Die Gestaltung des Raumes in den Dramen Ernst Barlachs - Dieter H. Engelhardt - E-Book

Die Gestaltung des Raumes in den Dramen Ernst Barlachs E-Book

Dieter H. Engelhardt

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Beschreibung

Die wissenschaftliche Arbeit von Dieter H. Engelhardt: "Die Gestaltung des Raumes in den Dramen Ernst Barlachs", zeigt u. a. neben der Analyse der Raumstruktur, dargestellt an zwei Dramen Ernst Barlachs: "Der Tote Tag" und "Der Blaue Boll", auch weiterführende Ergebnisse zu Deutung und Inszenierung von Barlachs Dramen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort (Editorial Note)

Einleitung

Analyse der Raumstruktur in zwei Dramen Barlachs

I. Der Tote Tag

A. Das Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren: Zur Problematik des Sehens im Toten Tag

B. Beschreibung der Orte im 1. Akt

C. Veränderung der Orte

D. Zusammenfassung

E. Schlussbemerkung

II. Der Blaue Boll

A. Zum Problem der Realistik im Blauen Boll

B. Szenenraum und Perspektive

C. Entwicklung der Perspektiven

D. Zusammenfassung

E. Schlussbemerkung

Übersicht über die übrigen Dramen Barlachs

I. Entwicklung der Raumgestaltung bei Barlach

II. Verhältnis des Raumes zu den anderen Elementen des Dramas bei Barlach

A. Raum und Dialog

B. Raum und Charaktere

C. Raum und Zeit

D. Zusammenfassung

III. Schlussteil: Raum und Bühne – zur Inszenierung von Barlachs Dramen

Über den Autor

Prüfungsbestätigung der Diplomarbeit von 1970

Bibliographie

A. Werke Ernst Barlachs

B. Werke über Ernst Barlach

C. Werke zum Problem des Raumes i. d. Dichtung

Einige exemplarische Lithographien und Holzschnitte Barlachs

Dieses Buch widme ich meinem Bruder,

Dieter Helmut Engelhardt

anlässlich seines 75. Geburtstages, im Januar 2015;und freue mich dabei, dass es mir nun gelungen ist, ihm zur Ehre, seine Thesen von 1970, im gesamten deutschsprachigen Raum Europas, veröffentlichen zu können.

Thomas Georg Imanuel Engelhardt

Lieber Dieter!

Diese ganz spezielle und etwas „umfangreichere Glückwunschkarte“ sende ich Dir zu Deinem 75. Geburtstag, verbunden mit den besten Wünschen für Zufriedenheit und Gesundheit im neuen Lebensjahr und den folgenden Jahren, mit Umesh an Deiner Seite.

Wir werden in Gedanken mit Euch feiern.

Herzlichst Deine Veronika & Thomas

Nudow, Nuthetal, 28. 1. 2015

Vorwort (Editorial Note)

Grundlage für dieses Buch bildet die Diplomarbeit vonDieter Helmut Engelhardt,zur Erlangung des Master of Arts – Degree,an der Portland State University, Portland (Oregon), USA,vom 20. Mai 1970.

Diese, seine Arbeit fiel mir im Juni 2014 zufällig in die Hände, während meine Frau und ich unseren Urlaub, bei meinem Bruder Dieter, in Portland/Oregon, verbrachten.

Nachdem ich den Text eingehend durchgelesen hatte, war mir sofort klar, diese Arbeit müsste eigentlich schon längst im deutschsprachigen Raum veröffentlicht worden sein! Zu seinem 75. Geburtstag, am 28. Januar 2015, soll nun dieses Vorhaben von mir in die Tat umgesetzt werden, als Überraschung und Geschenk für meinen Bruder Dieter!

Dieter H. Engelhardts Thesen zu Ernst Barlachs Dramen, sind eine wahre Fundgrube für Menschen, die sich mit den Aussagen und der Tiefe der Bedeutung der Kunst von Barlach auseinandersetzen wollen. Wer nicht nur nach einer Deutung in Dichtung, Bildhauerei und Holzschnittkunst des Künstlers sucht, wird Antworten finden; sondern sie, oder er, wird auch die Leistung des Lebenswerkes Ernst Barlachs, mit seinem Denken und auch seinen Erfahrungen, (z. B. als Soldat im 1. Weltkrieg, bis hin zum Verbot und der Ächtung seiner Kunst in Nazi-Deutschland) vielleicht insgesamt neu vertiefen und beurteilen können.

Die Skulptur von Ernst Barlach: „Das Wiedersehen“ (1930), die auch das Cover dieses Buches ziert, begegnete mir, als wunderschöne Kopie, ebenfalls im Wohnzimmer meines Bruders!

„Das Wiedersehen“ ist eines der epochalen Werke moderner Bildhauerei: Die tiefe Humanität geht über die biblische Szene hinaus. Der Augenzeuge Thomas – begegnet Christus. An die Auferstehung nach biblischem Bericht wollte er erst glauben, wenn er ihn mit eigenen Augen sehen und die Finger in seine Wunden legen könne. Barlach inszeniert die Sekunde des Wiedererkennens und zeigt dabei den Moment des Begreifens und des sich Aufrichtens an der Wahrheit. In der Umarmung zeigt sich das Mitleiden des menschgewordenen Gottes, zeigt sich als Darstellung des Endlichen in seiner realen Beschaffenheit, als Kontrast zum Unsichtbaren, in diesem Fall, der Wahrhaftigkeit und Brüderlichkeit. Das Überwirkliche und das empirisch nicht Fassbare gehören für Barlach untrennbar zum Ganzen des Wirklichen und Wahrhaftigen; auch Dieter Engelhardts Ergebnisse in der Analyse der Raumstruktur in Barlachs Dramen, bestätigen diese tiefgreifenden Erkenntnisse und Aussagen des Künstlers.

So lässt mein Bruder am Schluss seiner Arbeit Barlach sagen:

„Es steckt in allem ein Geheimnis, ……das seinen Sinn im Ewigen und Jenseitigen vom Menschlichen hat.“

Thomas Georg Imanuel Engelhardt

Nuthetal, OT Nudow, Deutschland – im Herbst 2014

(Ernst Barlach: „Selig sind die Barmherzigen“, Lithographie / Foto T. E.)

Einleitung

Das Problem vom Raum im Drama ist bisher wenig untersucht worden, aber auch das Problem vom Raum in der Dichtung überhaupt, ist lange hinter dem Problem der Zeit zurückgeblieben. Zumindest seit Lessings Laokoon ist die Zeit oft als das ureigene Element der Dichtung gesehen worden, während der Raum für dichterisch weniger wichtig gehalten wurde. Lessing hat aber, um seines besonderen Zwecks willen, die Position vereinfachen müssen. Julius Petersen möchte Lessing dahingehend berichtigen, dass die Dichtung genau genommen eine Zwischenposition einnimmt zwischen der Kunst der Zeit (Musik) und der Kunst des Raumes (Plastik und Architektur). Denn das wichtigste Aufbauelement der Dichtung, die Sprache, vollzieht sich zwar hauptsächlich im Nacheinander, also im Zeitlichen; die Dichtung hat aber andererseits die Möglichkeit, mit den Mitteln der Sprache imaginierte räumliche Bilder im Nebeneinander zu schaffen.

Aber auch viele Literaturkritiker, die eine solche Zwischenposition der Dichtung anerkennen, sind geneigt, eine Raum-Zeit Rangordnung innerhalb der Dichtung selber aufzustellen. Demnach sei das Drama die eigentliche Dichtungsart der Zeit, während in der Epik das Räumliche ausschlaggebend sei. So schreibt Emil Staiger über Lessing, er sehe die Dichtung als Ganzes zu sehr im Maßstab der Dramatik.

Demgegenüber müsste man einwenden, dass eine solche Auffassung das Drama viel zu sehr im Maßstab der Klassik sieht. Der Raum ist ein wichtiges Aufbauelement der Dichtung überhaupt. E. Kobel hat deutlich die Bedeutung des Raumes für die Dichtung des Mittelalters bewiesen. Er meint allerdings, dass bei dem zunehmenden zeitlichen Gefühl der Moderne, die Erfassung des Räumlichen verlorengehe. Klaus Ziegler hat aber für den klassischen Dramentypus die Bedeutung des Raumes ausführlich besprochen. Auch da also, wo das Zeitliche, Vorwärtsdrängende vorzuherrschen scheint, ist die Raumgestaltung keineswegs unwichtig gewesen, sondern geradezu Ausdruck des innersten dramatischen Anliegens. Neuere Untersuchungen zur Geschichte des ‚nichtaristotelischen’ Dramas zeigen weiter, dass bei der atektonischen Form des Aufbaus eine freie Raum- und Zeitgestaltung zu jeder Zeit eine wichtige Aussagekraft enthalten hat. Wir sehen also, zu keiner Zeit ist die Raumgestaltung im Drama ein nur untergeordnetes Hilfsmittel gewesen.

Gerade im 20. Jahrhundert jedoch scheint sich ein neues und verstärktes Bewusstsein des Raumes anzubahnen, und zwar in allen Dichtungsarten. Joseph Frank hat dargestellt, dass die Literatur des 20. Jahrhundert im Allgemeinen sich immer mehr der räumlichen Gestaltung zuwendet. Seine Einzelbeispiele beschränken sich zwar auf Lyrik und Epik, aber das, was er unter „spatial Form“ versteht, weist allgemein in die gleiche Richtung, wie die neueren Untersuchungen zum modernen Drama. Den Ausdruck ‚episches Drama’ möchte ich auf alle Fälle vermeiden, um nicht die räumliche Gestaltung im Drama wieder auf die Epik zurückzuverweisen. Im Gegenteil, ich will im Folgenden darzustellen versuchen, dass es tatsächlich eine spezifisch dramatische Problematik des Raumes gibt.

Die Forschung zum Problem Raum im Drama ist noch nicht sehr umfangreich. Es gibt aber mehrere Arbeiten, die eine Unterscheidung zwischen offener und geschlossener Form im Drama vornehmen. Meist wird jedoch unter geschlossener Form nur der klassische Typus des Einortdramas verstanden, unter offener Form das nicht-klassische Vielortedrama. Eine solche strenge Zweiteilung wird jedoch weder den klassischen, noch den modernen Mischtypen gerecht. Darüber hinaus wird durch eine solche Unterscheidung das spezifisch Dramatische der räumlichen Gestaltung nicht erfasst.

Viel wichtiger scheinen mir solche Hinweise zu sein, die auf das Verhältnis zwischen Bühnenraum und Handlungsraum eingehen. Denn als einzige von allen Dichtungsgattungen hat allein das Drama die Möglichkeit, einen Teil des imaginierten Raumes, der durch die Sprache geschaffen wird, in empirisch-konkreten Raum auf der Bühne wieder umzuwandeln. Auch abgesehen von einer Inszenierung bleibt beim Lesen eines Schauspiels immer eine eigentümliche Spannung zwischen dem, was man sich als Sichtbares vorzustellen hat, und dem, was auch den Charakteren imaginär bleibt. H. Loevenich schreibt, dass „beim Drama die Bedeutung des Raumes deutlicher als bei der Erzählung“ sei, und unterscheidet beim Drama zwischen einem pragmatischen, einem realen und einem idealen Nexus. Robert Petsch spricht auch von drei Dimensionen des dramatischen „Zeitraumes“: dem Sichtbaren, dem Merkbaren und dem Denkbaren. Wie auch immer man dieses Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren beschreiben möchte, hieraus ergibt sich auf jeden Fall die besondere Wichtigkeit der Raumgestaltung für die Bühnenkunst. Der Raum muss als selbständiges Aufbauelement des Dramas betrachtet werden, das auch für sich allein genommen etwas Wesentliches über ein Werk auszusagen vermag.

Darüber hinaus steht natürlich der Raum in meist enger Beziehung zu den anderen Elementen des Dramas, zum Dialog, zur Charakterzeichnung, zur Zeitgestaltung und zur Handlung, vermag diese Elemente zu betonen oder sogar zu relativieren.

Trotz der Wichtigkeit des Themas, ist die Bedeutung des Raumes für das Drama lange verkannt worden. Klaus Ziegler ist bisher der Einzige, der im Bereich des Dramas von der Raumanalyse eines einzelnen Werkes ausgegangen ist. Da man aber, wie H. Meyer bemerkt, allgemeine typologische Kategorien nicht aufstellen kann, ohne vorher Einzelarbeit durch genaue Textanalyse geleistet zu haben, muss auch bei dieser Arbeit über die Raumgestaltung in Ernst Barlachs Dramen, die Einzelanalyse an erster Stelle stehen.

In der bisherigen Barlach Literatur sind Hinweise über die Raumgestaltung meist nur unter dem Aspekt der Symbolik zu finden. Da aber bei Barlach Inszenierungen die konkrete räumliche Gestaltung zugunsten der Symbolik vernachlässigt wurde, und da die Beziehung des konkret sichtbaren Raumes zum unsichtbaren imaginierten Raume bei Barlach besonders wichtig ist, wird diese Untersuchung zunächst von dem Verhältnis der beiden Raumbereiche zueinander und einer möglichen Abgrenzung gegeneinander ausgehen. Nach einer durchgehenden Analyse der Raumstruktur in zwei von Barlachs Dramen werde ich dann versuchen, das Verhältnis der Raumgestaltung zu den anderen Elementen der Dramen zu bestimmen, und zum Schluss in einer kurzen Betrachtung auf die Bedeutung des Raumes bei der Bühneninszenierung von Barlachs Stücken eingehen. – (Dieter H. Engelhardt)

(Ernst Barlach: Aus „Die Wandlungen Gottes“- Gott und die Dome – Holzschnitt, 1922, Foto T.E.)

ANALYSE DER RAUMSTRUKTUR IN ZWEI DRAMEN BARLACHS

I. Der Tote Tag:

A. Das Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren: Zur Problematik des Sehens im Toten Tag

Die Bühnenanweisungen eines Theaterstücks geben normalerweise Hinweise zur Gestaltung des sichtbaren Raumes: Ortsangaben zum Bühnenspielraum; manchmal auch zu direkt angrenzenden Räumen, sowie Beschreibungen von raumbildenden Elementen, wie Requisiten, Licht, Gestik und Pantomime. Der Dialog dagegen kann sich sowohl auf den vorhandenen Raumausschnitt beziehen, oder vom visionären Raum erzählen. Unsichtbare Räume können konkrete Gestaltung erfahren (bei Szenenwechsel eines Vielortdramas), konkret sichtbarer Raum kann sich ins Symbolische und Visionäre ausweiten. Das gleiche gilt, wie wir im Toten Tag sehen werden, für raumbildende Elemente.

Die Beziehung, die zwischen dem sichtbaren Raum der Bühne und dem Dialog, entworfen werden, erhält im Toten Tag ein besonderes Gewicht, durch die schon im 1. Akt angesprochene Thematik des Sehens. Die Anwesenheit des Gnomes Steissbart, der für die Mutter unsichtbar, für den Sohn jedoch sichtbar ist, weist schon gleich zu Anfang auf diese Thematik hin. Beim Auftritt des blinden Wanderers Kule, wird dann über das Sehen direkt gesprochen. Als Kule hört, dass der Sohn den unsichtbaren Steißbart sehen kann, sagt er zur Mutter: „Aber wie sonderbar, dass er solche Kraft im Auge hat, dass er sieht, was du nicht siehst.“ Das Thema des Sehens fesselt auch den Sohn im ersten Gespräch mit Kule. Er wundert sich, dass Kule vom Sehen spricht, obwohl er blind ist, bedenkt aber dann, dass er selbst im Traum bei geschlossenen Augen das Ross gesehen hat. „Heilige Wirklichkeit“ hat Kule solche Traumvisionen aber schon genannt, während die Mutter sie für Lüge, für „Gaukler aus dem Schattenreich“ hält. Das Sehen erstreckt sich also offenbar nicht nur auf das mit den Augen Wahrnehmbare, sondern auch auf das Unsichtbare (Steissbart) und das Visionäre der Träume. Ja, das Sehen mit blinden Augen scheint, jedenfalls in diesem Drama, sogar eine höhere Wirklichkeit zu erfassen, als das sinnliche Wahrnehmen.

„Sohn:

Es war, als hätte ich offene Augen, als schiene die Sonne….

Kule:

Und doch schien keine Sonne in deine schlafenden Augen, sie waren so gut wie blindsieh, so seh’ ich auch träumend und sehe schöner und weiter als mit wachenden Augen.“

Kules Beschreibung, wie er äußerlich blind, aber innerlich sehend für die Visionen der Zukunft wurde, macht dies vollends deutlich:

„Kule:

Vielleicht bist du in manchen Dingen blinder als ich. Sieh, meine Augen, das waren zwei Spinnen, die saßen im Netz ihrer Höhlen und fingen die Bilder der Welt, die die hineinfielen, fingen sie und genossen ihre Süße und Lust. Aber ….die waren saftig von Bitterkeit und fett von Grässlichkeit, und endlich ertrugen die Augen nicht mehr solche Bitterkeiten, da haben sie den Eingang zugewoben, saßen drinnen, hungerten lieber und starben. Aber wenn ich nachts liege und die Finsterniskissen mich drücken, dann drängt sich zuweilen um mich klingendes Licht, sichtbar meinen Augen und meinen Ohren hörbar. Und da stehen dann die schönen Gestalten der besseren Zukunft um mein Lager. Noch starr, aber von herrlicher Schönheit, noch schlafend – aber wer sie erweckte, der schüfe der Welt ein besserer Gesicht. Das wäre ein Held, der das könnte.“

Offenbar wäre einer, der das sinnliche Wahrnehmen mit dem visionären Sehen vereinen könnte, zu noch höherer Erkenntnis fähig als Kule selbst. Der Sohn träumt auch davon, mit der umfassenden Kraft der Sonne zu sehen:

„Kule:

immer dieselbe Sonne sieht die weiteste Welt.

Sohn:

Was sie sieht, will ich auch sehen, ohne blind zu werden. Sehen, was die Sonne sehen kann, will ich, und will wissen, wie die Bilder der Zukunft aussehen.“

Aber gleich der nächste Satz zeigt, dass der Sohn diesem Sehen nicht gewachsen sein wird, dass er nicht fähig ist, den ersten Schritt zu tun. Denn er weicht vom Thema ab, in dem er es verschiebt: „Wir müssen auf die Nacht warten.“ In dieser Nacht jedoch wird der Sohn endgültig versagen und muss schließlich in der Nebelvision des 5. Aktes erleben, wie er bei offenen Augen innerlich blind wird.

Dieses enge Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren könnte durch zahlreiche Formulierungen aus Barlachs Briefen bestätigt werden. Hier sei nur eine Stelle angeführt, die besonders das Miteinander-verwachsen-sein der beiden Bereiche betont. In einem Brief vom 8. August 1911, (also noch vor der Veröffentlichung des „Toten Tages“) schreibt Barlach:

„Ich fühle etwas wie Maske in der Erscheinung und bin versucht, hinter die Maske zu sehen…. Aber natürlich weiß ich, dass die Maske organisch auf dem Wesentlichen gewachsen ist, und so bin ich doch auf sie verwiesen. Ich musste also Mittel suchen darzustellen, was ich fühlte und ahnte, statt dessen, was ich sah, und doch, was ich sah, als Mittel benutzen; kurz, das Sichtbare wurde mir zur Vision.“

Die Untrennbarkeit von „Erscheinung“ und „Wesentlichem“ wird hier also deutlich ausgesprochen. Die Erscheinung wird für Barlach immer „Maske“ sein, also über sich hinausweisen, andererseits aber wird er die Erscheinung nie überspringen können. Das Sichtbare muss als Ausgangspunkt und Mittel für seine Kunst immer volles Gewicht behalten, es kann aber nicht die ganze Wirklichkeit umfassen.

Bei der folgenden Analyse vom Toten Tag muss also der sichtbare, durch Bühnenanweisungen entworfene Szenenraum den Ausgangspunkt bilden. Da er aber „organisch“ mit anderen unsichtbaren Räumen verbunden ist, müssen diese laufend in der Entwicklung mit berücksichtigt werden, nicht erst am Ende. Eine scharfe Trennung scheint unzweckmäßig zu sein, da der Wirklichkeitsgehalt des Räumlichen keine solche Grenzsetzung kennt.

B. Beschreibung der Orte im 1. Akt
1. Bereich der Mutter: Hütte und Keller

Das Drama „Der Tote Tag“ ist in fünf Akte eingeteilt. Durch die Bühnenanweisung wird ein einziger sichtbarer „Ort der Handlung“ für alle fünf Akte angegeben. „Großer Flur, der zugleich als Küche und Wohnraum dient Balkengefüge, dunkle Bodenräume.“ Angrenzende Räume, Ausstattung der Hütte, Türen und Requisiten werden erst angegeben oder beschrieben, wenn sie für die Handlung wichtig werden. Sie scheinen also kaum um ihrer selbst willen da zu sein, sondern weisen durch ihre Stellung und Bedeutung für die Handlung gleich über sich hinaus. Manchmal wird sogar die Bedeutung eines Requisits erwähnt, bevor das Ding selber zu sehen ist.