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Spannend und voller Empathie für das Land erzählt Çiğdem Akyol die Geschichte derTürkischen Republik, ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk. Er schuf auf den Trümmern des Osmanischen Reiches seine Vision einer modernen Türkei. Die Schattenseiten der verordneten Modernisierung sind bis in die Gegenwart spürbar: So erlebte das Land nach Atatürk mehrere Militärputsche und eine brutale Minderheitenpolitik. Doch die Entwicklung der Republik ist auch eine Erfolgsgeschichte: Die heutige Türkei ist ein aktiver außenpolitischer Gestalter in der Weltpolitik – und eine starke Volkswirtschaft. Çiğdem Akyol beleuchtet die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen hinter der Geschichte – das ideologisch geprägte Justizsystem, die Macht des Militärs, die Verfolgung von Schriftstellern und die Debatte um Religion und Säkularismus. Zu Wort kommen dabei auch Menschen aus der Türkei, die persönliche Eindrücke schildern, unter anderen die Journalisten Bülent Mumay und Can Dündar, die Feministin Büşra Cebeci und der ehemalige Außenminister Yaşar Yakış. Überdies kommen ehemalige AKP-Mitglieder und -Mitarbeiter mit ihrer Sicht auf die Entwicklungen zu Wort. Eine umfassende, lebendige Geschichte der Republik, die uns auch die Gegenwart nahebringt und die jüngsten Entwicklungen nachvollziehbar macht.
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Seitenzahl: 499
Çiğdem Akyol
Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan
Hundert Jahre Türkische Republik – ein Land zwischen Tradition und Moderne
Am 29. Oktober 1923 erklärte Mustafa Kemal Atatürk die Türkei zur Republik. Er führte die Trennung von Staat und Religion ein, setzte die Erneuerung aber autokratisch durch. Seither ist die Türkei geprägt von Konflikten zwischen Linken und Rechten, Demokraten und Autoritären, Kemalisten und Konservativen.
Çiğdem Akyol erzählt die Geschichte der Republik und nimmt zugleich die Gegenwart in den Blick. Anhand von Gesprächen mit Intellektuellen, Politikern und Aktivisten beschreibt sie auch deren Sicht auf ihre Heimat. So finden viele Fragen überraschende Antworten: Wie kam es dazu, dass das Militär in sechs Jahrzehnten fünf Regierungen durch einen Putsch absetzte? Was bedeutet Atatürks Nationalstaat heute? Warum ist der Konflikt zwischen der kurdischen Bevölkerung und Ankara ungelöst? Was denken türkische Frauen über die Kopftuchdebatte? Und wer profitiert vom Wandel unter Erdoğan?
Das facettenreiche Porträt eines Landes zwischen Asien und Europa, zwischen Demokratie und Autokratie.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Çiğdem Akyol, geboren 1978 in Herne, studierte Osteuropäische Geschichte und Völkerrecht in Köln und Moskau. Nach dem Besuch der Berliner Journalisten-Schule war sie Redakteurin bei der »taz«, anschließend Korrespondentin für die österreichische Nachrichtenagentur APA in Istanbul, von wo sie auch über den Putschversuch 2016 schrieb. Seit Jahren berichtet die Journalistin aus und über die Türkei u.a. für die »Neue Zürcher Zeitung«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Zeit Online« und »ntv.de«. Seit 2019 ist sie Reporterin Internationales bei der Schweizer »Wochenzeitung«. Ihr Buch »Erdoğan. Die Biografie« wurde für den NDR-Sachbuchpreis nominiert.
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Einleitung
Kapitel 1 Die Entstehung der modernen Türkei 1923–1938
Mustafa Kemal Atatürk: Der Gründer der modernen Türkei
Atatürks tiefgreifende Kulturrevolution
Die Geburtsfehler der Republik
Hintergrund: Die Kurdenfrage – oft Feind, selten Freund
Kapitel 2 Demokratie wagen 1939–1960
Der Nachlassverwalter Ismet Inönü
Das Experiment mit der Demokratie
Der 6. und 7. September 1955: Ein orchestrierter Pogrom gegen die Griechen
Der Staatsstreich von 1960: Beginn einer Putschtradition
Hintergrund: Das Diyanet – Instrument der Politik
Kapitel 3 Die Terrorjahre 1961–1980
Die zweite Republik
Politisches Chaos und eine Diktatur der Generäle
Hintergrund: Das Militär – Atatürks Wächter
Kapitel 4 Der Siegeszug der Frommen 1981–2000
Die dritte Republik
Der postmoderne Coup
Hintergrund: Die Kopftuchdebatte – zwischen Populismus, Kemalismus und Islamismus
Hintergrund: Die Angst und das Gefängnis – die türkische Schule der Literatur
Kapitel 5 Das Paradox der Freiheit
Der Weg in die Depression
Geliebt und verhasst: Der Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan
Die Gezi-Proteste: Überall ist Widerstand
Hintergrund: Ein ideologisches Justizsystem
Die Nacht des 15. Juli 2016: Marionetten, Putschisten und zwei einstige Weggefährten
Das Ende der Illusion
Anhang
Literatur
Zeittafel
Die Ministerpräsidenten der Türkischen Republik
Die Staatspräsidenten der Türkischen Republik
Aussprache türkischer Buchstaben
Abkürzungen
Personenregister
Am 29. Oktober 2023, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen dieses Buches, feierte die Türkische Republik ihr hundertjähriges Bestehen. Gegründet hat sie ein Kriegsheld, der wenige Monate vor der Staatsausrufung den Unabhängigkeitskampf gewann und das Ende des über sechshundert Jahre alten Osmanischen Reichs einläutete. Mustafa Kemal Atatürk errichtete nach dem Untergang des Imperiums einen Nationalstaat und löste eine radikale Revolution aus. Er modernisierte von oben herab nach westlichem Vorbild Staat und Gesellschaft, zuweilen mit Gewalt. Die von ihm eingeleitete Säkularisierung stieß immer wieder auf Widerstand – und oft wurde die Debatte darüber brutal beendet.
Nach Atatürks Tod wurde in den 1950er Jahren der Grundstein für große Umwälzungen gelegt. Das Einparteiensystem endete, die Wirtschaft machte Fortschritte, die Gesellschaft modernisierte sich unaufhaltsam. In den 1960er und 1970er Jahren nahmen auch politische Radikalisierungen zu: Rechte, islamistische und linke Parteien wurden gegründet, Universitäten wurden zu Orten, an denen sich ideologische Extremisten zusammenfanden, und zu blutigen Schauplätzen wiederholter Eskalationen zwischen Linken, Rechten und dem Staat, der immer wieder durchgriff.
So endete der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der Republik – Adnan Menderes – im Jahr 1961 am Galgen, hingerichtet vom Militär, das im Jahr davor durch einen Putsch die Regierung abgesetzt hatte. Wie Fieberschübe folgten 1971 und 1980 weitere Militärputsche; auch 1997 intervenierten die Generäle und erzwangen den Rücktritt des ersten islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Trotz der politischen Umstürze, der blutigen Minderheitenpolitik, der Wirtschaftskrisen und der nicht selten repressiven Regierungen hat die Republik auch einen beeindruckenden Erfolg erzielt: Aus einem bitterarmen Land ist ein Global Player hervorgegangen.
Unter Ministerpräsident Turgut Özal war in den 1980er Jahren eine fundamentale Wende in der Wirtschaftspolitik erfolgt. Die Industrialisierung wurde entscheidend vorangetrieben, der Türkei gelang der Sprung vom Entwicklungs- zum Schwellenland. Auch die Bevölkerung wuchs enorm. Bei der Staatsgründung 1923 hatte die Türkei 14 Millionen Einwohner – heute leben in der Republik rund 85 Millionen Menschen. Gleichzeitig kam es zu einer demographischen Verschiebung: Lebte der Großteil der Bevölkerung zu Beginn der Republik noch auf dem Land ohne Zugang zu Strom oder Wasser, zog es die Menschen in den folgenden Jahrzehnten massenhaft in die Städte. Allein in Istanbul wohnten 2022 offiziell 16 Millionen Menschen – fast 19 Prozent der Türken. Die Megametropole liegt als einzige Stadt der Welt auf zwei Kontinenten: Europa und Asien.
Die meisten Bewohner des Landes fühlen sich zu Europa gehörig. Insgesamt aber liegt die Türkei zu 97 Prozent in Kleinasien, an einer geopolitischen Bruchstelle. Sie ist dank ihrer geographischen Lage ein Bindeglied zwischen Europa und dem Mittleren und Nahen Osten und teilt sich Grenzen mit Iran, Irak, Syrien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Griechenland und Bulgarien. »Geographie ist Schicksal«, heißt es in der türkischen Politikwissenschaft in Anlehnung an eine dem arabischen Historiker Ibn Khaldun (1332–1406) zugeschriebene Redewendung. Das Land bildet die südöstliche Flanke der Nato und ist somit ein unverzichtbarer Sicherheitsfaktor in einer spannungsreichen Region.
Auf ihrem Weg in die Moderne hat sich die Republik nach Westen ausgerichtet. Seit 1945 ist sie Mitglied der Vereinten Nationen, Deutschland erhielt dort erst 1973 einen Sitz. Im Jahre 1950 trat sie dem Europarat bei, seit 1952 – und damit drei Jahre früher als Deutschland – ist sie Nato-Mitglied, 1973 war die Türkei ein Gründungsmitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit. Seit 1996 ist sie auch Teil der EU-Zollunion. 2005 wurden die EU-Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Als einziger Staat der Welt ist die Türkei nicht nur Nato- und OSZE-Mitglied, sondern seit 1969 auch Mitglied der Organisation der Islamischen Konferenz. Als Brückenkopf zwischen West und Ost setzt das Land eigene außenpolitische Akzente, nicht immer zur Freude der westlichen Partner.
Gemäß der Verfassung ist die Türkei ein demokratischer Rechtsstaat. Doch in der Realität war sie nie eine liberale Demokratie. Jahrzehntelang unterdrückten die Kemalisten die Opposition und verachteten die Peripherie. Sie verfolgten Minderheiten, Linke, Kommunisten und den politischen Islam. Für Außenstehende sind die politischen Frontlinien nicht einfach zu verstehen: So waren viele Anhänger Atatürks besorgt, dass das Land bei einem EU-Beitritt eine Sklavin Brüssels würde. Sie versuchten auch, eine Gleichberechtigung der Kurden weitestgehend zu verhindern, weil sie fürchteten, der Staat würde in der Folge zerfallen. Frauen mit Kopftuch passten ebenso wenig in das Weltbild der Kemalisten, die ihnen politische und gesellschaftliche Rechte verwehrten. Aus diesen Gründen ist das gängige westliche Etikett einer linken Sozialdemokratie für die von Atatürk gegründeten Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP) nicht zutreffend. Die türkische Sozialdemokratie forderte das Eingreifen der Armee, wenn sie einen »inneren Feind« erkannt zu haben meinte, und hielt bei angeblichen Bedrohungen immer die Nationalflagge hoch. Dabei ging es ihr vornehmlich um die Bewahrung ihrer Privilegien.
Nach Jahrzehnten instabiler Koalitionen kam es 2002 zu einem Kulturwandel: Seitdem diktiert mit der Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, AKP) eine islamische Regierung die Regeln. Als Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2003 das Amt des Ministerpräsidenten antrat, versprach er, die »drei Ypsilons« zu bekämpfen – Armut (yoksulluk), Verbote (yasaklar) und Korruption (yolsuzluk).[1] Das Establishment musste miterleben, wie ausgerechnet die nationalkonservative AKP die Ära einer »neuen Türkei« ausrief und mehr als ein Jahrzehnt lang die Gesellschaft liberalisierte, wobei sie die »drei Ypsilons« tatsächlich erfolgreich anging. Die Partei setzte Reformen durch, die das gesellschaftliche Leben positiv veränderten. Lange waren Militär, Justiz und Bürokratie teils mächtiger als die gewählten Regierungen, die AKP hat das Land aus dem Griff dieser Kräfte befreien können. Nach Jahren des politischen Chaos mit kurzlebigen Koalitionen brachte die AKP politische Stabilität. Es entstand eine breite Mittelschicht, Minderheiten wie die Kurden bekamen mehr gesellschaftliche und politische Teilhabe. Zum ersten Mal seit der Gründung der Republik lag die zivile Macht voll bei einer demokratisch gewählten Partei.
Dennoch ist über keinen türkischen Politiker international und insbesondere in Deutschland derart hitzig debattiert worden wie über Erdoğan. Im Land selbst warnten seine Gegner von Anfang an, er verstecke sich hinter einer angeblich demokratischen Agenda und wolle eigentlich das Land islamisieren. Sie kritisierten seinen populistischen Nationalismus. Für seine Anhänger ist er hingegen eine Lichtgestalt. In den ersten Jahren seiner Regierung gab es viel Positives. Doch dann kamen 2013 die Gezi-Proteste – seitdem ist das Land polarisierter denn je. Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 ist nichts mehr, wie es einst war. Erdoğan hält sich nicht länger mit rechtlichen Erwägungen auf – richtig ist nun, was ihn an der Macht hält. Tausende Menschen wurden verhaftet oder verloren aus politischen Gründen ihre Existenzgrundlage. Oppositionelle werden mit Zensur, Haftstrafen und Hetzkampagnen regierungstreuer Medien bekämpft. Wegen dieser Entwicklung legte Brüssel die EU-Beitrittsgespräche auf Eis. Auch die Kurdenfrage ist weiterhin ungelöst. Die Spannungen zwischen den Säkularisten und den Frommen halten an. Das Wohlstandsgefälle von Ost nach West konnte zwar vermindert, aber nicht behoben werden. Frauen müssen weiterhin für ihre Freiheiten kämpfen. Geblieben sind der autoritäre Staat, Nationalismus und Zentralismus. Die Kemalisten fühlen sich durch die Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre in ihrem Misstrauen bestätigt.
Anfang 2023 ist die Lage in der Türkei labil. Bei einem verheerenden Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet verlieren Zehntausende ihr Leben. Die Nachrichten bringen Meldungen, dass der Präsident Griechenland mit einer militärischen Intervention drohe oder plane, türkische Truppen in Nordsyrien einmarschieren zu lassen. Auch die Meldung, dass der oppositionelle Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, kurz zuvor wegen Beamtenbeleidigung zu einer Haftstrafe verurteilt worden sei, ist nahezu erwartbar. Der Wert der Lira fällt, die Preise explodieren – die guten Jahre sind eindeutig vorbei. Erdoğans glühenden Anhängern fällt es zusehends schwerer zu erklären, warum sie ihn unterstützen.
So genügt in der Türkei 2023, hundert Jahre nach ihrer Gründung, schon das Setzen eines Like bei einem regierungskritischen Tweet, um im Gefängnis zu landen. Beim Global Peace Index stand die Türkei 2022 auf Platz 145 von 163 Staaten. Reporter ohne Grenzen stufte das Land 2022 auf Platz 149 von 180 Ländern im Ranking der Pressefreiheit ein. Viele Menschen haben Angst – Angst vor der seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise, Angst davor, sich kritisch zu äußern, Angst vor dem nächsten Erdbeben, denn das Land ist ein Risikogebiet.
Staatsgründer Atatürk hatte sich bei der Ausrufung der Republik wohl kaum gewünscht, dass einmal ein Präsident an die Macht gelangen würde, dessen Frau selbstbewusst ein Kopftuch trägt. Atatürks Vorstellung von einer modernen türkischen Identität unterscheidet sich fundamental von der Erdoğans. Der eine denkt säkular, der andere fromm. Dabei haben beide Männer einiges gemeinsam: Nicht nur Atatürk hatte ein autokratisches Politikverständnis, dies trifft auch auf Erdoğan zu. Beide haben sich aus bescheidenen Verhältnissen hochgekämpft und sind zu den prägendsten Politikern der Republik geworden. Beide durchliefen eine beeindruckende politische Karriere, und beide krempelten das Land nach ihren Vorstellungen um.
Wie Atatürk sieht sich auch Erdoğan als Stifter einer neuen türkischen Identität – aber auf völlig andere Weise: Während Atatürks Ideal eine westliche türkische Gesellschaft war, ist Erdoğans Wunsch, dass eine religiöse Generation heranwächst. Während Atatürk die Religion aus der Öffentlichkeit zurückdrängte, hat Erdoğan ihr wieder viel Platz eingeräumt. Dieser Richtungswechsel wird auch architektonisch augenfällig: Heute überragt Erdoğans Präsidentenpalast in der Hauptstadt Ankara das Atatürk-Mausoleum Anıtkabir. Und auf dem Istanbuler Taksim-Platz steht nun unmittelbar neben dem Cumhuriyet Anıtı, dem Denkmal der Republik, eine riesige Moschee.[2]
In diesem Buch wird der lange, teils dramatische Weg der Türkischen Republik bis ins Jahr 2023 erzählt. Die Erdbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet geschah kurz vor dem Erscheinen, weshalb sie hier nicht thematisiert wird. Das Buch ist chronologisch aufgebaut, doch es erhebt keinen Anspruch auf eine lückenlose Darstellung der Geschichte der Republik. Es beschränkt sich nicht auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung. Deshalb durchbrechen eingeschobene Hintergrundkapitel die zeitliche Struktur, Kapitel über Gesellschaft und Kultur, aber auch über die Rolle des Militärs und den Umbau der Justiz unter Erdoğan. Immer wieder werden auch Augenzeugenberichte und Einschätzungen von Experten, Kritikern und Anhängern der AKP zitiert – diese unterschiedlichen Perspektiven von Menschen, die im Land leben, machen die faszinierende Geschichte der türkischen Republik greifbarer. Die Türkei ist im Jahr 2023 ein Land am Scheideweg, wohin sie sich entwickeln wird, ist kaum vorherzusagen – aber bisher ist es dem Land immer gelungen, sich von turbulenten Phasen der Instabilität zu erholen.
Als der Hirte Adıgüzel Kırmızıgül 1954 unweit des Dorfes Yukarı Gündeş in der ostanatolischen Provinz Ardahan seine Herde hinausführt, erlebt er etwas Sonderbares. Im Sonnenuntergang sieht er einen Schatten. Er erkennt darin die Silhouette von Mustafa Kemal Atatürk. Kırmızıgül – auf Deutsch: rote Rose – meldet die Erscheinung sogleich den Behörden, und diese feiern das Naturphänomen als Wunder.[1] Weil es auch später immer wieder beobachtet wurde, finden seit 1995 jedes Jahr im Sommer am Ort des Geschehens Feste zu Ehren von Atatürk statt. Massen strömen hin, sagen die Veranstalter. Die Besucher machen Selfies vor der Schattensilhouette des »großen Führers Atatürk«, und die Medien berichten landesweit.[2]
Bis heute trauert die Türkei am Todestag von Atatürk. An jedem 10. November ertönen fünf Minuten nach neun die Luftschutzsirenen, auf dem Wasser heulen die Schiffssirenen, Autos halten an, die Menschen stehen still und schweigen. Im ganzen Land wehen türkische Flaggen, mit Halbmond und Stern und oftmals mit einem Porträt Atatürks. Auch sonst ist das Gesicht des Republikgründers nach wie vor allgegenwärtig: auf Postern und Geldscheinen oder als Tattoo. Unzählige Büsten verkörpern Atatürk; mit seinen blauen Augen blickt er von Bildern in Amtsstuben, Schulen, Banken und Krankenhäusern auf das Volk. Stadien, Plätze, Bibliotheken und Flughäfen sind nach ihm benannt.[3] Auch hundert Jahre nach der Gründung der türkischen Republik ist Atatürk, der bereits mit siebenundfünfzig Jahren verstarb, allgegenwärtig.
Der Personenkult um den »Vater der Türken« hat mittlerweile an Pathos verloren. Seine Ideologie – der Kemalismus – wird kritisiert, während ihn zugleich viele Türken weiterhin verehren. Für sie ist er ein Visionär und Befreier. Andere sehen in ihm einen Autokraten. Unbestritten ist, dass er aus den Ruinen des Osmanischen Reichs die heutige Türkei erschaffen hat. Rücksichtslos dem Fortschritt verpflichtet, brach er mit jahrhundertealten Überzeugungen. Er legte den Grundstein für einen modernen Staat, er trieb ökonomische und gesellschaftliche Reformen voran. Allerdings war er gnadenlos gegen jene, die sich seinen Vorstellungen von einem republikanischen Staatswesen in den Weg stellten.
Namen hat er viele: Zu seinem Geburtsnamen Mustafa kam später der Name Kemal hinzu. Erst 1934 erhielt er den Familiennamen Atatürk (Vater der Türken), dazu eine Reihe von Rängen und Titeln, die ihm verliehen wurden, sowie Anreden wie Büyük Şef (Großer Chef).[4] Atatürk[5] wächst in einfachen Verhältnissen auf. Geboren wird er im Winter 1880/1881 oder im Frühjahr 1881 – das genaue Datum ist nicht dokumentiert.[6] Sein immer noch für Besuche verfügbares Geburtshaus steht im heutigen Thessaloniki, damals Saloniki, das bis 1912 zum Osmanischen Reich gehörte. Atatürk erfährt eine weltoffene Stadt, in der Anhänger aller drei großen monotheistischen Religionen friedlich miteinander leben; große griechische, jüdische und makedonische Bevölkerungsgruppen sind dort anzutreffen. Er ist das vierte Kind von Ali Rıza (1839–1888) und Zübeyde (1857–1923), deren drei zuvor geborene Kinder im Säuglings- bzw. Kleinkindalter verstorben waren. Das vierte Kind wird Mustafa genannt – »der Erwählte«, ein Ehrentitel für den islamischen Propheten Mohammed.[7]
Sein Vater – ein niederer Zollbeamter – stirbt, als Atatürk sieben Jahre alt ist, die erst siebenundzwanzigjährige Mutter muss finanziell vorsichtig sein. »Meine wichtigste Pflicht war die Feldhüterei. Nie werde ich vergessen, wie ich mit meiner kleinen Schwester in der Mitte eines Bohnenfeldes unter einem Schutzdach saß und wir mit dem Vertreiben der Krähen beschäftigt waren«, sagt Atatürk über seine Kindheit. Mehrmals bricht er die Schule ab. Schon als Jugendlicher ein Rebell, schreibt er sich heimlich bei der Militärschule ein. Seine Mutter hätte ihn lieber auf eine Koranschule geschickt, er aber startet eine Militärkarriere.[8] Im Jahr 1895 absolviert er die Militärvorbereitungsschule in Saloniki als einer der Besten seines Jahrgangs, 1896 wechselt er auf die militärische Hochschule in Manastır, im heutigen Bitola in Nordmazedonien, damals Hauptstadt der gleichnamigen osmanischen Provinz. Weil der Jugendliche als guter Schüler auffällt, bekommt er nach eigenen Angaben den Beinamen Kemal – nach dem arabischen Wort für »Reife« oder »Vollkommenheit«. Seine anderen Namen kommen erst später hinzu: Nach der erfolgreichen Schlacht am Sakarya im September 1921 gegen die Griechen erhält er den Titel »Gazi« – »Soldat im Heiligen Krieg«, eine arabische Bezeichnung für einen islamischen Krieger.
Gerade einmal achtzehn Jahre alt, beendet Atatürk 1899 die Militärschule als zweitbester seines Jahrgangs und zieht nach Istanbul, wo er die Ausbildung an der renommierten Kaiserlich-Osmanischen Militärakademie fortsetzt. Preußische Strenge prägt das von Deutschen modernisierte Institut, das er 1902 als Achtbester abschließt. Im Anschluss absolviert er bis 1905 eine Ausbildung als Generalstabsoffizier. Obwohl Atatürk von keinerlei gesellschaftlichen Privilegien profitieren kann, gelingt ihm eine erstaunliche Karriere. Dazu sagt der Turkologe Klaus Kreiser,[9] der zahlreiche Bücher über die Türkei verfasst hat und für seine Atatürk-Biographie bekannt ist: »Anders als wir es im Abendland oder in Russland kennen, war in der osmanischen Tradition nicht die Nähe zum Herrscherhaus entscheidend. Von einem Geburtsadel kann man ohnehin nicht sprechen. Wenn man in unseren Breitengraden ein ›von und zu‹ war, wurde man schnell Offizier, unabhängig von militärischen Fähigkeiten. Im Osmanischen Reich hingegen war es überhaupt nicht ungewöhnlich, dass jemand vom einfachen Soldaten rasch in höhere Ränge aufsteigen konnte.«[10]
Die Militärschulen sind Orte der Aufklärung. So schließt sich Atatürk in Istanbul den liberalen, nationalistischen Jungtürken an und setzt sich mit den Ideen der Französischen Revolution auseinander, die seiner Ansicht nach »der ganzen Welt die Idee der Freiheit« geschenkt hat.[11] Er studiert die Schriften von Voltaire, Rousseau und Auguste Comte, er korrespondiert auf Französisch, wird aber nur einmal in seinem Leben zwei Wochen in Frankreich verbringen.[12] »In Frankreich war das Modell einer laizistischen Republik am stärksten ausgebildet, das erklärt seine Sympathien für französische Denker«, sagt Kreiser. Schon früh entwickelt Atatürk die Idee eines türkischen Nationalstaats. Ganz konkrete Vorbilder hat er laut Kreiser nicht. »Für Atatürk war der Westen ein Zivilisationsmodell, aber er erklärte nicht Frankreich oder Preußen zum Modell für die Türkei. Vorbild war ›der Westen, die westliche Zivilisation‹ im Allgemeinen«, so Kreiser.
Einen exemplarischen Einblick in seine Gedankenwelt geben Atatürks Notizen aus dem böhmischen Karlsbad, wo er sich 1918 mehrere Wochen lang als Kurgast von verschleppten Krankheiten erholt. Nachdem er »äußerst feinen, schönen jungen Frauen« in einem Tanzsalon zugeschaut hat, hält er in seinem Tagebuch fest: »Wenn mir eine große Verantwortung und Macht zufällt, glaube ich, dass ich in unserem Gesellschaftsleben die erwünschten Umwälzungen in einem Augenblick mit einem ›Coup‹ umsetzen werde. (…). Der Grund: Nachdem ich so viele Jahre höhere Studien betrieben und das zivilisierte und das soziale Leben untersucht habe, um die Freiheit ein wenig kennenzulernen, und darauf ein Leben und meine Zeit verwendet habe, soll ich auf die Stufe der einfachen Leute herabsteigen? (Nein), ich werde sie auf meine Stufe heraufholen, ich möchte nicht wie sie werden, sie sollen werden wie ich.« Er fordert: »In der Frauenfrage müssen wir kühn vorgehen, hören wir nicht auf Einflüsterungen (…). Sie sollen ihre Gehirne frei machen und sich mit ernsthafter Wissenschaft befassen.«[13]
Neben Österreich-Ungarn und Russland ist das Osmanische Reich eines der drei großen Territorialreiche, die im Zuge des Ersten Weltkrieges zerfallen. Die Bewegung der Jungtürken[14] will das marode Imperium retten, das finanziell von den europäischen Großmächten abhängig geworden ist. Es gelingt ihnen 1908 unter der militärischen Leitung von Enver Paşa (1881–1922), die Macht zu ergreifen, Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) zu stürzen und dessen Bruder Mehmed V. (1844–1918) einzusetzen. Der neue Sultan hat überwiegend repräsentative Funktionen, während die Jungtürken immer mehr an Einfluss gewinnen. Weil sich innen- und außenpolitisch keine Stabilität abzeichnet, und um den weiteren Zerfall des Reichs aufzuhalten, verbündet sich Enver Paşa – nun Kriegsminister – im Ersten Weltkrieg mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn und kämpft gegen Frankreich, Russland und Großbritannien.
Daraufhin wird die Türkei 1915 zum Ziel der Alliierten, die mit ihren Schiffen durch die Dardanellen in Richtung Konstantinopel vorstoßen. Sie wollen den Seeweg zum Schwarzen Meer kontrollieren und dadurch das Osmanische Reich – und dessen Verbündete in Europa – entscheidend schwächen. Gelänge ihnen die Eroberung der Meerengen, wäre für sie das Tor zur osmanischen Hauptstadt offen. Doch der Angriff zur See scheitert – die Invasion kann auch Dank des in Deutschland gebauten Minenlegers Nusret beendet werden, den die osmanischen Verteidiger einsetzen.
Ab April 1915 landen mehr als 250000 Briten, Australier, Neuseeländer und Franzosen auf der Halbinsel Gallipoli nördlich der Dardanellen. Das ist die Stunde von Atatürk, zu diesem Zeitpunkt ein vierunddreißigjähriger Offizier. Seine Truppen sind in der Unterzahl und wesentlich schlechter gerüstet als die der Alliierten. Doch sie gehen taktisch geschickt vor und halten in der Schlacht von Gallipoli stand, bis die Alliierten im Januar 1916 aufgeben. Insgesamt gibt es auf beiden Seiten rund 340000 Opfer, davon über 100000 Tote.[15]
Atatürk wird zum General befördert, dem jüngsten der Kaiserlich-Osmanischen-Armee, und erhält den Ehrentitel Paşa. Bis heute erinnern landesweit Denkmäler an Atatürks damalige Entschlossenheit als Befehlshaber, mit der er die ausländischen Truppen stoppen konnte. Doch die militärischen Erfolge können den Zerfall des Osmanischen Reichs nicht aufhalten. Am 30. Oktober 1918 legt der Sultan mit dem Waffenstillstand von Mudros vor der Ägäis-Insel Lemnos die Waffen nieder. Das Reich bricht auseinander, große Gebiete werden der Kontrolle der Alliierten unterstellt. Sie überwachen die Meerengen wie auch sämtliche Eisenbahnverbindungen und Telegraphenleitungen.[16] Für Atatürk ist die Kapitulation eine Demütigung. Er bricht mit dem Sultanat, der weltlichen Herrschaft der osmanischen Dynastie, und fällt wegen seiner oppositionellen Haltung auf. Mit seiner nationalistischen Gesinnung findet er zusehends Zustimmung in der Bevölkerung.
Am 16. Mai 1919, einen Tag nach der griechischen Besetzung von Izmir, besteigt Atatürk in Istanbul ein Schiff zur Schwarzmeerstadt Samsun. Es ist der Beginn sowohl des endgültigen Niedergangs des Reichs als auch des Unabhängigkeitskriegs. Atatürk hat eigentlich den Auftrag, die Truppen in den östlichen Provinzen zu demobilisieren. Doch er widersetzt sich dem Sultan und organisiert im anatolischen Kernland den Widerstand gegen die fremden Mächte und die osmanische Herrschaft. Der 19. Mai, der Tag, an dem Atatürk in Samsun eintrifft, wird später als »Atatürk-Gedenktag« und als »Tag der Jugend und des Sports« zu einem Feiertag.
Unterdessen unterzeichnet am 10. August 1920 eine osmanische Delegation in der Nähe von Paris den Friedensvertrag von Sèvres. Dieser zerstückelt eines der größten Reiche der Weltgeschichte: Das Osmanische Reich schrumpft im Wesentlichen auf Anatolien westlich des Euphrats. Im Irak, in Palästina und Transjordanien entstehen britische, im Libanon und in Syrien französische Protektorate; Italien besetzt die Inseln des Dodekanes; das neu geschaffene Armenien bekommt den Osten Anatoliens. Die kurdisch besiedelten Gebiete östlich des Euphrats sollen autonom werden. Die Meerengen verbleiben unter der Kontrolle der Alliierten. Weil diese den Sultan als Marionette brauchen, darf Istanbul türkisch bleiben, allerdings unter britischer Aufsicht. Auf die Installierung eines Besatzungsregimes wird aber verzichtet.[17]
Der Diktatfrieden, die Unterwerfung, die Zerstückelung des Reichsgebiets und die Entmilitarisierung traumatisieren das Land; Soziologen sprechen vom Sèvres-Syndrom. Vom französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré (1860–1934) ist folgender Kommentar zu Sèvres überliefert: »Der türkische Vertrag wurde in der nationalen Manufaktur inmitten von Biskuits und Lilien unterzeichnet. Er ist selbst ein zerbrechliches Gut, womöglich eine schon zersprungene Vase. Rühren Sie sie nicht an!«[18] Die türkischen Nationalisten akzeptieren die Lösung nicht. Für Atatürk ist der Vertrag eine Katastrophe, er lehnt die Ratifizierung ab. Als im März 1920 Großbritannien im besetzten Istanbul das Osmanische Parlament auflöst und Abgeordnete festgenommen werden, lädt Atatürk Abgeordnete nach Ankara ein. Dort gründet er die Große Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet Meclisi, TBMM), eine provisorische Gegenregierung zum Istanbuler Ancien Régime der Sultane. Erwartungsgemäß wählt das neue Parlament Atatürk zum Präsidenten. Das Land oder das, was davon übrig ist, hat nun zwei Regierungen: die von Atatürk mit Sitz in Ankara und die des Sultans mit Sitz in Istanbul. Das neue politische und voll funktionsfähige Zentrum, das auch international Beachtung findet, beansprucht die politische Souveränität für sich, Entscheidungen des Sultans erkennt es nicht an.[19]
Derweil befeuert der Zerfall des Osmanischen Reichs die Expansionsträume der Griechen. Sie wollen sich Teile Kleinasiens einverleiben, wo Landsleute leben. Auch eine Rückeroberung Istanbuls, des einstigen Konstantinopels, ziehen sie in Betracht. Im Sommer 1920 stoßen sie bis ins anatolische Binnenland vor. Doch Atatürk gelingt es, die Griechen zurückzudrängen. Für diese endet der Vormarsch 1922 in der sogenannten »Kleinasiatischen Katastrophe«.[20] Die Eroberung Izmirs wird seitdem am 30. August als »Tag des Sieges« (Zafer Bayramı) gefeiert.
Dem militärischen Sieg Atatürks folgt der diplomatische Triumph. Die Rückeroberung von Territorium macht den Vertrag von Sèvres hinfällig. Atatürk zwingt die Siegermächte an den Verhandlungstisch. Während in Sèvres die Türkei zum Diktat antreten musste, kann sie in Lausanne am Genfer See als Verhandlungspartner auftreten.[21] Es wird monatelang diskutiert. Der stets loyale Außenminister Inönü leitet die türkische Delegation. Am 24. Juli 1923 wird schließlich der Vertrag von Lausanne unterzeichnet, der die Bestimmungen von Sèvres zum Großteil revidiert. Die Besatzungsmächte müssen das Land verlassen. Am 1. Oktober 1923 ziehen die letzten Besatzungstruppen aus Istanbul ab.
Es ist der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Bis heute ist der Name der Schweizer Universitätsstadt, in der der Vertrag geschlossen wurde, ein Synonym für die Unabhängigkeit der Türkei. Atatürk hat in einer christlich dominierten Welt einen vollkommen souveränen muslimischen Staat gegründet und den Siegermächten des Ersten Weltkriegs erfolgreich die Stirn geboten.[22]
Mit der Konferenz von Lausanne beginnt das Wunder von Atatürk. Sein Sieg im Nationalen Befreiungskrieg und sein Erfolg in Lausanne werden Teil des Gründungsmythos des Landes. Auch international zollt man Atatürk Respekt: »Er steht heute als der Emanzipator der Türkei da. Er hat das Volk aus dem Sumpf der sklavischen Unterwerfung unter eine fremde Autorität herausgehoben, es zur Erkenntnis seiner eigenen Qualitäten und zur Unabhängigkeit des Denkens und Handelns gebracht«, schreibt das US-amerikanische Time Magazine 1923 über ihn.[23]
Am 9. September 1923 gründet Atatürk seine Volkspartei (Halk Fırkası, HF), die am 10. November 1924 in Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Fırkası, CHF) unbenannt wird und inzwischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) heißt.[24] Er macht die Partei zum Instrument seiner Umwälzungen und das Parlament zum Instrument seiner Partei. Die junge Partei ist von Anfang an ein Projekt der Eliten, bestehend aus Militärs und Zivilbürokraten. Die CHP vertritt nicht die Interessen der Bürger, sondern die des Staates. Sie ist dem Namen nach eine linke Partei, doch in ihrer Haltung zutiefst nationalistisch. Ihr erster Vorsitzender ist Atatürk, Inönü wird sein Stellvertreter, Generalsekretär wird Recep Peker (1889–1950), der zuvor unter anderem Innen- und Außenminister war. Atatürk beginnt nun, die junge Republik nach seinen Vorstellungen zu formen. Die Bedingungen dafür sind günstig: Eine Opposition gibt es nicht, Regierung und Partei können nach eigenem Gutdünken regieren. Fast alle Staatsbeamten sind Mitglieder der Volkspartei und müssen deren Anordnungen Folge leisten.[25]
Auf dieser starken Basis beginnt Atatürk, ein politisches System nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Um das Vielvölkerreich in einen Nationalstaat zu verwandeln, beschließen die Vertragsparteien die größte Zwangsumsiedlung der jüngeren Geschichte, den sogenannten griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch. Für Minderheiten und Nichtmuslime hat der neue Nationalstaat verheerende Folgen: Es wird künftig nur noch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unterschieden. Der Staat prägt von oben herab die Nation. Bereits am 1. November 1922 ist das Sultanat abgeschafft, wenige Tage später hat Sultan Mehmed VI. (1861–1926) das Land verlassen. Er stirbt 1926 im Exil in San Remo. Das ist das Ende der sechshundertjährigen Dynastie des Hauses Osman. Erst 1992 darf wieder ein Prinz der Dynastie türkischen Boden betreten. Ertuğrul Osman, das Oberhaupt der Familie, erhält 2004 einen türkischen Pass – während der Regierungszeit von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er kehrt aus seinem Exil in den USA zurück und verstirbt 2009 in Istanbul, wo das Totengebet für ihn in der Sultan-Ahmed-Moschee gehalten wird. Das auch als blaue Moschee bekannte Gotteshaus ist zu jenem Zeitpunkt noch die wichtigste Moschee Istanbuls.
Zur neuen Hauptstadt der jungen Republik wird am 13. Oktober 1923 Ankara erklärt. Die kleine Stadt mit 25000 Einwohnern hat eine gute Verkehrsanbindung und ist wegen ihrer zentralen Lage militärisch nicht so rasch einnehmbar wie Istanbul. Wegen ihrer geringen Größe hat die Stadt fast schon einen provinziellen Charakter.[26] Doch Ankara verspricht einen Neubeginn außerhalb des Bannkreises des osmanischen Zentrums. Wegen seiner kosmopolitischen Bewohner gilt Istanbul immer noch als loyal gegenüber dem Osmanischen Reich, zudem prägen die Sultansmoscheen und Kaiserpaläste das Stadtbild.[27] Am 29. Oktober 1923 wird die »Republik Türkei« – die »Türkiye Cumhuriyeti« – ausgerufen, Atatürk wird zum Staatspräsidenten ernannt. Damit ist er gleichzeitig Oberbefehlshaber der Armee, Vorsitzender des Ministerrats, Parteichef und Sprecher der Nationalversammlung. Ismet Inönü (1884–1973) wird Ministerpräsident. Um Mitternacht verkünden 101 Kanonenschüsse die Geburt des neuen Staates. Damit ist die Türkei das erste islamische Land, das die Staatsform einer Republik annimmt.[28]
Der neue Staat benötigt nicht nur politische Reformen. Die Industrialisierung des Landes steckt noch in den Anfängen. 1923 besteht die türkische Industrie aus rund 350 Betrieben. Die meisten Menschen arbeiten in den Sektoren Textil, Nahrungsmittel, Holz und Keramik. Minderheiten wie Armenier, Griechen und Juden, die etwa 80 Prozent des Groß- und Außenhandels sowie des Finanzwesens betrieben hatten, sind inzwischen entweder vertrieben, vernichtet oder umgesiedelt worden. Deswegen sieht sich die Regierung in der Pflicht, massiv in die Infrastruktur zu investieren und staatliche Industriebetriebe zu gründen. In verschiedensten Sektoren entstehen staatliche Holdings, etwa die Deniz Bankasi (»Meeresbank«), die die Schifffahrtslinien finanziert. Die Papier-, Glas- und Stahlindustrie wird aufgebaut. Besonders stolz ist die Regierung auf den voranschreitenden Ausbau des Eisenbahnnetzes. So wird 1927 die Türkiye Cumhuriyeti Devlet Demiryolları (TCDD), die staatliche Eisenbahngesellschaft, gegründet. Im »Republikmarsch«, der zum zehnjährigen Bestehen der Nation in Auftrag gegeben wird, sind die Bahnlinien schon in der ersten Strophe erwähnt.[29] Am 20. April 1924 wird die neue Verfassung verabschiedet, welche die polnische als Vorbild hat und mit geringfügigen Ergänzungen bis 1961 gilt.
Den sozialen Herausforderungen steht Atatürk hingegen recht konzeptlos gegenüber. Das Land ist arm: 1925 sind im Land 1750 Ärzte tätig; der Großteil arbeitet in Istanbul und Ankara, so dass es außerhalb der Städte quasi keine ärztliche Versorgung gibt. Noch prekärer ist die Situation der Geburtsmedizin. Mitte der 1920er Jahre zählt man landesweit 400 staatlich ausgebildete Hebammen. Damit versorgt eine Hebamme pro Distrikt eine Bevölkerung von 30000 Personen.[30] Den hart arbeitenden Massen in der Peripherie hat Atatürk wenig anzubieten. 1927 gibt es in der Türkei etwas mehr als 65000 Industriebetriebe mit insgesamt 250000 Arbeitern. Von den Betrieben arbeiten jedoch nur 2822 mit maschineller Kraft, die überwiegende Mehrheit sind Handwerksbetriebe. Der bei weitem größte Sektor der türkischen Wirtschaft ist die Landwirtschaft.[31]
Obwohl er mehrfach von einer Umverteilung spricht, tastet Atatürk den Großgrundbesitz kaum an. Die Mehrheit der Bauern bleibt weiterhin Pächter – so bleibt ein Kastensystem bestehen, eine Oberschicht von Großgrundbesitzern, Beamten, Staatsbediensteten und Politikern, darunter die breite ländliche Bevölkerung. Die durch die Industrialisierung entstandene neue Arbeiterschaft wiederum darf sich nicht gewerkschaftlich organisieren oder streiken. Auch Sozialversicherungen und Arbeitsschutz werden erst nach Atatürks Ära eingeführt, und selbst dann wird nur ein Bruchteil der Bevölkerung davon profitieren können.[32]
Außenpolitisch verfolgt der Präsident einen neutralen Kurs. »Frieden zu Hause und Frieden in der Welt« (»Yurtta Sulh – Cihanda Sulh«) ist einer seiner berühmtesten Leitsprüche, formuliert hat er ihn 1931, im Jahr der Weltwirtschaftskrise. Entsprechend beansprucht Ankara keine Territorien mehr außerhalb seines Staatsgebiets und nimmt Abschied von der Türkei als Ordnungsmacht. Der innenpolitische Aufbau hat Vorrang vor einer aktiven Außenpolitik.[33] Unter Atatürk ändert sich außerdem der geopolitische Fokus: Die Regierung wendet sich weitgehend vom Nahen Osten ab, dessen Staaten ihre Souveränität an Frankreich und Großbritannien verloren haben. Stattdessen treibt sie die Anbindung in Richtung Westen voran. So schließt sich Ankara 1932 dem Völkerbund an. Die Armee hat vor allem eine innenpolitische Ordnungsfunktion.
Als Sieger des Befreiungskriegs kann der Staatspräsident Forderungen stellen: 1936 gelingt es Atatürk, die Souveränität über die Dardanellen und den Bosporus zurückzuerhalten, die Türkei ist nun ein begehrter Bündnispartner. So wird am 20. Juli 1936 im schweizerischen Montreux der gleichnamige Vertrag unterzeichnet. Der Vertrag regelt die Zufahrt von Schiffen ins Schwarze Meer. Demnach können Handelsschiffe die Meerengen in Friedenszeiten frei passieren, während Kriegsschiffe besonderen Beschränkungen unterliegen: Diese müssen sich bei der türkischen Regierung anmelden. Kommen sie nicht aus den Schwarzmeer-Anrainern, dürfen sie drei Wochen lang bleiben und eine bestimmte Größe nicht überschreiten.[34]
Zum großen und ebenfalls relativ jungen Nachbarn Sowjetunion bestanden schon vor der Gründung der Republik sehr gute Beziehungen. Die Bolschewiki unterstützten Atatürks Unabhängigkeitskampf, während die westlichen Staaten als Widersacher auftraten. Die Sowjetunion war das erste Land, das Atatürks Regierung der Großen Nationalversammlung 1921 anerkannte, »zu einer Zeit, in der es sonst niemand getan hatte«, so Atatürk.[35] Dieser freundschaftliche Neubeginn beendet die jahrhundertelange regionale Rivalität zwischen den Zaren und den Osmanen. Im Jahr 1932 gewährt die Sowjetunion als erster ausländischer Staat der Türkei gar einen zinslosen Kredit von acht Millionen Golddollar.[36] Der Vertrag von Montreux 1936 allerdings macht das russische Ziel eines unkontrollierten Zugangs für die Schwarzmeerflotte zum Mittelmeer zunichte, die Beziehung zwischen den beiden Ländern kühlt sich ab. Die Meerengen werden zu einem langjährigen Streitthema.[37]
Der Präsident schreckt von Anbeginn auch nicht vor Gewalt zurück, um seine eigenen Interessen durchzupeitschen. Zwar findet sich im Plenarsaal des ersten türkischen Parlaments der Republik noch die Inschrift »Hakimiyet Milletindir« (Die Staatsgewalt geht vom Volk aus), doch Atatürk herrscht autoritär.[38] Bis heute wird im Nebel der allgemeinen Verehrung nicht selten unterschlagen, dass Atatürk Menschen, die er als Bedrohung wahrnimmt – religiöse Führer, Kurden, Griechen, Armenier –, skrupellos deportieren, verbannen, einsperren, foltern oder gar töten lässt. Schon während des Befreiungskriegs lässt er armenische Siedlungsgebiete im Nordosten der heutigen Türkei räumen; er unterstützt so die Massenmorde an den Armeniern unter der Jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reichs. Als die türkischen Truppen in der Endphase des Befreiungskrieges 1922 in Smyrna erfolgreich die griechischen Truppen aus der Stadt Homers zurückgedrängt haben, kommt es während deren Abzugs zu einem riesigen Brand. Die anatolischen Griechen werden regelrecht ins Meer gedrängt, was sie zurücklassen mussten, wird vernichtet.
Um die Gewalt zu rechtfertigen, werden Feindbilder konstruiert, wie jene der Kurden und Islamisten. Nicht Individualität, sondern Gehorsam zählt. Zur Verhinderung von politischem Widerstand wird 1925 das »Gesetz zur Sicherung der öffentlichen Ruhe« verabschiedet. Es gilt bis 1929 und gibt der Regierung weitreichende Befugnisse, um gegen Oppositionelle vorzugehen. Die Presse wird zensiert, kritische Journalisten werden festgenommen. Auch vor Hinrichtungen schreckt der Präsident nicht zurück. Die Aufstände der Kurden in den Jahren 1925 bis 1930 lässt er niederschlagen, wofür er das Kriegsrecht ausruft. Zehntausende Kurden werden nach Mittel- und Westanatolien deportiert, ihre Dörfer zuvor in Schutt und Asche gelegt.[39] Die kurdischen Revolten 1937/38 in Dersim (heute Tunceli) werden zerschlagen, es gibt laut Schätzungen zwischen 12000 und 60000 Todesopfer. Insgesamt zählt die Republik von 1925 bis zum Aufstand in Dersim 21 kurdische Revolten.[40]
Zwar hat Atatürk die Monarchisten verbannt, doch noch immer gibt es eine innere Opposition. Als Ende 1930 religiös motivierte Ausschreitungen in Menemen bei Izmir stattfinden, wird für einen Monat der Ausnahmezustand in der Region ausgerufen, Aufständische werden hingerichtet. Wer Atatürk nur kritisiert, muss mit dem Galgen rechnen. Als während der »Woche der Jugend«, in der acht Tage lang jeder Beamte durch einen Jugendlichen ersetzt wird, ein Journalist lakonisch kommentiert: »Hat Mustafa Kemal auch die Absicht, das Land durch ein Kabinett von Jungtürken regieren zu lassen?«, ist das sein Todesurteil. Der Autor wird gehängt.[41]
Bis zu seinem Tod behält Atatürk die absolute Kontrolle über den Einparteienstaat. Die Türkei bleibt eine formale Demokratie. Zwar gibt es immer wieder Widerstand, und auch in der eigenen Partei stellen sich enge Weggefährten gegen seine totalitäre Alleinherrschaft – doch weiß Atatürk seine Kritiker zu unterdrücken. Dass er selbst Staatspräsident und Parteivorsitzender und sein Gefolgsmann Ismet Inönü Ministerpräsident und geschäftsführender Parteivorsitzender ist, erleichtert die vollständige Kontrolle und die Fortführung der totalitären Tendenzen natürlich erheblich.
Versuche, eine Opposition aufzubauen, gibt es durchaus: Einige Parlamentarier, die sich von Atatürks radikalem Kurs abwenden, gründen im November 1924 die Fortschrittliche Republikanische Partei (Terakkiperver Cumhuriyet Fırkası, TCF) – die erste Oppositionspartei der Republik. Die Dissidenten veröffentlichen ein Parteiprogramm mit klassisch liberaldemokratischen Forderungen wie der Eindämmung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten; sie verlangen aber auch mehr Respekt gegenüber religiösen Überzeugungen, im Kontrast zu Atatürks striktem Laizismus. Schon im Juni 1925 wird die TCF verboten, nachdem sie die Niederschlagung des kurdischen Aufstands kritisiert hat. Das 1925 erlassene »Gesetz zur Wiederherstellung der Ordnung« (Takir-i sükun kanunu) hilft bei der Verfolgung und Einschüchterung widerständiger Personen.
1926 kommt es in Izmir zu einer Verschwörung gegen Atatürk, worauf dieser die Anführer nach Schauprozessen hinrichten lässt. Zu den prominentesten Opfern gehört der ehemalige jungtürkische Finanzminister Mehmet Cavid (1875–1926), der Atatürks Finanzpolitik als konzeptlos und chaotisch bezeichnet hatte.[42] Frei nach dem Motto »meine Opposition gestalte ich selbst«, und weil weiterhin eine Oppositionsbewegung im Land brodelt und die politische und wirtschaftliche Stagnation dazu führt, dass die Bürger die Ein-Parteien-Regierung wiederholt in Frage stellen, bittet Atatürk 1930 seinen Vertrauten Fethi Okyar (1880–1943), mit der Freien Republikanischen Partei (Serbest Cumhuriyet Fırkası, SCF) eine loyale Satellitenpartei zu gründen – um Zugriff auf oppositionell eingestellte Zeitgenossen zu bekommen. Auch Atatürks Schwester Makbûle Atadan (1885–1956) tritt der SCF bei. Doch der Präsident ist nicht an echtem Pluralismus interessiert, und weil die Freie Republikanische Partei sich unerwartet großer Beliebtheit erfreut, wird sie bereits im November 1930 wieder aufgelöst.[43]
Atatürk hat oft mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Schon als Heranwachsender ist er dem Alkohol zugeneigt. In jungen Jahren übersteht er eine Malaria. Immer wieder sucht er Kurorte auf und konsultiert verschiedene Ärzte – seinen reichlichen Alkohol- und Tabakkonsum reduziert er allerdings nicht: Noch 1937, als seine Vergesslichkeit bereits auffällt, verbringt er Nächte an »Tafelrunden«, bei denen reichlich Raki fließt. »Hätte er noch ein oder zwei Jahre weitergelebt, wäre es vielleicht für das Land gefährlich geworden«, so einer seiner Ärzte.[44] Es wird schließlich eine Leberzirrhose diagnostiziert, sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Seine letzten Monate verbringt Atatürk abgeschieden im Dolmabahçe-Palast in Istanbul. Vor seinem Tod fällt er mehrfach ins Koma. Am 10. November 1938 um 9.05 Uhr stirbt er. »Atatürks Tod ist nicht nur ein Verlust für das Land, sondern für Europa ist er der größte Verlust, er, der die Türkei im Krieg gerettet und nach dem Krieg eine neue türkische Nation wiederbelebt hat. Die aufrichtigen Tränen, die von allen Schichten des Volkes um ihn vergossen werden, sind nichts anderes als eine angemessene Würdigung dieses großen Helden der modernen Türkei«, fasst der Abgeordnete der konservativen britischen Regierungspartei, Winston Churchill (1874–1965), seine Trauer und Anerkennung zusammen.[45]
Nach einer mehrtägigen religiösen Trauerfeier in Istanbul findet das Staatsbegräbnis am 21. November in Ankara statt, wo der Leichnam bis zum 15. Jahrestag von Atatürks Tod im Ethnographischen Museum aufgebahrt wird. Am 10. November 1953 werden seine sterblichen Überreste nach Anıtkabir überführt, wo für ihn eine Pilgerstätte eingerichtet wurde, Mausoleum und Museum zugleich. Sie gilt als das Herzstück der Republik.[46] Die Überführung erfolgt in imposantem Rahmen: Um fünf Minuten nach neun Uhr morgens ertönen im ganzen Land Sirenen. Millionen Türken stehen still. Anschließend wird der Leichnam auf ein Artillerieschiff gebracht, das von 138 Reserveoffizieren gezogen wird. Hinter einer Militärkapelle, die unter anderem Chopins Trauermarsch spielt, marschieren rund 80000 Menschen. Nach Stunden erreicht die Prozession das gigantische Mausoleum auf einem Hügel mit Blick auf Ankara. Hier findet der Vater der Türken seine endgültige Ruhestätte.[47]
Doch während sich das Land nach Atatürks Tod weiterentwickelt, bleibt der Kemalismus in seinem Korsett stecken. Er gerät zu einem steinernen Denkmal, das von seinen Anhängern weiter gepflegt wird, obwohl vieles an dieser Politik nicht mehr zeitgemäß ist.[48] Auch wenn heute nur noch eine Minderheit der Ideologie des Kemalismus unkritisch anhängt, bedeutet das nicht, dass Atatürk an Popularität eingebüßt hätte. Dem Militär dient der Kemalismus jahrzehntelang als Legitimation für politische Interventionen, und für Millionen Menschen ist Atatürk immer noch der Held der Nation – und der Vater aller Türken. Zwar hat er seine Unantastbarkeit verloren, was unter anderem die 2013 gegen den Widerstand der CHP erfolgte Abschaffung des von ihm eingeführten Schul-Eids zeigt. Doch Mustafa Kemal Atatürk ist ein Symbol und ein Tabu zugleich, stellt der Politikwissenschaftler und Autor Cengiz Aktar fest.[49] Der Kemalismus sei eine festgefahrene Ideologie, und irrtümlicherweise werde immer noch geglaubt, Atatürk habe viele Probleme des Landes gelöst. Dabei sei eine kritische Auseinandersetzung mit ihm überfällig. »Die Vergangenheit wird immer betont, aber die Zukunft wird nicht betrachtet«, sagt Aktar. »Der Kemalismus war jahrzehntelang nicht in der Lage, ein neues gesellschaftliches Narrativ anzubieten, das die Türkei dringend benötigt. Auch deshalb konnte die CHP nicht aus den Wahlergebnissen lernen. Seit Jahrzehnten ist der Kemalismus nicht in der Lage, ein neues soziales Narrativ anzubieten, das die Türkei dringend braucht«, so Aktar.
Auch ist die Beleidigung Atatürks immer noch strafbar. Als die Journalistin İpek Çalışlar in ihrer Biographie über Atatürks Ehefrau Latife Uşşaki (1898–1975) schilderte, Atatürk habe sich in einen Tschador gehüllt, um sich vor einem drohenden Attentat zu retten, wurde sie wegen Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Çalışlar wurde 2006 freigesprochen; eine Verurteilung hätte zu einer Strafe von bis zu viereinhalb Jahren Gefängnis führen können. Der Mitangeklagte Necdet Tatlıcan, der Herausgeber der Zeitung Hürriyet, die Auszüge des Buchs abgedruckt hatte, wurde ebenfalls freigesprochen.[50]
»Es wird der Tag kommen, an dem ich die Reformen, die Sie alle für Illusion halten, zum Erfolg führen werde. Die Nation, der ich angehöre, wird mir glauben.«
So sprach Atatürk bereits 1907 – und Jahrzehnte später sollte er Wort halten.[1] Atatürks Vermächtnis beschränkt sich längst nicht auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Wiederherstellung des internationalen Ansehens der Türkei. Es spiegelt sich vor allem in der Gesellschaft, der er eine neue Prägung gab, indem er sie in einen laizistischen Staat presste. Die Diskrepanz zwischen der Realität, in der er aufwuchs, und seiner Vision ist immens: Aus einer Gesellschaft, deren osmanische Beherrscher sich auch als religiöse Autorität verstanden, soll in kürzester Zeit ein Gemeinwesen von aufgeklärten Bürgern werden. Atatürk verbannt die allgegenwärtige Religion, ein Fundament der bisherigen sozialen Normen, aus der Öffentlichkeit. Als neue volksverbindende Kraft baut er auf den Nationalismus, der die Idee einer islamischen Umma, einer länderübergreifenden muslimischen Gemeinschaft, ersetzen soll. Sein »Kemalismus« dringt bis in den Alltag der Bevölkerung ein. Während die Säkularisierung in Westeuropa ein langwieriger Prozess mit Fortschritten und Rückschlägen ist, setzt der ungeduldige Atatürk den Wandel rücksichtslos innerhalb weniger Jahre durch. Entsprechend wird auch von der »Kemalistischen Revolution« oder der »Türkischen Revolution« gesprochen. Doch während in Westeuropa die Umwälzungen von unten nach oben erfolgen, wird in der Türkei der Umbau von oben verordnet.[2] Der Kemalismus, auf Türkisch »Atatürkçülük«, wird zu einer in Stein gemeißelten Ideologie.
War Europa im Befreiungskrieg der Gegner, wird es nun zum Maßstab für die Modernisierung – die Zukunft liegt im Westen. Atatürk will, dass die Türken der osmanischen Vergangenheit den Rücken kehren, und nutzt dafür die westliche Kultur und ihre Symbole als ein Herrschaftsinstrument. Im maßgeschneiderten Anzug predigt er in der Provinz von seiner Religion der Logik, während ihm die Menschen verständnislos zunicken. Wie Atatürk sich den modernen Lebensstil vorstellt, führt er in aller Öffentlichkeit vor. Er liebt es, in geselliger Runde zu trinken und Zigaretten zu rauchen, was er dem Volk nicht verheimlicht. Er lässt sich in Badehose, als Ruderer oder Schwimmer, Raki oder Champagner trinkend oder Walzer tanzend ablichten – der Bürger muss seinem Takt folgen.
Der Kult um seine eigene Person wird von Atatürk genau gesteuert. Im November 1926 lässt er die erste Statue seiner selbst an der Istanbuler Sarayburnu, der Landspitze zwischen Goldenem Horn und Marmarameer, aufstellen. Diese erste Statue der Republik, geschaffen von dem österreichischen Bildhauer Heinrich Krippel, hat den Blick nach Anatolien gerichtet und der nahe gelegenen ehemaligen Sultansresidenz – dem Topkapi-Palast – den Rücken gekehrt. Sie steht an der Stelle, von der Atatürk nach Samsun zum Beginn des Unabhängigkeitskriegs aufbrach. Nur wenige Wochen nach dem ersten wird ein weiteres Denkmal enthüllt, in Konya. So geht es in den nächsten Jahren weiter. Landesweit werden Büsten, Masken, »Siegesmale« von Atatürk aufgestellt, zwischen 1926 und 1938 werden allein mehr als dreißig Statuen errichtet.[3] Orte, die er besucht hat, wandeln sich zu Kultstätten. 1924 erscheinen die ersten Briefmarken mit seinem Porträt, Gemälde mit seinem Konterfei hängen in Museen, Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, Kaffeehäusern und an vielen anderen Orten des öffentlichen Lebens. Er bekommt zahlreiche Ehrentitel: Büyük (der Große), Dahi (Genie), Münci (Retter) oder gar Beşeriyet Harikası (Wunder der Menschheit).[4] Die Tageszeitung Milliyet erwähnt ihn in einem Atemzug mit Alexander dem Großen und Napoleon.[5] Er ist die Republik, die Republik ist er.
Grundsätzlich hat der Atheist Atatürk kein Problem damit, wenn Menschen gläubig sind. Doch in seiner Vorstellung einer modernen Türkei sind Staat und Religion nicht einfach nur getrennt. Vielmehr soll die Religion aus dem öffentlichen Leben und Alltag völlig verschwinden. Sie ist für den Staatschef eine reine Privatsache. Er selbst äußert sich kritisch zur Religion, indem er etwa sagt: »Unsere Religion ist eine logische und natürliche Religion. Aus diesem Grund ist sie auch die letzte Religion. Eine Religion kann nur dann natürlich sein, wenn sie der Vernunft, der Technik, der Wissenschaft und der Logik nicht entgegensteht.«[6]
In seinen theoretischen Überlegungen stützt sich Atatürk vor allem auf den französischen Soziologen Auguste Comte (1789–1857), der die Religion nicht als eine gestaltende Kraft mit Zukunft sieht.[7] Der Staatspräsident wünscht sich einen »türkifizierten Islam«, der dem heimischen Nationalismus dienlich sein soll.[8] Atatürk-Biograph Klaus Kreiser sagt dazu: »Ich finde es bemerkenswert, wie viele Türken gut damit leben können, dass der Große Mann gottlos war, obwohl sie selbst alle Gebete verrichten und nie einen Tropfen Alkohol trinken. Das ist das türkische Wunder. Es gibt eine weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber Atatürks Lebensführung. Wichtiger war es, dass er den Feind aus dem Lande gejagt hat.« Atatürk habe, so Kreiser, den Koran nicht gelesen. »Der Islam wurde für ihn durch Personengruppen verkörpert, durch Gelehrte und Derwischscheiche. Das islamische Dogma interessierte ihn nicht. Vielmehr störte er sich an der in seinen Augen unerträglichen Ignoranz und Rückschrittlichkeit der Vertreter des Islams.«
Welche politische Rolle Atatürk dem Kemalismus zuschreibt, wird auch in dieser Äußerung erkennbar: »Die Türkei ist keine Bühne mehr für das Schauspiel von Religion und Scheria. Wenn es aber noch Akteure für solche Schauspiele gibt, dann sollen sie sich eine andere Bühne suchen.«[9] Nachdem Atatürk im November 1922 das Sultanat, also die weltliche Herrschaft der Osmanen, abgeschafft hat, löst er daher im März 1924 auch die geistliche Führung auf, das Kalifat. Der letzte osmanische Kalif, Abdülmecid II., geht ins Exil und stirbt 1944 in Paris. Seit 1517 bekleideten nach offizieller osmanischer Geschichtsschreibung die Osmanen das Amt des Kalifen. Atatürks Bruch mit dem religiösen Selbstverständnis des Osmanischen Reichs war eine radikale Maßnahme, mit der er den »neuen Bürgern« seine ideologischen Vorstellungen aufzwang.
Besessen von der Idee eines türkischen Nationalstaats nach westlichem Vorbild, entwirft Atatürk diesen wie ein Militärstratege am Reißbrett und überrollt damit das Volk, dessen Realität eine völlig andere ist und dessen familiärer wie auch geschäftlicher Alltag von religiösen Normen bestimmt wird. Osmanische Titel wie Paşa, Bey und Effendi verschwinden. Einrichtungen, Vermögen und Grundbesitz islamischer Stiftungen oder Orden werden verstaatlicht,[10] das Amt des Scheich al-Islam wird aufgelöst. Diese zentrale religiöse Autorität des Osmanischen Reichs achtete darauf, dass Entscheidungen der Politik mit jenen der Şeriat, der islamischen Gesetze, übereinstimmten. Das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten und Fromme Stiftungen (Seriye ve Evkaf Vekaleti) wird 1924 durch das Diyanet (Diyanet İşleri Başkanlığı, Präsidium für Religionsangelegenheiten) ersetzt, das direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt ist.[11] Imame sollen moderne Ansichten haben, sich zudem nicht politisch betätigen oder äußern.[12] Der Religionsunterricht an den Schulen wird schrittweise eingestellt und die religiöse Erziehung den Eltern übertragen. Ohnehin fehlt es nach der Schließung der Koranschulen an ausgebildeten Geistlichen.[13]
Die umfassende Reform zielt aber nicht nur auf die weltliche Organisation der Religion, sondern auch auf ihre Ausübung. Es wird ein Religionskomitee gegründet mit dem Ziel, den türkischen Islam zu europäisieren. Der von Atatürk propagierte Çağdaş İslam ist rational und ganz auf die Republik zugeschnitten. So befindet das Komitee, dass Moscheen auch mit Schuhen betreten werden dürfen und dass Gebete nicht kniend, sondern auf Bänken sitzend verrichtet werden sollen. Ferner sollen die Gebetszeiten nicht mehr dem Lauf der Sonne, sondern den modernen Arbeitszeiten folgen. Nach Protesten werden diese Vorhaben allerdings nicht umgesetzt.[14] Auch die Anordnung, dass die Prediger ihre Ansprachen im Gehrock und barhäuptig halten sollen, wird schnell wieder aufgegeben.[15] Noch bezeichnet die Verfassung vom 20. April 1924 den Islam als Religion des türkischen Staates. Atatürk ist sich bewusst, dass sich seine Vorstellungen von der Rolle der Religion in einem Land mit einer langen muslimischen Tradition nur schrittweise umsetzen lassen. Bereits vier Jahre später aber wird der Passus zum Islam aus der Verfassung gestrichen: Seit dem 10. April 1928 ist die Türkei ein Staat ohne Staatsreligion, obwohl 98 Prozent der Bevölkerung vom Islam geprägt sind.[16] Gleichzeitig werden die Eidesformeln des Präsidenten und der Parlamentsmitglieder säkularisiert: »Im Namen Allahs« gilt nicht mehr.[17] Erst 1937 jedoch wird der Laizismus in der Verfassung verankert – ein für eine islamische Gesellschaft absolutes Novum, das viele Bürger vor den Kopf stößt. Seitdem kann ein Angriff auf den Laizismus unter Strafe gestellt werden.[18]
Im Zuge der sprachlichen Türkisierung (Öz Türkçe) ist ab 1932 der Ezan, der Ruf zum Gebet, nur noch auf Türkisch gestattet. Statt wie bisher »Allah’u ekber« heißt es fortan auf türkisch »Tanrı uludur« – »Gott ist groß«. Proteste dagegen lässt der Staatschef unterbinden. 1934 verbietet er die Pilgerfahrt nach Mekka, die erst 1947 wieder erlaubt wird. Die Hagia Sophia, ursprünglich eine byzantinische Basilika, welche die Osmanen nach der Eroberung von Istanbul im 15. Jahrhundert zur Moschee erklärten, wandelt Atatürk 1935 zu einem Museum um. Im selben Jahr wird der Sonntag statt des Freitags zum Ruhetag erklärt. Die beiden großen islamischen Feiertage, Şeker Bayram – das Fest zum Ende des Fastenmonats Ramadan – und das Opferfest Kurban Bayram, bleiben allerdings erhalten – trotz der Einwände extremer Säkularisten. Dies ist ein Zugeständnis an die Gläubigen.[19]
Alle Staatsbürger werden dazu angehalten, möglichst westliche Kleidung zu tragen. »Die allgemeine Kopfbedeckung des türkischen Volkes ist der Hut«: Mit diesem berühmt gewordenen »Hutgesetz« (Şapka Kanunu) verbietet die Nationalversammlung 1925 das Tragen des Fez, der traditionellen osmanischen Kopfbedeckung, die auch von Juden und Christen getragen wurde. Nach einer vom Staatschef eingeräumten Frist werden keine Kopfbedeckungen ohne Krempe mehr geduldet. Doch die Gesellschaft ist eine jahrhundertelange Kleiderordnung gewöhnt, außerdem lässt sich ein Hut nicht mit dem islamischen Gebet vereinbaren, bei dem die Stirn auf den Boden geneigt wird. Kurz vor dem Erlass des »Hutgesetzes« reiste Atatürk in die anatolische Provinz. Im offenen Wagen, auf dem Kopf einen Panamahut, ging er auf Tuchfühlung mit der Bevölkerung. Er rief den Menschen die rhetorische Frage zu: »Ist unsere Kleidung zivilisiert und international?« Die antworteten mit einem lauten und verwirrten »Nein«.[20] Dennoch kommt es zu heftigem Widerstand gegen die neue Kleiderordnung, zur sogenannten Hutrevolution (Şapka Devrimi). In Maraş etwa, im südlichen Anatolien, protestieren Menschen vor der Moschee mit dem Slogan »Wir wollen keinen Hut« (Şapka istemeyiz). Der Staat reagiert mit drakonischen Maßnahmen. Als im ostanatolischen Erzurum Hutgegner vor dem Gouverneursamt demonstrieren, werden sie beschossen. Landesweit werden die Widerständler vor »Unabhängigkeitstribunale« gestellt, die Todesurteile und Verurteilungen zur Zwangsarbeit aussprechen.
Der Fez verschwindet bald aus der Öffentlichkeit. Schüler erhalten europäische Uniformen und Mützen, Militärs werden mit Schirmmützen ausgestattet.[21] Einige Männer, die keine Hüte mit Krempe finden, tragen die Hüte ihrer Frauen. Für Staatsbeamte werden bei offiziellen Anlässen Frack und Zylinder zur Pflicht. Das Tragen religiöser Bekleidung ist nur noch Geistlichen in Ausübung ihres Amtes gestattet. Auch die übliche Kopfbedeckung der Frauen gilt fortan als verpönt. Doch im Gegensatz zum Fez wird das Kopftuch nicht verboten. Man lässt den Frauen die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob sie ihren Kopf bedecken wollen, und rechnet damit, dass sie auf das Tuch verzichten werden, wenn sich die neue, säkulare türkische Identität erst einmal durchgesetzt hat. Aus seinen diesbezüglichen Erwartungen macht der Staatschef kein Hehl: Frauen sollen sichtbar werden und den Schritt in die Öffentlichkeit wagen, sie sollen ihre Haare zeigen, kürzere Ärmel und Röcke tragen. In einer Rede vor Bauern im Schwarzmeerstädtchen Inebolu sagt Atatürk: »Kameraden, Männer! Es ist unser Egoismus, wenn die Frauen verschleiert sein sollen. Sicherlich liegt darin ein Zeichen unserer Achtung vor der Ehre und dem Schamgefühl der Frau. Aber vergessen wir nicht, dass unsere Kameraden Frauen ebenso bewusste und denkende Wesen sind wie wir. Unsere Frauen sollen ihr Antlitz offen der ganzen Welt zeigen, und sie sollen die ganze Welt mit offenen Augen betrachten.«[22]
1926 schafft die Türkei das Şeriat, das islamische Rechtsnormensystem, ab. An dessen Stelle wird, leicht abgeändert, der schweizerische Code Civil eingeführt, der seinerseits auf Napoleons Code Civil zurückgeht, der 1804 verabschiedet wurde und von den Idealen der Französischen Revolution geprägt war. Das neue Zivilrecht sichert zumindest die formale Gleichstellung von Frau und Mann. Die Polygamie wird verboten und die freie Wahl der Religion festgehalten. 1926 erhält die Türkei zudem ein modernes Strafgesetzbuch, das auf dem italienischen basiert, kurze Zeit später ein neues Handelsrecht nach italienischem und deutschem Vorbild.[23] Das Justizsystem wird von allen religiösen Elementen befreit. Die Zeitung Akşam zeigt als Reaktion auf die Einführung des neuen Rechts in einer Karikatur eine emanzipierte Türkin, die einen Heißluftballon besteigt und als Ballast »Tugend, Ehre und Scham« abwirft.[24]
Dank der Reformen werden die Frauen sichtbarer. Ehepaare zeigen sich Hand in Hand. Man geht gemeinsam aus. Vor allem gewährt der Kemalismus, das Zivilisationsprojekt, Frauen als Mitgestalterinnen der neuen Republik ungewohnt weitreichende Rechte, um die »Modernität« seiner Republik zu unterstreichen.[25] 1930 erhalten die Frauen das kommunale Wahlrecht, 1934 dürfen sie auch die Große Nationalversammlung mitwählen und dafür kandidieren. 1935 ziehen achtzehn Frauen ins Parlament ein. An nationalen Feiertagen lässt die Regierung Fotos verbreiten von jungen Frauen in Shorts, die die Nationalflagge tragen. Beamtinnen, Ärztinnen und Sportlerinnen werden von der Regierung immer wieder als Vorbilder in Szene gesetzt.[26] Die Pianistin Keriman Halis (1913–2012), die 1932 als erste Türkin zur Miss Universe gekürt wird, schafft es auf die internationalen Titelblätter. Sie sei die Verkörperung einer »ausnehmend rein bewahrten Schönheit der türkischen Rasse«, lobt Atatürk.[27]
Auch die neue First Lady des Landes entspricht dem Bild der »republikanischen Frau«: 1923 heiratet Atatürk in Izmir Latife Uşşaki. Sie hat eine Ausbildung in einem Mädcheninternat im britischen Kent genossen und in Paris Rechtswissenschaften studiert. Zudem beherrscht sie fließend Deutsch, spielt Klavier – und ist die Tochter einer reichen Kaufmannsfamilie. Gemeinsam zeigen sich die Jungvermählten betont ungezwungen in der Öffentlichkeit. Latife Uşşaki bereitet zudem Atatürks Reden vor und gilt vielen als intellektuelle Einflüsterin ihres Mannes. Auf Flugblättern und Plakaten, in Broschüren und anderen Propagandamaterialien ist sie selbstbewusst im Kleid und mit übereinandergeschlagenen Beinen zu sehen. Sie spricht ihren Gemahl mit »Kemal« an, ein Verstoß gegen die damaligen Umgangsformen. Um bei Reisen in die Provinz Provokationen zu vermeiden, trägt sie dort allerdings einen çarşaf, der den ganzen Körper und auch den Kopf bedeckt.[28]
Bereits 1925 scheitert die Ehe. Atatürk trennt sich von Latife nach islamischem Recht, kurz bevor das aufgrund des neuen Zivilrechts nicht mehr möglich ist. Latife überlebt ihren ehemaligen Gemahl um siebenunddreißig Jahre; sie lebt bis zu ihrem Tod 1975 zurückgezogen in Istanbul und Izmir. Atatürk sieht man fortan nicht mehr mit einer Partnerin in der Öffentlichkeit, er bleibt aber nicht kinderlos. Er adoptiert acht Mädchen, bei deren Erziehung er viel Wert auf Emanzipation legt. Seine Tochter Sabiha Gökçen (1913–2001) wird die erste Kampfpilotin der Welt, während des Dersim-Aufstands 1937 und 1938 bombardiert sie Stellungen der Kurden und wird dafür mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet. Zwei weitere Töchter werden Richterinnen, und eine lehrt als Geschichtsprofessorin. Atatürk wollte, dass seine Töchter als Vorbilder für die türkische Frau dienten.[29]
Die Anerkennung der politischen Rechte von Frauen ist Teil von Atatürks Strategie, die türkische Gesellschaft in die Moderne zu führen. Dabei sollen die Frauen national-patriotisch gesinnt sein und Nachwuchs gebären. Es geht nicht um Feminismus, sondern um das Vaterland. So betont Atatürk gelegentlich, dass die Mutterschaft für ihn die wichtigste Aufgabe einer Frau sei. Deren Bildung sei ein Mittel, um die Qualität der weiblichen Fürsorge zu verbessern, was wiederum für die Erziehung des Nachwuchses notwendig sei: »Die Stufe, auf der wir heute stehen, entspricht nicht unseren heutigen Bedürfnissen. Wir brauchen Menschen mit anderer Mentalität und Reife. Diese Menschen werden durch die nachfolgenden Mütter aufgezogen.«[30]
Trotz der zahlreichen Verbesserungen durch das neue Zivilrecht bleiben rechtliche Ungleichheiten und die patriarchalischen Strukturen bestehen – auch weil das Schweizer Recht konservatives Gedankengut enthält: Familienoberhaupt bleibt der Ehemann, Hausarbeiten sind die Hauptaufgabe der Frau. Der Mann entscheidet über ihre Erwerbstätigkeit und bestimmt den gemeinsamen Wohnort, und mit der Heirat muss die Frau den Nachnamen des Gatten annehmen. Das Prinzip der Gütertrennung ist in der Ehe zum Nachteil der Frau geregelt: Beide Partner behalten bei einer Scheidung ihren eigenen Besitz, für Frauen, die jahrelang den Haushalt versorgt haben, bleibt dadurch in der Regel weniger von den Familiengütern. Für den Ehebruch reicht es bei der Frau bereits aus, wenn sie nur einmal außerehelichen sexuellen Kontakt hatte, womit sie eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren riskiert. Beim Mann hingegen gilt erst mehrfacher sexueller Kontakt mit anderen Frauen als Ehebruch.
Zwar eröffnen sich den Frauen Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, aber das europäisch geprägte Zivilgesetzbuch passt nicht zur Lebensrealität der türkischen Bevölkerung, die überwiegend agrarisch geprägt ist. Neue Privilegien genießt nur eine Minderheit der Frauen, vornehmlich aus der Ober- und Mittelschicht. Die allermeisten Frauen bleiben in den traditionellen Gesellschaftsstrukturen gefangen. Das Stadt-Land-Gefälle, die Klassengegensätze und der starke Einfluss des Glaubens bestimmen trotz der behördlich verordneten Emanzipation das Leben der meisten Türkinnen.[31]
Der staatliche Abschied vom Glauben manifestiert sich in weiteren Bereichen: Anstelle des islamischen gilt ab dem 1. Januar 1926 der Gregorianische Kalender. Die Zeitrechnung wird also vom Mond- auf das Sonnenjahr umgestellt. Die westlichen Maß- und Gewichtseinheiten werden ebenfalls übernommen. Es folgen die Sprachreform (Dil Devrimi) und die Schriftreform (Harf Devrimi). Ziel ist eine »reine türkische Sprache« unter Aufsicht des 1932 geschaffenen Instituts für die türkische Sprache (Türk Dil Kurumu). Anstelle der arabischen Schrift – die von rechts nach links geschrieben wird – wird das lateinische Alphabet mit neunundzwanzig Buchstaben für das Türkische eingeführt. Weil dem Präsidenten die Buchstaben W, X und Q nicht gefallen, werden sie gestrichen. Darunter leiden die Kurden, denn diese Buchstaben sind Teil des kurdisch-lateinischen Alphabets. Wer sie nutzt, muss fortan mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Eine Sprachkommission streicht zudem viele der zahlreichen arabischen und persischen Wörter, die Atatürk als »unverständliche Zeichen« verhöhnt.[32] Trotzdem gibt es im Türkischen noch heute viele Fremdwörter aus beiden Sprachen.
Für Christoph K. Neumann,[33] Direktor des Orient-Instituts Istanbul, folgte Atatürks Sprachreform einer »zutiefst rassistischen Logik«. »Denn das Kriterium für die Akzeptanz von Wörtern war deren Herkunft: Ein Wort mit türkischer Wurzel ist gut, ein Wort mit nicht türkischer Wurzel schlecht«, sagt der Türkeihistoriker und Übersetzer von Orhan Pamuk. »Die Umstellung aufs lateinische Alphabet hat dazu geführt, dass zunächst viel weniger Leute lesen und schreiben konnten. Die Alphabetisierungsrate ging zurück. Kein Printmedium, kein Verlag hätte ohne staatliche Subventionen überleben können. Es wurde inhaltlich und sprachlich das gedruckt, was der Regierung passte.« Andererseits haben sich durch die Sprachreform, so räumt er ein, auf Dauer Schriftsprache und Umgangssprache einander etwas angenähert. »Allerdings auf Kosten der Möglichkeit, sich in und mit der Schriftsprache nuanciert auszudrücken.«
Atatürk selbst tritt als Lehrer der Nation auf. Er erklärt bei seinen Besuchen in Dörfern vor einer Schiefertafel stehend das lateinische Alphabet. Auch in der Nationalversammlung werden Tafeln aufgestellt, und der Präsident erteilt den Abgeordneten ihre erste Lektion in der Nutzung der neuen Zeichen. Immer wieder fährt Atatürk aufs Land und führt die rauen Hände von Bauern, die noch nie im Leben einen Bleistift in der Hand gehalten haben, beim Zeichnen unbeholfener Unterschriften in der neuen Schrift. Menschen mit traditioneller Bildung können plötzlich die Zeitungen im eigenen Land nicht mehr lesen und müssen wie Analphabeten die neue türkische Schrift lernen. Die Beamten haben nur wenige Monate Zeit, um sich die neue Schrift anzueignen – sonst müssen sie sich einen anderen Job suchen. Ab 1929 müssen alle Schul- und Lehrbücher und neu aufgelegten literarischen Texte in lateinischer Schrift erscheinen.[34] »Wäre ich nicht Staatspräsident, wäre ich gerne Erziehungsminister geworden«,[35] bemerkt Atatürk treffend.