Die Gesichter des Meeres - Leena Lander - E-Book

Die Gesichter des Meeres E-Book

Leena Lander

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Beschreibung

Kingstown, Heiligabend 1895. Vor der Küste Irlands läuft ein Frachter auf Grund. Während die Schiffbrüchigen auf Hilfe warten, kommen die Seenotretter in den eisigen Wellen ums Leben. Die Bewohner der Hafenstadt sind traumatisiert. Der 13-jährige Matias, der an Bord des havarierten Frachters war, findet sich in den hilfsbereiten Händen der Einheimischen wieder – und mitten im Strudel der Ermittlungen…

Über 100 Jahre später, auf den Spuren ihrer Vergangenheit, offenbart sich einer Schriftstellerin aus Finnland ein unbekannter Teil ihrer Familiengeschichte.

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Zum Buch

Kingstown, Heiligabend 1895. Vor der Küste Irlands läuft ein Frachter auf Grund. Während die Schiffbrüchigen auf Hilfe warten, kommen die Seenotretter in den eisigen Wellen ums Leben. Die Bewohner der Hafenstadt sind traumatisiert. Der 13-jährige Matias, der als blinder Passagier an Bord des havarierten Frachters war, findet sich in den hilfsbereiten Händen der Kapitänsfamilie wieder – und mitten im Strudel der Ermittlungen…

Über 100 Jahre später, auf den Spuren ihrer Vergangenheit, offenbart sich einer Schriftstellerin aus Finnland ein unbekannter Teil ihrer Familiengeschichte.

Zur Autorin

LEENA LANDER, geboren 1955, ist eine der international bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellerinnen der finnischen Gegenwartsliteratur. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Verfilmungen ihrer Romane »Die Insel der schwarzen Schmetterlinge« und »Die Unbeugsame« waren in Finnland große Erfolge. Leena Lander lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Hannu Raittila, im Südwesten von Finnland in der Nähe von Turku.

LEENA LANDER

Die Gesichter des Meeres

Roman

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

Die finnische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Kuka vartijoita vartioi« bei Siltala, Finnland.

Die Übersetzung wurde von FILI, Helsinki, gefördert.

Der Verlag bedankt sich dafür.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen.

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Genehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2020

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Leena Lander

Published by arrangement with Siltala Publishing, Finland

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Gareth Maccormack

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-20018-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

STURMWARNUNG VOM 23. DEZEMBER 1895

Heute Morgen um 06.00 Uhr zeigte das Barometer der Wetterwarte Plymouth einen Druck von 30,2 Zoll an. Über dem Nordwestatlantik hat sich ein ausgedehnter Hochdruckkeil gebildet, der sich im Süden bis zur Biskaya erstreckt. Östlich davon ist der Luftdruck an allen Wetterstationen rasch gefallen. An den Wetterfronten hat sich ein höchst Besorgnis erregender Wirbel gebildet, der sich auf die Britischen Inseln zubewegt.

Wir warnen alle Seefahrer vor dem gefährlichsten Wettertypus. Das schwere Wetter, das seit längerem auf dem Atlantik herrscht, kann sich zu einem Wirbelsturm steigern, der die gesamte Seefahrt im Ärmelkanal und auf der Irischen See bedroht. Vorerst sollten keine Schiffe die Häfen am Ärmelkanal, an der Irischen See und an der Westküste Irlands verlassen.

Auf der Irischen See, auf den westlichen Gewässern Irlands sowie im Ärmelkanal ist mit anhaltenden, von Schnee durchsetzten Regenfällen zu rechnen sowie mit extrem starkem Sturmwind aus südwestlicher Richtung. Sämtliche Schiffe, die sich auf diesen Gewässern befinden, müssen, sofern Verbindung zu ihnen aufgenommen werden kann, aufgefordert werden, die Küstenlinie zu meiden oder unverzüglich den nächsten Hafen aufzusuchen.

Laut den jüngsten, um 06.00 Uhr gemessenen Barometermessungen der Beobachtungsstationen Cork und Plymouth ist im St.-Georgs-Kanal ein außergewöhnlich jäher Druckabfall zu verzeichnen.

Gleichzeitig schwankt die Temperatur zwischen 51° Fahrenheit am Messpunkt Scilly und 36°F in London. In Dungen sind 38°F gemessen worden, in York und Holyhead 39°F.

Von den Festlandstationen sind Werte von 68°F in Biarritz und 29°F in Christiansund gekabelt worden. In Stockholm und in Skagen lag die Temperatur zum Messzeitpunkt bei 31°F auf der Fahrenheit-Skala.

Als Matias Sahlman an Heiligabend 1895 Schiffbruch erlitt, hatte er erst dreizehn Jahre gelebt, die meisten davon unter kläglichen Umständen. Er war aus einem Kinderheim in Turku geflohen und als blinder Passagier an Bord einer Fregatte namens Palme gegangen, auf der sein drei Jahre älterer Bruder Samuel als Küchenjunge arbeitete. In Liverpool wollten die Brüder das Schiff, das nach Amerika segelte, heimlich verlassen. Dem älteren Bruder gelang es tatsächlich, sich an Land zu stehlen, aber Matias wurde erwischt und gezwungen, seinen Bruder fortan als Arbeitskraft zu ersetzen, allerdings als Kajütendiener. Der Junge, genauer gesagt das Kind, hätte somit mindestens weitere zweieinhalb Jahre auf See vor sich gehabt, wäre das Schiff nicht bald nachdem es England verlassen hatte, in einen Sturm geraten und vor dem zwölf Kilometer südlich von Dublin gelegenen Kingstown auf einer Sandbank aufgelaufen.

Niemand aus meiner Familie kann sich daran erinnern, dass der alte Mann später je von diesem Schiffsunglück gesprochen hätte. Ich war acht Jahre alt, als er 1968 starb, aber soweit ich weiß, war er bis zum Schluss bei vollem Verstand. Auch ich wüsste nichts von dem Ereignis, hätte ich nicht vierzig Jahre später im Nachlass meiner Eltern einen Ordner mit englischen Zeitungsausschnitten entdeckt, auf dessen Rückenschild in schöner Handschrift stand: »Segen des Ufers«. Wahrscheinlich hatten sich weder meine Mutter noch mein Vater mit dem Inhalt des Ordners vertraut gemacht, denn sie konnten so gut wie kein Englisch.

»Segen des Ufers« war ein Ausdruck, den die Bewohner der Schären vor Jahrhunderten benutzten, wenn sie von einem Schiffbruch sprachen. Dieser optimistische Blickwinkel auf das Seeunglück entsprach selbstverständlich nicht dem der armen Menschen auf dem sinkenden Schiff, sondern dem der Leute, die am Ufer Zeugen der Tragödie waren und unter Umständen sogar von ihr profitierten, indem sie das angespülte Treibgut einsammelten und alles aus dem Wrack raubten, was zu rauben war.

Die unter russischer Flagge segelnde finnische Fregatte Palme havarierte Ende des 19. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als Wracks keine freie Beute mehr waren. Vielmehr wurden die Küstenbewohner dazu verpflichtet, den Schiffbrüchigen auf jede erdenkliche Weise zu helfen und das Wrack vor Strandräubern zu schützen. In irischen Zeitungen hieß es darum auch stolz, wenn es schon das Schicksal eines Schiffes sei, ein Seeunglück zu erleiden, dann danke die Besatzung gewiss Gott dafür, wenn sich die Havarie vor Kingston ereigne.

Das damalige Kingstown, das heute den irischen Namen Dún Laoghaire trägt, liegt im unteren Bereich der c-förmigen Dublin Bay. Diese flache Bucht hat einen Durchmesser von zehn Kilometern und ist voller heimtückischer Sandbänke, die der Fluss Liffey anschwemmt. Eine davon, die Razor Bank, wurde zum Schicksal der Palme. Zum Zeitpunkt ihrer Havarie war Kingstown kein bescheidenes Dorf mehr, das vom Fischfang und vom Schmuggel lebte, sondern ein bedeutender Hafen für den Passagier- und Postverkehr zwischen dem viktorianischen Irland und dessen Mutterland, ein Resultat von Eisenbahn und Dampfschifffahrt. Von Kingstown aus kam man am schnellsten ins Mutterland. Allerdings waren Bauarbeiten von mehr als dreißig Jahren nötig gewesen, bevor die von gewaltigen Wellenbrechern geschützte Stadt zum größten und sichersten künstlich angelegten Hafen der Welt geworden war. Im Jahr 1821 wurde sie zu Ehren des Besuchs von König George IV. auf den Namen Kingstown getauft. Der Hafen diente auch dem lebhaften Fernpassagierverkehr. Von dort brachen 20 000 irische Soldaten in den Krimkrieg auf, und für mehrere hunderttausende Auswanderer war der Wellenbrecher mit seinem Wachturm der letzte Anblick ihres Heimatlandes.

Von Dublin nach Kingstown wurde die erste Eisenbahnlinie Irlands gebaut, die aus der Hafenstadt ein beliebtes Ausflugsziel auch für die Arbeiterklasse Dublins machte. Und weil die Menschen der viktorianischen Ära ihre Freizeitvergnügen ernst nahmen, entstanden in Ufernähe Badeanstalten, Parks, Segelclubs, Pubs, Restaurants und Hotels, von denen das palastartige Royal Marine Hotel das prachtvollste war.

Stand man an Heiligabend 1895 an der Spitze des mehr als einen Kilometer langen östlichen Wellenbrechers von Kingstown, so wie es die achtjährige Sarah Donoghue tat, sah man auf der Uferseite im Westen und Nordwesten die Berge von Dublin. Zu deren Füßen verlief das Band des auf Marschland erbauten Eisenbahndamms. Die Landschaft wurde vom Zyklus der Gezeiten geformt. Bei Flut schlugen Wellen gegen den Deich, während die Ebbe kilometerbreit das Watt freilegte. Im Frühling und im Sommer füllte es sich mit vielerlei Watvögeln und mit Kranichen, die dort nach Nahrung suchten. Bei Ebbe konnte man in Sarahs Kindheit auch Frauen und Mädchen mit Körben und gerafften Röcken langsam über den Meeresboden gehen sehen. Sie sammelten Muscheln und Schnecken, aber an jenem Tag sah man keine Sammlerinnen von Schalentieren. Es herrschte die Dezemberflut, die zusammen mit dem Südweststurm den Meeresspiegel auf Rekordhöhe trieb. In Richtung Merrion sah Sarah nichts als enorm hohe, graue Wellen, die sich schäumend über den Damm und die Gleise darauf wälzten. Der Kontrast zwischen dem stürmischen Meer und dem stillen Wasser im siebzig Hektar großen, von den riesigen Wellenbrechern geschützten Hafen war schockierend. Am Nordostende der Bucht erhoben sich die Höhenzüge von Howth, hinter denen sich die flachere Silhouette von Bull Island abzeichnete. Im Norden sah man den von der Gischt gepeitschten Leuchtturm Poolbeg, im Osten nichts als das schäumende Meer im Schneeregen.

Die Fregatte Palme lag an Heiligabend 1895 ungefähr fünfhundert Meter von der Stelle entfernt, an der das Kind stand und winkte, auf der Sandbank. Sarah war mit ihrem Vater William Donoghue zum Wellenbrecher gekommen, aber dieser stand nicht mehr neben ihr, sondern befand sich mit vierzehn Kameraden im Seerettungsboot. Sie waren aus dem Hafen hinausgerudert und versuchten nun, sich mit gesetzten braunen Segeln durch den Sturm zu den Schiffbrüchigen vorzukämpfen. Sarahs Vater war einer der Freiwilligen der Königlichen Seenotrettungsstation RNLI in Kingstown. Für die Rettungstätigkeit wurde den Männern eine Entschädigung gezahlt, deren Bedeutung für den Haushalt ihrer Familien nicht gering war.

Sarah, die ihren roten Sonntagsmantel trug, wandte sich an die neben ihr stehende Frau und fing an, wortreich zu erzählen, dass ihr Vater sie und ihre drei Brüder zum Weihnachtsmärchen im Puppentheater von Dublin mitnehmen würde, sobald die Schiffbrüchigen gerettet worden seien. Die Frau war eine deutsche Reisende und verstand so gut wie nichts von dem, was das Kind ihr erklärte, aber sie fand, dass es in seinem roten Mantel sehr hübsch aussah. In miserablem Englisch fragte sie, ob sie das Mädchen mit ihrer Boxkamera vor dem stürmischen Meer fotografieren dürfe.

Zur gleichen Zeit umklammerte Matias Sahlman, der fünfzehn Jahre später der Großvater meiner Mutter werden würde, die Reling der vom Seegang gebeutelten Palme und erkannte, dass sich inmitten der hohen Wellen vom Ufer her ein Segelboot näherte. Der Junge drehte sich um und begab sich stolpernd über das schiefe Deck, auf dem allerhand Zeug herumlag, zur Kajütentreppe.

»Boot in Sicht«, rief er. »Rettungsboot in Sicht!«

DUBLIN BAY, HEILIGABEND 1895

Gerät ein Schiff in Seenot, ist der Kapitän verpflichtet, alles zu tun, um die auf dem Schiff befindlichen Personen zu retten sowie das Schiff und die Ladung zu schützen. Er hat, soweit das möglich ist, für die Sicherung der Schiffsdokumente und für die Rettung von Schiff und Ladung zu sorgen. Der Kapitän darf das Schiff nicht verlassen, solange angemessene Hoffnung auf dessen Rettung besteht, sofern sein Leben nicht ernsthaft gefährdet ist.

FINNISCHES SEERECHT, §12.

Elin

Als die Frau des Kapitäns sieht, wie sich ihr Mann auf das Sofa in der Kajüte fallen lässt, begreift sie, dass kein Zweifel mehr besteht. Das Schiff ist verloren.

»Das wird mir der Alte nie verzeihen. Niemals.«

In seiner triefenden Öljacke, mit dem Südwester und mit den Händen vorm Gesicht kauert Oskar Siren in einer Haltung auf dem Sofa, die seine Frau an den Prinzen von Dänemark auf der Bühne des Nationaltheaters erinnert: vom Schicksalsschlag erschüttert. Im Hintergrund das gespenstische Heulen des Sturmwinds, das Meer der Plagen, gegen das man das Schwert zieht. Und über der ganzen Bühne schwebt der geisterhafte Schatten des mächtigen Vaters.

Natürlich hat Oskar Siren bessere Gründe für sein Gebaren als der nervenschwache Däne. Er ist an dem Versuch gescheitert, das Schiff durch die Hafeneinfahrt in den Schutz der Wellenbrecher zu steuern. Die Anker wurden geworfen, aber sie hielten bei dem starken Sturm nicht, worauf die Fregatte vom Südwestwind gegen die Sandbank gedrückt wurde. Ja, der Kapitän hat einen guten Grund, so theatralisch in sich zusammenzusinken. Dennoch ist es für seine Frau bitter festzustellen, dass ihr Mann in dieser Stunde mehr den Zorn seines Vaters fürchtet als den Untergang seiner Frau, seiner Tochter und seiner Mannschaft.

Das wird ihnen der Alte nie verzeihen! Der Frau, die ihr Kind auf dem Arm wiegt, entfährt ein ungläubiges Lachen.

Erik Siren hat seinem ältesten männlichen Erben ein Schiff anvertraut, das kein beliebiger Kahn ist. Vielmehr ist es eine einzigartige Arche, die Gott in seiner großen Weisheit seinem treuen Diener Erik Siren zugeführt hat. Die Fregatte Palme ist in genialer Weise dafür konstruiert worden, hundertdreißig Tonnen kristallklare nordische Kälte an ihr heißes Ziel zu bringen, wo sich die Ladung in pures Gold verwandeln soll. Und nun hat Erik Sirens Sohn diese unvergleichliche Goldgrube auf eine irische Sandbank gesetzt, wo das Schiff schließlich zersplittern wird, ohne dass es jemand verhindern kann.

Das Schiff ist verloren. Zunichte ist damit auch die monatelange Seereise, zu der eine Frau wie Elin Siren nie hätte aufbrechen sollen. Primitive Angst – ohne tatsächliche Gefahr – zehrte an ihr, als die Palme vor zwei Monaten durch die Sunde Dänemarks auf die offene Nordsee hinausfuhr, und nach der Abfahrt von Liverpool erwachte das Entsetzen erneut. Diesmal aus gutem Grund: auf der Irischen See gerieten sie sofort in einen wütenden Südweststurm, der vom Atlantik her blies. Er hinderte sie fast eine Woche lang am Vorankommen, hielt die Mannschaft Tag und Nacht auf den Beinen und demütigte die Frau des Kapitäns mit einer heftigen Seekrankheit, die sie so erschöpfte, dass sie danach keine Kraft mehr hatte, sich zu fürchten.

Elin horcht nach den Rufen der Männer an Deck. Man hört dröhnende Axthiebe. Sie legt das Kind auf ihr Bett.

»Wir denken jetzt nicht an deinen Vater. Er wird sich schon wieder fassen, wenn er das Geld von der Versicherung bekommt.«

»Er wird kein Geld bekommen.«

»Natürlich wird er das, das dauert nur seine Zeit. Das mit der Theodorus war Pech, aber Großbritannien ist nicht Kuba. Hier wird korrekt gehandelt und …«

»Die Palme ist nicht versichert.«

»Wieso nicht?«

»Du kennst den Alten doch! Kannst du dir vorstellen, dass er eine neue Versicherung abschließt, wo die Auseinandersetzung über die vorige noch läuft?«

Natürlich erinnert sie sich noch an das Gebrüll ihres Schwiegervaters vor einem Jahr, daran, wie er bei dem Eisenschiff Theodorus in den Dreck gegriffen hatte. Schon im Jahr seiner Anschaffung hatte das Schiff vor Havanna Schiffbruch erlitten, aber die Versicherungsgesellschaft weigerte sich, für den Schaden aufzukommen, indem sie behauptete, das Schiff sei überversichert und die Havarie inszeniert worden.

»Der Alte hat geschworen, nichts in die verdammte Schwindlergesellschaft zu investieren, bevor er sein Geld bekommt. Bis auf die letzte verflixte Münze.«

Man hört ein Krachen an Deck, und der ganze Rumpf des Schiffes erzittert. Der erste von drei Masten ist gefällt worden. Das Kind fängt an zu quengeln, so grenzenlos müde, wie es ist, schläft es jedoch mit dem Daumen im Mund und dem Schmusetuch in der Faust gleich wieder ein.

»Solltest du nicht wieder an Deck gehen?«, fragt die Frau.

Der Mann winkt ab. »Peterson macht das. Er ist ja der Kommandant auf diesem Schiff. Ich spiele nur den Kapitän. Was für ein Clown ich bin! Und jetzt sehen wir das Resultat.«

Elin sitzt im Halbdunkel, in dem es nach Rauch, Erbrochenem und feuchter Wolle riecht, auf dem Bettrand. Sie lauscht dem stürmischen Meer. Dessen Wellen züchtigen das Schiff, rollen gnadenlos heran, schlagen zu und verrichten so systematisch wie die endlosen Reihen einer riesigen Heeresmacht ihr Zerstörungswerk.

Ihr Mann zieht eine Kommodenschublade auf und nimmt eine Flasche Rum heraus. Elin erhebt sich.

»Was für eine glänzende Idee! Pfeifen wir auf den Sturm und betrinken wir uns anständig. Das Schiff ist ja ohnehin verloren, und der Alte wird uns das nie verzeihen.«

Oskar nimmt einen langen Schluck aus der Flasche, ohne sich einen Deut um die Missbilligung seiner Frau zu scheren. Es war vorbei. Warum also sollte ein Mann sich nicht bewusstlos trinken dürfen? Schließlich ist dies das uralte Recht der Strohpuppenkapitäne. Für genau solche Momente braucht man fähige Kommandanten. Peterson würde an Deck alles tun, was ein Mann tun kann.

Ja, denkt seine Frau, am Ende ist es immer Peterson, der zähe, einwandfrei korrekte, ausdruckslose Seebär Peterson, den Papieren nach der offizielle Kapitän des Schiffes. Auch wenn Erbprinz Siren, dem die Abschlussprüfung fehlt, noch so gern in der Kapitänsuniform und mit dem Sextanten in der Hand über das Kommandodeck stolziert und dabei unerträglich gut aussieht. Ein schmächtiger, aber knabenhaft sehniger junger Kapitän, der den Augen seiner Frau einen betörenden Anblick bietet.

»Dann trinke ich auch etwas.«

Oskar gibt ihr die Flasche, und Elin nimmt einen Schluck. Und noch einen. Der Rum brennt in dem vom ständigen Erbrechen rauen Hals, tut aber gut. Was soll auch schlimm daran sein, dem Engel der Nachlässigkeit den kleinen Finger zu reichen? Wenn man dadurch nach mehreren schlaflosen Nächten wenigstens kurz die eisige Zwangsvorstellung von dem rasenden Schwiegervater aus der Kajüte vertreiben kann?

Elin kommt der Gedanke, ob sie versuchen könnte, in einem Brief an ihre Schwester ein Bild von Erik Siren zu zeichnen, wie er einem Raubvogel gleich über der Fregatte auf der Sandbank schwebt: der eiskalte Adlerblick funkelt in der Dunkelheit, der riesengroße Klüver bereit, auf den Schädel einzuhacken, in dem die Entscheidungen getroffen worden sind, wegen derer sich sein künftiger Reichtum nun für immer in den schäumenden Wellen des Atlantik verliert. Aber was, wenn es keine Gelegenheit zum Briefeschreiben mehr gibt? Und sie ihre Schwester nie mehr zu Gesicht bekommt? Und diese nicht mehr ihre kleine Nichte Ester, deren Lunge sich bald mit salzigem Meerwasser füllen und deren zarter Leib von den Algen und Mollusken der Tiefe zugedeckt wird …

Nein, man darf nicht an das Schlimmste denken, und es ist auf keinen Fall richtig, wenn eine Frau ihrem Mann in einer solchen Stunde Vorwürfe macht. Der vierundzwanzigjährige Oskar Siren zerbricht ohnehin beinahe unter der übermäßigen Last auf seinen Schultern, jetzt, da er alle seine verbliebenen Kräfte zusammennehmen müsste. Womöglich ist Oskar aufgrund seiner Unerfahrenheit als Kapitän gescheitert, hat sein Schiff ins Verderben geführt und achtzehn Menschen in Todesgefahr gebracht. Bestimmt hätte man etwas anders machen können. Man hätte die Anzeichen des kommenden schweren Wetters lesen, noch eine Weile in Liverpool bleiben oder zumindest frühzeitig anlegen und die Eile vergessen können, zu der sie der künftige Geldfürst von seiner nordischen Insel aus antrieb.

Noch an den ersten Tagen des Sturms ging Oskar von einer Art ekstatischem Kampfgeist ergriffen über das Schiff, sich in der Fantasie bereits heldenhaft hervortuend. Aber die Verachtung des alten Erik traf den Erstgeborenen in jedem Moment der Unsicherheit und bei jedem geringsten Irrtum. Das imaginäre Urteil des Vaters veranlasste ihn dazu, sich schon geschlagen zu fühlen, bevor etwas Fatales oder Irreparables geschehen war. In seiner Not korrigierte Oskar einen Fehler durch einen noch größeren Fehler. Und er spürte bis ins Mark, was für eine Eitelkeit es gewesen war, sich auch nur für einen Moment einzubilden, Mann genug zu sein, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und dieses verfluchte Schiff zu beherrschen, anstatt nur wie eine Flickenpuppe am Steuer zu hängen.

»Peterson hatte Recht. Was den Ballast betrifft. Es sind zu wenig Steine. Sie haben uns in Birkenhead hinters Licht geführt, und ich habe nichts unternommen.«

Elin erinnert sich gut an den Briefwechsel, in dem ihr Schwiegervater seinem Sohn die Leviten las, weil es diesem nicht gelungen war, eine geldwerte Ladung aufzutreiben, die er nach Mobile hätte transportieren können, und in dem er insbesondere über den Preis des Ballasts zürnte sowie über die zusätzlichen Kosten, die dessen Be- und Entladung verursachte.

Der verdammte Kerl hat nichts anderes im Kopf als sein verfluchtes Eis, denkt Elin. Er ist ein Ungeheuer und schert sich weder um uns noch um sein Enkelkind oder sonst jemanden! Was soll man von einem Mann halten, der einst seinen sechsjährigen Sohn auf eine einjährige Segelfahrt mitnahm, damit dieser den Beruf des Seemanns erlernte? Dabei konnte man ihm nicht vorwerfen, Abhärtung und Unterdrückung voneinander zu trennen. Das Resultat der folgenden entsetzlichen Segelfahrten war, dass es dem alten Erik nicht gelang, aus seinem Jungen einen echten Seebären zu machen. Oskar lernte nicht, wie sein Vater nach faulen Jungmännern zu treten und dem Küchenjungen eins mit dem Tau zu verabreichen, bis der von selbst auf die Idee kam, über Bord zu gehen. Oskar konnte nicht, als sie bei einer fünfzehnjährigen Hure im Hinterzimmer einer Kneipe in Valparaiso Schlange standen, und aus seinem Mund war auch kein Schwall eindrucksvoller Schimpfwörter auf dem Kommandodeck zu erwarten, ganz zu schweigen von zotigen Gesängen für die Schiffsgenossen. Er ließ sich nicht tätowieren und trank keinen einzigen seiner Untergebenen unter den Tisch, auch wenn, was diese Sache betraf, im Lauf dieser Fahrt eine ermutigende Entwicklung in Gang gekommen war.

»Es sind zu wenig Steine«, sagt Oskar. »Darum verhält der Kahn sich so, wie er es tut. Die Lenkbarkeit ist schwach, das Schiff kommt gegen den Seitenwind nicht an. Mit ordentlichem Ballast wären wir durch die Hafeneinfahrt gekommen. Und der Sand ist wohl nichts als verdammter Torf. Ich war ein Idiot, weil ich Peterson nicht geglaubt habe.«

»Denk nicht mehr daran. In dieser Hölle hätten keine Zaubertricks geholfen.«

Elin beschließt, ihren eigenen Worten zu glauben: es nützt nichts, nach Schuldigen zu suchen. Sinnlos, sich aufzuregen. Das Meer hat Tag für Tag und Nacht für Nacht gewütet. Die Sturmvögel sind verschwunden. Es ist ein Wunder, dass sich die Fregatte so lange über Wasser gehalten hat. Wahrscheinlich weil sie tatsächlich so stark gebaut ist, wie der Schwiegervater getönt hat: das Stützwerk aus Eisen, der Rumpf wesentlich massiver als bei solchen mit Holzbögen, gemacht, um das Kap der Guten Hoffnung, Kap Horn und das Eis der nordischen Gewässer auszuhalten, zum Teufel!

Dennoch. Schiffe entstehen aus den Händen von Menschen, aber das Meer war vor dem Menschen da. Womöglich sogar vor Gott? Am Anfang war die Erde wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Aber bekanntlich wird an keiner Stelle der Bibel gesagt, dass Gott selbst das Meer erschaffen hätte. Das Meer war Gottes Schöpfung nur insoweit, als er zwischen den Wassern eine Feste werden ließ, was immer das auch sein mochte. Er schloss die Tore des Meeres, weil die Wasser aus dem Schoß der Erde schossen und hüllte es in Wolken und wickelte es in Finsternis. Und er machte ihm Riegel und Türen und sagte: »Bis dahin darfst du kommen, nicht weiter. Hier ist die Grenze für deine stolzen Wogen.« Wenn also selbst Gott alle Hände voll zu tun hatte, das Meer zu bändigen, ist es reiner Größenwahn, sich als Mensch einzubilden, gegen eine solche Macht ankommen zu können. Das Meer ist immer stärker als die geschicktesten Konstruktionen des Menschen.

»Geh an Deck. Du wirst dort gebraucht. Ich werde sehen, ob es mir gelingt, Kaffee zu kochen.«

Elin steht auf. Oskar fängt an, im Schein der Sturmlampe Kreuzdornzweige, die am Rocksaum seiner Frau hängengeblieben sind, zu entfernen. Elin versteht nicht, warum er das tut. Sind das die letzten Anstrengungen seines männlichen Beschützerinstinkts, oder ist Oskars Neigung zu übertriebener Sauberkeit so hartnäckiger Natur? Bitte etwas Sorgfalt in diesem Durcheinander, bevor wir alle ertrinken!

Die Kreuzdornzweige haben sie in Liverpool als Weihnachtsdekoration gekauft, aber der Sturm hat mit den an der Kajütenwand befestigten Kränzen längst kurzen Prozess gemacht, wie auch mit den meisten anderen Gegenständen, mit denen Elin versucht hat, die Kajüte wohnlicher und gemütlicher zu gestalten.

Auf dem Fußboden liegen aus den Regalen gefallene Reisebücher und Romane in Urin und Erbrochenem aus umgestürztem Topf und Eimer. Die Frau des Kapitäns denkt an die tapferen und ungestümen Heldinnen der Seefahrergeschichten und schämt sich für ihre seit Wochen anhaltende heimliche Ängstlichkeit. Es wäre großartig, jenen Frauen zu gleichen, aber gibt es solche Frauen überhaupt anderswo als in der Fantasie der Schriftsteller und ihrer leicht an der Nase herumzuführenden Leser?

Vielleicht nicht, und darum soll man nur daran denken, wie die Lage hier und jetzt aussieht. Die Wirklichkeit besteht aus dem nahen Ufer und den Menschen, die dort versammelt sind, sie haben ihre üblichen Heiligabendverrichtungen unterbrochen und beobachten auch jetzt mit Ferngläsern und Fernrohren die Anstrengungen der Fregatte, die den Notruf abgesetzt hat. Gewiss hat man bereits Maßnahmen ergriffen, um die Schiffbrüchigen zu retten, und zwar mit all der britischen Tatkraft, die die Schiffsbesatzung bereits sechs Wochen lang in Liverpool und Birkenhead erleben durfte. Sie würden überleben.

Ein Kapitän darf von seiner Frau die volle Unterstützung bei der Rückgewinnung seines Mutes und seines Kampfgeistes erwarten. Das verlangt jedoch die Kunst der Frau, die Lage einzuschätzen: braucht ihr Mann an erster Stelle einen guten Küchengeist, braucht er mütterliche Wärme, oder wäre es am wirkungsvollsten, sich ein wenig dirnenhaft zu geben?

Elin küsst Oskar leidenschaftlich. Es kommt ihr nicht geheuchelt vor. Nicht ganz. In der Wiederholung noch weniger. In der Kapitänskajüte kann man sich noch aufhalten, aber in der Kombüse dringt das steigende Wasser bereits durch die Ritzen der Bodenplanken, man wird sie bald nicht mehr betreten können. Die Mannschaft braucht Verstärkung. Und der Kapitän muss an Deck. Es eilt!

Oskar nickt, tut aber nichts. Er lässt sich wieder gegen die Rückenlehne des Sofas sinken und begnügt sich damit, mit den Fäusten den Stoff zu kneten, wie ein Kind, das sich an den Rocksaum seiner Mutter klammert.

»Was wird nur aus uns werden?«

Die Frau nimmt seine kalte Hand zwischen ihre Hände. Es ist eine Sache, wenn ihr Mann sich um seine Familie sorgt, aber eine andere, wenn er den unstillbaren Zorn des fernen Vaters fürchtet.

»Mach dir keine Sorgen, Liebster. Es wird uns wohlergehen«, sagt Elin.

»Lass uns zusammen beten!«

»Jetzt wird spürbarere Hilfe gebraucht.«

»Sag das nicht, du als Pfarrerstochter«, erwidert Oskar wehleidig.

»Die Rettungsboote sind bestimmt schon auf dem Weg hierher. Sei nicht bekümmert. Es wird uns wohlergehen. Steh auf!«

Sie deckt das Kind mit einem Wollschal zu und begleitet ihren Mann zur Tür.

»Es wird gut für uns ausgehen«, verspricht sie.

Da erschallt auf der Treppe der Ruf des Schiffsjungen: »Boot in Sicht, Rettungsboot in Sicht!«

Die Frau des Kapitäns hatte Recht. Es ging gut mit ihnen aus, sogar zu gut, fanden manche, auch wenn sie den ganzen Heiligabend und auch noch den Weihnachtstag im kalten, dunklen Wrack auf der Razor Bank ausharren mussten. Erst am Stephanstag ließ der Sturm so weit nach, dass es einem dampfbetriebenen Küstenrettungsschiff gelang, die Schiffbrüchigen in Sicherheit zu bringen. In zwei Fuhren wurden alle achtzehn Menschen, die sich auf dem Schiff befunden hatten, an Land und in das luxuriöse Royal Marine Hotel gebracht. Sogar die Schiffskatze und ein drei Monate alter Hundewelpe kamen mit. Die Presse beeilte sich zu melden, dass es sich beidem Schiff um eine finnische Fregatte unter russischer Flagge handelte.

Sofort begann man freiwillige Spenden zu sammeln, um der Besatzung zu helfen. Whiskeyfabrikant James Talbot-Power und seine Gattin erwiesen der Kapitänsfamilie ihre Gastfreundschaft. In vielen Schilderungen des Unglücks wurde betont, welchen Anteil die Frau des Kapitäns dabei hatte, die Stimmung in der Mannschaft aufrechtzuerhalten. Bei Ebbe war sie jedes Mal furchtlos in die Kombüse gewatet, um Kaffee zu kochen und etwas Essbares zu suchen.

Die Schiffbrüchigen der Palme wurden von der SS Tearagh unter dem Kommando von Kapitän McCombie gerettet, dem bereits dritten Boot, das ihnen zu Hilfe geschickt wurde. Das vorige Rettungsboot, die Hannah Pickard unter dem Kommando von Steuermann Horner, kenterte wenige hundert Meter vor der Palme, drehte sich aber wieder in die richtige Position, und die Ruderer konnten aus dem eisigen Wasser ins Boot klettern. Sie mussten jedoch mit leeren Händen ans Ufer zurückkehren.

Noch schlechter erging es dem Rettungsboot, mit dem Sarah Donoghues Vater und ihr Onkel mit dreizehn Kameraden am Morgen des Heiligen Abends als Erste zu den Schiffbrüchigen aufgebrochen waren, etwa eine Stunde nach dem per Signalflagge gegebenen Notruf. Es handelte sich um das ruderbare Segelboot Civil Service no. 7, das ein erfahrener Steuermann befehligte, nämlich der mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnete Alexander Williams. Die auf dem Wellenbrecher stehenden Beobachter, unter ihnen Sarah Donoghue, sahen das Boot dicht an das Unglücksschiff herankommen. Die Segel waren eingeholt und die Masten eingeklappt worden, die Ruder bereit. Man wollte sich der Fregatte von der windgeschützten Seite her nähern, aber dann warf eine Riesenwelle das Boot um. Dieses war so konstruiert, dass es sich nach einem Kentern von selbst wieder in die richtige Position drehte, aber aus einem unbekannten Grund richtete sich das Boot nicht auf. Einigen Männern gelang es, auf den Kiel des auf den Wellen treibenden Bootes zu klettern. Doch der schwere Seegang spülte sie in ihren schweren Stiefeln und Öljacken ins Meer zurück. Auf der Palme wurde versucht, ein Boot zu Wasser zu lassen, aber dieses wurde an der Schiffsflanke zerschmettert. Auf dem Schiff gab es keine Vorrichtung, mit der man eine Rettungsleine zu den Männern im Wasser schießen konnte. So musste man von Deck aus hilflos zusehen, wie die Männer, die mit ihren Korkwesten im Wasser trieben, nacheinander umkamen.

Als sich die Nachricht von dem Unglück verbreitete, kamen Tausende Menschen am Wellenbrecher und am Ufer zusammen, um die weiteren Rettungsversuche zu beobachten. Die Zeitungen Großbritanniens schrieben in den nächsten Tagen und Wochen seitenweise über die Tragödie. Es wurden Lieder und Schauspiele darüber verfasst. Für die Familien der Opfer gründete man Spendenfonds, die innerhalb weniger Wochen Summen einsammelten, die heute Millionen entsprechen würden. Ihre Majestät Königin Victoria bekundete den Angehörigen per Telegramm ihr tiefes Beileid. Lady Cadogan, die Frau des höchsten Statthalters in Irland, suchte zu diesem Zweck persönlich jedes Trauerhaus auf. Auch die Königin erleichterte ihre Geldbörse um 30 Pfund.

Ein Zeuge der Tragödie war der zwölfjährige James Joyce, der später in seinem Roman Ulysses daran zurückdachte, die Fregatte jedoch fälschlicherweise als norwegische erinnerte.

Der Vater des Steuermanns des zerstörten Rettungsboots, auch er ein mit mehreren Tapferkeitsmedaillen ausgezeichneter ehemaliger Kommandant, kam mit seinem Sohn um. Unter den Opfern waren auch zwei Zwillingspaare. Zwölf Männer hatten Familie. Eine der Ehefrauen war schwanger. Insgesamt blieben fünfzig Waisen und Witwen zurück. Drei Männer hatten ihre alten Eltern allein ernährt. Lordleutnant Cadogan eröffnete die Volkssammlung mit einer bedeutenden Geldsumme und versprach, Irland werde die fünfzehn tapferen Männer nie vergessen, die ihr Leben geopfert hatten, um ihre in Not geratenen Nächsten zu retten. Keine der Witwen und keines der vaterlosen Kinder werde wegen dieses Verlustes Mangel leiden müssen.

Zwei Männer hatte das Meer bis zur Beerdigung nicht zurückgegeben. Einer von ihnen war der 36-jährige William Donoghue. Ein Redakteur der Irish Times schrieb ein bewegendes Porträt von Sarah, der achtjährigen Tochter des Rettungsmannes, die man Tag um Tag am Ufer stehen und auf die Rückkehr ihres Vaters warten sehe. Die Geschichte war nicht erfunden. Kapitänsgattin Elin Siren, die mit ihrem Mann in Kingstown blieb, um die offizielle Untersuchung des Rettungsunglücks abzuwarten, sah vom Fenster ihres Hotelzimmers aus, wie das Mädchen jeden Tag am Wellenbrecher erschien, ganz gleich, welches Wetter herrschte. Sie erwähnte es ihrem Mann gegenüber und schlug vor, hinzugehen und das Kind anzusprechen, aber ihr Mann verstand nicht, was das für einen Sinn haben sollte.

DÚN LAOGHAIRE, HEILIGABEND 2012

Die Aufgabe der Lady auf einem Schiff besteht darin, Navigation zu lernen, zu lesen, sich um die Signalflaggen zu kümmern und mit dem Kapitän auf dem Oberdeck umherzugehen.

LADY FOLLANSBEE IN WIVES OF MERCHANT CAPTAINS UNDER SAIL VON JOAN DRUETT

Die Tagebücher und Reisebriefe von Kapitänsfrauen, die ihre Männer aufs Meer begleiteten, bestätigen meine Auffassung, dass es schon immer ein eigenartiges Los gewesen sein muss, die Frau eines Seebären zu sein, ganz gleich, ob man an Land bleibt oder mit auf See geht. Für mich hat die Möglichkeit nie bestanden, meinen Mann Mikko Rafaelsson auf seinen Dienstreisen an die Grenzen der finnischen Hoheitsgewässer und darüber hinaus an verschiedene Krisenherde der Welt zu begleiten.

Er verrichtete sein Lebenswerk als Marineoffizier bei der Küstenwache und ging vor einem halben Jahr nach vollumfänglichem Dienst mit nur vierundfünfzig Jahren als Kommodore in Pension. Dieser dreiwöchige Aufenthalt in Irland ist unsere erste lange gemeinsame Auslandsreise. Heute haben wir uns von Dublin nach Dún Laoghaire umquartiert, dem ehemaligen Kingstown, vor dem die Palme im Jahr 1895 Schiffbruch erlitt. Ihren irischen Namen erhielt die Stadt in der Zeit der Republik zurück.

An Mikko schälen sich jeden Tag etliche neue Seiten heraus, seitdem er überraschend und energisch den Wunsch geäußert hat, mir bei der Recherche im Fall der Fregatte Palme zu helfen. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Ich bin es nicht gewohnt, dass sich jemand mit dem Material eines unfertigen Romans beschäftigt, aber zweifellos sind mir seine Fachkenntnisse eine große Hilfe.

Ich beschäftige mich schon eine Weile mit dem Unglück der Palme. Dabei sind allerlei Fragen aufgetaucht, die ich gern Matti Salkonen gestellt hätte, als der noch lebte. Ich erinnere mich an mehrere Geschichten, die der alte Mann erzählt hatte, aber keine, die mit diesem Fall zu tun gehabt hat. Ich weiß nur, dass er sich zum Zeitpunkt der Havarie auf dem Schiff befand.

Oft habe ich mich gefragt, was mit den Gegenständen passiert ist, die er aus dem Ausland mitgebracht hatte. Für uns kleine Mädchen waren sie immer ganz und gar erstaunlich gewesen. Wahrscheinlich ließ meine Mutter sie nach dem Tod des Alten auf die Müllkippe bringen, weil sie nur unnützen Schrott darin sah. Die amerikanische Eismaschine verschonte sie, aber am Ende verschwand auch die irgendwo. Trotzdem kann ich mich noch gut daran erinnern: ein weinroter zylinderförmiger Apparat mit dem Bild eines Eskimos, gusseiserne Kurbel mit Porzellangriff, an der meine Schwester und ich mit unseren kleinen Händen drehen durften. Das fertige Eis klatschte der Alte in Metallbecher mit Fuß, wie sie damals in Eisdielen verwendet wurden. Jede Portion wurde mit einem kleinen, bunten Papierschirm dekoriert – Gott weiß, wo er die aufgetrieben hatte –, die wir danach als Sonnenschirme für unsere Puppen aufbewahrten.

Der Name der Maschine dürfte das erste englische Wort gewesen sein, das ich lernte: Blizzard, was Schneesturm bedeutet. Der Alte tat so, als staunte er über eine so enorme Sprachbegabung. Dem Mädchen geht das Englische wie Wasser über die Lippen, sagte er.

Zum Glück war mein Vater nicht dabei und konnte die Stimmung nicht stören. Er hätte wahrscheinlich bloß trocken angemerkt, dass es nichts Außergewöhnliches sei, wenn eine Sechsjährige lesen könne. Hat mein Vater das Haus überhaupt je betreten? In meiner Erinnerung setzte er uns vor der Ansammlung von Holzhäusern an dem Platz namens Veistämöntori in Turku ab, wo der Alte immer aufrecht auf den Pflastersteinen stand und sofort die Zigarette ausdrückte, wenn unser grüner Triumph Herald in seinem Blickfeld erschien.

Soweit ich mich erinnere, nannten meine kleine Schwester und ich den alten Mann nie Uropa oder dergleichen. Mädels, heute geht ihr zu Salkonen, sagte unsere Mutter. Ich verstehe, dass sie einen Mann, der nach nur wenigen Jahren Ehe seine Familie verlassen hatte, nicht Opa nennen wollte, aber Salkonen? Mein Vater nannte ihn auch den Klarierer. Ich hatte immer gedacht, das sei ein Spitzname – mein Vater hatte ein Faible für seiner Meinung nach witzige Umdeutungen von Berufsbezeichnungen, so bezeichnete er Mikko zum Beispiel als Meerversteher –, aber tatsächlich war der Alte Schiffsmakler gewesen, und es kann durchaus sein, dass man die Makler im Turkuer Hafen mit allem Respekt Schiffsklarierer rief.

Ich wüsste nicht, dass der Alte je bei uns gewesen wäre, nicht einmal an Weihnachten. In den pfingstbewegten Augen meiner Eltern war Matti Salkonen mit Sicherheit ein unverbesserlicher Sünder, der nicht an Gott glaubte, dafür aber rauchte und auch seinen Schnaps trank. Und der sich auf seine alten Tage noch mit allen möglichen zwielichtigen Seeleuten abgab. Im Grunde war es erstaunlich, dass wir unschuldigen kleinen Mädchen mit unseren straffen Zöpfen wenigstens ein paarmal im Jahr zu dem rüstigen alten Mann gebracht wurden.

An das Eismachen erinnere ich mich, weil das ganze Ritual so außergewöhnlich war. Alles begann mit der großen Holzkiste im Keller des Alten, wohl eine ausgediente Kartoffelkiste. Sie schien voller Sägemehl zu sein, aber wenn man ein wenig darin grub, hatte man auch im Sommer gleich glänzende Eisbrocken in der Hand. Die kamen in eine Waschschüssel, wo sie zerstoßen wurden. Dann wurden sie zusammen mit grobem Salz an den Rändern des Apparats verteilt. Die Zubereitung des Eises wurde von gründlichen Schilderungen über den Ursprung der Zutaten begleitet. Es hatte den Anschein, als würde der Alte nie ein Geschäft betreten, so wie es andere Menschen taten. Inzwischen denke ich, dass er sich in seinen Jahren als Schiffsmakler ein Netz aus Bekannten geschaffen hatte, mit denen er sich im ständigen Tauschhandel befunden hatte. Diesen Brauch setzte er dann im Ruhestand fort. Es klang, als hätte er bis zum Schluss mit Schiffsleuten zu tun gehabt, auch wenn der größte Teil seiner Auftraggeber aus unvordenklichen Zeiten in unserer Kindheit längst das Gras von unten betrachtete.

Wenn ich den Geschichten des Alten lauschte, hatte ich das Gefühl, sein Leben sei ein einziges großes Meeresabenteuer gewesen, von einem exotischen Hafen zum nächsten. Wenn ich für irgendein Dessert eine Vanillestange auskratze, sehe ich noch immer den Alten vor mir, wie er mit einem Tropenhelm auf dem Kopf Vanille aus dem Dschungel holt, über der Schulter ein Gewehr wegen der gefährlichen Raubtiere. Seinen Schilderungen zufolge muss er auch in dem seltenen Moment im Tropenwald gewesen sein, als die Vanilleorchidee blühte. Er hatte unbedingt mit eigenen Augen sehen wollen, wie die Indianer behutsam die Pflanze bestäubten, indem sie nur wenige Blüten auswählten, damit die Pflanze nichts von ihrer Lebenskraft verlor.

Die Wahrheit entspricht jedoch nicht den Geschichten, die ein alter Mann zwei kleinen Mädchen erzählt hat. Je länger ich die Unterlagen, die Matti Salkonen hinterlassen hat, studiere, umso mehr sieht es aus, als wäre er nicht mehr zu einer längeren Seereise aufgebrochen. Nach der Havarie in Irland an Heiligabend 1895 war er, soweit man wusste, nicht mehr über Stockholm hinausgekommen.

»Was weißt du denn sonst über deinen Urgroßvater, über seine Kindheit und seine Familie?«, fragte Mikko, als er sich am Morgen rasierte. Ich musste zugeben, dass ich so gut wie nichts wusste. Laut der Familienforschung meiner Cousine Sanni hieß der Vater des Alten Lars Sahlman, geboren in Turku, und der Mädchenname seiner Mutter lautete Mary Adams, geboren in Liverpool. Den Dokumenten nach war der Vater Großhändler gewesen, als Beruf der Mutter war Tänzerin verzeichnet.

»Ach, du hast englische Wurzeln«, sagte Mikko. »Übrigens außergewöhnlich, dass die Mutter einen Beruf hatte. Zur damaligen Zeit hatten die wenigsten Frauen einen. Die Ehe ist wohl irgendwann nach 1870 geschlossen worden. Der Beruf der Tänzerin bedeutete im viktorianischen Britannien, dass sie entweder Ballerina im Königlichen Ballett gewesen war, oder aber in einem Varieté gearbeitet hatte. Da es um Liverpool geht, tippe ich auf das Zweite.«

»Willst du damit andeuten, dass eine Vorfahrin von mir ein Flittchen war?«

»Wer weiß … Du Perle, in heißen Ländern daheim, Ramona, wann wirst du wieder mein Eigen sein, Ramona …«

Vergebens versuchte ich das nervende Gesinge zu unterbrechen.

»Nur einen Zehner gab ich dir und durfte kurz mit dir tanzen dafür, du Tänzerin meiner Träume, Ramona …«

»Na ja, aber die Tatsache, dass sie ihren Beruf auf jeden Fall selbst angab, spricht meiner Meinung nach dafür, dass sie stolz darauf war.«

»Und der Vater hatte eine Art Handelshaus?«

»Ein lange sehr erfolgreiches sogar«, sagte ich, »Importhandel. Aber dann ging etwas schief. Meine Cousine Sanni hat irgendwo einen Vermerk entdeckt, demzufolge Lars Sahlman im Jahr 1890 durch eigene Hand gestorben sei. Im selben Jahr ging er in Konkurs, hat Sanni herausgefunden.«

»Sein Schicksal dürfte nicht allzu außergewöhnlich gewesen sein. Damals gab es kein soziales Netz und keine Versicherungen, die alles abdeckten. Man konnte in kurzer Zeit zu märchenhaftem Reichtum gelangen, aber eine Wendung in der Konjunktur, ein Brand oder eine Havarie konnte alles zum Einstürzen bringen, und dann blieb einem Mann, der gerade noch für erfolgreich gehalten worden war, keine andere Wahl, als sich eine Kugel in den Kopf zu schießen.«

»Es muss auch andere Möglichkeiten geben!«, widersprach ich. »Ein Mann, der sich eine Frau genommen und Kinder in die Welt gesetzt hat, hat nicht das Recht, einfach so aus ihrem Leben zu verschwinden. Oder?«

Mikko klopfte den Rasierapparat am Rand des Waschbeckens aus und wollte das Thema offensichtlich nicht weiterverfolgen.

»Und, was ist mit der Tänzerin passiert?«

»Sie ist zumindest aus den Akten verschwunden. Keine Informationen.«

»Wie ist es den Kindern ergangen?«

Davon hatte ich eine gewisse Vorstellung. Ich erzählte Mikko, wie wir einmal mit dem alten Salkonen im Hafen spazieren waren und er auf ein Gebäude zeigte und sagte, da sei einmal ein Waisenhaus gewesen, das Päivölä geheißen habe. Angeblich hatte er dort viele Jahre seiner Kindheit verbracht. Ich erinnere mich gut, denn mein schlimmster Albtraum war, wie bei Kindern wohl üblich, von meiner Mutter und meinem Vater getrennt zu werden.

»Anscheinend hatte dein Urgroßvater eine ziemlich trostlose Kindheit.«

Vielleicht waren die düsteren Kindheitserlebnisse des Matias Sahlman der Grund dafür, warum er später seinen Namen in Matti Salkonen ändern ließ. Oder hatte es mit der Kampagne der fennomanischen Bewegung zu tun, in deren Zuge man die Finnen dazu aufgefordert hatte, ihre schwedischen Namen in finnische umzuwandeln? Wir ließen uns diese Dinge später am Vormittag noch durch den Kopf gehen, als wir auf dem Wellenbrecher, der dem eisigen Wind des Heiligen Abends ausgesetzt war und endlos zu sein schien, zur Gedenkstätte für das Rettungsbootsunglück spazierten. Wie seit mehr als hundert Jahren an Weihnachten sollte dort den fünfzehn tapferen Männern die Ehre erwiesen werden, die ihr Leben gaben, in dem Versuch, die Besatzung des finnischen Schiffes zu retten, zu der auch mein Urgroßvater gehörte.

Der Wind wurde energischer und brachte Schneeregen mit. Wir trugen Daunenjacken und die Freiwilligen der Rettungsstation ihre gelben Rettungsanzüge, aber die armen Vertreter der irischen Küstenwache standen ohne Mäntel in ihren ziemlich dürftigen marineblauen Dienstanzügen und mit weißen Mützen da. Die Zeremonie wurde von einem Mann in Kilt und kariertem Umhang eröffnet. Er spielte Trauermusik auf einem Dudelsack und marschierte auf dem Dach des Wachturms am Ende des Wellenbrechers hin und her. Er gehörte dem Musikkorps der Dubliner Feuerwehr an und war vermutlich mit einem der Opfer des Unglücks verwandt. So sagte es ein Mann, der neben uns stand und es eilig hatte, seine Pfeife auszuklopfen, als das klagende Spiel einsetzte.

Nach der Festrede trat ein Sänger mit Gitarre ans Mikrofon und trug eine im Jahr des Unglücks entstandene lange Ballade mit dem Titel »Fifteen Brave Men« vor. Immer wieder setzte das Mikrofon bei dem starken Wind aus, und ein besorgter junger Mann musste hinlaufen und es drehen und wenden, aber wir konnten den düsteren Text im Festprogramm lesen:

A gale was blowing from south-east

The sea was white with foam,

When those brave men, that morning,

Left families and home.

They went out in the lifeboat

This vessel’s crew to save,

But in their human effort

They met a watery grave …

Nach dem Lied führten ein Seenotrettungsschiff und ein mit Außenbordmotor ausgerüstetes Schlauchboot, das ihm folgte, einen Salut aus, indem sie langsam an den Menschen auf der Spitze des Wellenbrechers vorbeifuhren. Mikko, der in der Broschüre, die von den Organisatoren verteilt worden waren, blätterte, erklärte mir, das Schiff namens Anna Livia, das so melancholisch die Sirene ertönen ließ, sei ein Allwetter-Seenotrettungsschiff der Trent-Klasse für Einsätze auf offener See bei allen Bedingungen. Damit wurden nun Kränze an die Stelle gebracht, wo die Civil Service no. 7 mit den fünfzehn Seenotrettern gekentert war. Mikko schätzte, dass die Ehrenerweisung dreihundert Meter entfernt von uns, die wir am äußersten Ende des Wellenbrechers standen, stattfand. Wieder ertönte die Sirene. Der junge Mann vor uns, der ein grünes Barett trug, nahm plötzlich Haltung an und salutierte der Anna Livia.

»Dieser Junge ist ebenfalls mit einem der Ertrunkenen verwandt«, flüsterte der Mann mit der Pfeife.

Es wurden noch einige Kränze vom Ufer aus ins Wasser geworfen, dann war der feierliche Akt vorbei, und dies wahrlich nicht zu früh. Im Laufschritt eilten wir zur Rettungsstation, wo eine kleine Nachfeier stattfinden sollte. Alle, die an der Zeremonie teilgenommen hatten, waren eingeladen.

Gott sei Dank gab es dort etwas Heißes zu trinken, Tee natürlich, aber an einer Seite des Tisches stand sogar eine Pump-Thermoskanne mit Kaffee. Mikkos Aufmerksamkeit richtete sich sogleich auf eine Bilderserie an der Tür. Auf den untereinander angeordneten Fotos sah man den Kentertest der Anna Livia. Auf dem ersten Bild wurde das Boot mit Hilfe eines Krans umgedreht, auf dem nächsten wurde das Tragseil des Krans gelöst und auf dem folgenden, innerhalb weniger Sekunden aufgenommenen, drehte sich das Boot in die richtige Position zurück. Die Eigenschaft, die bei diesem Test geprüft wurde, hieß Selbstaufrichtung. Mikko zufolge wurden bei normalen Wasserfahrzeugen lediglich Neigungstests, die ausreichende Stabilität garantierten, durchgeführt.

»Stabilität … gibt es auch instabile Schiffe?«

Mikko sah sich die Bilderserie lange an, und der Mann mit der Pfeife trat zu ihm. Es stellte sich heraus, dass er ein Kollege war. Mikko erzählte, in Finnland sei in diesem Jahr der erste Kentertest am Prototyp eines Seenotrettungsboots von der Größe der Anna Livia vorgenommen worden. Darum interessiere er sich für das Thema. Bei den Schiffen der finnischen Marine würden solche Tests nicht gemacht, weil ein Kriegsschiff nach dem Kentern auf jeden Fall funktionsuntüchtig sei. Wir machten uns miteinander bekannt. Als der Ire hörte, dass Mikko ein pensionierter Marineoffizier im Rang eines Kommodore war, grüßte er militärisch und sagte:

»Rafaelsson? Schutzengel dem Namen nach und Schutzengel von Natur aus?«

Er stellte sich als Korvettenkapitän a. D. Murdoch vor. Ich erzählte ihm, warum wir an der Zeremonie teilgenommen hatten: mein Urgroßvater sei als Junge auf dem Unglücksschiff Palme gewesen, und ich recherchiere die Geschichte als möglichen Stoff für einen Roman.

Der Mann zog seine Visitenkarte und einen kleinen Flachmann aus der Tasche. Daraus goss er Whiskey in Mikkos Kaffee und seinen Tee.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, zögern Sie nicht, sich mit mir in Verbindung zu setzen«, sagte Murdoch. Er betreibe in der Hauptstraße von Kingstown einen kleinen maritimen Souvenirladen, in dem wir sehr willkommen seien.

Mikko wollte mehr über die Kentertests hören, und der Mann berichtete, diese seien bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden. Ich fragte ihn, ob Grund zu der Annahme bestand, dass man auch bei der Civil Service no. 7, die beim Rettungsversuch der Palme gekentert war, einen solchen Test vorgenommen habe.

»Absolut«, sagte Murdoch. Das Boot sei damals eine ziemlich große Anschaffung gewesen, der Cassius Clay der Rettungsboote, das größte und schönste von allen. Zweiundvierzig Fuß lang, elf Fuß breit. Der Rumpf aus Mahagoni, die Lufttanks aus galvanisiertem Eisenblech und die dem Wetter ausgesetzten Metallteile aus Messing. Wie die Titanic sei es für unsinkbar erklärt worden. Darum sei das Unglück auch so unfassbar.

»Der verfluchte Kahn hätte sich aufrichten müssen, ganz gleich, was für eine Welle ihn umgeworfen hatte«, sagte Murdoch kopfschüttelnd. »Auch wenn es damals noch das altmodische Denken repräsentierte. Bald kamen maschinenbetriebene Rettungsschiffe auf, aber wer konnte das damals schon wissen. Die Offiziere der Rettungsgesellschaft waren wie Generäle, die sich stets darauf vorbereiteten, den vorigen Krieg zu gewinnen.«

Wir erfuhren, dass ein gewisser George Lennox Watson das Boot konstruiert hatte, der damals auch der Hofdesigner von Königin Victoria und ihrer Thronfolger gewesen war. Der Bursche habe Yachten für den deutschen Kaiser und für viele amerikanischen Millionäre entworfen, vor allem aber trage die legendäre HMY Britannia seine Handschrift, die Yacht, auf der Albert, der Prinz von Wales und älteste Sohn der Königin, jahrelang seine starlings bei Laune hielt, während er auf die Königswürde wartete.

»Und das waren eine Menge an Jahren wie an Frauen«, grinste der Ire. Auch der nächste König, George V., liebte das Schiff so sehr, dass er damit beerdigt werden wollte.

»Da hätten sie ein ziemlich langes und tiefes Grab ausheben müssen«, meinte Mikko. Soweit er sich erinnere, sei die Britannia mehr als hundert Fuß lang gewesen, und an Tiefgang müsse sie weit über zehn Fuß gehabt haben.

»Ihre Schätzung geht in die richtige Richtung, ist aber nicht ganz hinlänglich, Sir. Die Länge der Britannia betrug einhundertzwanzigeinhalb Fuß und ihr Tiefgang fünfzehn Fuß.«

Laut Murdoch war das Schiff in jeder Hinsicht überlegen gewesen. Es gewann eine Rekordzahl von Regatten sowohl in europäischen als auch in amerikanischen Gewässern. Übrigens werde die Wettkampfflagge der HMY Britannia noch immer im St. George Yacht Club aufbewahrt, der sich in fußläufiger Entfernung von der Rettungsstation befinde.

Mikko übersetzte mir die Fuß in Zentimeter und Meter: die königliche Yacht war demnach siebenunddreißig Meter lang. Wichtiger als die Länge war jedoch, dass ihr Kiel bei maximaler Zuladung bis in fast fünf Meter Tiefe reichte.

»Warum war das so wichtig?«

»Weil man in der Dublin Bay Männer einsetzen musste, die sich mit den Bedingungen auskannten. Gezeiten, Strömungen und Seegang verändern ständig die Sandbänke. Auf die Seekarten kann man sich da nicht verlassen. Nur Einheimische konnten ein Schiff navigieren, das einen solchen Tiefgang hatte. Einzig der hiesige Lotse traute sich, den optimalen Kurs zu wählen. Der Prinz muss bei den Wettfahrten, die in dieser Bucht stattfanden, einen Skipper aus Kingstown angeheuert und in der Crew einen Haufen einheimischer Fischer und Seeleute gehabt haben.«

Wir meinten, wir wären für diesen Tag genug gelaufen und würden schnurstracks ins Hotel gehen, wo zumindest ich ein heißes Bad nehmen würde. Aber wir würden wiederkommen. Murdoch nahm uns das Versprechen ab, dass wir nicht zögerten, Kontakt mit ihm aufzunehmen, wenn er uns in irgendeiner Weise bei unserer Recherche behilflich sein könne. Zum Schluss nahm er noch die Chronik der RNLI aus dem Schrank der Dienstkabine, die auch eine längere Darstellung der Havarie der Palme und der Tragödie der Civil Service enthielt.

Vor der Rettungsstation waren Verkaufsstände aufgebaut worden, aus denen die Aromen von heißen Kastanien, Krapfen und Zimt in die nasskalte Luft aufstiegen. Sie erinnerten mich an die Düfte auf dem Markt von Turku an den Heiligabenden meiner Kindheit, an Fackeln, Kerzen, Winteräpfel … Und an den Geruch von nasser Wolle, wenn die selbst gemachten Strümpfe und Filzstiefel auf den Verkaufstischen der Marktleute im Lauf des Tages die Feuchtigkeit der Luft aufnahmen.

Anlässlich des Heiligabends kaufte ich uns Scones, die die Frauen des Fördervereins der RNLI gebacken hatten. Mikko interessierte sich für einen Hubschrauber mit Fernsteuerung, den ein kleiner Junge unglaublich geschickt fliegen ließ. Angeblich handelte es sich um einen Sea King, einen Rettungshubschrauber, wie er im Dienst der britischen und irischen Küstenwache stand. Der Verkäufer erzählte, Prinz William sei Pilot eines solchen Helikopters. Mikko wollte wissen, ob der Umgang damit schwer zu erlernen sei. Der Junge schaute ihn an und sagte:

»Ist der für Sie, Sir? Dann würde ich sagen, dass es nicht lange dauern wird, bis es läuft.«

Mikko nuschelte etwas von seinem siebenjährigen Enkel, aber der Verkäufer und ich tauschten einen vielsagenden Blick.

Irische Hotels sind insofern angenehm, als sie fast immer eine Badewanne haben. Während ich Wasser in die Wanne ließ, versuchte sich Mikko an den Künsten Prinz Williams beim Steuern des Helikopters. Er ließ das zwei Fäuste große Ding über dem Bett fliegen, schaffte es aber auch, es gegen die Wände, die Schranktüren und die Sessel prallen zu lassen, bis es abstürzte und auf den Teppichboden fiel. Ich sagte, jetzt könnten wir den Hubschrauber nicht mehr als verspätetes Weihnachtsgeschenk für Ville nach New York schicken. Mikko behauptete, das Gerät sei erstaunlich robust.

Ich lag lange in der Badewanne und trank Sekt der Marke Ocean, aber das Surren, die Aufprallgeräusche und die gedämpften Flüche, die durch die Tür drangen, beeinträchtigten meinen Genuss ein wenig. Wenn der Hubschrauber auf den Boden fiel, hörte man das gleiche Rattern wie an den Fahrrädern von kleinen Jungen, wenn sie Pappe zwischen die Speichen steckten. Als ich mich abduschte, meinte ich, Mikko etwas sagen zu hören und öffnete die Tür. Aber er hatte nicht mich gemeint, er telefonierte.

Ich föhnte mir die Haare, schminkte mich und probierte die roten Ohrringe aus, die ich gekauft hatte. Ein bisschen grell für eine Frau in meinem Alter, aber es war ja Heiligabend. Rot schien in Irland allerdings nicht so eine charakteristische Weihnachtsfarbe zu sein wie bei uns im Norden. In den meisten Kaufhäusern und Pubs waren die Christbäume hauptsächlich blau geschmückt, sogar die Kleidung der Plastikweihnachtsmänner war blau.

»Du hast lange telefoniert«, sagte ich, als ich ins Zimmer zurückkam.

Mikko berichtete, er habe Koistinen angerufen, den Chefausbilder für die Hubschrauberpiloten des Grenzschutzgeschwaders. Ich traute meinen Ohren nicht.

»Du hast den Mann wegen eines Spielzeugs an Heiligabend angerufen?!«

»Weißt du, die haben das gleiche Funktionsprinzip und die gleiche Steuer-Avionik wie die großen Helikopter. Den Hauptrotor steuert man mit dem einen Joystick und den Heckrotor mit dem anderen.«

Er wollte mir zeigen, wie der Helikopter auf dem Papierkorb landet.

Ich sagte, wenn mein Nagellackfläschchen wegen des Apparats auf der Tagesdecke des Hotels umkippe, habe er seinen letzten Flug hinter sich, weil ich ihn dann nämlich aus dem Fenster werfen würde. Und das Handy hinterher.

Mikko warf mir einen gefügigen Blick zu, ließ den Hubschrauber hübsch auf dem Fußboden landen und schaltete die Fernbedienung aus.

»Da sieht aber jemand schön aus«, sagte er und erinnerte mich an seine ehelichen Rechte. Ich bat ihn so lange um Geduld, bis der Nagellack getrocknet war.

Ich hatte also umsonst befürchtet, in der fremden Kultur ein trostloses Weihnachten zu erleben, denn auch hier herrschte Friede im Land und bei uns beiden guter Wille, und als Engel brummte ein Minihelikopter am Himmel.

KINGSTOWN, WEIHNACHTSTAG 1895

Der Bostoner Diplomat Edward Everett wurde im Jahr 1882 in London dem indischen Prinzen vorgestellt, welcher Everett fragte, was er für die wichtigste Sache und die größte Segnung halte, die man aus Amerika und insbesondere aus Boston nach Indien gebracht habe. Everett zeigte sich unschlüssig, ob es sich dabei um die Tätigkeit der Missionare, das allgemeine Schulsystem oder womöglich um Daniel Websters Bunker-Hill-Rede gehandelt haben mochte.

Der Inder entgegnete, das absolut Bedeutendste, das die Amerikaner in sein Land gebracht hätten, sei Eis aus Boston gewesen.

CAPTAINS OF INDUSTRY, 1884

Daniel

Im George – dem Königlichen St. George Segelclub – verfertigt Daniel Ford mit der Kraft von zwei Whiskeys und zwei Bieren den ersten Artikel über das Rettungsunglück an Heiligabend. Es ist eine Beschreibung der Stimmung, die am Vormittag im Krankenhaus von Monkstown geherrscht hat, als die Angehörigen kamen, um die Leichen der Lebensretter zu identifizieren, die im Lauf der Nacht und des Morgens geborgen worden waren. Er ist mit seiner Leistung zufrieden, auch weil er diesmal nichts hinzuerfinden muss. Nun gut, nicht alles kann und soll man wahrheitsgemäß schildern. Man denke nur an den Vater der Gebrüder Saunders. Dieser würde garantiert nicht wollen, dass jemand in der Zeitung liest, wie er auf die Knie fiel und wie ein kleines Kind in Tränen ausbrach, als er seine einzigen Söhne auf zwei nebeneinander stehenden Tischen liegen sah. Daniel ist sich sicher, dass ihm der Alte für die Wahrung seiner männlichen Würde in ein paar Jahren noch einmal innerlich dankbar sein wird. »Die Trauer des Vaters über den Verlust der beiden Helden war in diesem Moment so niederschmetternd, dass nicht einmal der erfahrene Seemann vermeiden konnte, dass ihm eine Träne ins Auge trat« et cetera …

Auf der schwitzenden Hand ist ein Tintenfleck entstanden, von dem verdammten Waterman-Füller, den er sich in aller Eile in der Redaktion geschnappt hat. Daniel holt sein Taschentuch hervor und kippt sich den letzten Rest des vom Kaminfeuer warmen Biers in die Kehle. Er ist fast fertig, noch wenige Zeilen, dann kann der Laufbursche der Redaktion mit seiner Beute auf den Zug nach Dublin springen. Daniel schaut aus dem Fenster. Der Sturm will nicht nachlassen, im Gegenteil. Zwischen den berghohen Wellen erkennt man den geisterhaft schwankenden Rumpf der schiffbrüchigen Fregatte auf der Sandbank. Daniel geht zum anderen Fenster. Auf dem nassen Wellenbrecher steht noch immer das kleine Mädchen, mit dem er vor über einer Stunde gesprochen hat. Es trägt eine Männeröljacke und einen Südwester, aber das arme Kind muss trotzdem völlig durchgefroren sein. Eine elende Angelegenheit durch und durch. Der dreißigjährige Onkel des Mädchens war unter den ersten Ertrunkenen, die ans Ufer gespült wurden, aber die Leiche des Vaters ist noch immer nicht aufgetaucht. Und wenn es nach der Kleinen geht, kann sie auch nicht auftauchen. Der Papa ist nämlich gar nicht ertrunken, sondern hat sich auf die Fregatte gerettet. Ein freundlicher Herr hat der Armen ein Fernrohr geliehen, und damit hat sie ihren Vater über das Deck des Schiffes stiefeln und in Richtung Festland winken sehen.

Daniel erinnert sich, wie die Ärmste ihn unter ihrer lächerlich großen Kopfbedeckung heraus mit vertrauensvollen Feenaugen angeschaut und erzählt hat, dies sei ganz und gar nicht das erste Mal, dass ihr Vater aus dem Boot gefallen sei. Wer weiß wie oft schon habe der Papa die Dummköpfe ausgelacht, die schon geglaubt hatten, er blase im Musikkorps des heiligen Petrus den Dudelsack. Ihr Vater sei nämlich ein hervorragender Schwimmer und der beste Lohnskipper im Segelclub, das wüssten alle. Wenn Onkel Thomas im Schwips behaupte, seinen Bruder eines Tages zu übertreffen, dann bilde er sich zu viel auf sich ein. Ihr Vater habe gesagt, so etwas könne auf dieser Insel nur ein Mann von sich geben, der voll bis an die Kiemen sei. Das Kind war sich seiner Sache unerschütterlich sicher. Sobald der Sturm abflaue, käme der Vater an Land, und dann würden sie zusammen mit ihrem Bruder mit der Eisenbahn nach Dublin fahren und sich das Puppentheater ansehen.

Soll er darüber schreiben?

Daniel tritt vom Kamin weg, und der Butler des Segelclubs kommt, um das Feuer zu schüren.

»Alles in Ordnung, Sir?«

Der Butler wirft einen Blick auf das leere Whiskeyglas, das auch kein Eis mehr enthält.

»Bitte noch einen Whiskey … Oder nein … doch lieber ein Bier«, ruft Daniel dem Mann hinterher. »Und ein Schinkenbrot nach Art des Earls von Sandwich!« Er setzt sich wieder hin und liest dort weiter, wo er stehengeblieben war.

»Die Gesichter vieler Männer bezeugten, dass ihr letzter Moment ein verzweifelter Kampf war. Ein Teil der Bekleidung fehlte. Einer der Männer trug nur noch einen Stiefel. Sie hatten versucht, sich im heftigen Todeskampf ihrer Öljacken und ihres Schuhwerks zu entledigen. Andere wiederum sahen vollkommen ruhig aus und schienen lediglich zu schlafen.«

Daniel nimmt ein frisches Blatt, aber anstatt darauf weitere Zeilen zu schreiben, zeichnet er eine Skizze von dem durchnässten kleinen Mädchen, das neben dem Wellenbrecher am gepflasterten Rand der Straße stand. Man muss in diesem Beruf stenografieren können, aber Daniel übt sich in allen möglichen Situationen auch in der Kunst des Zeichnens. Ein Reporter, der die Fähigkeit besitzt, rasch eine dramatische Zeichnung zum Thema seines Artikels anzufertigen, ist bei jeder Zeitung im Königreich ein gefragter Mann.

Der Butler bringt ein Tablett mit Broten und Bier. Daniel drückt das Löschblatt auf die Zeichnung und beißt in das Brot.

Noch nicht das Mädchen! Es ist humaner abzuwarten, bis die Leiche des Vaters auftaucht.

»Sagen Sie, Hunter, besucht Bertie … der Prinz von Wales, meine ich, häufig Ihren Club?«, fragt er den Butler beiläufig.

»Verzeihung Sir, aber ich beantworte nicht gern Fragen privater Natur, die Seine Hoheit betreffen.«

»Natürlich nicht. Vertraulichkeit geht vor. Ich frage mich nur … Ich habe nämlich darüber geschrieben, wie er im August die Regatta gewann. Oder genauer gesagt sein Boot, die Britannia. Das von Jameson gesteuert wurde. Oder wenn man es ganz exakt formuliert, haben die hiesigen Fischer und Skipper den Sieg nach Hause geholt, von denen gestern Morgen bedauerlich viele ertrunken sind.«

»Ja, das ist sehr traurig, Sir.«

»Was wird nun aus der Siegesserie des armen Bertie? Wo es seine Crew so schlimm erwischt hat.«

Der alte Mann wischt ausdruckslos nicht vorhandene Staubpartikel vom Nebentisch.

»Meine Güte, Hunter. Es war doch etwa keiner der Männer mit Ihnen verwandt?«

»Nein, Sir.«

»Ich frage mich gerade, ob Sie den Prinzen eigentlich persönlich bedient haben.«

Hunter scheint kurz die Alternativen abzuwägen, bis schließlich die Eitelkeit siegt.

»Ja, Sir, ich hatte in der Tat die Ehre, ihn persönlich zu bedienen.«

»Dann warten Sie sicherlich sehr auf die Ankunft des Thronfolgers zur Regatta im nächsten Sommer.«

»Heutzutage bediene ich hier nur außerhalb der Saison, Sir. Verzeihen Sie, ich möchte lieber nicht weiter über das Thema sprechen.«

»Verstehe. Verzeihen Sie meine Neugierde.«

Daniel wendet sich wieder seiner Schreibarbeit zu. Also gut, quälen wir den alten Butler nicht weiter, sondern berichten wir den Lesern der Irish Times von einem Mann, der um eine Minute zu spät zum Untergang kam.

»Der zweite Steuermann der Civil Service no. 7 heißt John Caffrey. Zu seinen Pflichten gehört es, die weiter weg wohnenden Rettungsleute einzusammeln, nachdem mit der roten Rakete und der von Hand gekurbelten Sirene Alarm geschlagen worden ist. Caffrey erreichte das Ufer mit einer Minute Verspätung und entging dadurch dem erschütternden Schicksal seiner Kameraden. Aufgrund dieser Verspätung ist davon auszugehen, dass Alexander Williams, der Kommandant des Rettungsbootes, ein gewöhnliches Mitglied der Mannschaft anwies, Caffreys Aufgaben zu übernehmen.«