicht mehr entkam. Er musste den ganzen Artikel lesen.

TURBOLADER FÜR DIE EVOLUTION

London – (ps) Die Debatte um die ethischen Aspekte der humangenetischen Forschung ist neu entbrannt. In welchem Umfang sollen Embryonen für die Forschung verwendet werden? Darf die Wissenschaft das Erbmaterial des Menschen gezielt verändern, um der Evolution auf die Sprünge zu helfen? Ist es ethisch vertretbar, Menschen nicht nur zu therapeutischen Zwecken zu klonen, sondern auch zur Reproduktion ganzer Individuen? Spricht etwas dagegen, Designerbabys im Internet zu bestellen? Zu diesem Fragenkomplex sollen am 30. Oktober die Weichen neu gestellt werden, wenn das britische Unterhaus über ein weit reichendes Gesetz abstimmt.

Seit dem Jahrtausendwechsel weht ein frischer Wind durch die Parlamentsgebäude an der Themse. Als das Unterhaus am 19. Dezember 2000 das zehn Jahre zuvor verabschiedete Gesetz zur künstlichen Befruchtung reformierte, ging ein Aufschrei durch Europa. Immerhin stimmten damals noch 174 britische Abgeordnete gegen den wegweisenden Entwurf, 366 waren dafür. Einige Wochen später legitimierten die Volksvertreter das so genannte »therapeutische Klonen«. »Darunter versteht man ein Verfahren, bei dem im Reagenzglas (in vitro) der Zellkern einer menschlichen Eizelle durch den einer anderen Person ersetzt wird«, erklärte uns Prof. Charles Tyrrell, Leiter des in Cambridge ansässigen Humangenetischen Instituts huge . Anschließend werde die Eizelle elektrisch stimuliert und beginne sich zu teilen. Es entsteht ein Zellhaufen, aus dem sich embryonale Stammzellen gewinnen lassen. Diese können dem Spender des Zellkerns zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden, um sich in dessen Körper zu gesunden spezialisierten Zellen zu entwickeln.

Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt erteilte die Human Fertilisation and Embryology Authority (hfea