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In zahlreichen Fallgeschichten aus der Praxis und mit Therapie-übergreifenden Reflexionen nähert sich der Autor dem Phänomen der individuellen Kränkbarkeit – ohne Diagnosemacht und vorschnelle Verallgemeinerung. Die häufigste Ursache von zwischenmenschlichen Problemen liegt in unserer Kränkbarkeit. Heute sprechen wir so gerne wie undifferenziert von narzisstischer Kränkung, wenn wir uns in unserem Ehrgefühl, Stolz oder einfach in unserem Innersten getroffen fühlen. Wolfgang Schmidbauer lotet in diesem Buch die Tiefe und Weite seelischer Verletzbarkeit aus, ohne vorschnell Diagnosen zu verteilen. Er berichtet von seinen Patienten, die als Einzelne oder Paare seine Praxis aufsuchen, weil sie – nicht selten – an einer Kränkungsgeschichte leiden. Das Buch löst eher Suchbewegungen aus, als handfeste Thesen in den Raum zu stellen: Ist erhöhte Verletzlichbarkeit vererblich? Wo verläuft die Grenze zwischen Egoismus und Narzissmus? Was hat der Selbstwert mit Kränkbarkeit zu tun? Wer den Suchbewegungen des Autors folgt, wird sowohl Patienten als auch sich selbst in seiner individuellen Kränkbarkeit besser verstehen.
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Seitenzahl: 337
Wolfgang Schmidbauer
Die Geheimnisse der Kränkung und das Rätsel des Narzissmus
Seelische Verletzbarkeit in der Psychotherapie
Zu diesem Buch
Die häufigste Ursache von zwischenmenschlichen Problemen liegt in unserer Kränkbarkeit. Heute sprechen wir so gerne wie undifferenziert von narzisstischer Kränkung, wenn wir uns in unserem Ehrgefühl, Stolz oder einfach in unserem Innersten getroffen fühlen. Wolfgang Schmidbauer lotet in diesem Buch die Tiefe und Weite seelischer Verletzbarkeit aus, ohne vorschnell Diagnosen zu verteilen. Er berichtet von seinen Patienten, die als Einzelne oder Paare seine Praxis aufsuchen, weil sie – nicht selten – an einer Kränkungsgeschichte leiden. Das Buch löst eher Suchbewegungen aus, als handfeste Thesen in den Raum zu stellen: Ist erhöhte Verletzlichbarkeit vererblich? Wo verläuft die Grenze zwischen Egoismus und Narzissmus? Was hat der Selbstwert mit Kränkbarkeit zu tun? Wer den Suchbewegungen des Autors folgt, wird sowohl Patienten als auch sich selbst in seiner individuellen Kränkbarkeit besser verstehen.
Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.
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Leben Lernen 303
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89230-7
E-Book: ISBN 978-3-608-11085-2
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20391-2
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Einleitung
Was ist eine narzisstische Störung und wer benennt sie?
Kulturwissenschaft und Fragebogenforschung
Kapitel 1
Das Geheimnis des verschleierten Bildes
Die Bindung
Die kalte Grandiosität
Geschlechtsunterschiede
Warum Männer ihre Würde verlieren
Ohne Freude, ohne Bindung
Kapitel 2
Das Geheimnis der unterschiedlichen Kränkbarkeit
Ist Kränkbarkeit »erblich«?
Seelische Vererbung
Kapitel 3
Das Rätsel der Suche nach Unlust
Kapitel 4
Das Rätsel der Rachsucht
Angst und Terrorismus
Kapitel 5
Ein Modell des Selbstgefühls
Das Übergangsobjekt als Stütze des Selbstgefühls
Das Rätsel einer Geschichtsfälschung
Kapitel 6
Das Rätsel der Frau, die nicht essen konnte
Der gehemmte Mann
Kosmos und Chaos
Die Krise
Der zudringliche Triebvertreter
Schluss
Kapitel 7
Das Rätsel der Grenze zwischen Egoismus und Narzissmus
Das Geheimnis der dicken Tochter
Das Geheimnis des Asra
Das Rätsel des Kuckuckskindes
Kapitel 8
Das Geheimnis der Todespartnerschaft
Das Geheimnis des geteilten Todes
Der Mann, der zu Hause nicht lesen konnte
Kapitel 9
Das Rätsel der Undankbarkeit
Phantomschmerzen
Der M-Fehler in interkulturellen Beziehungen
Kapitel 10
Das Rätsel der Blutsbrüder
Blutsbrüder
Tagtraumpartner
Kapitel 11
Das Geheimnis der Inkompetenz-Kompetenz
Unklarheiten dulden
Kapitel 12
Das Rätsel der Paarbindung
Das Rätsel der Kränkung durch die Differenz
Drohung und Spaltung
Eine Zeit für die Angst, eine Zeit für die Liebe
Die Übermacht des Sexualpartners
Kapitel 13
Das Rätsel der paradoxen Gegengabe
Die Panik der ungeliebten Tochter
Die Tochter des Trinkers
Kapitel 14
Der Narzissmus und das Bild
Das Bild des Partners und die Angst zu sprechen
Schluss
Literatur
Sie haben mich gequälet
Geärgert blau und blaß
Die einen mit ihrer Liebe,
Die andern mit ihrem Haß.
Sie haben das Brot mir vergiftet
Sie gossen mir Gift ins Glas
Die einen mit ihrer Liebe,
Die andern mit ihrem Haß.
Doch sie, die mich am meisten
Gequält, geärgert, betrübt,
Die hat mich nie gehasset
Und hat mich nie geliebt.
Heinrich Heine, »Lyrisches Intermezzo«1
In diesem Buch soll die Spur eines Alltagsgeschehens aufgenommen und zurückverfolgt werden. Dieses Geschehen ist die menschliche Kränkbarkeit. Sie ist ebenso rätselhaft wie verbreitet, die Quelle der meisten Probleme in unseren emotionalen ebenso wie in den angeblich »sachlichen« Beziehungen. Das Geheimnis der Kränkungsreaktion liegt nicht zuletzt darin, dass wir bei Tieren Vergleichbares nicht finden. Wesentliche Elemente der Kränkung sind Angst und Schmerz, die wir auch im Verhalten anderer Warmblüter zu beobachten glauben. Nachhaltig beleidigt und rachsüchtig sind aber nur Menschen; aus diesem Grund – wir werden das genauer untersuchen – ziehen oft verletzte Menschen die Gesellschaft von Tieren der menschlichen vor, finden viele von uns in der Begegnung mit nicht in dieser Weise kränkbaren (und kränkenden) Organismen so viel Ruhe und Geborgenheit.
Beim Menschen tritt zu Angst und Schmerz etwas wie Nachhaltigkeit, um das Bild der Kränkung zu schaffen. Angst und Schmerz unterscheiden sich darin, dass wir zwar beide meiden wollen, uns das aber bei der Angst besser gelingt, zumindest in den guten Fällen – wir fliehen, und wenn die Flucht gelingt, ist es wieder gut. Der Schmerz hingegen steckt in uns wie ein Dorn, und am schlimmsten ist es, wenn wir seine Ursache nicht einmal sehen und entfernen können. Daher ist es doch auch eines der ältesten Rituale, unsichtbare Schmerzen sichtbar zu machen: der Schamane produziert ein blutiges Etwas, das er aus dem Körper zieht; die Borderline-Kranke legt sich eine glühende Münze auf den Arm, um die unsichtbare, unerträgliche Angstspannung in ein Etwas zu verwandeln, das heilen kann.
Die Unsichtbarkeit der Verletzung verbindet die Kränkung mit der Angst, das Haften am Selbstgefühl mit dem Schmerz; dazu kommt als spezifisch soziale Komponente die Scham. Die Kränkung ist »nicht in Ordnung«, sie akzentuiert den Betroffenen negativ. Wenn sie ihm geschehen ist und anderen nicht, was hat er falsch gemacht? Wie viel an Ansehen von außen, an Zuversicht innen hat er verloren, was kann er tun, um den Schaden gutzumachen?
In der Moderne wird das, was in einer Kränkung verletzt wird, oft nicht mehr als Stolz oder Ehre beschrieben, sondern als Narzissmus. Das belegt die psychologische Durchtränkung der Gesellschaft, auch wenn der Narzissmus-Begriff kaum weniger vieldeutig und schwer zu fassen ist als »Stolz« oder »Ehre«. Er hat aber eine neuartige Qualität, und diese ist es wohl auch, die dazu führt, die traditionellen Begriffe als altertümlich zu erleben. Stolz und Ehre sind stark von kollektiven Normen geprägt, während Narzissmus von Anfang an eine höchst persönliche Angelegenheit ist.
In der traditionellen Kultur ist die Ehre vor allem eine Frage der Familie und der sozialen Schicht. Den bäuerlichen Grobian lässt der Edelmann von seinen Domestiken verprügeln und hinauswerfen; den adeligen Grobian muss er zum Duell fordern, oder er verliert an »Ehre«. Ein Ritter, ein Caballero oder Cavalier geht nicht zu Fuß; der Handwerksbursche hingegen setzt seinen Stolz in seine Wanderschaft. Der Narzissmusbegriff ist zugleich allgemeiner und persönlicher als Stolz und Ehre. Schon immer haben wir vermutlich schönen Menschen, die ihre Attraktivität nicht verbergen, auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt, haben über gute Witze gelacht und geschickten Tänzern lieber zugesehen als plumpen.
Wir finden es »normal«, wenn sich Menschen zur Geltung bringen, wenn sie zeigen, was sie sind, was sie haben, was sie können. Dennoch hat diese Situation ihre Komplikationen. Sobald wir unter die Oberfläche dringen, wird deutlich, dass die Antwort auf die Frage, was gesunde Suche nach Bewunderung, was narzisstische Störung ist, nicht exakt beantwortet werden kann. Thomas Mann hat in seiner Studie über eine »Schwere Stunde« Friedrich von Schillers diese Unsicherheit zum Leuchten gebracht: »Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talents und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß.«2
Ob ein Mensch, der sich zur Geltung bringt, bewundert wird oder als aufgeblasener Schnösel, eitler Geck oder berechnender Schönling gilt, das liegt ebenso im Auge des Betrachters wie in der Darbietung des Betrachteten. Beide reagieren auf kulturelle Werte und den gruppendynamischen Kontext. Wer neben einem überladenen Büfett steht und inmitten anderer Esser genussvoll eine große Portion Schinken im Brotteig verspeist, ist ein liebenswerter Gast; tut er dasselbe zwischen ausgemergelten Menschen in einem Flüchtlingslager, ist er ein herzloser Egoist.
In der psychoanalytischen Selbstpsychologie gilt die narzisstische Störung als Bindung an Größenvorstellungen und primitive Liebesansprüche. Sie formt sich unter ungünstigen Entwicklungsbedingungen der Psyche, kann nachreifen und ist durch eine Behandlung korrigierbar.
In einer populären Nomenklatur, ebenso auch in vielen Kriminalromanen steht die »psychopathische« oder »soziopathische« Seite der narzisstischen Störung im Vordergrund. Die Autoren versuchen ihre Leser zu überzeugen, dass »maligne Narzissten« eitel, gewissenlos, uneinsichtig und gefährlich sind. Sie sehen nur sich selbst, entfalten großes manipulatives Geschick, wollen andere beherrschen und ausnützen.
Unter dem Begriff des »Narzissten« und der »narzisstischen Persönlichkeitsstörung« wird heute manches diskutiert, was die Psychiater früher als »Psychopathen« dem »Neurotiker« gegenüberstellten. Der Neurotiker sieht ein, dass er seelische Probleme hat, und kann einen Pakt mit dem Therapeuten schließen, diese gemeinsam anzugehen. Dem Psychopathen fehlt diese Einsicht in seine Störung; daher der prophetische Satz des Psychiaters Ernst Kretschmer in einer Vorlesung aus dem Jahr 1919, als Mussolini und Hitler noch ganz unbekannt waren. »In ruhigen Zeiten diagnostizieren wir sie (die Psychopathen, W. S.); in unruhigen regieren sie uns.«
Die von Größenphantasien und Spaltungen der Welt in eine gute und böse Seite geprägte Rhetorik von Goebbels würden wir heute als Signale einer narzisstischen Dynamik deuten. 1930 haben sich die meisten Zuhörer mit diesen Phrasen identifiziert und Goebbels für einen genialen Redner gehalten.
Nichts scheint für einen psychologischen Begriff gefährlicher als Beliebtheit und Popularität. Dann stirbt er bald, verliert seine wissenschaftliche Funktion und wird zu einem Werkzeug der Polemik. Der Ehemann, der eine wütende Partnerin »hysterisch« nennt, wenn sie ihm lautstarke Vorwürfe macht, will eine überlegene Position gegen ihre »übertriebenen« Gefühle behaupten. Aber die Flut der Erscheinungen, die am Ende »hysterisch« genannt wurden, hat die Diagnose »Hysterie« in den klinischen Disziplinen erledigt.
Es ist ein krummer Tribut an die Gleichberechtigung, wenn gegenwärtig »narzisstisch« in Paarkämpfen von Frauen als Waffe gegen ihre »selbstbezogenen« Männer verwendet wird. Ein Gegenüber narzisstisch zu nennen oder seine Persönlichkeit auf diesen Nenner zu substantivieren, erfüllt eine narzisstische Funktion, die weiter unten als »pharisäischer Narzissmus« beschrieben wird. In dieser Abwertung des anderen erscheint meine eigene, selbstkritische und bescheidene Persönlichkeit in besserem Licht. »Der Narzisst nimmt alles aus der Ich-Perspektive wahr« . . . Wir leben in einer Zeit der Selbstbespiegelung, in der Narzissten oft erfolgreich sind, auch im Beruf. Während Sigmund Freud in seiner »Einführung des Narzissmus« noch von einem Krankheitsbild sprach, von einer schweren Persönlichkeitsstörung, sind heute viele Eigenschaften des Narzissten nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sie stoßen teilweise sogar auf Bewunderung.
Die kursiv geschriebenen Sätze stammen aus der Süddeutschen Zeitung (SZ.de, 14. 2. 17), in der ein Psychiater den amerikanischen Präsidenten des »malignen« Narzissmus verdächtigt. Diese Ferndiagnose wird mit ärztlicher Sorge gerechtfertigt, welche angesichts von Donald Trumps Verhalten angebracht sei und die sonst übliche Zurückhaltung in solchen Fragen aufhebe. Otto Kernberg hatte kurz zuvor ähnliche Fragen von Journalisten elegant abgewehrt: Trump sei nicht sein Patient, daher könne er nichts sagen – und wenn er sein Patient wäre, könnte er erst recht nichts sagen.
Freud hat in dem erwähnten Text zur Einführung des Narzissmus nicht von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen. Er sah Narzissmus und Liebe gleich nüchtern als Pole eines seelischen Geschehens: Das kleine Kind liebt sich selbst, dann richtet es die Libido auf Eltern und Geschwister, als Erwachsener auf die »Liebesobjekte«; wenn Liebe enttäuscht wird, »besetzt« die Libido wieder das eigene Ich.
Persönlichkeitsstörungen gab es zu Freuds Zeiten noch gar nicht – als Begriff! Als Phänomen sind sie so alt wie Kain und Abel. Das war Jahre bevor Hitler und Stalin auffällig wurden, die heute in den Texten über den bösartigen Narzissmus die wichtigsten Beispiele sind. Sie werfen ihre Schatten auf Berlusconi, Putin, Erdogan, Duterte und jetzt Trump.
Was ist dagegen einzuwenden? Gegen den Wunsch des Diagnostizierten ausgesprochene Diagnosen sind auch aus der Ferne ein Verrat an der Schweigepflicht, der sich Ärzte und Psychotherapeuten unterwerfen. Es gibt eine einzige Ausnahme: die Forensik, also die von einem Gericht angeordnete Begutachtung eines Straffälligen, in der es um existenzielle Fragen für die Betroffenen geht – unter anderem um die Entscheidung, ob sie nach einer Gefängnisstrafe wieder freie Bürger sind oder aber im Maßregelvollzug darauf angewiesen bleiben, dass ein vom Gericht beauftragter Psychiater sie für ungefährlich hält.
In der Politik geht es um Moral, um Grundsätze; in der Psychologie um Verständnis und um die Möglichkeiten, Menschen zu beeinflussen. Wenn wir den Narzissmus-Begriff seinem Wesen nach als Selbstliebe und Selbstgerechtigkeit verwenden, dann verändert sich die Perspektive. Es wird klar, dass ein Arzt, der Trumps Narzissmus diagnostiziert, nicht weniger aus narzisstischen Motiven heraus handelt als der Präsident, der Amerika groß machen will, aber bevorzugt die eigene Großartigkeit im Munde führt. Beide wollen Eindruck machen, beide streben nach Überlegenheit. Sie suchen nicht den Konsens, sondern die Macht. Aber keiner von beiden hat solche diagnostischen Bemühungen gefordert oder verdient. Ich nehme also meine Vermutung zurück. Wo alle Narzissten sein könnten, ist es doch keiner. Trump und seine diagnostizierenden Verfolger sind sozial angepasste Personen, die keinen Seelenarzt brauchen und seine Hilfe nicht wünschen.
Klinisch-psychologische Konzepte haben nur dann einen therapeutischen Sinn, wenn wir mit dem Beschriebenen einen Konsens finden, wenn der Depressive sich mit dem Arzt darüber einig ist, dass er eine Depression hat, wenn der Zwangskranke an seinen Ritualen leidet und die Diagnose als Weg in die Behandlung annehmen kann, wenn der narzisstisch Gestörte zusammen mit dem Therapeuten an seiner Kränkbarkeit und Selbstbezogenheit arbeiten möchte.
Erst wenn ein Mensch selbst- oder gemeingefährlich agiert und die sozialen Regeln der Zivilgesellschaft sprengt, muss er gewärtigen, ohne seine Mitarbeit und sein Einverständnis diagnostiziert zu werden. Sobald sich Menschen um Definitionsmacht streiten, kann uns die Psychologie nur noch helfen, solche Eskalationen zu verstehen. Diagnosen lösen nichts mehr, weil sie das Machtverhältnis als bereits geklärt ausgeben.
In der Auseinandersetzung um den amerikanischen Präsidenten ist die Eskalation weit gediehen. Trump fühlt sich chronisch missverstanden und hetzt gegen die Medien. Er bezichtigt sie pauschal der Lüge; umgekehrt haben die so Gescholtenen keine Hemmungen mehr, ihn zu blamieren.
Nun gibt es Auguren, die Trumps Wahl als Zeichen einer »narzisstischen Gesellschaft« deuten. Diese Deutung verkennt das demokratische Problem. Die Wähler haben sich in ihrer großen Mehrheit nicht für Trump entschieden, weil sie ihn für einen würdigen Präsidenten hielten, sondern weil er in ihren Augen das kleinere Übel war. Viele Politiker sind machthungrig, selbstbezogen und wehren Kritik ab, solange sie das irgend tun können. Wenn sie sich bescheidener geben als Trump, kann das durchaus auch daran liegen, dass sie mehr zu verlieren haben als der 70-jährige Unternehmer in seinem letzten und bisher größten Deal.
Wer mithilfe von Pathologisierungen nicht nur die Minderwertigkeit eines Gewählten, sondern auch die »narzisstische« Verblendung der Wähler brandmarken möchte, sollte sich ein Gedicht zu Herzen nehmen, das Bert Brecht 1953 geschrieben hat:
Die Lösung.
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?3
Zum klinischen Problem wird die narzisstische Bedürftigkeit vor allem, wenn sie mit impulsivem Handeln verbunden ist. In diesen Fällen kann das vernünftige Ich die durch Kränkungen ausgelösten Impulse von Flucht oder Angriff (Angst oder Wut) nicht mehr steuern. Zum Merkmal der narzisstischen Störung wird dann die uneinsichtige, auf lange Sicht selbstschädigende Entlastung durch impulsives Handeln im Dienst der eigenen Größenvorstellung.
Wer seine Lehrstelle bei der ersten Kränkung kündigt, hat wenig Chancen, Professionalität zu entwickeln. Er schadet sich auf lange Sicht selbst, ähnlich dem Liebhaber, der sich nach der ersten Enttäuschung trennt.
Gesteigerte Kränkbarkeit ist keine einfache Eigenschaft wie blonde Haare oder braune Augen. Sie beruht teils auf traumatischen Erfahrungen, in denen Menschenkinder kein einfühlendes Gegenüber hatten, das ihnen half, ihre Impulse zu steuern, teils aber auch auf einem Mangel an aktuellem Austausch mit einer Umwelt, die den Tätigen mit Erfolgserlebnissen und Anerkennung versorgt. Der arbeitslose Vater, der seine Kinder durch seine Launen tyrannisiert, die in ihrer Ehe enttäuschte Mutter, die sich an ihre Tochter klammert und deren Heranwachsen durch Schuldgefühle belastet, sie könnten unter besseren sozialen Bedingungen gewiss auch mehr Kränkungen verarbeiten.
Seit die Schlange im Paradies Eva mit dem Versprechen verführte, eine Kränkung durch Gott zu bekämpfen, seit Kain in derselben Stimmung seinen Bruder Abel erschlug, lässt sich Menschheitsgeschichte als Kränkungsgeschichte erzählen. Die Biographie eines Menschen ist immer eine Kette von Kränkungen und von deren Verarbeitung.
Wenn wir um uns blicken, erscheint uns wenig so rätselhaft wie die unterschiedliche Verarbeitung seelischer Belastungen. Nehmen wir ein so einfaches Beispiel wie Lärm. Frau K., eine 50-jährige Lehrerin mit einer Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch, erlebt während einer Psychotherapie kaum hörbare Schritte auf dem Flur als einen aggressiven Einbruch in »ihre« Stunde. Sie stellt mich wütend zur Rede und verlangt, das künftig abzustellen. Herr S., ein junger Leistungssportler mit massiven Kontaktproblemen, redet hingegen ungerührt weiter, während in der Wohnung nebenan ein Schlagbohrer in die Wand neben der Couch dringt und sein Analytiker vor Schreck fast vom Stuhl fällt.
Ein Unfall, eine schwere Erkrankung, der drohende Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod von Angehörigen, eine Ehescheidung – solche Verletzungen unseres seelischen Gleichgewichts sind auf den ersten Blick fassbar. Geheimnisvoller ist es, wenn Menschen aus einem Zustand scheinbarer Gesundheit plötzlich in eine Depression entgleisen und sagen, es sei »eigentlich« gar nichts geschehen.
Das einzige, angeblich belanglose Ereignis, das ihnen nach langem Fragen und Forschen endlich einfällt – etwa der Wechsel des Chefs im Betrieb, der alte war fünfzehn Jahre da, der neue ist eigentlich ganz in Ordnung, aber viel zu jung –, können sie nie und nimmer mit ihren Gefühlen der Lust- und Sinnlosigkeit verbinden.
Seelische Verletzlichkeit wird unterschätzt. Von einem Unfallopfer mit blutenden Wunden würde niemand erwarten, dass es normal reagiert. Psychische Traumen sind nicht nur unsichtbar; viele Menschen sind sogar darauf stolz, dass sie Kränkungen verleugnen und ihre Äußerungen unterdrücken können. Das funktioniert so gut oder schlecht wie der Verband über einer Schusswunde, ohne die eingedrungene Kugel zu entfernen. Redensarten vom Indianer, der keinen Schmerz kennt, von Männern, die ihren »inneren Schweinehund« im Griff haben, waren und sind populär. Mit der Bedürfnis- und Gefühlsorientierung in der Konsumgesellschaft hat sich das nur scheinbar geändert. In professionellen Systemen sind Zeichen der Schwäche eher stärker tabuisiert als früher. Experten weinen nicht.
Während die schwerwiegenden Folgen einer dramatischen, großen Kränkung unmittelbar einsichtig sind, geben unscheinbare Kränkungen Rätsel auf. Hier hilft das Modell der Anhäufung (»kumulatives Trauma«) weiter. Unsichtbar, unter der Oberfläche, sammeln sich Verletzungen und nagen an den Kräften, welche sie bewältigen sollen. Kränkungen, die schließlich zum seelischen Zusammenbruch führen, scheinen dann – isoliert betrachtet – wie Kleinigkeiten.
Die Schildbürger hatten ein Stadtpferd, ein williges, kräftiges Tier, das ihnen gute Dienste leistete, aber einen Fehler hatte: Es brauchte jeden Tag eine Krippe voll Hafer. Die Schildbürger beschlossen, die Haferration unmerklich zu verringern. Sie legten täglich einen Halm weniger in die Krippe. An dem Tag, als sie triumphierten, weil das Tier ganz haferfrei arbeiten würde, lag es tot im Stall.
Ein Mann kommt zum Psychotherapeuten, weil er an einer heftigen Depression erkrankt ist. Er kann sich deren Ursache nicht erklären. Vor zwei Jahren hat er sich von einer Frau getrennt, mit der er viele Jahre verheiratet war. Er hat die Scheidung gut verarbeiten können, erläutert er. Die Ehe ging wegen einer Geliebten in die Brüche, welche von ihm verlangt hatte, sich von seiner Frau zu trennen. Später hat ihn diese Geliebte verlassen. Auch das hat er weggesteckt. Er fand im Golfurlaub schnell eine neue Freundin. Und jetzt bricht er zusammen, weil diese ihm einen Jüngeren vorzieht. Dabei hat sie ihm längst nicht so viel bedeutet wie ihre Vorgängerin, ja, genau genommen, auch viel weniger als seine Ex-Frau!
Diese Dynamik wird verständlich, wenn wir zwei Abwehrmechanismen mit ihr verknüpfen, die gemeinsam die »manische Abwehr« formen: die Verleugnung und die Verwandlung ins Gegenteil. Der betroffene Mann hat nicht nur verleugnet, dass er mit dem Zerbrechen seiner Ehe etwas verloren hat; er hat diesen Verlust in sein Gegenteil verwandelt und sich sein Leben so zurechtgelegt, dass er eine inzwischen unattraktive Ehefrau gegen eine anziehende Geliebte getauscht hat.
Als ihn die neue Freundin verlässt, sucht er das Muster zu wiederholen, aber es gelingt ihm erheblich schlechter als während der Scheidung, seine Kränkung abzuwehren. Er benötigt jetzt unbedingt einen Ersatz, aber die nächste Geliebte wird bereits ambivalent erlebt, sie wird vorbeugend entwertet, weil die Gefahr ihres Verlustes nicht mehr verleugnet werden kann. Am Ende lässt auch sie ihn im Stich – womöglich, weil sie bemerkt hat, wie wenig überzeugt er selbst von der Beziehung ist. Und jetzt bricht die Depression aus.
Gesellschaftliche Phänomene werden seit den Siebzigerjahren zunehmend als narzisstische gedeutet. Viel zitierte Autoren sind in diesem Kontext Richard Sennett und Christopher Lasch. Sennett versucht zu belegen, dass Narzissmus nicht »einfach« Eigenliebe ist. In der modernen, vom Narzissmus geprägten Psyche spalten sich Gefühl und Aktion. Die Suche nach emotionaler Authentizität wird zum Selbstzweck. Politisches Engagement, persönliche Hingabe, Geselligkeit, Höflichkeit treten zurück. Der deutsche Titel fasst es zusammen: »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens«4.
Der Harvard-Historiker Christopher Lasch5 verallgemeinert Sennetts Urteil zu einem narzisstischen Zeitalter, in dem Selbstverwirklichung wichtiger wird als Durchsetzung gegenüber der Außenwelt und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Lasch tadelt einen Sieg des therapeutischen Denkens, das Opfer vermehrt und das Verantwortungsgefühl vermindert. In diesem narzisstischen Zeitalter können Menschen nicht mehr alt werden und nehmen Kinder nicht als Kostbarkeit, sondern als Gefahr für den eigenen Status wahr.
Die Belege für solche Pauschalurteile sind dürftig; der Leser kann manchmal nicht mehr unterscheiden, wo die Kritik an fremder Selbstbezogenheit und Selbstüberschätzung in eigene Selbstüberschätzung übergeht.
»Sie sind zwischen 1995 und 2005 geboren und damit die erste Generation, die schon im Jugendalter ein Smartphone besitzt . . . Sie werden langsamer erwachsen und haben ein höheres Sicherheitsbedürfnis.« So fasst die amerikanische Psychologin Jean Twenge6 die jüngste Generalisierung des Narzissmus-Konzepts zusammen. Sie spricht von einer Narzissmus-Epidemie unter den »Millenials«.
Ein Wissenschaftsautor der Süddeutschen Zeitung hält 2017 energisch dagegen:
»Daten und Studien legen nämlich nahe, dass das Gerede von der Narzissmus-Epidemie vor allem heiße Luft ist.«7 Nach der Metaanalyse von 60 000 Persönlichkeitstests aus 30 Jahren komme Eunike Wetzel zu dem Fazit: Die Häufigkeit von Narzissmus sei während des Untersuchungszeitraums nicht angestiegen, im Gegenteil sogar leicht gefallen.8 Aber so einfach lassen sich die Widersprüche nicht zurechtrücken.
Die Daten kommen aus US-Universitäten, wo in den 1990er-, 2000er- und 2010er-Jahren jeweils ein Narcissism Personal Inventory ausgefüllt wurde. Fragebögen erforschen die Meinungen von Menschen, in diesem Fall die Meinungen über die eigene Person. Was sie darüber hinaus »messen«, ist schwer zu sagen.
Praktiker verlassen sich nicht auf solche Instrumente, weil sie unzuverlässig sind. Das ist eigentlich kein Wunder, denn die Antworten auf solche Fragen sind vor allem von dem geprägt, was die Befragten über eine »gute« Antwort denken. Und wo ist ein »hartes« Kriterium für Narzissmus?
»Narzissmus ist, was der Narzissmus-Test misst«, würde ein gereizter Forscher sagen, wie es schon lange heißt: »Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst.« Während Jean Twenge und Keith Campbell über wachsende Ängste in der Generation Smartphone berichten, winken andere Forscher ab. Aber fast immer werden Äpfel mit Birnen verglichen; der unscharf definierte Narzissmus-Begriff macht das möglich. Ist beispielsweise Anspruchsdenken in der jungen Generation ein wesentlicher Narzissmus-Baustein? Hier verschwimmen Narzissmus und Egoismus, und wenn sich in den Fragebögen kein Beweis findet, dass das Anspruchsdenken zugenommen hat, sagt das je nach Perspektive gar nichts oder sehr viel zu der Narzissmus-Frage.
Wovon ist nun also die Rede, wenn der Begriff »Narzissmus« fällt? In die Umgangssprache ist die Diagnose einer Störung mehr eingesickert als die sehr sachliche These einer Form der Libidoverteilung und einer Organisation des Selbstgefühls. In der klinischen Psychologie gibt es die narzisstische Persönlichkeitsstörung als Diagnose. Die Symptome sind meist Depressionen und Ängste, instabile Beziehungen, manchmal auch gesteigerte Rivalität und Unfähigkeit, andere (auch die Ärzte oder Therapeuten) gelten zu lassen.
Der »Narzisst« gesellschaftskritischer Texte hingegen orientiert sich an einer literarischen Tradition, die auf den Mythos zurückführt. Er ist eitel und selbstbezogen. Solange er jung ist, machen sich Eltern und Lehrer Sorgen; wenn er erwachsen ist, ohne sich zu bessern, wird er zum Ärgernis wie in den Thesen von Hans-Joachim Maaz (siehe unten).
Implizit sind die gesellschaftskritischen Darstellungen einer »narzisstischen« Jugendkultur von dem Gegensatz alt und jung geprägt, von den Bildern, die sich ältere, zu Verantwortungsbewusstsein gereifte Autoren über einen Zeitgeist und eine Jugend machen, die nicht verspricht, ihr Niveau zu erreichen. Diese Klage über eine selbstbezogene Jugend ist so alt wie die Geschichte; es gibt altägyptische Hieroglyphen dieses Inhalts.
Die Forscherinnen in Konstanz wiegeln ab, wie es eigentlich immer geschieht, wenn Zeitdiagnosen empirisch geprüft werden. Die Jugend wird narzisstischer? Unsere Tests sprechen dagegen. Die Jugend neigt zu roher Gewalt und imitiert pornographische Vorbilder (»Generation Porno«)? Die Statistik belegt, dass die sexuelle Aktivität junger Menschen eher später einsetzt und dass Gewalttaten in Schulen heute sehr viel seltener sind als vor zwanzig Jahren.
Aber auch das empirisch fundierte Abwiegeln hat einen Schatten. Es relativiert brennende Probleme. Sachliche Fortschritte angesichts leidender Menschen werden nicht durch Bewertungen oder Statistiken gewonnen.
Das gilt auch für die Verallgemeinerungen einer »narzisstischen« Gesellschaft, mit denen Hans-Joachim Maaz operiert.9 Maaz war zu DDR-Zeiten ein Pionier der von Stalin tabuisierten Psychoanalyse. Er zwingt seit der Wiedervereinigung eine breite Palette sozialer Probleme auf die Couch. Durch mangelnde Empathie und frühe Kränkungen der Kinder entsteht in Maaz’ Weltbild ein »falsches Selbst«, viele falsche Selbste machen eine »narzisstische Gesellschaft«. Die Normopathie ist nun »die versammelte und kulminierte Energie der falschen Selbste, die unbedingt Gesellschaftsstrukturen brauchen, in denen sich ihre Störungen erfolgreich entfalten oder auch protestierend austoben können und zugleich garantiert wird, dass die eigene Fehlentwicklung als solche auf gar keinen Fall erkannt werden kann.«
Ein Therapeut, der die Gesellschaft wie einen Patienten analysiert, wird herausfinden müssen, dass er ihr mit seinen Mitteln nicht helfen wird und die Quelle trübt, aus der er Wissen schöpfen könnte. Er findet Triviales und kehrt zur Geste des Predigers und Propheten zurück.
Dass Propheten und Prediger die Welt nicht genügend bessern konnten, lässt sich gegenwärtig kaum bezweifeln. Wir haben schon zu viele von ihnen gehabt, und unter ihrer Führung ist mehr Übles geschehen als Gutes. Ich erinnere mich an den Schluss des vorletzten Absatzes in Freuds »Unbehagen in der Kultur«: »So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.«10
Kapitel 1
In der Tat überschreitet der Wert, den wir auf die Meinung anderer legen, und unsere beständige Sorge in betreff derselben, in der Regel, fast jede vernünftige Bezweckung, so daß sie als eine Art allgemein verbreiteter, oder vielmehr angeborener Manie angesehen werden kann. Bei allem, was wir tun und lassen, wird, fast vor allem andern, die fremde Meinung berücksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir, bei genauer Untersuchung, fast die Hälfte aller Bekümmernisse und Ängste, die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie liegt allem unseren, so oft gekränkten, weil so krankhaft empfindlichen, Selbstgefühl, allen unsern Eitelkeiten und Prätensionen, wie auch unseren Prunken und Großtun, zugrunde.
Schopenhauer, Aphorismen (ed. Gutenberg) Kap. 5
»Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.«
Friedrich Schiller, Vom Erhabenen (1793)
Wer Freuds Arbeit von 1914 »Zur Einführung des Narzissmus« mit dem Wissen um die erbitterten Auseinandersetzungen und verworrenen Begriffsbildungen der späteren Theoretiker liest, den überrascht, wie oft die Modelle seiner Nachfolger diesem Entwurf unterlegen sind. Allerdings hat Freuds Modell sperrige Qualitäten, die sich einerseits aus seiner historischen Situation ableiten lassen, anderseits mit seinen Bedürfnissen als Praktiker der Analyse und als Gründer der analytischen Bewegung zusammenhängen.
Freud hat den Begriff aus einer wissenschaftlichen Strömung gefischt, die um die Wende zum 20. Jahrhundert sehr in Mode war und von deren Kraft auch er profitierte: der Beschreibung und Klassifikation sexueller Perversionen, mit denen die aufstrebende Psychiatrie nach gesellschaftlicher Geltung suchte.
Narzissmus wird nach den Vorarbeiten des deutschen Psychiaters Paul Näcke und des amerikanischen Psychologen Havelock Ellis in den Lehrbüchern zuerst als eine sexuelle Besetzung des eigenen Körpers definiert, die eher Frauen als Männer trifft. Sie äußert sich darin, dass der Anblick eigener Körperteile oder eines Spiegelbildes sexuell erregend wirkt und Selbstbefriedigung induziert.
Die Störung sei extrem selten, bemerkt Näcke. Er gibt an, sie unter 1500 untersuchten Psychiatrie-Patienten nur einige Male gefunden zu haben. Das liegt daran, dass Näcke ausdrücklich fordert, Narzissmus und Eitelkeit zu unterscheiden; Narzissmus in seinem Sinn liege nur vor, wenn jemand ausschließlich durch den Anblick des eigenen Körpers zum Orgasmus gelange.
Der Begriff orientierte sich also eng am griechischen Mythos, der von Kennern als »moralische Fabel« eingestuft wird.12 Narziss ist dort ein Liebes-Verweigerer, der mit unerfüllbarer Selbstliebe gestraft wird und verschmachten muss, bis er durch die Verwandlung in eine Blume erlöst wird, die sich – wie er – am Rand von Gewässern in diesen spiegelt.
Freud dreht die Frage der konventionellen Psychiater nach den Ursachen der Ausnahmeerscheinungen Perversion oder Psychose um. Weshalb sind wir denn nicht alle pervers? Was geschieht, um ein von entsprechenden Impulsen geprägtes Frühstadium zu überwinden? Irgendwann einmal »wollte« jeder von uns nicht nur den Vater erschlagen und die Mutter heiraten, sondern war auch in sich selbst und gleichzeitig, da die Grenze fehlte, in seine Mutter unsterblich verliebt.
Wir alle sind in dem psychoanalytischen Modell zu Beginn unserer Entwicklung »Narzissten«. Die Annahme eines primären Narzissmus lässt uns seelische Merkmale von Kindern verstehen, deren Muster sich auch bei Zwangskranken und im Größenwahn finden – der Glaube an die »Allmacht der Gedanken«, an die Zauberkraft der Worte, an die Magie schlechthin, die Freud als »Anwendung dieser größensüchtigen Voraussetzungen« charakterisiert.13
Jeder körperlich Kranke zieht seine Libido auf sein Ich zurück und besetzt die Umwelt erst wieder, wenn er geheilt ist; Freud zitiert hier Wilhelm Buschs Beschreibung des Zahnschmerzkranken aus Balduin Bählamm:
Das Zahnweh, subjektiv genommen,
Ist ohne Zweifel unwillkommen;
Doch hat’s die gute Eigenschaft,
Daß sich dabei die Lebenskraft,
Die man nach außen oft verschwendet,
Auf einen Punkt nach innen wendet
Und hier energisch konzentriert . . .
Denn einzig in der engen Höhle
Des Backenzahnes weilt die Seele!
Die Hypochondrie wurde im 18. Jahrhundert vielfach als »männliche Hysterie« beschrieben.14 Freud konstruiert eine Systematik, wonach die Hypochondrie narzisstische Ängste, Hysterie und Zwangsneurose hingegen neurotische Ängste spiegeln. Er vermutet, dass die libidinöse Besetzung des Ichs sozusagen eine natürliche Grenze habe – »ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muss man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muss erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann«.15
In dieser frühen Formulierung sind »Egoismus« und »Narzissmus«, die heute durchweg unterschieden werden, für Freud noch so bedeutungsähnlich, dass er unbefangen den alltagsnahen Begriff verwendet.
Am wichtigsten ist die dritte Beobachtung Freuds: Er geht davon aus, dass der Säugling sein Liebesobjekt den Erlebnissen von Bedürfnisbefriedigung entnimmt. Die Mutter, welche das Kind versorgt, ist das erste Liebesobjekt; eine Beziehung aufgrund von Bedürfnisbefriedigung nennt Freud die Liebeswahl vom Typus der Anlehnung, gegen die er nun die speziell narzisstische Liebeswahl abgrenzend setzt.
Nach dem narzisstischen Typus der Objektwahl liebt man
was man selbst ist (sich selbst) – das würde Freud auch Egoismus nennen,
was man selbst war – hierher gehört Oscar Wildes Erzählung vom Bildnis des Dorian Gray ebenso wie die klinischen Beobachtungen an Patienten, die ständig über einen verlorenen Zustand des eigenen Seins klagen – etwa über die verlorene Jugend,
was man selbst sein möchte – hier spielen elterliche Aufträge mit, ein Held, eine Prinzessin zu werden, um Vater oder Mutter zu trösten, aber auch eigene Entwürfe, die Freud wenig später das »Ich-Ideal« nennt,
die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war, später Selbstobjekt genannt.
Freud rekonstruiert den Narzissmus des Kindes vor allem aus der überschätzenden Liebe der Eltern, in der sich der eigene, längst aufgegebene Narzissmus dieser Eltern reproduziert. »Das Kind soll es besser haben als die Eltern, es soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend erkannt hat, nicht unterworfen sein . . . His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte.«16
Freud fasst zusammen: »Ein Anteil des Selbstgefühls ist primär, der Rest des kindlichen Narzissmus, ein anderer Teil stammt aus der durch Erfahrung bestätigten Allmacht (der Erfüllung des Ich-Ideals), ein dritter aus der Befriedigung der Objektlibido.«17
Freud hat auch die heute unter dem Sammelbegriff der »Selbstobjektbeziehung« beschriebenen Erscheinungen bereits beobachtet und eingeordnet. Um den Abstand zwischen Ich und Ich-Ideal auszugleichen, wählt sich der Neurotiker ein Sexualideal nach dem narzisstischen Typus, »welches die von ihm nicht zu erreichenden Vorzüge besitzt. Dies ist die Heilung durch Liebe, welche er in der Regel der analytischen vorzieht. Ja, er kann an einen anderen Mechanismus der Heilung nicht glauben, bringt meist die Erwartung desselben in die Kur mit und richtet sie auf die Person des ihn behandelnden Arztes. Diesem Heilungsplan steht natürlich die Liebesunfähigkeit des Kranken infolge seiner ausgedehnten Verdrängungen im Weg. Hat man dieser durch die Behandlung bis zu einem gewissen Grade abgeholfen, so erlebt man häufig den unbeabsichtigten Erfolg, dass der Kranke sich nun der weiteren Behandlung entzieht, um eine Liebeswahl zu treffen und die weitere Herstellung dem Zusammenleben mit der geliebten Person zu überlassen. Man könnte mit diesem Ausgang zufrieden sein, wenn er nicht alle Gefahren der drückenden Abhängigkeit von diesem Nothelfer mit sich brächte.«18
Freud deutet hier eigene Erfahrungen an. Seine Abneigung gegen das Konzept der »Heilung durch Liebe« hat sich vor allem in seinen Auseinandersetzungen mit Sandor Ferenczi entwickelt, die schließlich zum Bruch mit seinem früheren Lieblingsschüler führten.
Der von Freud konzipierte Gegensatz von Selbstliebe (Narzissmus) und Objektliebe (Liebe des Gegenübers) wird von Heinz Kohut eher im Sinn einer Ergänzungsreihe gesehen. Die Selbstliebe reift nicht zur Objektliebe. Sie nimmt eine eigenständige Entwicklung von primitiven Formen zu reiferen. Primitiver Narzissmus ist von Größenphantasien und Spaltungen der Liebesobjekte in ganz gute und ganz üble geprägt. Im reifen Narzissmus mäßigen sich diese Extreme. Die Spaltung von Überschätzung und Entwertung des Liebesobjekts wird überbrückt, die Ambivalenz der Gefühle ertragen. Damit kann sich auch die Objektliebe stabilisieren. Wer sich selbst in angemessener Weise wertschätzt und nicht abwechselnd super oder wertlos findet, ist für eine stabile Freundschaft besser gerüstet.
Zu den zentralen Qualitäten des kindlichen Befindens gehört die Angst, allein nicht überleben zu können. Diese Qualität hat sich während der Entwicklung der elementaren Strukturen des Selbstgefühls nicht mehr an die ganze Gruppe der Artgenossen geheftet, wie das bei anderen sozialen Tieren der Fall ist. Sie richtet sich im Normalfall auf den Artgenossen, zu dem eine Bindung existiert. Nur wenn diese Bindung nicht aufgebaut werden kann, entsteht ein Verhaltensmodus, den wir als distanzlos beschreiben. Beobachten lässt er sich beispielsweise in Heimen, wo sich ein Kind jeder Frau, die es nicht ruppig abweist, auf den Schoß setzt und fragt: Nimmst du mich mit?
Ein weiteres Beispiel:
Am Ufer eines Sees will ich ein Stück angeschwemmtes Holz in mein Auto laden. Ein bejahrter Golf hält hinter mir. Ein älterer Mann in blauem Anorak steigt aus und sagt streng: »Das dürfen Sie nicht, das Holz gehört mir, das habe ich mir gerade zurechtgelegt!« Ich unterdrücke den Impuls, meinen Besitzanspruch zu verteidigen, entschuldige mich und sage scherzhaft: »Gut, dass Sie jetzt gekommen sind, sonst wäre ich mitsamt dem Holz weg!« Er sagt jetzt, immer noch sehr ernst, aber freundlicher: »Moment mal, ich zeige Ihnen etwas!« Er öffnet den Reißverschluss an einer Tasche seines Anoraks und zieht Papiere heraus. Ich denke: will er sich als offizieller Schwemmholzsammler ausweisen, und frage: »Gibt es da etwas wie einen Berechtigungsschein?« – »Nein, ich habe einmal gefragt, aber da interessiert sich in H. (der zuständigen Gemeinde) niemand dafür. Aber schauen Sie!« Er blättert in einem Bündel von Farbphotographien und zeigt mir eine davon, eine Art riesige Maske, die Nase ein gegabelter Baumstamm, die Augen Baumscheiben mit schwarzer Pupille, der Mund ein Stück Schwemmholz, Wangen, Stirn und Kinn aus Schilfgarben. Das Ganze steckt in einem mannshohen Häuschen, das ebenfalls aus Schwemmholz gezimmert ist. »Solche Sachen mache ich. Das ist ein Insektenheim!« Er zeigt mir jetzt weitere Photographien: von einem prächtig gemaserten Wurzelstock, der einem langhalsigen Vogel gleicht, ein weiteres Maskengesicht aus Schwemmholz, Photos von einem Ölbild: ein Mann, der eine Säge schärft, eine exotische Landschaft. »Das ist mein Großvater, der hat mich aus dem Stall gelassen, in den mich mein Vater gesperrt hat, der war der Einzige, der mich gemocht hat, alle anderen haben auf mir herumgehackt, die Lehrerin hat gesagt, du kommst ins Zuchthaus, du bist ein geborener Verbrecher, weil du die Dynamotaschenlampe gestohlen hast. Die Taschenlampe war ein Gelumpe, ich hatte sie gefunden, aber ein anderer Schüler war dabei, der wollte sie haben, da hat er zur Lehrerin gesagt, ich hätte sie gestohlen. Das hat sie dann geglaubt und hat sie mir weggenommen und hat die Taschenlampe ihm gegeben. Können Sie sich vorstellen, dass eine Lehrerin so etwas sagt? Andere haben mich auch schlecht behandelt, geschlagen, mir Sachen weggenommen, und daheim hat mich niemand gemocht, außer dem Großvater, und den haben sie geschimpft, dass er nett zu mir ist. Dann bin ich Beamter geworden, bei der Post, und bin gereist. Das Bild ist aus Australien, ich hab die Landschaft photographiert und hab es dann hier mit Ölfarben gemalt, ich muss immer etwas machen, seit meine Frau gestorben ist, vor fünf Jahren. Hier, das Photo können Sie haben, ich hab noch genug davon, und das auch. Ich weiß noch nicht, was ich aus dem Holz mache, das ich gesammelt habe, aber ich muss immer etwas zum Basteln haben. Da, das gebe ich Ihnen, und das auch noch. Das ist ein Indianer, den habe ich geschnitzt, weil doch auch die Indianer von allen schlecht behandelt worden sind, genauso wie die Aborigines in Australien.«
Das Heimkind, das sich auf den Schoß der Fremden setzt und mitgenommen werden möchte, symbolisiert in seiner Bereitschaft, jedes weibliche Wesen als potenzielle Mutter zu idealisieren, den Mangel an erlebter Bindung. Es zeigt, wie notwendig eine frühe Bindung ist, um die eigene Fähigkeit zu finden, sich in andere Menschen einzufühlen und ein angemessenes Verhältnis von Nähe und Distanz herzustellen.19 Das Heimkind kann nicht flirten, es fällt mit der Tür ins Haus, es will sofort klären, ob die Beziehung »alles« geben kann oder wieder einmal nichts. Solche distanzlosen Angebote lassen die Adressaten zwischen Rührung, Befremden und Schrecken schwanken. Sie wirken harmloser, wenn sie von einem Kind kommen – aber sie signalisieren auch, dass dieses Kind, wenn ich auf seine Wünsche eingehe und an das Versprechen glaube, künftig »mein« Kind zu sein, mich wohl auch wieder im Stich lassen wird, wenn es den Impuls dazu verspürt.
Aus der vertraulichen Erzählung über die eigene Geschichte in dem »erwachsenen« Beispiel wird deutlich, dass sich der Holzbastler an traumatische Kindheitserlebnisse mit einer Intensität erinnert, als seien diese gestern gewesen. Seine Fähigkeit, sich in den Gesprächspartner einzufühlen, wird von dem Bedürfnis überlagert, diesen Fremden in einen Stellvertreter des gütigen Großvaters zu verwandeln, der ihn aus einer Welt von Kränkungen rettet und versteht.
Er macht den Fremden für kurze Zeit zu seinem Selbstobjekt und schützt sich vor der trüben Stimmung, gegen die er sonst mit Gestaltungen der stummen Materie ankämpft. Indem er Abfälle zu Kunstwerken formt, vermittelt er eine Ahnung über den Segen der Kreativität in posttraumatischen Zuständen. Die Beziehung zu der verlorenen Frau hat den Künstler-Beamten in eine bessere Wirklichkeit versetzt. Seit ihrem Verlust ringt er mit den Gespenstern seiner Einsamkeit.
Wenn ein Kind auf der Straße nach seiner verlorenen Mutter schreit, beruhigt es sich sofort, wenn diese zurückkommt. Die Mutter mag eine überforderte Frau sein, die das Kind manchmal hungern lässt und es schlägt. Dennoch zieht das Kind die vertraute Grausamkeit der Person, an die es gebunden ist, erst einmal der befremdlichen Freundlichkeit einer Unbekannten vor, die ihm Schokolade anbietet und Trost zuspricht. Die existenzielle Bindung, in der Eifersucht so gut wurzelt wie die Vernichtungsgefühle nach Trennung und Tod, lässt sich durch eine Triebtheorie nicht fassen.
Ein Durstiger würde nie ein Glas Wasser zurückweisen, weil er sich an ein anderes Getränk gebunden fühlt. Der Eifersüchtige hingegen kann sich auch dann nur ausnahmsweise durch erotischen Kontakt mit einem anderen Liebesobjekt trösten, wenn er sich gut zuredet, dass das vernünftig wäre.