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Sie hielt die Familie zusammen – doch ihr dunkelstes Geheimnis nahm sie mit ins Grab
Finnland 2009: Nach einer gescheiterten Ehe lässt Risto alles hinter sich und zieht sich zurück aufs Land, in das kleine Natursteinhäuschen an der zerklüfteten Küste, das er von seiner Großmutter Saida geerbt hat. Um Ordnung in sein eigenes Leben zu bekommen, beginnt er die Geschichte seiner Familie zu ergründen. Fasziniert von seiner Großmutter, die ihm zu Lebzeiten eher fremd war, taucht er immer tiefer ein in ihr schicksalhaftes Leben – ein Leben voller Entbehrungen zur Zeit des finnischen Bürgerkriegs. Nach und nach findet er mehr heraus über Saida, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Tochter eines Predigers geboren wurde, über ihre Kindheit im Schatten des herrischen Vaters, über ihre Ehe mit Sakari, in der sie erst etliche Hindernisse überwinden mussten, ehe sie zueinanderfanden, und über das dunkle Geheimnis, das Saida mit ins Grab nahm.
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Seitenzahl: 547
Leena Lander
Eine eigene Frau
Roman
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Denn nicht aus dem Staub geht Unheil hervor,nicht aus dem Ackerboden sprosst die Mühsal,sondern der Mensch ist zur Mühsal geboren,wie Feuerfunken, die hochfliegen.
Hiob 5,6-7
Saida, 7
Vartsala, Juli 1903
Saida Harjula war ein siebenjähriges Mädchen, als sich im Jahr 1903 bei einer Versammlung in Forssa die Finnische Sozialdemokratische Partei, die bis dahin Arbeiterpartei geheißen hatte, konstituierte. In Saidas Elternhaus wurde zu jener Zeit freilich nicht über Politik geredet, denn als Mann Gottes wusste Saidas Vater Herman Harjula, dass dem Herrn alles Politisieren ein Gräuel war.
Saidas Mutter Emma stammte als geborene Malmberg gewissermaßen aus besseren, finnlandschwedischen Verhältnissen. Ihr Vater arbeitete auf dem Rittergut Joensuu als Gärtner und ihre Mutter im dazugehörigen Herrenhaus als Köchin. Zweifellos waren die Eltern insgeheim enttäuscht darüber, dass die jüngste ihrer fünf am Leben gebliebenen Töchter einen finnischsprachigen Dreher zum Mann genommen hatte. Aber es war nichts zu machen gewesen, als jener Herman Harjula eines Samstagabends im Frühling im gut sitzenden zweireihigen Anzug und mit hellem Hut zum geselligen Beisammensein des Personals im Herrenhaus Joensuu erschien und, begleitet von der Gitarre, mit seinem schönen Tenor von den Salbungen des Geistes sang. Den Frauen in der ersten Reihe wehte Doktor Hornbergs »frisches und feines« Haarwasser in die Nase, denn Herman hatte versucht, sein von Natur aus lockiges, widerspenstiges Haar zu bändigen, ohne dass es ihm freilich voll und ganz gelungen wäre.
Kaum sah sie die funkelnden Augen und das männliche Grübchen im Kinn des jungen Predigers, erfuhr Emma im Nu eine starke Berührung durch den Heiligen Geist. Sie wurde eine jener Seelen, von denen die Kirchlichen Nachrichten freudig vermeldeten: »In mehreren Gemeinden Südwestfinnlands geht derzeit vor allem unter der Jugend die Gnade der Suche nach dem Herrn um, und zwar mit einer Kraft, dass viele von ihnen inzwischen den Weg der Sünde verlassen und zum Herrn zurückgefunden haben, um Barmherzigkeit und Vergebung zu erlangen.«
Herman Harjula war vollkommen davon überzeugt, dass es der Finger Gottes war, der ihm den Weg zum Herrenhaus Joensuu gewiesen hatte. Als Werkzeug hatte sich Gott einer Zeitungsanzeige bedient. In der Zeitung Der Pflug war die Stelle eines Drehers annonciert gewesen, und Herman suchte Arbeit. Bloß vom Predigen ernährte man keine Familie, und eine Familie wollte er. Vor allem eine Frau. Noch mit 26 war er Jüngling, da er seinem Glauben gemäß nicht in Sünde geschwelgt hatte. Allerdings war ihm aufgefallen, dass sich nicht alle Glaubensbrüder so untadelig verhielten, und deren wechselnde Glaubensschwestern legten auch Herman gegenüber mitunter Gewogenheit an den Tag, doch er machte sich nichts aus den Resten, die andere fallen ließen. Eine eigene Frau sollte es sein.
Auch war ihm nicht irgendeine gut genug. Sein Vater Ivar Harjula, den er über die Maßen achtete, trotz dessen Neigung zum Alkohol und sporadischer Gewalttätigkeit, hatte sehr deutlich verlauten lassen, was für eine Schwiegertochter er sich für seinen Erstgeborenen wünschte. Sie sollte in erster Linie hochgewachsen sein, damit die Durchschnittsgröße der Sippe sich nach oben entwickelte.
Die Harjulas waren ein schönes, aber ziemlich kurzgewachsenes Geschlecht. Insbesondere die Ältesten in der Familie wurden ziemlich verwöhnt und gemästet, wenn nicht genau über den Speisezettel Buch geführt wurde. Die Männer achteten besser auf ihre Verfassung und lebten fast immer länger als ihre Frauen, oft beerdigten sie sogar noch eine zweite Gattin. Die Frauen der Familie schienen eine nach der anderen von einer gewissen Nervosität, ja Hysterie, wenn nicht gar Wahnsinn geplagt zu werden. Nach Ivar Harjulas Einschätzung rührte dies vom Jahrhunderte währenden Überkreuzheiraten in den abgelegenen Dörfern, was eigentlich noch eine geschönte Umschreibung für die in der Bibel verbotene Inzucht war. Kinder kamen in der Sippe viele zur Welt, da die robusten Harjula-Männer auf die in der Heiligen Schrift verlangte Weise ihren Samen aussäten. Für die Verbesserung des Stammbaums und im Sinne der Blutauffrischung war es Ivar Harjulas Ansicht nach gut, dass sein ältester Sohn auf Predigtreise ging und seinen Samen in weiterem Umkreis verbreitete als nur in den wenigen Dörfern der Region Ober-Savo. Der Religion an sich maß Ivar Harjula so gut wie keinen Wert bei, auch wenn er gern laut Geschichten aus dem Alten Testament vorlas, von der Hure von Babylon, vom Treiben in Sodom und Gomorra und von den Schwestern, die sich mit den jungen assyrischen Männern der Unzucht hingaben.
Als er im Herrenhaus Joensuu predigte, fiel Herman sofort auf, dass Emma von den unverheirateten Mädchen nicht unbedingt das schönste war, aber das größte allemal, und sie schien eine ausgeglichene Frau mit liebevoller Natur zu sein. Auf dem Hochzeitsfoto steht der frischgebackene Ehemann auf zwei Bibeln, um in überzeugender Weise größer auszusehen als seine Frau. In einem Brief, den Herman nach Hause schickte, verriet er den Schwindel, zur ungeheuren Freude seines Vaters.
Ivar Harjula sah bereits hochgewachsene Enkel vor sich, deren Nachkommen dank klug gewählter Ehefrauen endlich die Kurz- und Stumpfbeinigkeit im Geschlecht der Harjulas ausrotten würden.
Zum Herrenhaus Joensuu gehörte ein Sägewerk, dessen gewerblicher Betrieb sich jedoch verlor. Die Säge diente nur noch eigenen Zwecken. Bei einem Gut von 6500 Hektar bestand freilich genug Eigenbedarf an Bauholz. Es gelang Herman, die Stelle zu bekommen, obwohl er nicht über die volle Qualifikation verfügte. In jungen Jahren hatte er für kurze Zeit als Handlanger des Drehers in seinem Heimatdorf gearbeitet, aber das genügte, denn es meldete sich kein Bewerber mit mehr Fachkompetenz. Außerdem glaubte der Gutsverwalter, dass die Anwesenheit dieses Antialkoholikers, der bei der Arbeit wie in der Freizeit leidenschaftlich das Wort Gottes verkündete, den trinkfreudigen und dem außerehelichen Beischlaf frönenden Arbeitern des Guts zumindest nicht schaden würde.
Die älteste Tochter Saida wurde exakt neun Monate nach der Hochzeit geboren. Herman war enttäuscht, weil es ein Mädchen war, Emma freute sich, weil das Neugeborene immerhin als Sonntagskind zur Welt kam. Sonntagskinder waren nämlich von Gott in besonderem Maß gesegnet. Die Bestätigung, dass es sich um ein besonderes Mädchen handelte, fand Emma, als die Kleine im Alter von einem Jahr vor ein Pferd trat, das eine Fuhre Heu zog. Da es leicht bergab ging, hatte der Knecht das Pferd traben lassen und das kleine Mädchen nicht bemerkt. Als das Pferd nun abrupt anhielt und sich auf die Hinterläufe stellte, fiel der Knecht von der hohen Fuhre. Das Tier blieb so lange auf den Hinterbeinen stehen, bis Emma die Kleine unter den strampelnden Vorderhufen weggeholt hatte.
Sie begriff, dass Gott das Pferd auf die Hinterläufe gestellt und ihm befohlen hatte: Bleib so! Und das Tier hatte gehorcht, auch wenn die Kandare geklirrt und die Zugriemen geknarrt hatten. Das Kind hatte keinerlei Anzeichen von Schrecken gezeigt, es hatte nur gelächelt und mit seinem kleinen Zeigefinger staunend auf das Pferd gedeutet.
Mit vier Jahren war das Mädchen mit seiner Mutter bei großer Hitze auf der Heuwiese, als ein heftiger Wirbelsturm plötzlich einen Heureuter aus der Erde riss und mitsamt fünf Gabeln Heu über der vor Erstaunen aufjuchzenden Saida durch die Luft wirbelte. Und auch diesmal hielt der Herr den angespitzten Heureuter so lange in der Luft, bis die Mutter zu ihrem Kind gerannt war und es in Sicherheit gebracht hatte. Nach diesen Zeichen war Emma mit unerschütterlicher Sicherheit davon überzeugt gewesen, dass Gott mit diesem Kind etwas Besonderes vorhatte.
Anderthalb Jahre nach Saida kam die zweite Tochter Siiri zur Welt. Die Geburt dauerte zwei Tage, und keiner davon war ein Sonntag. Das Kind befand sich in Steißlage, Emma wäre fast gestorben. Der Kummer hatte Herman fast zermürbt, weil auch das zweite Kind ein Mädchen war, und sein Unglück setzte sich fort: Drei Jahre später, im Jahr 1900, brannte das Sägewerk des Herrenguts. Graf Armfelt teilte mit, er werde kein neues bauen lassen. Herman musste mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern in das gut zehn Kilometer entfernt liegende Uferdorf Vartsala umziehen, wo ein kaufmännisch erfolgreiches Sägewerk lief. Dort gab es für einen Dreher Arbeit, nicht nur bei der Säge, sondern auch auf der Werft.
Die Predigtreisen hatte Herman als Mann mit Familie beinahe ganz eingestellt. Schon nach der Anschaffung der Ehefrau war seine Begeisterung für die Verkündung des Wortes Gottes ziemlich abgekühlt. Der Umzug von dem wohlhabenden Rittergut in die trostlose Arbeiterkaserne des kleinen Dorfes weckte vor allem bei Emma viel heimlichen Verdruss, der im Zusammenspiel mit anderen Problemen am Verhältnis der Eheleute zehrte. Aber waren denn nicht die meisten Ehen mehr oder weniger unglücklich? Zum Menschenleben gehörte es auch, sich still und leise mit einem unharmonischen Bund fürs Leben abzufinden.
Für Kinder sind Uneinigkeit und bedrückende Atmosphäre dennoch nicht sonderlich angenehm. Nicht einmal für solche Kinder, die an einem Sonntag geboren wurden und für die Gott die Heureuter besonders lange in der Luft rotieren lässt und den Pferden befiehlt, auf den Hinterbeinen zu bleiben, auch wenn die Deichsel noch so scheppert und die Zügel versagen.
An diesem sommerlichen Julitag ist Saida jedoch glückselig, da sie eine Überraschung zum Namenstag ihres Vaters Herman hat. Ganz alleine trägt sie mit zwei Händen die große Kaffeekanne, schwer und heiß. Ein Nesselfalter fliegt dem Kind voran und lässt sich auf einer Löwenzahnblüte nieder. Der Wind weht ein sandiges Löwenzahnblatt auf, es fliegt dem Mädchen an den Hals und kann jetzt nicht weggewischt werden.
Saida hat lernen dürfen, wie man dem Vater Kaffee einschenkt, als in der Kanne nur noch ein lauwarmer Rest übrig war. Aber heute, während der gesamten Vorbereitungen zum Hermanstag, hat in Saida der Wunsch gebrannt, ihrem Vater zu zeigen, was für ein großes, tüchtiges Mädchen sie geworden ist. Während die Mutter mit den Kuchen beschäftigt war, hat Saida auf eine passende Gelegenheit gelauert. Nicht die Mutter, die in einer banalen Schürze in der Küche hantiert, ist ihr Vorbild, sondern es sind die Bediensteten vom Herrenhaus Joensuu, die bei Tisch die Herrschaften bedienen dürfen.
Wenn sie Oma und Opa besucht, darf Saida hin und wieder mit Arvi, dem Ziehsohn der Großeltern, in der Gutshausküche sitzen und den Verrichtungen der Oma und der Küchenmägde zusehen. Die Bedingung für den Zugang zur Küche besteht darin, dass die Kinder helfen, wenn man es ihnen befiehlt, sonst aber brav stillsitzen. In der Küche des Herrenhauses macht Saida alles immer ganz genau so, wie man es ihr aufträgt, und sorgt dafür – mal im Guten, mal mit einem Kneifen –, dass auch der kleine Arvi folgt.
Der Höhepunkt aller Feiertage besteht für Saida und Arvi darin, mit den Fingern die Ränder der Eismaschine sauber zu wischen. Am Johannistag durften die Kinder zusehen, wie Susanna, das hübsche Dienstmädchen, schokoladenbraune, rosa und gelbe Plätzchen in kunstvollen Arrangements auf einem dreistöckigen, goldenen Serviergestell anordnete, um sie nach dem Erklingen der Glocke in die geheimen Räume des Hauses zu bringen. Vor allem auf Saida machte das großen Eindruck. Als Susanna den unverwandten Blick des Kindes bemerkte, sagte sie, ein so tüchtiges Mädchen wie Saida könne später durchaus einmal Dienstmädchen werden und auch so ein Serviergestell tragen. Von diesem Augenblick an war Saida von dieser Vorstellung wie besessen.
Sogar Gräfin Nadine war bei ihrem Besuch in der Küche Saidas vorbildliches Verhalten aufgefallen, und sie wollte das Kind überraschenderweise in ganz besonderer Form belohnen. Tante Olga musste das hellblaue Kleid, das sie vor einem Jahr genäht hatte und das für Nora inzwischen zu klein geworden war, aus dem Kinderzimmer holen. Nora ist die Tochter des nach Schweden umgezogenen Konsuls Larsson, die Tochter des Cousins der Gräfin. Die Kinder des Konsuls verbringen fast alle Sommerferien im Herrenhaus Joensuu, und bisweilen kommen sie auch zu Weihnachten in das Land ihrer Geburt. Großmutter sagt, es habe den Anschein, als wären die Kinder des Konsuls das Ein und Alles für die kinderlose Gräfin, auch wenn diese die Kleinen für »etwas zu frei erzogen« hält. Darum sprangen der Gräfin auch Saidas Folgsamkeit und Fleiß ins Auge.
Emma wäre aufgrund des unfassbaren Erfolgs ihrer Tochter vor Stolz natürlich fast geplatzt, aber Herman knurrte nur etwas von der Sünde des Hochmutes und dem ihm unweigerlich folgenden Fall. Auch sonst hielt er nicht viel davon, »im Gut herumzurennen«. Doch er konnte die Besuche nicht verbieten, ohne seine Frau zu zwingen, das Gebot der Bibel zu brechen, das verlangte, Vater und Mutter zu ehren. Wegen des Sprachproblems – die alten Malmbergs sprachen zwar Finnisch, doch ging es ihnen nur mühsam über die Lippen – musste Herman außerdem zulassen, dass Emma mit den Mädchen Schwedisch sprach. Sobald der Vater das Zimmer betrat, musste aber selbstverständlich ins Finnische gewechselt werden.
Angespornt vom Lob der Gräfin und des Dienstmädchens fängt Saida an, Pläne zu schmieden, wie sie auch ihren mürrischen Vater beeindrucken könnte. Denn mehr als alles andere wünscht sie sich den Dank des Vaters. Er soll mit eigenen Augen sehen, wie vornehm und erwachsen sich seine Tochter vor den Augen anderer Leute zu benehmen weiß.
Die passende Gelegenheit bietet sich schließlich am Hermanstag, wenn die Arbeitskollegen des Vaters zusammenkommen, um ihm zu gratulieren. Auch Saida hat sich dafür feinmachen dürfen, aber nicht einmal das hellblaue Herrenhauskleid und die weiße Schürze sind ihr gut genug.
Als die Mutter kurz etwas erledigen geht, rollt Saida vor dem Kommodenspiegel ihre Zöpfe auf und steckt sie mit Haarspangen der Mutter fest. Darüber befestigt sie noch ein Taschentuch, sodass es an eine Serviererin erinnert. Schließlich wird die Dienstmädcheneleganz von den langen Handschuhen gekrönt, die Tante Betty vergessen hat und die von der Mutter seitdem in der Kommodenschublade aufbewahrt werden.
Der Weg mit der schweren Kanne ist lang. Im Augenwinkel sieht Saida schon ihre Mutter die Treppe zum Garten herunterkommen. Zu Saidas Erleichterung fällt der Mutter etwas Unkraut im Rhabarberbeet neben der Treppe auf, worauf sie sich bückt und es ausreißt, bevor die Gäste die Vernachlässigung des Beetes sehen. Mit krummem Oberkörper eilt das Mädchen zu dem Tisch unter der Eiche. Die Männer lärmen auf ihre übliche Art und hamstern Scheiben des Hefezopfs, der herumgereicht wird. Nur Verwalter Sundberg in seinem grauen Anzug mit Weste richtet seine Aufmerksamkeit auf Saidas Ankunft. Er stützt sich auf seinen Spazierstock, lüftet den Hut und nickt dem Kind zu.
»Sieh an, sieh an. Da kommt ja meine feine Braut! Und wie hübsch angetan! Das kleine Fräulein wird sich doch nicht die Finger verbrennen?«
Saida schüttelt den Kopf. Sie glüht vor Aufregung, als sie sich dem Tisch nähert. Herman bemerkt nichts von dem anspruchsvollen Vorhaben seiner Tochter. Er hält eine Festrede, die sich in die Länge zieht und in für ihn typischer Manier in eine Predigt übergeht. Enttäuscht stellt Saida fest, dass der Vater bereits jenen ekstatischen Zustand erreicht hat, in dem er kaum noch wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. Sie stellt die schwere Kanne auf der Erde ab und wartet, bis der Vater mit seiner Predigt über den guten und den schlechten Gärtner zum Ende kommt.
»Ja, und wie ich von meinem Schwiegervater, dem Gärtner des Herrenhauses Joensuu, gehört habe, hatte General Kustaa Mauri Armfelt besonders viel für den Garten und dessen Freuden übrig. Die Vorgänger meines Schwiegervaters durften Briefe entgegennehmen, die von Schlachtfeldern und Höfen kamen, denn die Bäume und Büsche seines Guts hatte der General sogar in Borodino im Sinn, die Büsche und die Lusthäuschen, auch wenn viele der Ansicht waren, der General hätte sich besser darauf konzentrieren sollen, Napoleon und dessen Armee zu schlagen. Nun gut, die russische Armee wich dann zurück, und der General durfte sich ungestört seinem Gesträuch widmen.«
Die Männer wiehern.
»Ja, ja, das scheint ein wilder Bursche gewesen zu sein.«
Herman nickt.
»Ein wilder Kerl. Sittenlos und wild. Führte an Höfen und in Gärten ein ausschweifendes Leben. Mit Mutter und Tochter gleichzeitig. Aber was geht mich das an, fragt so mancher, und ich frage es mich in schwachen Stunden selbst. Was geht es mich an, was ein verdorbener Graf an verdorbenen Höfen treibt, in seinen obszönen sämischen Hosen, in denen ein gewisses Organ so lüstern anschwellen kann wie bei den Söhnen Assyriens. Es geht mich nichts an, denkt ihr. Aber was sagt uns die Heilige Schrift?«
Herman legt eine kurze Kunstpause vor dem Donnerschlag ein.
»Schneidet es ab, sagt der Herr!«
Verwalter Sundberg hebt die Hand. Womöglich um anzuzeigen, dass es eigentlich die Hand war, die Christus abzuschneiden empfahl, falls sie uns verführt.
»So tut es der gute Gärtner. Halleluja!«, ruft Herman aus und streckt beide Hände den Zuhörern entgegen.
»Dem Herrn sei Dank, dass Sein Wort in dieser Frage keinen Raum für Gleichgültigkeit lässt. In der Tat geht es mich etwas an! Die Sünde geht uns alle an.«
»Na, na, aber nicht vor den Ohren eines Kindes«, versucht der Verwalter zu beschwichtigen.
Herman ist jedoch nicht mehr aufzuhalten, auch nicht zu korrigieren. Das verdorbene Leben des ehemaligen Gutsherrn hat ihn in fromme Ekstase versetzt.
»Hört, Freunde! Gibt es einen Unterschied zwischen einem solch sündigen Grafen und einem Neger, der im finstersten Afrika lebt? Ja, sage ich, es gibt einen Unterschied. Ich habe gehört, dass die Neger ihr schwarzes Geschlecht auf allen vieren fortpflanzen wie die Hunde. Aber zur Verteidigung der Neger kann immerhin angeführt werden, dass sie das Wort des Herrn noch nicht erreicht hat, im Gegensatz zu dem im christlichen Glauben getauften, aber ohne Reue in blutbrauner Sünde sich suhlenden Gutsherrn. Ich muss wohl nicht daran erinnern, was der Stadt Sodom widerfuhr, deren Bewohner keine Grenzen mehr kannten in ihrer Lasterhaftigkeit. In jener Stadt schaute sogar der Mann nicht mehr auf seine Frau und vereinigte sich mit einem anderen Mann. Der Herr ließ Sodom durch sein Feuer verbrennen! Halleluja! Wo geht die Kassette gerade um?«
»Hier.«
Osku Venho schwenkt die Blechdose. Am Klimpern hört man, dass sich darin bereits Münzen angesammelt haben.
»Ja, liebe Brüder. Hier geht die Kassette um, in der Almosen gesammelt werden für jene Neger, die im Stadium des Tieres der Errettung harren. Denn auch sie können unsere Brüder und Schwestern werden. Unsere Pflicht besteht darin, unsere Prediger nach Afrika zu entsenden, um dort die christlichen Sitten zu lehren. Die Schwärze bekommt man von den Negern auch durch Waschen nicht ab, aber mit Hilfe des Bluts Christi können wir sie von der Sünde reinwaschen. Wo ist die Kassette? Denkt an die leidenden Schwarzen und helft ihnen, unsere Brüder und Schwestern im Herrn zu werden! Amen.«
Saida beobachtet, wie sich der Vater endlich setzt und das Taschentuch hervorholt, um sich die Stirn zu wischen. Jetzt bemerkt er auch endlich seine Tochter mit der Kaffeekanne.
»Wie merkwürdig!«
Saida starrt auf den Adamsapfel des Vaters, der sich unruhig unter der glatt rasierten Haut bewegt. Als frommer Mann flucht Herman nie, aber ein mit Nachdruck ausgesprochenes »merkwürdig« verheißt nichts Gutes.
»Ich … helfe der Mama.«
Der Vater nimmt Saida energisch die Kanne ab und packt das Mädchen an der Schulter.
»Was für ein merkwürdiges Herausputzen ist das denn? Kein Anstand. Man muss sich schämen.«
»Nicht doch, Herman«, sagt der Verwalter und hält seinen Spazierstock in die Höhe. Herman lässt los. Emma, die aus der Ferne verzagt ihrem Mann zugehört hat, eilt herbei und stellt sich zwischen Vater und Tochter. Hastig nimmt sie das Taschentuch von Saidas Zöpfen, versucht hilflos auch dem Kind die Handschuhe abzustreifen, doch Saida ballt fest die Fäuste vor der Brust. Einige der Männer lachen verlegen. In Saidas Ohren dringt es als rohes, höhnisches Gelächter.
»Ins Feuer mit solchem Putz aus Babylon!«, knurrt Herman. »Nichts wie nach Hause! Oder soll hier vor aller Augen die Rute sprechen?«
Saida macht kehrt. Mit feuchten Augen stolpert sie die Treppe zur Kaserne hinauf. Sie geht nicht nach Hause, sondern steigt auf den Dachboden, wo sie endlich die langen Handschuhe von den Armen reißt und sie, jetzt bereits laut heulend, in der Bodenfüllung begräbt. Dann lässt sie sich selbst in die warmen Sägespäne fallen und bleibt mit geschlossenen Augen weinend und am ganzen Körper zitternd liegen. Draußen kräht der Hahn.
Aber in der Hitze des Dachbodens verlangt einem sogar das Weinen alles ab. Saida öffnet die Augen. Sie brennen vom Salzwasser, obwohl sie jetzt nicht mehr weint. Nur ein kleines dreieckiges Fenster lässt Licht ins Dunkel des Dachbodens. Davor spannen sich Spinnweben, in denen einige benommene Fliegen zwischen toten Artgenossen summen. Neben sich sieht Saida nur getrocknete Blumensträuße und alte Kranzbänder im Sägemehl liegen. Die Hausbewohner haben sie aufbewahrt, sie stammen von früheren Beerdigungen ihrer Angehörigen. Im Dunkel des Dachbodens tragen die Kranzbänder die Erinnerung an die Toten von einem Jahr zum anderen, wie Kleidungsstücke, die man nicht wegwerfen oder hergeben mag.
Saida kann die schnörkelhaften Aufschriften noch nicht lesen, aber mit ihrer kleinen Schwester Siiri hat sie sich eine Menge Spiele mit den schönen Bändern ausgedacht. Einmal hatten sie die Idee, am kaputten Puppenwagen die Hinterräder abzunehmen und daraus Medaillen zu machen, indem sie Kranzbänder hindurchzogen. Abwechselnd spielten sie Gräfinnen und andere feine Damen, deren selbstgezüchtetes Obst auf vornehmen Gartenschauen Medaillen gewann.
Die Weintrauben der Gräfin Nadine hatten tatsächlich einige Jahre zuvor bei der Gartenschau von Sankt Petersburg eine Silbermedaille errungen. Saidas Opa brüstete sich bei jeder Gelegenheit damit, war er doch derjenige, der unermüdlich und eigenhändig die Weinstöcke in seinem geliebten Gewächshaus gehegt und geschnitten hatte. Im Spiel der Schwestern verwandelte sich der Dachboden in den Ausstellungssaal, den der Großvater beschrieben hat. Eine Steinfuhre nach der anderen wird vom Ufer hertransportiert. Die kleinen Steine sind Trauben, die großen Melonen. Natürlich können die Mädchen keine Steine nach oben tragen, die so groß sind wie Opas Melonen. Aber genau wie bei ihm gibt es sieben verschiedene Melonensorten, die alle prächtige Namen tragen.
Jetzt sind die Steine in Saidas Augen nichts als Steine, und auch die Kranzschleifen kleben nur ekelhaft an der verschwitzten Haut. Saidas Hand tastet nach einem Band unter ihrem Oberschenkel. Manchmal nach ihrem Gartenspiel machen Saida und Siiri noch ein anderes Spiel. Dabei fahren sie abwechselnd mit einem Seidenband der anderen über Armbeugen und Kniekehlen. Die Berührung der Seide kitzelt besonders auf der Innenseite der Oberschenkel, aber gleichzeitig entsteht dabei ein pochendes Gefühl zwischen den Beinen. Schon mehrmals hätte Saida gern ausprobiert, wie sich das Band dort anfühlen würde, aber eine Kranzschleife dahin zu halten, wo man pinkelt, wäre bestimmt eine blutbraune Sünde.
Saida nimmt das warme Band und zieht ihr Kleid nach oben. Dann ist es eben eine Sünde! Sie will sich ja auch versündigen, um ihren Vater für das zu bestrafen, was er gerade getan hat. Und was er noch alles tun wird.
Vor einer Tracht Prügel hat Saida keine Angst. Herman hat noch nie zur Rute gegriffen, um seine Töchter zu züchtigen. Sie haben von anderen Kindern aus dem Dorf schreckliche Geschichten gehört, dass es etwas mit der Rute auf den nackten Po setzt. Die Kinder haben davon erzählt, wie sie selbst den Zweig dafür aus dem Wald holen und nach den Schlägen die Rute auch noch um Verzeihung bitten müssen. Hermans Strafen sind anderer Natur. Seine Wut flammt überraschend auf, und seine Gewalt – grobes Zerren und Haarzausen – wendet er nie mit Methode an. Rituale gibt es dabei nicht. Den Riemen schwenkt er eher mit seinen Worten als mit den Händen, abgesehen von den wenigen Malen, an denen er abends, nachdem er den Gürtel ausgezogen hat, kurz damit über die Bettdecke fährt, wenn die Mädchen im Bett mal wieder zu laut gekichert oder gezankt haben.
Saida hat vor etwas anderem Angst.
Sie hat Angst vor der Nacht, denn die Nacht ist die Zeit des Bösen.
Die Nacht bringt den Vater dazu, die Mutter zu peinigen. Es raubt Saida den Atem, wenn sie die nächtlichen Geräusche aus der Kammer hört. Dann schließt sie ihre schlafende Schwester in die Arme und hält ihr die Ohren zu. Nur ihre eigenen Ohren hören alles.
Unten wird die Tür geöffnet, hinter der die Treppe zum Dachboden hinaufführt. Hastig nimmt Saida das Band weg und kann gerade noch den Rock über die Oberschenkel ziehen, bevor oben die Dachbodentür aufgeht. Vaters junger Kollege Sakari Salin späht durch die niedrige Türöffnung.
»Geh weg!«
»Na, na … Was treibt ein kleines Mädchen wie du an so einem schönen Tag allein hier oben?«
»Hau ab!«
Sakari gehorcht nicht, sondern setzt sich auf die Treppe und steckt sich eine Zigarette an. Er trägt einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd. Seine Schuhe sind frisch poliert.
Mit gleichmäßiger Stimme erzählt er von diesem und jenem und pflückt sich zwischendurch mit Zeigefinger und Daumen Tabakkrümel von der Zungenspitze.
»Ist es wegen Hermans Donnerwetter, dass du noch immer hier oben auf dem heißen Dachboden vor dich hin schmollst, Mädchen?«
Saida antwortet nicht.
»Dein Papa ist nur ein bisschen über seine Tochter erschrocken«, sagt Sakari. »Weil sich seine Saida schlimm hätte verbrennen können; so eine winzige Kohlmeise mit so einer riesigen Kaffeekanne!«
»Selber Meise!«
»Nein, bin ich nicht, sondern ein ranker, schlanker Kerl.«
Sein Blick fällt auf ein Stück Spitze, das aus den Sägespänen ragt.
»Aber zeig mir jetzt mal die schönen Handschuhe!«
Das Mädchen schüttelt den Kopf.
Sakari versichert, dass er aufhören wird, nach den jungen Damen zu schauen, wenn denn die jungen Damen aufhören, sich schön zurechtzumachen. Wäre Saida ein bisschen älter, würde er sie sogar heiraten.
Saida dreht ihm den Rücken zu und fängt an, mit dem rostigen Hufeisen, das an einem Balken gehangen hat, Muster in die Sägespäne zu zeichnen. Sie murmelt, alle wüssten sehr wohl, dass Sakari mit Seelia Laina verlobt sei. Sakari gibt zu, dass es so ist, aber eine Braut könne immer ihre Meinung ändern, das sei möglich, bei Frauen wisse man nie. In dem Fall würde er sich sofort mit Saida verloben und in aller Ruhe abwarten, und wenn es sieben Jahre wären, wie Jakob auf … wie hieß sie gleich? Ob Saida sich daran erinnern könne.
Sie presst die Lippen aufeinander.
»Wirklich nicht? Als Tochter eines Predigers!«
Einen kurzen Moment noch schafft es Saida, stumm zu bleiben, dann bringt sie der Triumph, die richtige Antwort zu wissen, doch dazu, den Namen auszuspucken.
»Rachel!«
Der Mann lacht.
Saida findet, Sakari sei eine Eule, weil er es nicht gewusst habe.
Sakari erinnerte daran, dass die Eule ein weiser Vogel sei und obendrein über einen scharfen Blick verfüge. Was die Kenntnis der Bibel betreffe, so habe er tatsächlich Lücken, und auf dem heißen Dachboden flutsche es mit dem Verstand ohnehin nicht gut. Wie wäre es, wenn Saida aufstünde und mit ihm, Sakari, ein bisschen frische Luft schnappen ginge?
Das Mädchen rührt sich nicht.
Sakari steht auf. Er schüttelt die Tabakkrümel von der Jacke und richtet die Hose gerade.
»Schade«, sagt er.
Er hätte sich nämlich furchtbar gern neben genau so einem adretten Mädchen im blauen Kleid auf die Gartenschaukel gesetzt.
Nachdem er die Treppe hinabgestiegen ist, steht Saida auf und verfolgt durch das kleine dreieckige Gitterfenster, wie der junge Mann zu den anderen Gästen der Namenstagsfeier hinübergeht. Die massive Gestalt des Vaters ist noch immer fest auf dem Ehrenplatz am Kopfende des Tisches verankert. Durchs Fenster hört man das Krähen des Hahns und fernes Gelächter. Saida ist sicher, dass dort unten noch immer über sie gelacht wird.
Noch am selben Abend macht das Feuer ein für alle Mal Schluss mit Tante Bettys Spitzenhandschuhen. Saida muss sie vom Dachboden holen, und Herman verbrennt sie im Küchenherd. Mit stolzer Haltung und ohne sich zu rühren sieht Saida dem Zerstörungswerk zu. Die Mutter weint. Der Vater fragt sie, ob sie wirklich wolle, dass ihre Tochter so eine werde wie Betty. Er redet immer mit gemeinem Unterton über Tante Betty, obwohl sie Mutters Schwester ist. Betty wohnt in Helsinki, kommt aber manchmal zum Gut, um Oma und Opa zu besuchen. Ein einziges Mal ist sie auch bei den Harjulas gewesen, aber Herman war sehr unfreundlich zu ihr und hatte kaum den Mund aufgemacht. Schließlich ging die Tante mit feuchten Augen davon und vergaß ihre schönen Spitzenhandschuhe auf dem Tisch.
Später erhielt Emma einen Brief, in dem ihre Schwester schrieb, die Handschuhe könnten bleiben, wo sie sind, denn sie habe neue und viel schönere bekommen, nachdem sie Straßenbahnschaffnerin geworden sei. Herman sagte, die Straßenbahn wolle er gern mal sehen.
»Die fährt wahrscheinlich nachts, und die Schaffnerin sitzt auf ihrer Einkommensquelle.«
Auch Saida hätte gern eine echte Straßenbahn gesehen, aber die Art und Weise, wie der Vater davon sprach, klang seltsam, und Mutters Augen schwammen schon wieder in Tränen.
Als Siiri eingeschlafen ist, liegt Saida noch lange wach und lauscht auf die Geräusche der Nacht. Diesmal aber ist es still jenseits der Wand. Später wacht sie auf, als sie Herman stampfend ins Freie gehen hört, um sich vom Druck des späten Kaffeetrinkens zu erleichtern. Saida steht auf und folgt ihrem Vater nach draußen. Sie setzt sich auf die Eingangstreppe und wartet auf ihn. Sie kratzt sich an einem Mückenstich und schiebt die bloßen Füße ins nachtfeuchte Gras. Von der Kühle hat sie eine Gänsehaut, und ihre Beine zittern vor Anspannung, als Herman auf sie zugetrottet kommt.
»Warum hat der Vater die Handschuhe verbrannt?«
Herman runzelt die Augenbrauen.
»Geh schlafen! Und zwar ein bisschen plötzlich!«
Saida ist voller eisenharter Entschlossenheit.
»Ja, aber warum hat der Vater sie verbrannt?«
»Warum, warum.«
Herman setzt sich neben seine Tochter auf die Treppe und schaut auf das Nebengebäude, als wäre an den Brennnesseln, die durch die Kraft des Urins vor der ausgebleichten Wand in riesige Höhen gewachsen sind, etwas besonders Interessantes. Er murmelt, Saida solle sich ein Beispiel an ihrer Schwester Siiri nehmen, die sich nie etwas auf sich einbilde, nicht in weltlichem Flitter umherlaufe und auch sonst keine Sperenzchen mache. Siiri sei ein bescheidenes und folgsames Kind, für das man sich nicht dauernd schämen müsse.
»Mama hat sie von Tante Betty bekommen.«
»Eben.«
Vom Meer steigt heller Nebel auf. In den Zweigen der Hofbäume, die in würdevoller Asymmetrie wachsen dürfen, stimmen die Nachtvögel ihre Lieder an. Von irgendwoher weht teeriger Rauchgeruch heran. Herman seufzt.
»Es ist ein ewiges Disputieren, wenn man Mädchen hat.«
Stumm stampft Saida mit dem Fuß auf. Der Vater schnaubt verärgert, murmelt matt etwas über das eitle Getue der Frauenzimmer und über die Folgen eines solchen Spiels. Saida sollte eigentlich wissen, was die Bibel dazu sagt: »Warum liebt ihr den Schein und sinnt auf Lügen? Wie lange noch schmäht ihr meine Ehre?«
Saida hat die Arme um die zerkratzten Beine geschlungen. Sie leckt über den Schorf an ihrem Knie. Auf der Haut verwandelt sich die Meeresluft in Feuchtigkeit. Das Holzgitter am Fuß der Treppe ist über und über mit Tautropfen überzogen. Das Kind versteht nicht annähernd, was der Vater meint, sieht aber, dass er von einer überraschenden Hilflosigkeit erfüllt ist. Das weckt Saidas Mitleid. Am liebsten würde sie ihren Vater vom Schmerz längerer Erklärungen erlösen, aber sie bleibt wie angewurzelt sitzen.
Flüchtig treffen sich ihre Blicke.
»Lass uns jetzt schlafen gehen«, sagt Herman fast flehend und steht in seinem rot karierten Flanellhemd und der Hose, die an den Knien ausgebeult ist, auf. Er deutet auf die Tür, steif wie ein Küster, dessen Aufgabe darin besteht, den Trauergästen den Weg zu weisen, obwohl sie ihn selbst sehr gut kennen.
Vartsala, 12. April 2009
Die Fichten stehen wie Soldaten in geraden Reihen. Ihre untersten Äste auf der Höhe meiner Augen sind braun, so wie auch die Erde darunter braun ist. Dort wächst nichts. Der Boden ist ganz und gar mit braunen Nadeln übersät. Zwischen ihnen bewegt sich eine Kolonne Ameisen. Ich befürchte, dass sie mir in die Sandalen krabbeln. Großvater nimmt mich auf die Schultern. Sein warmes, graues Haar riecht nach Teershampoo. Er hat versprochen, mir den Steinbruch zu zeigen, aus dem die schwarzen Platten im Hof stammen. Ich verstehe nicht, wie Steine aus dem Steinbruch kommen.
Wir treten aus dem Fichtenwald auf einen vergrasten Weg. Er führt zu einer großen offenen Lichtung, auf der rote Blumen wachsen. Etwas Weißes staubt von den Blumenkronen auf und fliegt im Wind davon. Mamu sagt, das werden einmal Engel. Großvater setzt mich ab. Vor mir liegt eine große, schwarze Steinplatte, genau so eine wie im Hof von Großvater und Mamu, aber viel größer, so groß wie der ganze Fußboden in der Wohnstube. Ich lege die Hand auf den Stein. Er ist heiß.
Derselbe Stein war nun eiskalt. Eine dünne Humusschicht, entstanden aus Streu und Laub, bedeckte die Mineraloberfläche, Wurzelgeflechte von Weidenröschen und Birken hielten die Bodendecke zusammen. Der Steinbruch wirkte viel kleiner als in Kindertagen, aber das Weidenröschen war noch immer die dominierende Pflanze. Wintersteher mit braunen Blättern ragten aus der Erde wie die Spitzen eines im Gebrauch schütter gewordenen Reisigbesens. Birken von mehreren Metern Höhe wuchsen nur spärlich, viele von ihnen waren umgestürzt und befanden sich in verschiedenen Stadien des Vermorschens. Der dünnen Humusschicht fehlte die Kraft, Bäume von mehr als doppelter Mannshöhe zu nähren. Beim Umstürzen der Bäume waren mit dem Wurzelwerk große Humuslappen herausgerissen worden, und an diesen Stellen fand ich, was ich suchte: Überall dort, wo die Erde in Flächen so groß wie Lastwagenreifen aufgerissen war, leuchtete der dunkelgraue, leicht silbrig schimmernde Phyllit hervor.
Hier und da sah man zerbröckelten Schiefer. Großvater nannte die kleinen flachen Steine »Klimbim«. Wir füllten zusammen eine Tasche damit. Auf dem Weg zum Meeresufer zeigte mir der Großvater, dass es in diesem Dorf fast in jedem Hof und Garten Wege und Terrassen aus ebendiesem schwarzen Schiefer gab. Die fleißigsten Dorfbewohner hatten zur Verzierung sogar Schiefersteine auf die Sockel ihrer Häuser gemauert.
An einer Stelle, die der Großvater als »Verladehof« bezeichnete, warfen wir die Hüpfsteine ins Meer. Aber nicht alle ins Wasser werfen, riet er mir, mit denen kann man alles Mögliche bauen.
Bevor ich den Entschluss zum Umzug fasste, hatte ich auf speziellen Karten die Mineralvorkommen untersucht und festgestellt, dass sie mit geologischen Begriffen genau das zum Ausdruck brachten, was mir mein Großvater seinerzeit gesagt hatte: Hier verläuft ein Gürtel metamorphen Gesteins. Druck und Hitze der Erde haben Tonschiefer entstehen lassen, der sich stellenweise an die Oberfläche schiebt, sodass die Leute aus der Gegend ihn zu allen Zeiten als Baumaterial abgebaut haben.
Mein Großvater hatte mir erzählt, dass der Schiefer auch als Schleifstein benutzt wurde und dass man irgendwo in Finnland Abziehsteine zum Verkauf an Schreiner und Köche hergestellt habe, mit denen sie die Schneiden ihrer Messer und anderer Werkzeuge schärfen konnten. Ich hatte nicht vor, aus dem Stein Schleifgerät herzustellen, aber ich wollte ihn als Baumaterial benutzen. Der Grundbesitzer, der alte Tammisto, hatte mir erlaubt, so viele Steine zu nehmen, wie ich mit Handwerkzeug losbekäme. Eine Entschädigung verlangte er nicht. Wahrscheinlich war das seine Art, mir dafür zu danken, dass ich ihm die Gerichtsprotokolle des Hochverratsverfahrens gegen seinen Onkel Joel Tammisto beschafft hatte. Ich hatte sie im Nationalarchiv entdeckt, als ich mir dort Dokumente über die Ortschaft Halikko während des Bürgerkriegs ansah. Trotzdem nahm ich mir vor, dem Grundbesitzer bei meinem nächsten Besuch in dem Altersheim in Salo, in dem er inzwischen wohnte, eine Flasche Kognak mitzubringen.
Ich ging die abschüssige Kruste des Steinbruchs hinunter bis an die Stelle, wo zuletzt Muttergestein abgebaut worden war. Auf einer Fläche von zwei Quadratmetern trug ich mit dem Spaten, den ich mitgebracht hatte, Oberflächenerde ab und stieß das Spatenblatt in eine Spalte des schiefrigen Felsens. Eine Schieferplatte von einem halben Quadratmeter bewegte sich, als ich den Griff des Spatens nach unten drückte. Nun glaubte ich tatsächlich, das Steinmaterial, das ich benötigte, leicht mit einfachem Handwerkzeug lösen zu können. Auf keinen Fall wollte ich Sprengstoff oder auch nur Luftdruckgeräte einsetzen. Hammer und Meißel sollten genügen. Damit hatte man auch vor hundert Jahren, als in diesem Bruch damit begonnen wurde, Phyllit zu gewinnen, die Steine losgeschlagen.
Vor zwei Wochen, Anfang April, bin ich nach Vartsala umgesiedelt, in dieses Dorf am Meer, unmittelbar nachdem mein Sohn mit 21 von zu Hause ausgezogen war. Seine ältere Schwester hat schon vor Jahren geheiratet und wird mich im Juli mit 54 zum Großvater machen. Meiner Frau überließ ich sowohl unser Backsteinhaus als auch den Toyota. Gleichzeitig kündigte ich meinen Job als Marketingleiter der Ofenbauer AG. Ohne einen Mucks akzeptierte der neue Eigentümer meine Entscheidung. Ich war mit der Firma unzufrieden und die Firma mit mir.
Die Situation war eine andere gewesen, als ich beim früheren Besitzer auf der Gehaltsliste gestanden hatte, als verantwortlicher Maurer. Ein Vierteljahrhundert lang hatte ich Öfen gemauert, dann kamen die genormten Feuerstellen aus den Ziegelfabriken, und die fließbandartige Installationsarbeit widerte mich mehr und mehr an. Ich wurde zum Marketingleiter befördert, damit der neue Eigentümer nicht ohne mein »wertvolles Know-how« auskommen musste. Von da an verbrachte ich einen großen Teil meines Arbeitstages mit Papierkram und Besprechungen. Auch andere Dinge in meinem Leben änderten sich: Kleidungsstil, Essgewohnheiten, Trinksitten. Hinzu kamen Seminare und Konferenzen, Flugreisen, das Nippen an Aperitifen mit Berufskollegen und die Rituale des Hotellebens; anfangs hatte das noch seinen Glanz, am Ende war es nur noch öde und unterstrich die Einsamkeit. Meine neue Garderobe oder die Tatsache, dass ich gelernt hatte, das Weinglas am Stiel zu halten, reichten nicht aus, um die Wahrheit zu kaschieren: Wo meine Berufsgenossen aus dem Marketingbereich wie Fische im Wasser um mich herumschwammen, zappelte ich mich ab wie ein Trottel, der nicht schwimmen kann.
Vartsala, das Dorf, in dem meine Großeltern geboren wurden und zu Hause waren, ist eine ehemalige Sägewerkssiedlung und liegt im Innersten der Halikko-Bucht, südlich von Turku, wo die zerklüftete finnische Ostseeküste in den Schärengürtel übergeht. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Holzindustrie in Finnland einen starken Aufschwung erlebte, entstanden Sägewerke an solchen Stellen, die von englischen und deutschen Frachtschiffen leicht erreicht werden konnten. Unter den klimatischen Bedingungen des 60. Breitengrades ist das im Verlauf der Jahreszeiten jedoch nicht immer möglich. In normalen Wintern friert das Meer Mitte November zu, und Ende Dezember wird die gesamte Küste des Finnischen Meerbusens von beinahe durchgängig festem Eis eingefasst. Das Treibeis im Schären-Archipel und in den westlichen Abschnitten des Meerbusens erstarrt im Januar oder im Februar und bildet eine geschlossene Eisdecke, die im März ihre größte Ausdehnung besitzt. In den strengsten Wintern gibt es in der gesamten Ostsee überhaupt kein offenes Wasser.
Die Brüchigkeit des Eises im Jahr 1883 erwies sich für Vartsala als günstig. Ein Lokomobil, das Baumaterial für ein Sägewerk transportierte, konnte seinen Weg nicht über die zugefrorene Halikko-Bucht fortsetzen, sondern musste Halt machen. Daraufhin wurde das Sägewerk eben an dieser Stelle, nämlich in Vartsala, errichtet. Später wurde auch eine Werft gebaut, in der Schiffe gewartet und repariert werden konnten. Bis zu hundert Personen beschäftigte man dort, aber die Branche war äußerst konjunkturempfindlich, weshalb die Anzahl der Arbeiter jährlich um mehrere Dutzend variierte. Bisweilen kam es auch zu langen Stillständen.
Als das Sägewerk 1964 den Betrieb aufgab, führte das die Arbeiter und ihre Familien weg von Vartsala, aber in den neunziger Jahren erwachte das Dorf zu neuem Leben. Der größte Dank dafür gebührt der Erfolgsgeschichte der Firma Nokia in Salo, der nächstgelegenen Stadt. Inzwischen habe ich schon gehört, dass Leute das Dorf als Beverly Hills der finnischen Südwestküste bezeichneten. Das ist allerdings ein bisschen übertrieben. Zwar sind hier neue Häuser entstanden, eines protziger als das andere, zwar gibt es sauber frisierte Rasenflächen und private Tennisplätze, aber dazwischen stehen noch immer abbruchreife Häuser und sogar Baracken.
Vor meinem Umzug nach Vartsala war ich dort nur gelegentlich mit meinem Großvater und Mamu zu Besuch gewesen, die damals schon in Turku lebten. Das Blockhaus, in das ich nun gezogen bin, wurde zwischen 1910 und 1920 gebaut und umfasst neben einer Küche zwei Zimmer und eine kleine Dachkammer. Es steht auf einem knapp drei Hektar großen Grundstück am Waldrand, etwas abseits vom eigentlichen Dorf. Unmittelbare Nachbarn gibt es nicht.
Ich habe das Haus von Mamu geerbt, der Mutter meiner Mutter, die selbst nie darin gewohnt hat. Sie und mein Großvater erwarben es einst bei einer Zwangsversteigerung, wohl mit dem Hintergedanken, dass es einmal ihr Sommerhaus werden könnte. Sie ließen dann aber doch Arvi Malmberg, den Vorbesitzer, als Mieter darin wohnen.
Vor ihrem Tod übertrug ihm Mamu das lebenslange Wohnrecht. Arvi Malmberg wurde dann fast 90 Jahre alt. Bis zum Schluss konnte er sich so weit selbst versorgen, dass es nicht gelang, ihn zum Umzug ins Altersheim zu bewegen. Man fand den Alten als mumifizierte Leiche im Blockhaus, fünf Monate nach seinem Tod, im Winter 1986.
Die Dorfbewohner nannten ihn Knopf-Arvi, aber für mich war er Onkel Arvi. Mamu und ich besuchten ihn mehrmals im Jahr. Irgendwann wurde mir klar, dass er ein Pflegekind von Mamus Eltern gewesen war, ein Jahr jünger als meine Großmutter.
Der Vater von Mamu, Olof Malmberg, hatte als Gärtner und seine Frau Elli als Köchin im Herrenhaus Joensuu gearbeitet, das sich damals im Besitz der Grafenfamilie Armfelt befunden hatte. Heute gehört das Gut dem Vorstandsvorsitzenden einer Bank. Mamu erzählte mir, sie habe viel Zeit bei ihren Großeltern verbracht, weshalb sie und Arvi von klein auf ein sehr enges Verhältnis gehabt haben mussten.
Die Kinder im Ort ließen kein Missverständnis darüber aufkommen, dass der Knopf-Arvi mit seinem Einsiedlerdasein für eine Art Dorftrottel gehalten wurde. Der Alte redete praktisch mit niemandem, und außer meinem Großvater, Mamu und mir betrat niemand freiwillig sein Grundstück. Ich hatte keine Angst vor ihm. Was die Besuche bei Onkel Arvi in meiner Kindheit betreffen, so erinnere ich mich am besten an das Pferd. Jedes Mal hob der Alte mich hoch, damit ich das warme, seidenweiche Maul streicheln konnte. Später war das Pferd dann nicht mehr da.
Zuletzt hatte ich das Dorf Vartsala im Mai 1984 gesehen, als die Apfelbäume blühten. Üppig weiß standen sie zwischen den rot gestrichenen Hofgebäuden. Die Vögel zwitscherten, die Meeresbucht leuchtete blau. Es war ein schöner Anblick. Aber die unbewohnten Häuser ließen den Ort geisterhaft und unwirklich erscheinen.
Viele Leute würden das Blockhaus von Knopf-Arvi sicherlich für eine ziemliche Bruchbude halten. Strom ist sein einziger Komfort. Das Wasser stammt aus dem Brunnen, und der Abort befindet sich neben dem roten Holzgebäude, das Werkstatt und Sauna beheimatet. Es herrscht die Atmosphäre einer Welt, die es gar nicht mehr gibt. Die Veranda besteht komplett aus kleinen Scheiben mit kunstvollen Holzgittern dazwischen. Ein paar Ausbesserungen habe ich bereits vorgenommen, ich habe Kitt besorgt, den die Kohlmeisen so sehr mögen, und zerbrochene Scheiben ersetzt. Wenn es noch etwas wärmer wird, kann ich zum Malerpinsel greifen.
Alles in allem befindet sich das alte Blockhaus in gutem Zustand. Das Dach ist dicht, unter dem Holzfußboden zirkuliert genügend Luft, und auch sonst ist die Konstruktion gut gelüftet gewesen. Dank des fehlenden Komforts ist es in dem Haus, das 20 Jahre kalt dagestanden hat, nicht zu Wasserschäden und darum auch nicht zu morschen Stellen gekommen.
Ich versuche meinen Lebensunterhalt zu verdienen, indem ich den Leuten Grundstückseinfassungen und andere Konstruktionen aus Stein in ihren Höfen und Gärten mache. Große Investitionen erfordert meine Arbeit nicht. Ich binde Spaten, Eisenstange und Wasserwaage ans Fahrrad und fahre in einen Vorort von Salo, wo mich Olli Nieminen, der Besitzer eines Geschäfts für Haushalts- und Elektrogeräte, meine Schubkarre und meine handbetriebene Winde aufbewahren lässt. Die übrigen Werkzeuge – Zollstock, Winkel, Schlagschnur und Gummihammer – trage ich im Rucksack. Gegen Arbeitsleistung darf ich mir Nieminens überall geflickten, mit roter Rostschutzfarbe gesprenkelten Toyota-Dyna-Kipper ausleihen.
Damit hole ich mir von den Baustellen an der Autobahn Helsinki –Turku Sprengsteine, immer zwei Tonnen auf einmal. Roten Granit bekomme ich von dem Streckenabschnitt bei Lohja, wo vor zwei Jahren einige Tunnel gebaut und Felsdurchbrüche gemacht wurden. Grauen Granit hole ich mir kurz vor Turku, wo man für eine Auffahrt zum neuen Einkaufszentrum den Felsen gesprengt hat. Der schwarze Tonschiefer aus Tammistos Steinbruch reicht als einziges Material nicht aus. Man muss den Kunden verschiedene Farbalternativen anbieten können.
Mörtel verwende ich überhaupt nicht. Ich mache ausschließlich freie Konstruktionen, die üblicherweise als Trockenmauern bezeichnet werden. Mir gefällt ihre einfache, naturnahe Gestalt. Anstelle des Zements, den man kaufen muss, werden solche Mauern von einem kostenlosen, unbegrenzt vorhandenen Bauelement zusammengehalten: von der Schwerkraft.
Eine frei aufgeschichtete Trockenmauer wiegt etwa tausend Kilo pro laufendem Meter. Jeder Stein bindet die Steine unter sich, über deren Fuge er liegt. So erreicht man eine feste Konstruktion, in der letztendlich jeder Stein jeden anderen stabilisiert. Da kein Mörtel die Konstruktion starr macht, hält sie endlos lange jeder Frostbewegung stand, und es sind keine aufwändigen Fundamentarbeiten nötig.
In Finnland gibt es an Zufahrten zu Herrenhäusern und rings um Kirchhöfe noch mehrere hundert Jahre alte Trockenmauern. Stellt man sich vor eine solche Mauer und nimmt einen losen Füllstein heraus, kann man sich vorstellen, der erste Mensch zu sein, der nach dem Maurer diesen Stein anfasst. In den Hungerjahren am Ende des 19. Jahrhunderts ließen auch zahlreiche Großbauern Steinmauern anfertigen, weil die Maurer damals bereit waren, bloß gegen Kost zu arbeiten.
Ich stelle meine Rechnungen nach laufendem Meter. Im Prinzip handelt es sich also um Akkordarbeit. Allerdings kann man eine derartige Arbeit mit Steinen nicht im Akkord erledigen. Es kommt auf ein stabiles Resultat an, das dem Auge gefällt. Und das erreicht man nicht, wenn man sich hetzt.
Angeblich werde ich im Dorf bereits als »der Steinmann« bezeichnet. Das ist mir nur recht. Ich weiß nicht, wie viele solcher Steinmänner es in Finnland gibt. Auf jeden Fall handelt es sich um eine untergehende Branche. Die Bauindustrie hat Techniken entwickelt, mit denen man schnell und billig Konstruktionen herstellen kann, die ähnlich aussehen wie traditionelle Trockenmauern. Auf den Baustellen kommen beim Bewegen und Heben der Steine Maschinen statt Muskeln zum Einsatz. Anstelle einer genau überlegten Schichtung wird Mörtel verwendet, den man nicht sieht, und die gesamte Konstruktion ruht auf einer unter der Bodenfrostschwelle angelegten Sohle und einem darauf gegossenen Sockel.
Echte Trockenmauern lassen sich Kunden machen, die das alte Geld repräsentieren und bereit sind, einen vielfachen Preis für Handarbeit und ein Ergebnis zu bezahlen, das bis zur nächsten Eiszeit hält. Ich werde mir bei meiner Arbeit also nicht die Finger mit Mörtel schmutzig machen. Die Baumarktmischung darf warten, bis ich den zerfallenen Backofen meines Blockhauses repariere und für Olli Nieminens Installationshalle den Anbau mauere, als Gegenleistung für das Leihen des Kippers und ein paar anderer Sachen.
Wenn ich nicht unterwegs bin, setze ich meine Nachforschungen über die Ereignisse im Heimatdorf meiner Großeltern im vorigen Jahrhundert fort und erstelle eine Art Zusammenfassung. Den Impuls dafür bekam ich, nachdem ich eine vor mehr als 20 Jahren in Auftrag gegebene Chronik der Gemeinde Halikko gelesen hatte, die auf Interviews mit den Dorfbewohnern beruhte und auf den Tagebucheintragungen, die der Sägewerkarbeiter Joel Tammisto seit 1903 vorgenommen hatte. Die Chronik war in Romanform verfasst worden und schwer zu lesen gewesen. Die Tagebucheintragungen von Joel Tammisto hingegen waren in ihrer lakonischen Art beeindruckend. Der Mann weckte aber auch deshalb mein Interesse, weil ich wusste, dass er ein enger Freund meiner Großeltern gewesen war.
Noch als ich bei der Ofenbauer AG beschäftigt war, fing ich an, nach weiteren Informationen über Joel Tammisto zu graben, während der Arbeitszeit, wenn ich die Nase voll davon hatte, auf den öden E-Mail-Humor von Kollegen und Kunden zu reagieren.
Hier in meinem neuen Zuhause habe ich mit Reißzwecken die Kopie eines Fotos über dem Schreibtisch befestigt. Man sieht darauf meinen Großvater Sakari Salin mit Joel Tammisto als junge Männer in schwarzen Anzügen, weißen Hemden und mit Filzhüten vor einem Fahrrad stehen. Auf einem zweiten Foto sitzt Mamu, meine Großmutter mütterlicherseits, Saida Harjula, auf einem Holzstapel, als kleines, barfüßiges Mädchen mit Zöpfen zwischen vier Frauen mit weißen Schürzen.
Ich bin besessen von dem Wunsch zu wissen, wer diese Menschen waren. Was sie dachten und wie sie handelten, damals, als die Welt Feuer fing und mit heißen Flammen brannte, als die Feuerfunken weit in die Höhe flogen.
Die Säge fängt an zu laufen. Heute ist es so weit.
»Jau«, sagt der Mann, »na und?«
Er sitzt vor dem Schwanenbild, das Kustaa Vuorio gemacht hat, im Arbeiterhaus, welches einen neuen Anstrich gebrauchen könnte. Er ist ein zäher Baumstumpf, der sich an seine Wurzeln klammert und sich in jene Stunden zurückversetzt, in denen es um ihn herum vor Leben wimmelte.
Er sieht auf die alten Fotografien, lacht schallend: »Guck, das ist mein Vater Joel Tammisto mit seiner Clique vom Sägewerk. Kein großer Mann, in keiner Weise stattlich, doch in jeder Disziplin so flink, dass er nicht zu überbieten war. Ob nun beim Skilanglauf oder beim Gedichterezitieren, eine Medaille sprang für ihn immer heraus.«
So dichtete Mitte der achtziger Jahre die preisgekrönte Jungforscherin, als sie ihre Chronik der Gemeinde Halikko schrieb. Der literarische Ehrgeiz schien die junge Dame bedenklich weit von dem weggeführt zu haben, was die guten Bürger der kleinen Kommune im Sinn hatten, als sie ihr den Auftrag erteilten. Linkspolitische Überzeugungen und eigenmächtige literarische Freiheiten haben zu einem Resultat geführt, das man am Ende wohlweislich im Keller des Gemeindehauses eingeschlossen hat. Mich interessiert die Chronik vor allem in den Abschnitten, in denen sie sich auf die Tagebucheintragungen des Revolutionärs Joel Tammisto stützt sowie auf die Interviews mit alten Dorfbewohnern, die der Gemeindesekretär irgendwann Ende der siebziger Jahre auf Tonband aufgenommen hat.
»Ach, die Säge soll wieder in Betrieb genommen werden?«
Der alte Mann blickt aus dem großen Fenster auf das Bretterlager hinaus, wo sich die aufgehäuften Stämme im günstigsten Fall bis zur Straße hin erstreckten und in zwei Schichten gut und gern 2000 Stämme am Tag zersägt wurden.
Jetzt hat sich das Gras des leeren Geländes bemächtigt, kalt fegt der Wind darüber hinweg. Die Gebäude des Sägewerks stehen noch immer da, als knarrende, morsche Überreste der Vergangenheit. Daneben halten sich die Wohnhäuser, die zweistöckige Mietskaserne, errichtet Anfang des Jahrhunderts, und der in den zwanziger Jahren auf die Schnelle hochgezogene Bau für die Streikbrecher.
Und auf der felsigen, windigen Anhöhe Kukkulinmäki stehen die drei Häuser, von denen zwei im Volksmund Hochburgen genannt werden. Das andere ist das Zugvogelnest, nach den umherziehenden Holzarbeitern. Diese nämlich waren so vogelwild, dass sie sich sogar zur Arbeitszeit im Sägewerk prügelten.
Unterhalb der Anhöhe steht die alte Schule, die eigentlich als Gebetshaus errichtet worden war. Die Älteren erinnern sich noch lebhaft an die lebendige Musikdarbietung des damaligen Kantors und von Frau Runolinna, die damit endete, dass Maschinenarbeiter Forsman, von der Freikirchlichkeit verzückt, in ihr Lied einstimmte. Allerdings streikte seine Staublunge mitten im Gesang, der Maschinenarbeiter erstickte neben dem Harmonium, und obwohl das in musikalischer Hinsicht keineswegs ein Verlust war, fühlte sich Frau Runolinna dadurch in einem Maße gekränkt, dass sie es fortan nicht mehr wagte, das arbeitende Volk mit Hilfe der Musik empfänglicher für den Herrn zu machen.
Auch das Haus des Direktors steht noch, zwar nicht die Holzvilla des Patrons Jakobsson, sondern der nach dem Krieg komplett neu gebaute, rundherum verputzte Bau mitten im schönen Garten. Das heißt, schön ist er nicht mehr, letztes Jahr hat sich eine Herde Ziegen daran gütlich getan, hat all die seltenen Blumen und Sträucher und Obstbäume, mit denen Gärtner Englund so viele Meriten eingeheimst hatte, vertilgt. Nichts ist mehr übrig von den vornehmen Sandwegen, auch nicht von dem Gewächshaus, in dem sogar Weintrauben reiften. Und das Zierbecken, über dessen Zweck die Sägewerkarbeiter sich gar nicht genug wundern konnten, ist mittlerweile eine zugewachsene Pfütze. Nein, nichts ist mehr übrig vom alten Glanz.
»Man kann sie sich nicht mal mehr vorstellen, all die Düfte und Farben«, lacht der Mann am Fenster auf und denkt daran zurück, wie der Sohn von Lindroos mit einer Schnapsflasche voll Wasser am Garten vorbeistolzierte, zur Zeit der Prohibition natürlich, mit der Absicht, den Patron zu reizen. »Es wäre lustig gewesen, die Visage des Alten zu sehen, wenn er zuerst getobt und dann hätte zugeben müssen, dass es nichts ist als Wasser, zum Deibel aber auch!«
Nein, es ist nichts mehr übrig, nicht einmal die Ziegen. Aber die Gebäude stehen noch. Und da ist noch der ein oder andere, der sich erinnern kann. Einer, der nicht an Tuberkulose, Milzbrand, einer Kugel oder vor Altersschwäche gestorben ist. Eine »Person mit gutem Leumund, die das Arbeiten gewöhnt ist«, wie es damals in den Stellengesuchen hieß. Ein Sägewerkarbeiter aus Finnland, aus dem Dorf Vartsala in der Gemeinde Halikko.
Das Arbeiten gewöhnt – ja, das sei er, doch über den guten Leumund lacht er laut, wischt sich die Tränen aus dem Glasauge, das er aus dem Fortsetzungskrieg mitgebracht hat, und schüttelt den Kopf: Kommt ganz drauf an, was mit gutem Leumund gemeint ist; die Ehre, die bürgerlichen Rechte und die Arbeit sind ihm zeitweise genommen worden, aber sein Leumund ist dabei immer mehr gewachsen.
1903
Die Säge ging am 7. Januar in Betrieb, und ich war den ganzen Winter als Kärrner da. Für 10 Stunden Arbeit bekamen wir 2,25 Pfennig am Tag.
7. Februar. Die Genossenschaft in Halikko wurde gegründet.
3. April. Die Säge stand und ging am 20. wieder in Betrieb.
Am 13. April kam der erste Dampfer.
Am 28. Juni war ich in Paimio beim Volksfest.
2. Juli. Sakari Salin wurde getraut.
3. Juli. Viki ging nach Amerika.
17.–20. August. Versammlung in Forssa, bei der die Arbeiterpartei den Namen Finnische Sozialdemokratische Partei annimmt und 11 Ziele für die nahe Zukunft aufstellt.
Am 4. Oktober fuhr ich nach Mariehamn.
6. Oktober. Ein Triebwagen der Firma Siemens überschritt eine Geschwindigkeit von 200 Kilometer/Stunde.
Am 10. Dezember gewannen Pierre und Marie Curie den Nobelpreis für Physik.
Am 17. Dezember flogen die Brüder Orville und Wilbur Wright zum ersten Mal mit einer Motormaschine. Das Gewicht des Luftschiffs betrug 238 kg, 8 Motorpferdestärken. 5 Personen kamen, um sich den Flug anzugucken.
Arvi, 6
August 1903
Die alte Speisekammer des Gutshauses ist renoviert und zum Nähzimmer umfunktioniert worden, in dem nun auch eine neue Nähmaschine steht, eine deutsche Stoewer, ausgezeichnet mit fünf Goldmedaillen. In den Regalen stapeln sich Stoffballen: Seidenmusselin, Chiffon, Tüll, Chinakrepp. Unter den sommersprossigen Händen von Tante Olga rattert die Maschine über einen marineblauen Stoff, aus dem ein Matrosenanzug werden soll für Paul, den Sohn des Konsuls, der bald aus Stockholm eintreffen und hier seine Ferien verbringen wird. Kräftig tritt die Tante die Maschine, und die Flecken unter ihren Armen werden immer größer. Süßlicher Schweißgeruch mischt sich mit dem Duft von Stoff und Stärke.
Arvi sitzt auf dem Fußboden und sortiert die Garnrollen und Bänder in eine schwarze Blechdose mit flammenartigem Muster ein. Der Junge beobachtet genau das Steppen der Jackenaufschläge. Er ist jederzeit bereit, Tante Olga das zu reichen, was sie braucht: Schere, Fingerhut, goldenes Band, Stecknadel, einen Knopf in passender Größe.
Einer der Stallknechte geht am Fenster vorbei und winkt Olga zu, aber diese schnaubt nur verächtlich.
»Behalt dein Ding nur schön in der Hose, sonst nähe ich es dir fest.«
Solche Sachen sagt Olga oft, obwohl es auch jetzt niemand hört außer dem kleinen geschäftigen Jungen zu ihren Füßen und den Fliegen, die am Fenster summen. Es ist allgemein bekannt, dass sich Olga auf ewigem Kriegsfuß mit dem männlichen Geschlecht befindet, aber das hindert die meisten Männer nicht daran, sich um sie, die rotwangige, üppige Frau, die jünger aussieht als 36, zu bemühen. Ihr starkes Haar hat sie zu taudicken Zöpfen geflochten und um den Kopf geschlungen. Sie ist die älteste Tochter des Gärtners Malmberg und die einzige, die noch auf dem Gut wohnt.
»Die nehmen sich alle die königlichen Zuchthengste zum Vorbild.«
Die Tante hebt die Nadel an der Maschine an, zieht die blaue Jacke heraus und hält sie ausgebreitet vor sich hin. Dabei wettert sie weiter in Richtung Fenster, obwohl dort längst niemand mehr vorbeistiefelt.
»Brauchst gar nicht so zu glotzen, du Witzbold. Das sind andere Frauen, die mit dem Nachthemdsaum zwischen den Zähnen auf Kerle wie dich warten.«
Das blaue Kleidungsstück schwebt zwischen den verschwitzten Armen der Tante in der Luft. Wie geblendet starrt Arvi es an. Der Stoff schimmert, so neu ist er. Voller düsterem Neid muss Arvi an das Kleid denken, das Saida geschenkt bekommen hat, weil es der Tochter von Konsul Larsson zu klein geworden ist. Es war zwar blassblau, doch hatte es genau so einen Kragen mit Goldrand wie der Matrosenanzug für den Jungen.
»Und jetzt die Knöpfe. Gib mir die glänzenden, die mit den Ankern drauf. Aber sei vorsichtig mit der Dose …«
Tante Olga nimmt den Faden, der an der Jacke hängt, zwischen die Zähne und beißt ihn ab.
»… dass sie mir ja nicht hinfällt und die Knöpfe weiß Gott wohin rollen.«
Arvi lässt die Knopfdose so vorsichtig wie möglich aufschnappen. In seinem Bauch rumort etwas: Und was passiert, wenn ihm ein Knopf in den Mund fliegt und ihm den Atem verstopft? Er holt Luft, befürchtet kurz, das Schlimmste könne schon geschehen sein. Womöglich ist der Knopf so schnell durch die Luft gesaust, dass er gar nicht gemerkt hat, wie er ihm in die Hals gerutscht ist?
»Erst mal nur einen«, sagt die Tante.
Erschrocken drückt Arvi den Deckel auf die Dose, stellt sie auf den Rand der Nähmaschine und zieht schnell die Hand weg.
»Steh auf, dann probieren wir, wo der Knopf hinkommt!«
Der Junge traut seinen Ohren nicht und springt auf. Ist die Jacke etwa für ihn? Hat Gräfin Nadine befohlen, ihm eine Jacke zu machen, weil Saida das Kleid bekommen hat?
Die Tante hat Stecknadeln im Mund, man kann gerade so verstehen, was sie sagt.
»Wo bleibt der Knopf?«
Sie zieht dem Jungen die Jacke an. Arvi betrachtet sich im Spiegel. Er sieht aus wie ein anderer, großer Junge, wie ein Marinesoldat. Seine Wangen glühen. Er deutet auf die Knopfdose neben der Nähmaschine, traut sich aber nicht mehr, sie zu öffnen und diesen großartigen Augenblick des Stolzes zu verderben. Sein Blick haftet auf dem Jungen im Spiegel. Die pastellfarbenen Stoffballen daneben betonen noch das Männliche der dunkelblauen Uniform. Er stellt sich vor, an Deck eines Dreimasters zu stehen und das Fernrohr auf die Blitze am Horizont zu richten, das Gesicht furchtlos gegen die spritzende Gischt der hohen Wellen erhoben.
»Umdrehen!«
Die Tante kneift die Jacke an den Schultern zusammen, steckt Nadeln hinein. Arvi hält den Atem an. Vielleicht gibt es auf dem Schiff auch Pferde, edle englische Hengste. Ja, dort stehen sie an Deck, im Regen glänzend. Von ihren Kruppen und Mähnen rinnt das Wasser, und der Donner des Gewitters macht sie scheu. Arvi tritt zu ihnen, tätschelt die nassen Hälse, die seidigen Mäuler und schafft es, eines nach dem anderen zu beruhigen.
»Ist das … meine?«
Arvis Stimme ist bloß ein Flüstern.
»Hä?«
»Ist die Jacke für mich?«
Tante Olga runzelt die Stirn.
»Nun red mal keinen Unsinn.«
»Nicht?«
»Warum sollte sie für dich sein? Wir probieren sie bloß an. Woher soll ich auf die Schnelle die ungezogenen Bälger des Konsuls nehmen, kannst du mir das sagen?«
»Ich will, dass es meine ist!«
Die Tante lacht düster.
»Wollen kann man viel. Aber was würde dir das helfen? Eine Jacke macht dich noch lange nicht zum Herrschaftskind.«
Arvi schlingt die Hände um den Leib und starrt die Tante unverwandt an.
»Ich will aber.«
»Na, na. Zieh sie jetzt aus! Für mich ist das auch kein Spaß. Ich muss noch die sieben Boleros und Westen machen.«
Sie ergreift die angespannten, zitternden Arme des Jungen und biegt sie mit Gewalt auseinander.
»Nun wein mal nicht! So ein großer Junge. Man muss brav und tüchtig sein, dann wird man was … Auch wenn dein Vater ein Spitzbube war, heißt das nicht, dass aus dir kein anständiger Mann werden kann. Der Tag wird kommen, an dem dein Vater an der himmlischen Pforte rüttelt. Und dann werden wir sehen. Durch diese Pforte geht man nicht mit ausgestrecktem Schwanz.«
Zum ersten Mal hört der Junge jemanden sagen, dass er irgendwo einen Vater hat. Als er noch bei Tante Korhonen in Pflege war, hatte er deren Kinder nachgeahmt und sie Mama genannt. Die Korhonen-Mädchen hatten ihn deswegen ausgelacht und gesagt, man dürfe nur seine eigene Mutter Mama nennen. Und Arvi sei ja als Baby von Onkel Malmberg zwischen Erdklumpen und Kohlblättern im Gewächshaus gefunden worden, das wüssten schließlich alle.