Die große Welt - Colum McCann - E-Book

Die große Welt E-Book

Colum McCann

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Beschreibung

1974: Am Morgen eines schönen Augustsommertags starren die Passanten in Lower Manhattan ungläubig zu den Twin Towers hinauf. Fast einen halben Kilo­meter über ihnen läuft, springt und tanzt ein Hochseilartist – ein schwebender Moment von absoluter Freiheit und künst­lerischem Triumph in einer Stadt des ewigen Über­lebenskampfes. Seine Magie lässt unten auf den Straßen in den gewöhnlichen Existenzen das Beson­dere hervor­treten. Etwa in Corrigan, dem verrückten, aufopferungsvollen Iren, der sein Leben den Straßen­huren in der Bronx widmet. Er hat in seinem Kleinbus vor dem Zentralgericht am World Trade Center übernachtet, um zweien seiner Schutzbefohlenen bei einem An­kla­ge­­er­hebungstermin beizustehen: Tillie, die schon mit achtunddreißig Groß­mutter ist, und ihrer schönen Tochter Jazzlyn. Doch Corrigan weiß nicht, dass dieser Tag, der so großzügig Freiheit schenkt, auch den Tod bringen und damit das Leben zahlreicher Menschen verändern wird, die ihm und den beiden Frauen in seiner Obhut nahestehen  … Colum McCann fängt die Atmosphäre und die Stimmen dieser Stadt zu einem mitreißenden Epos ein. Es sprüht vom wilden Geist seiner Zeit wie von der elektrisie­renden Sprache und Bildwelt eines Autors, der zu den sinnlichsten und mutigsten Erzählern englischer Zunge zählt. ... «Was will McCann nach dieser herzzerreißenden Symphonie von einem Roman denn noch komponieren? Keiner, der über New York schrieb, ist jemals tiefer eingetaucht und höher aufgestiegen. » Frank McCourt ... «Dies ist ein großartiges Buch, vielschichtig und tief empfunden, und es macht verdammten Spaß, es zu lesen. Da muss erst ein Ire kommen, um einen der größten New-York-Romane überhaupt zu schreiben. In jeder Zeile von ‹ Die große Welt › steckt so viel Leidenschaft, Humor und Lebenskraft, dass man es schwindelnd und schier überwältigt liest. » Dave Eggers

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Colum McCann

Die große Welt

Roman

 

 

Übersetzt von Dirk van Gunsteren

 

Über dieses Buch

1974: Am Morgen eines schönen Augustsommertags starren die Passanten in Lower Manhattan ungläubig zu den Twin Towers hinauf. Fast einen halben Kilometer über ihnen läuft, springt und tanzt ein Hochseilartist – ein schwebender Moment von absoluter Freiheit und künstlerischem Triumph in einer Stadt des ewigen Überlebenskampfes. Seine Magie lässt unten auf den Straßen in den gewöhnlichen Existenzen das Besondere hervortreten. Etwa in Corrigan, dem verrückten, aufopferungsvollen Iren, der sein Leben den Straßenhuren in der Bronx widmet. Er hat in seinem Kleinbus vor dem Zentralgericht am World Trade Center übernachtet, um zweien seiner Schutzbefohlenen bei einem Anklageerhebungstermin beizustehen: Tillie, die schon mit achtunddreißig Großmutter ist, und ihrer schönen Tochter Jazzlyn. Doch Corrigan weiß nicht, dass dieser Tag, der so großzügig Freiheit schenkt, auch den Tod bringen und damit das Leben zahlreicher Menschen verändern wird, die ihm und den beiden Frauen in seiner Obhut nahestehen.

 

Colum McCann fängt die Atmosphäre und die Stimmen dieser Stadt zu einem mitreißenden Epos ein. Es sprüht vom wilden Geist seiner Zeit wie von der elektrisie­renden Sprache und Bildwelt eines Autors, der zu den sinnlichsten und mutigsten Erzählern englischer Zunge zählt.

 

«Was will McCann nach dieser herzzerreißenden Symphonie von einem Roman denn noch komponieren? Keiner, der über New York schrieb, ist jemals tiefer eingetaucht und höher aufgestiegen.»

Frank McCourt

 

«Dies ist ein großartiges Buch, vielschichtig und tief empfunden, und es macht verdammten Spaß, es zu lesen. Da muss erst ein Ire kommen, um einen der größten New-York-Romane überhaupt zu schreiben. In jeder Zeile von ‹Die große Welt› steckt so viel Leidenschaft, Humor und Lebenskraft, dass man es schwindelnd und schier überwältigt liest.»

Dave Eggers

Vita

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award for Irish Literature und den Rooney Prize. Zum internationalen Best- sellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» (rororo 23827) und «Zoli» (rororo 23943). Im Ro- wohlt Taschenbuch Verlag erschienen außerdem «Der Himmel unter der Stadt» (rororo 22696), «Fischen im tiefschwarzen Fluß» (rororo 22622), «Gesang der Kojoten» (rororo 22288) und «Wie alles in diesem Land» (rororo 23367). Colum McCann ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York. Für «Die große Welt» erhielt er den National Book Award.

 

Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024

Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Let the Great World Spin» Copyright © 2009 by Colum McCann Foto Seite 369 Copyright © Vic DeLuca, REX Images

Covergestaltung any.way, Cathrin Günther, nach einem Entwurf von ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München

Coverabbildung Illustration: Julika Altmann

ISBN 978-3-644-02243-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für John, Frank und Jim.

Und natürlich für Allison

All die Leben, die wir leben könnten, all die Menschen, die wir nie kennen, die wir nie sein werden, sie sind überall. Dies ist die Welt.

Aaleksandar Hemon: Lazarus

Wer ihn sah, verstummte. Auf der Church Street. Auf der Liberty. Cortlandt. West Street. Fulton. Vesey. Es war eine Stille, die sich selbst hörte, schrecklich und schön. Anfangs dachten manche, es müsse eine Lichtspiegelung sein, etwas, das mit dem Wetter zu tun habe, mit dem Spiel von Licht und Schatten. Andere meinten, es sei der klassische Großstadtwitz: Jemand stand herum und zeigte nach oben, bis auch andere stehenblieben, den Kopf in den Nacken legten und bestätigend nickten, und schließlich starrten alle in den Himmel, wo gar nichts war, als warteten sie auf die Pointe eines Lenny-Bruce-Witzes. Doch je länger sie hinsahen, desto sicherer waren sie. Er stand genau am Rand des Gebäudes, eine schwarze Silhouette vor dem Grau des Morgens. Vielleicht ein Fensterputzer. Oder ein Bauarbeiter. Oder ein Selbstmörder.

Dort oben, hundertzehn Stockwerke hoch, vollkommen reglos, eine dunkle Spielzeugfigur vor bewölktem Himmel.

Man konnte ihn nur aus bestimmten Blickwinkeln sehen, sodass man an Straßenecken stehenbleiben, eine Lücke zwischen den Häusern finden, im Zickzack aus den Schatten treten musste, um einen von Simsen, Wasserspeiern, Brüstungen und Dachkanten unbehinderten Blick zu haben. Noch wusste keiner, was es mit dem Strich auf sich hatte, der zu seinen Füßen von einem Turm zum anderen verlief. Eher ließ die Gestalt des Mannes sie mit gereckten Hälsen innehalten, hin- und hergerissen zwischen Schreckensverheißung und der Enttäuschung durch das Gewöhnliche.

Es war das Dilemma der Schaulustigen: Sie wollten nicht umsonst gewartet haben, wegen eines Idioten am Abgrund zwischen den Türmen; doch sie wollten auch nicht den Augenblick verpassen, in dem er ausrutschte, verhaftet wurde oder sich mit ausgebreiteten Armen kopfüber in die Tiefe stürzte.

Ringsum machte die Stadt weiter ihre alltäglichen Geräusche. Autohupen. Mülltransporter. Die Sirenen der Fährschiffe. Das Rumpeln der U-Bahnen. Ein Bus der Linie M 22 fuhr an den Bordstein, bremste, tauchte seufzend in ein Schlagloch. Die vom Wind verwehte Hülle eines Schokoriegels berührte tanzend einen Hydranten. Taxitüren wurden zugeworfen. In den dunkelsten Winkeln der Gassen lieferten Abfallreste sich Sparringskämpfe. Turnschuhe ließen ihre Besitzer gleichsam hüpfen. Das Leder der Aktentaschen rieb an Hosenbeinen. Ein paar Regenschirmspitzen klickten auf den Bürgersteigen. Drehtüren wirbelten Gesprächsfetzen auf die Straße.

Doch hätten die Zuschauer all diese Geräusche genommen und zu einem einzigen verrührt, so hätten sie dennoch nicht sonderlich viel gehört: Selbst wenn sie fluchten, taten sie es leise, ehrfürchtig.

Sie fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen – neben der Ampel an der Kreuzung Church und Dey Street, unter der Markise von Sam’s Barber Shop, im Eingang zu Charlie’s Audio, als dicht an dicht stehendes kleines Publikum am schmiedeeisernen Zaun um die St. Paul’s Chapel, im Gedränge vor den Schaufenstern des Woolworth Buildings. Anwälte. Liftboys. Ärzte. Putzfrauen. Köche. Diamantenhändler. Fischverkäufer. Huren in traurigen Jeans. Alle bestätigt durch die Anwesenheit der anderen. Stenografinnen. Börsenhändler. Lieferanten. Männer mit Reklametafeln. Zocker. Con Edison. AT&T. Wall Street. Ein Mann vom Schlüsseldienst in seinem Lieferwagen an der Ecke Dey und Broadway. Ein Fahrradkurier, der in der West Street an einem Laternenpfahl lehnte. Ein Säufer mit rotem Gesicht, unterwegs zum ersten Drink des Tages.

Sie sahen ihn von der Staten Island Ferry. Von den Fleischkühlhäusern an der West Side. Von den neuen Hochhäusern im Battery Park. Von den Frühstücksständen am Broadway. Von der Plaza am Fuß der Türme. Von den Türmen selbst.

Natürlich gab es einige, die die ganze Aufregung ignorierten, die nichts damit zu tun haben wollten. Es war sieben Uhr siebenundvierzig, und sie dachten nur an ihren Schreibtisch, ihren Stift, ihr Telefon. Sie kamen aus U-Bahnhöfen, stiegen aus Limousinen und Bussen, überquerten mit zielstrebigen Schritten die Straße und verweigerten sich der Aussicht auf ein Spektakel. Wer die Tortur nicht ehrt, ist des Dollars nicht wert. Doch als sie an den kleinen Trauben von Schaulustigen vorbeigingen, verlangsamten sie ihre Schritte. Manche blieben sogar stehen, zuckten die Schultern, drehten sich nonchalant um, gingen zur nächsten Ecke, gesellten sich zu dem Grüppchen, das dort stand, stellten sich auf die Zehenspitzen, spähten über die Köpfe der anderen hinweg und führten sich mit einem «Donnerwetter», «Junge, Junge» oder «Mein Gott» ein.

Der Mann über ihren Köpfen stand starr und aufgerichtet, und doch umgab ihn das Geheimnis der Beweglichkeit. Er stand vor dem Geländer der Aussichtsplattform auf dem Südturm und konnte jeden Augenblick den Schritt ins Leere tun.

Unter ihm segelte eine einzelne Taube vom Dach des Federal Office Buildings, als wollte sie seinen Sturz vorwegnehmen. Die Bewegung fiel einigen Zuschauern ins Auge, und sie folgten dem grauen Flattern vor der kleinen Gestalt des stehenden Mannes. Der Vogel schoss von einem Dach zum anderen, und da erst merkten die Leute, dass andere es ihnen in den Bürogebäuden gleichtaten, wo Jalousien hochgezogen und Fenster geöffnet wurden. Man sah zunächst nur zwei Ellbogen, eine Manschette oder einen Ärmelhalter, doch dann erschien ein Kopf oder ein seltsam wirkendes Paar Hände, die das Fenster noch ein Stück weiter emporschoben. In den nahe gelegenen Wolkenkratzern waren Gestalten zu sehen: Männer in Hemdsärmeln und Frauen in bunten Blusen – wabernde Schemen hinter Glas, wie Pappfiguren in einer Geisterbahn.

Noch weiter oben vollführte ein Wetterbeobachtungshubschrauber eine Abwärtskurve über dem Hudson – eine Verbeugung vor der Tatsache, dass dieser Sommertag bewölkt und kühl werden würde –, und die Rotoren hämmerten einen Rhythmus über den Lagerhäusern an der West Side. Zunächst wirkte der herumschwenkende Hubschrauber schief, und ein kleines Fenster wurde aufgeschoben, als wollte der Motor tiefer Luft holen. An dem geöffneten Fenster erschien ein Objektiv und reflektierte für einen winzigen Augenblick das Licht. Im nächsten Moment fing sich der Hubschrauber und glitt elegant durch den weiten Himmel.

Ein paar Polizisten auf dem West Side Highway schalteten das Jammerlicht ein, jagten die Ausfahrten hinunter und machten den Morgen noch ein wenig faszinierender.

Eine Spannung erfüllte die Luft um die Schaulustigen, und nun, da der Tag durch die Sirenen etwas Offizielles bekommen hatte, begannen sie miteinander zu reden – ihr inneres Gleichgewicht war gefährdet, ihre Ruhe verschwunden, und sie wandten sich einander zu und begannen zu spekulieren: Würde er springen, würde er abstürzen, würde er am Rand des Dachs entlanglaufen, arbeitete er dort, war er allein, war er ein Lockvogel, trug er eine Uniform, hatte irgendjemand ein Fernglas? Wildfremde berührten einander am Ellbogen. Flüche flogen hin und her, es wurde geflüstert, das sei das Ende eines gescheiterten Raubüberfalls, der Mann sei eine Art Fassadenkletterer, er sei Araber, Jude, Zypriot, ein IRA-Mann, das Ganze sei bloß eine Publicity-Sache, eine Werbeaktion für irgendeinen großen Konzern: Mehr Coca-Cola, Mehr Fruitos, Mehr Marlboros, Mehr Lysol, Mehr Jesus. Er sei ein Protestler und werde gleich ein Transparent entfalten, er werde es vom Sims stoßen, damit es in der Brise flatterte wie ein riesiges Stück Himmelswäsche – Weg mit Nixon! USA raus aus Vietnam! Unabhängigkeit für Indochina! –, und dann sagte irgendwer, er sei vielleicht ein Drachenflieger oder Fallschirmspringer, und alle, die es hörten, lachten, doch das Seil zu seinen Füßen verwirrte sie, und die Gerüchte begannen aufs Neue, ein Gegeneinander von Flüstern und Flüchen, verstärkt durch das zunehmende Gejaule der Sirenen, das ihre Herzen noch schneller schlagen ließ, und der Hubschrauber fand einen guten Blickwinkel westlich der Türme, während unten, im Foyer des World Trade Centers, die Polizisten über die Marmorplatten des Fußbodens hasteten und die Zivilpolizisten ihre um den Hals baumelnden Dienstmarken unter den Hemden hervorzerrten, während die Feuerwehrwagen auf die Plaza fuhren, die roten und blauen Blinklichter im Glas der Fensterscheiben blitzten, ein Tieflader mit einem Teleskopkran, an dessen Ende ein Rettungskorb befestigt war, eintraf und mit seinen dicken Rädern den Bordstein hinauffuhr und jemand lachte, als der Fahrer im schaukelnden Wagen nach oben sah, als könnte der Kran diese gewaltige, traurige Distanz überbrücken, derweil die Wachmänner in ihre Sprechfunkgeräte schrien, der ganze Augustmorgen entzweigerissen wurde, die Schaulustigen wie angenagelt dastanden und sich für eine ganze Weile nirgendwohin bewegten, die Stimmen ein Crescendo erreichten und alle möglichen Akzente zu hören waren, das reinste Babel – bis ein kleiner Mann mit rotem Kopf das Fenster seines Büros in der Home Title Guarantee Company in der Church Street hochschob, die Ellbogen auf das Sims stützte, sich hinausbeugte, tief Luft holte und hinaufbrüllte: Mach schon, du Arschloch!

Es gab ein kurzes Verharren vor dem Gelächter, einen Augenblick des Begreifens, des Respekts vor der Respektlosigkeit des Mannes, denn es war das, was viele von ihnen insgeheim dachten – Mach schon, Herrgott! Mach schon! –, und dann brach ein Sturzbach von Worten los, der sich vom Fenstersims auf die Straße zu ergießen schien und über den rissigen Bürgersteig zur Ecke der Fulton Street raste und von dort weiter den Broadway hinunter, im Zickzack durch die John Street und um die Ecke in die Nassau Street, eine wahre Kettenreaktion, ein Gelächter mit einem Unterton von Sehnsucht, von Ehrfurcht, denn vielen wurde mit einem Schauder bewusst, dass sie, ganz gleich, was sie sagten, Zeugen eines tiefen Sturzes sein wollten, dass sie sehen wollten, wie jemand in einem Bogen aus dieser Höhe herabstürzte, rudernd den Blicken entschwand, auf dem Boden aufschlug und diesem Mittwoch eine Spannung, eine Bedeutung verlieh, und alles, was es brauchte, damit sie zu einer einzigen großen Familie wurden, war eine Millisekunde des Ausgleitens, während die anderen – diejenigen, die wollten, dass er blieb, wo er war, dass er dort an der Grenze verharrte, dass er am Rand des Dachs blieb und nicht darüber hinausging – von Empörung erfüllt waren und sich den Ersteren überlegen fühlten: Sie wollten, dass der Mann sich rettete, dass sein nächster Schritt nicht vorwärts in den Himmel, sondern rückwärts in die Arme der Polizisten führte.

Sie waren gebannt.

Fiebrig.

Die Fronten waren klar.

Mach schon, du Arschloch!

Tu’s nicht!

Dort oben bewegte sich etwas. In seiner dunklen Kleidung war jedes Zucken von Bedeutung. Er beugte sich vor, sah aus wie halbiert, zusammengefaltet, als würde er seine Schuhe untersuchen – ein größtenteils ausradierter Bleistiftstrich. Die Haltung eines Turmspringers. Und dann sahen sie es. Sie standen stumm. Selbst denen, die gewollt hatten, dass er sprang, verschlug es den Atem. Sie fuhren zusammen und stöhnten auf.

Ein Körper segelte durch die Luft.

Er war fort. Er hatte es getan. Einige bekreuzigten sich. Schlossen die Augen. Warteten auf den Aufschlag. Der Körper taumelte, fing sich, wirbelte herum, ein Spielball des Windes.

Ein Schrei ertönte über die Köpfe der Menschen hinweg, die Stimme einer Frau: O Gott, es ist ein Hemd, bloß ein Hemd.

Es fiel, fiel, fiel, ja, ein Sweatshirt, es flatterte, und ihre Blicke verließen es, noch während es in der Luft war, denn dort oben hatte sich der Mann wieder aufgerichtet, und neuerliche Stummheit befiel die Polizisten auf dem Dach und die Menge auf den Straßen, eine Welle durchlief sie, denn der Mann hielt, als er sich aufrichtete, eine lange, dünne Stange in den Händen, ließ sie auf und ab hüpfen und prüfte ihr Gewicht, eine lange schwarze Stange, so elastisch, dass ihre Enden wippten; sein Blick war auf den anderen Turm gerichtet, der noch eingerüstet war und wie etwas Verwundetes wirkte, das auf Rettung wartete, und nun ergab das Seil zu seinen Füßen einen Sinn, und sie würden sich, ganz gleich, was noch passierte, auf keinen Fall von hier wegbewegen – kein Frühstückskaffee, keine Zigarette vor dem Konferenzzimmer, kein nonchalantes Tänzchen auf dem Teppichboden –, das Warten hatte sich in Magie verwandelt, und sie sahen zu, wie er einen von einem schwarzen Schuh umhüllten Fuß hob wie einer, der im Begriff ist, in warmes graues Wasser zu steigen.

Die Menschen auf den Straßen hielten gleichzeitig den Atem an. Plötzlich schien die Luft ihnen allen zu gehören. Der Mann dort oben war wie ein Wort, das sie zu kennen meinten, obgleich sie es noch nie zuvor gehört hatten.

Er trat hinaus.

Buch Eins

Nichts gegen den Himmel, aber mir gefällt’s hier

Eines der vielen Dinge, die mein Bruder Corrigan und ich an meiner Mutter liebten, war, dass sie eine gute Musikerin war. Sie hatte ein kleines Radio, das auf dem Steinway im Wohnzimmer unseres Hauses in Dublin stand, und wenn sie sonntags nachmittags eine Weile die Sender, die wir empfangen konnten, gehört hatte – Radio Eireann oder BBC –, klappte sie den geschwungenen Deckel des Flügels auf, schürzte das Kleid, setzte sich auf den hölzernen Klavierhocker und versuchte, die Musik aus dem Gedächtnis nachzuspielen: Jazz-Riffs, irische Balladen und, sofern wir den richtigen Sender erwischt hatten, alte Hoagy-Carmichael-Melodien. Unsere Mutter hatte ein natürliches Gespür für den richtigen Anschlag, obwohl ihre eine Hand irgendwann mehrfach gebrochen gewesen war. Warum, wussten wir nicht – darüber wurde sich ausgeschwiegen. Wenn sie zu Ende gespielt hatte, rieb sie leicht über die Stelle, wo das Handgelenk in den Handrücken überging. Ich stellte mir immer vor, dass die Noten noch in den Knochen nachzitterten, als könnten sie über die Bruchstellen hinweg von einem zum anderen springen. Nach all den Jahren kann ich noch immer im Museum dieser Nachmittage sitzen und mich daran erinnern, wie sich das Licht über den Teppich ergoss. Manchmal legte unsere Mutter die Arme um uns und führte unsere Hände, sodass wir mit Schwung auf die Tasten hämmern konnten.

Ich glaube, es ist aus der Mode gekommen, seine Mutter so zu mögen, wie mein Bruder und ich unsere Mutter mochten, damals, Mitte der fünfziger Jahre, als die Geräusche vor den Fenstern hauptsächlich die von Wind und Brandung waren. Man sucht nach einer Schwachstelle – dass ein Bein des Klavierhockers kürzer war als die anderen oder dass uns eine tiefe Traurigkeit von unserer Mutter trennte –, doch die Wahrheit ist, dass wir alle drei gern beisammen waren, und das nie so offensichtlich wie an diesen Sonntagen, wenn grauer Regen auf Dublin fiel und heftige Böen gegen die Fensterscheiben drückten.

Unser Haus in Sandymount überblickte die Bucht. Wir hatten eine kurze Einfahrt voller Unkraut, ein rechteckiges Stück Rasen und einen schwarzen, schmiedeeisernen Zaun. Wenn wir über die Straße gingen, konnten wir an der in einem großen Bogen verlaufenden Kaimauer stehen und weit über die Bucht schauen. Am Ende der Straße wuchsen ein paar Palmen. Sie waren kleiner und gedrungener als die in anderen Weltgegenden, aber dennoch exotisch, und sie standen da, als hätte man sie eingeladen, sich den Dubliner Regen anzusehen. Corrigan saß auf der Mauer, klopfte mit den Fersen dagegen und sah über den flachen Strand zum Wasser. Schon damals hätte ich wissen sollen, dass das Meer in ihn eingeschrieben war, dass es irgendeine Art Abschied geben würde. Die Flut kroch näher, und zu seinen Füßen stieg das Wasser. Abends lief er die Straße hinunter am Martello-Turm vorbei bis zu der ehemaligen öffentlichen Badeanstalt und balancierte dort mit weit ausgestreckten Armen auf der Kaimauer.

An den Wochenenden gingen wir morgens mit unserer Mutter spazieren, knöcheltief in den auslaufenden Wellen, und sahen zurück zu der Häuserreihe, zur Küste und zu den kleinen Rauchfahnen, die über den Kaminen hingen. Am Horizont im Osten standen die beiden riesigen rotweißen Türme der Ölraffinerie, aber der Rest war eine weit geschwungene flache Linie – Möwen in der Luft, die Postboote, die von Dun Laoghaire ausliefen, rasch dahinziehende Wolken über dem Meer. Bei Ebbe war der Sand geriffelt, und manchmal konnte man zwischen vereinzelten Tidentümpeln, Abfall, Taschenmessermuscheln und alten Bettgestellrohren eine Viertelmeile weit hinauslaufen.

Die Dublin Bay war, wie die Stadt, die sie umschloss, ein gemächlich wogendes Etwas, aber sie konnte sich ohne Vorwarnung in etwas gänzlich anderes verwandeln. Hin und wieder donnerte ein Sturm die Wellen an die Mauer. Das Meer kam und wich nicht mehr zurück. Die Fenster unseres Hauses waren salzverkrustet, der Türklopfer rot von Rost.

Bei stürmischem Wetter saßen wir auf der Treppe, Corrigan und ich. Unser Vater, ein Physiker, hatte uns vor Jahren verlassen. Einmal die Woche lag ein in London abgestempelter Umschlag mit einem Scheck im Briefkasten. Es war nie eine Nachricht darin, immer nur ein Scheck, ausgestellt auf eine Bank in Oxford. Wir rannten und brachten ihn unserer Mutter. Sie schob ihn unter den Blumentopf am Küchenfenster, und am nächsten Tag war er verschwunden. Es wurde nie ein Wort darüber gesprochen.

Der einzige andere Hinweis auf unseren Vater war ein Schrank im Schlafzimmer unserer Mutter, in dem seine alten Hosen und Anzüge hingen. Corrigan machte ihn auf. Wir saßen im Dunkeln, lehnten uns an die rauen Holzwände und steckten die Füße in die Schuhe unseres Vaters. Die Ärmel der Anzüge strichen über unsere Ohren, und wir spürten die Kühle der Ärmelknöpfe. Eines Nachmittags fand uns unsere Mutter: Wir trugen graue Anzüge; die Ärmel hatten wir hochgekrempelt, die Hosen mit Gummibändern befestigt. Wir marschierten in seinen viel zu großen Brogues herum, als sie hereinkam und auf der Schwelle erstarrte. Es war so still, dass wir das Ticken der Heizkörper hören konnten.

«Tja», sagte sie und kniete sich vor uns. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, das ihr Schmerzen zu bereiten schien. «Kommt her.» Sie küsste uns auf die Wangen und gab uns einen Klaps auf den Hintern. «Und jetzt raus mit euch hier.» Wir zogen die Sachen unseres Vaters aus und ließen sie in einem Haufen auf dem Boden liegen.

Am Abend hörten wir das Klappern der Kleiderbügel, als sie die Anzüge aufhängte, abnahm und wieder aufhängte.

Im Lauf der Jahre gab es die üblichen Wutanfälle, blutigen Nasen und abgebrochenen Schaukelpferdköpfe, und unsere Mutter musste das Getuschel der Nachbarinnen ertragen und sich manchmal der Annäherungsversuche irgendwelcher Witwer erwehren, doch im Großen und Ganzen erstreckte sich das Leben angenehm vor uns – ruhig, offen, eine weite graue Sandfläche.

Corrigan und ich teilten uns ein Zimmer mit Blick auf das Meer. Es geschah heimlich, still und leise, wie, weiß ich nicht mehr: Er, der zwei Jahre Jüngere, übernahm die obere Hälfte des Stockbetts. Zum Einschlafen legte er sich auf den Bauch, sah durch das Fenster in die Dunkelheit und sagte in schnellem, akzentuiertem Rhythmus seine Gebete, die er Schlummerverse nannte. Es waren selbstverfasste Anrufungen, für mich meist unverständlich, durchsetzt mit eigenartigen kurzen Lachern und langen Seufzern. Je näher er dem Schlaf kam, desto rhythmischer wurden die Gebete, wie eine Art Jazz; doch manchmal hörte ich ihn unvermittelt fluchen, was das Ganze aus der Sphäre der Heiligkeit hob. Ich kannte die katholische Hitparade – das Vaterunser, das Gegrüßet seist du, Maria –, aber das war auch schon alles. Ich war ein stilles, robustes Kind, und für mich war Gott bereits ein Langweiler. Ich trat von unten gegen Corrigans Matratze; eine Weile war er still, doch dann fing er wieder an. Manchmal wachte ich morgens auf, und er lag neben mir, den Arm um meine Schultern gelegt, und seine Brust hob und senkte sich, während er seine Gebete flüsterte.

«Herrgott, Corr, hör endlich auf.»

Mein Bruder war hellhäutig, dunkelhaarig, blauäugig – die Art von Kind, das jeder anlächelt. Er konnte einen durch bloßes Ansehen aus der Reserve locken. Die Leute liebten ihn. Auf der Straße zausten Frauen ihm die Haare. Arbeiter klopften ihm freundschaftlich auf die Schulter. Er hatte keine Ahnung, dass seine Gegenwart den Menschen etwas gab, sie glücklich machte, ihre unwahrscheinlichsten Sehnsüchte zum Vorschein brachte – er tat einfach, was er immer tat, und merkte nichts davon.

Als ich elf war, erwachte ich eines Nachts davon, dass ein Schwall kalter Luft über mich strich. Schlaftrunken taumelte ich zum Fenster, doch es war geschlossen. Ich schaltete das Licht an; es tauchte den Raum in seinen gelblichen Schein. Mitten im Zimmer stand eine gebeugte Gestalt.

«Corr?»

Sein Körper verströmte noch die Kühle des Wetters. Seine Wangen waren gerötet, und auf dem Haar lag ein feiner Nebel. Er roch nach Zigaretten. Mit an die Lippen gelegtem Finger bedeutete er mir zu schweigen und stieg die Leiter zu seinem Bett hinauf.

«Schlaf weiter», flüsterte er von oben. Noch immer hing der Geruch nach Zigaretten in der Luft.

Am Morgen sprang er aus dem Bett. Über dem Schlafanzug trug er seinen dicken Anorak. Zitternd öffnete er das Fenster und klopfte mit den Schuhen auf das Sims, sodass der Sand in den Garten fiel.

«Wo warst du?»

«Bloß unten am Wasser», sagte er.

«Hast du geraucht?»

Er wandte den Blick ab und rieb sich die Arme warm. «Nein.»

«Du weißt, du sollst nicht rauchen.»

«Hab ich auch nicht», sagte er.

Später brachte unsere Mutter uns zur Schule. Wir trugen unsere Lederranzen auf dem Rücken. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen. Am Schultor ging sie in die Knie, umarmte uns, rückte unsere Schals zurecht und gab jedem einen Kuss. Als sie wieder aufstand und sich zum Gehen wandte, fiel ihr Blick auf etwas auf der anderen Straßenseite, am schmiedeeisernen Gitter vor der Kirche: eine dunkle Gestalt, die in eine große rote Decke gehüllt war. Der Mann hob grüßend die Hand. Corrigan winkte zurück. In Ringsend gab es viele alte Säufer, aber meine Mutter schien an diesem Anblick etwas Besonderes zu finden, und mir kam der Gedanke, dass sich hier vielleicht ein Geheimnis verbarg.

«Wer ist das, Mum?», fragte ich.

«Geht rein», sagte sie. «Wir klären das nach der Schule.»

Mein Bruder ging schweigend neben mir.

«Wer war das, Corrie?» Ich stieß ihn an. «Wer war das?»

Er verschwand in sein Klassenzimmer.

Den ganzen Schultag saß ich an meinem Pult, kaute auf meinem Bleistift herum und wunderte mich: Ich stellte mir einen vergessenen Onkel vor, stellte mir vor, unser Vater sei irgendwie zurückgekehrt, als gebrochener Mann. Damals lag nichts im Bereich des Unmöglichen. Die Uhr hing an der Rückseite des Klassenzimmers, doch über dem Waschbecken war ein alter, fleckiger Spiegel, und wenn der Blickwinkel stimmte, konnte ich die Zeiger rückwärtswandern sehen. Als die Glocke läutete, rannte ich nach Hause, doch Corrigan machte einen langen Umweg und ging mit kurzen, trippelnden Schritten durch die Reihenhaussiedlung, an den Palmen vorbei und die Kaimauer entlang.

Auf dem oberen Bett lag ein weiches, in braunes Papier gewickeltes Paket. Ich hielt es Corrigan hin. Er zuckte die Schultern, fuhr mit dem Finger über die Schnur und zupfte zögernd daran. Darin war eine neue Decke, eine weiche blaue Foxford-Decke. Er faltete sie auseinander, schüttelte sie der Länge nach aus, sah unsere Mutter an und nickte.

Sie strich ihm mit den Fingerrücken über das Gesicht und sagte: «Nicht noch einmal, verstanden?»

Danach wurde nicht mehr darüber gesprochen. Zwei Jahre später, in einer anderen kalten Nacht, verschenkte er auch diese Decke an einen obdachlosen Säufer, oben am Kanal, bei einem seiner nächtlichen Ausflüge; er schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Für ihn war das eine simple Gleichung: Andere bräuchten die Decken dringender als er, sagte er, und er sei bereit, die Strafe auf sich zu nehmen. Für mich war es der erste Hinweis auf das, was später aus meinem Bruder wurde und dessen Zeuge ich unter den Abgestürzten von New York – den Huren, den Heroinsüchtigen, den Hoffnungslosen – wurde: Sie alle klammerten sich an ihn, als wäre er ein geschmettertes Halleluja in diesem Stinkloch, das die Welt in Wirklichkeit war.

 

Schon früh, mit zwölf oder dreizehn, fing Corrigan an, sich zu betrinken, einmal die Woche, freitags nachmittags nach der Schule. Er rannte vom Schultor in Blackrock zur Bushaltestelle, die Krawatte gelöst, den Schulblazer zusammengerollt unter dem Arm, während ich auf dem Sportplatz blieb und Rugby spielte. Ich sah ihn in den 45er oder den 7A steigen; seine Silhouette bewegte sich zum hinteren Ende des Busses, als dieser anfuhr.

Corrigan hatte eine Vorliebe für Orte, wo trübes Licht herrschte. Die Hafenkais. Die Absteigen. Die Straßenecken, wo das Pflaster rissig war. Oft setzte er sich zu den Säufern in der Frenchman’s Lane und der Spencer Row. Er brachte eine Flasche mit und ließ sie herumgehen. Wenn er wieder an der Reihe war, nahm er einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund wie ein geübter Säufer. Jeder sah, dass er das nicht war – er war nicht gierig und trank nur aus der Flasche, wenn sie bei ihm landete. Wahrscheinlich glaubte er, so würde er dazugehören. Die bösartigeren unter den Säufern lachten ihn aus, aber das war ihm egal. Natürlich benutzten sie ihn. Er war bloß irgendeine Rotznase, die auf arm machte, aber er hatte immer ein paar Pennys in der Tasche und war bereit, sie herzugeben. Sie schickten ihn in die Kaschemmen, damit er eine neue Flasche kaufte, oder zum Laden an der Ecke, wo es die Zigaretten einzeln gab.

Manchmal kam er ohne Socken nach Hause. Oder er hatte kein Hemd mehr und rannte nach oben, bevor unsere Mutter ihn sah. Dann putzte er sich die Zähne, wusch sich das Gesicht und kam vollständig angezogen wieder herunter, mit etwas glasigen Augen, aber nicht so betrunken, dass man es merkte.

«Wo warst du?»

«Ich hab Gottes Werk getan.»

«Und ist es nicht Gottes Werk, sich um seine Mutter zu kümmern?» Sie rückte seinen Kragen zurecht, als er sich an den Esstisch setzte.

Nach einer Weile begann er bei den Säufern tatsächlich dazuzugehören; er passte sich an, wurde einer von ihnen. Er ging mit ihnen in die Absteige in der Rutland Street und saß zusammengesunken an der Wand. Er hörte sich ihre Geschichten an – lange, gewundene Erzählungen, die aus einem ganz anderen Irland zu stammen schienen. Es war wie eine Lehrzeit für ihn: Er kroch in ihre Armut, als wollte er sie besitzen. Er trank. Er rauchte. Nie erwähnte er unseren Vater, weder mir noch jemand anderem gegenüber. Aber er war immer da, unser verschwundener Vater, das merkte ich. Corrigan ertränkte ihn in einer Flasche Sherry oder spuckte ihn aus wie einen Tabakkrümel.

In der Woche, als er vierzehn wurde, schickte meine Mutter mich, ihn zu holen: Er war den ganzen Tag nicht heimgekommen, und sie hatte ihm einen Kuchen gebacken. Ein feiner Abendregen fiel auf Dublin. Ein Pferdefuhrwerk mit einer dynamobetriebenen Lampe fuhr vorbei. Ich sah ihm nach, bis das Lichtpünktchen verschwamm. In solchen Stunden hasste ich die Stadt: Sie hatte gar nicht den Wunsch, ihren Grauschleier abzulegen. Ich ging vorbei an den Bed-and-Breakfast-Häusern, den Antiquitätengeschäften, den Läden für Kerzen und Devotionalien. Vor der Absteige war ein schwarzes, schmiedeeisernes Tor, dessen Gitterstäbe oben in Spitzen ausliefen. Ich ging zur Rückseite des Hauses, wo die Mülltonnen standen. Aus einer undichten Regenrinne tropfte Wasser. Ich stieg über leere Kisten und Kartons und rief seinen Namen. Als ich ihn schließlich fand, war er so betrunken, dass er nicht mehr stehen konnte. Ich packte ihn am Arm. «Hallo», sagte er lächelnd. Er taumelte gegen die Wand und schürfte sich die Hand auf. Er starrte auf seine Handfläche. Blut rann über das Gelenk. Einer der jüngeren Säufer – ein Teddyboy in einem roten T-Shirt – spuckte ihn an. Es war das einzige Mal, dass ich Corrigan zuschlagen sah. Sein Schlag ging weit daneben, doch von seiner Hand spritzte Blut, und noch während es geschah, wusste ich, dass es ein Augenblick war, den ich nicht vergessen würde: Corrigans Faust, die durch die Luft schwang, und die Blutstropfen, die an die Wand spritzten.

«Ich bin Pazifist», lallte er.

Ich ging mit ihm den ganzen Weg bis zur Liffey, vorbei an den Kohlenschiffen und nach Ringsend, wo ich ihn mit dem Wasser aus der alten Pumpe an der Irishtown Road wusch. Er nahm mein Gesicht in die Hände. «Danke, danke.» Als wir zur Beach Road kamen, die zu unserem Haus führte, begann er zu weinen. Eine tiefe Dunkelheit hatte sich über das Meer gesenkt. Von den Palmen an der Straße troff der Regen. Ich zerrte ihn vom Strand. «Ich bin weich», sagte er. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen, zündete eine Zigarette an und hustete, bis er sich erbrach.

Am Tor vor unserem Haus sah er hinauf zu dem Licht im Schlafzimmer unserer Mutter. «Ist sie noch wach?»

Er trippelte mit kleinen Schritten auf die Haustür zu, doch als er drinnen war, rannte er die Treppe hinauf in ihre Arme. Natürlich roch sie den Alkohol- und Zigarettendunst, doch sie sagte nichts. Sie ließ ihm ein Bad ein und setzte sich vor die Badezimmertür. Zunächst war sie ganz still, dann streckte sie die Beine aus, legte den Kopf an den Türrahmen und seufzte: Es war, als läge sie ebenfalls in einer Wanne und streckte sich in Erwartung von Tagen, die den Weg in ihre Erinnerung erst noch finden mussten.

Er zog sich an und trat auf den Flur. Sie trocknete ihm die Haare ab.

«Du wirst dich nicht mehr betrinken, mein Schatz.»

Er schüttelte den Kopf.

«Freitags darfst du nicht mehr raus. Um fünf bist du zu Hause. Hast du mich verstanden?»

«In Ordnung.»

«Versprich es mir.»

«Großes Ehrenwort.»

Seine Augen waren blutunterlaufen.

Sie küsste sein Haar und drückte ihn an sich. «Unten steht ein Kuchen für dich, mein Schatz.»

Zweimal ließ Corrigan seine Freitagsbesäufnisse ausfallen, doch bald ging er wieder zu seinen Trinkbrüdern. Es war ein Ritual, von dem er nicht lassen konnte. Die Penner brauchten ihn, zumindest wollten sie ihn um sich haben – für sie war er ein verrückter, unmöglicher Engel. Er trank noch immer mit ihnen, allerdings nur an besonderen Tagen. Meist blieb er nüchtern. Er hatte die Vorstellung, dass die Männer in Wirklichkeit nach einer Art Garten Eden suchten, in den sie zurückkehrten, wenn sie tranken, doch wenn sie dort angekommen waren, schafften sie es nicht, zu bleiben. Er versuchte nicht, sie vom Trinken abzuhalten. Das war nicht seine Art.

Für mich hätte es leicht sein können, Corrigan – meinen jüngeren Bruder, der die Menschen elektrisierte – nicht zu mögen, doch er hatte etwas an sich, das einem das schwermachte. Sein Grundthema war das Glück: was es war und was möglicherweise nicht, wo man es finden und wohin es verschwunden sein mochte.

Ich war neunzehn und Corrigan siebzehn, als unsere Mutter starb. Ein kurzer Kampf mit dem Nierenkrebs. Das Letzte, was sie zu uns sagte, war, wir sollten darauf achten, dass die Vorhänge im Wohnzimmer zugezogen waren, damit die Sonne den Teppich nicht ausbleichte.

Sie kam am ersten Tag des Sommers ins Saint Vincent’s Hospital. Der Krankenwagen hinterließ feuchte Spuren auf der am Meer entlangführenden Straße. Corrigan strampelte auf dem Fahrrad hinterher. Man brachte sie in einen großen Saal voller Kranker. Wir verschafften ihr ein Einzelzimmer und füllten es mit Blumen. Abwechselnd saßen wir an ihrem Bett und kämmten ihr langes Haar, das sich spröde anfühlte. Ganze Strähnen blieben im Kamm hängen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte sie wie jemand, der sitzengelassen worden war: Ihr Körper ließ sie im Stich. Der Aschenbecher auf dem Nachttisch füllte sich mit Haaren. Ich klammerte mich an die Vorstellung, dass wir wieder werden könnten, was wir gewesen waren, wenn wir nur diese langen grauen Strähnen aufhöben. Sie lebte noch drei Monate und starb an einem Septembertag, an dem alles in strahlendes Sonnenlicht getaucht war.

 

Wir saßen im Krankenzimmer und warteten darauf, dass die Schwestern kamen und den Leichnam mitnahmen. Corrigan war mitten in einem langen Gebet, als ein Schatten in der Tür erschien.

«Hallo, Jungs.»

Die Trauer unseres Vaters hatte einen englischen Akzent. Ich hatte ihn zuletzt als Dreijähriger gesehen. Ein Fädchen Licht fiel auf ihn. Er war blass und gebeugt. Sein Haar war schütter, doch seine Augen waren von einem durchscheinenden Blau. Er nahm den Hut ab und drückte ihn an die Brust. «Tut mir leid, Jungs.»

Ich ging zu ihm und gab ihm die Hand, verblüfft, dass ich größer war als er. Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte zu.

Corrigan blieb schweigend in der Ecke sitzen.

«Gib mir die Hand, mein Sohn», sagte unser Vater.

«Woher wusstest du, dass sie krank war?»

«Komm, gib mir die Hand wie ein Mann.»

«Woher wusstest du es?»

«Willst du mir die Hand geben oder nicht?»

«Wer hat es dir erzählt?»

Er wippte auf den Absätzen vor und zurück. «Ist das eine Art, seinen Vater zu begrüßen?»

Corrigan kehrte ihm den Rücken, küsste unsere Mutter auf die kalte Stirn und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Die Tür schloss sich mit einem scharfen Klicken. Ein Schattenkäfig lag auf dem Bett. Ich ging zum Fenster und sah, wie Corrigan das Fahrrad, das an einem Pfahl lehnte, hochriss und durch ein Blumenbeet davonfuhr. Sein Hemd flatterte, als er im Verkehr auf der Merrion Road verschwand.

Mein Vater nahm einen Stuhl, setzte sich an das Bett und strich mit der Hand über den Unterarm unter dem Laken.

«Als sie ihre Schecks nicht mehr eingelöst hat», sagte er.

«Wie bitte?»

«Da wusste ich, dass sie krank war», sagte er. «Als sie ihre Schecks nicht mehr eingelöst hat.»

Ein kalter Stich fuhr durch meine Brust.

«Ich sage dir nur die Wahrheit», sagte er. «Wenn du sie nicht aushältst, solltest du nicht danach fragen.»

An jenem Abend kam unser Vater in unser Haus. Er hatte einen kleinen Koffer mit einem schwarzen Anzug und einem Paar geputzter Schuhe dabei. Als er die Treppe hinaufgehen wollte, stellte Corrigan sich ihm in den Weg. «Wo willst du hin?» Unser Vater griff nach dem Geländer. Auf seinen Händen waren Altersflecken, und ich sah, dass sie zitterten. «Das ist nicht dein Zimmer», sagte Corrigan. Unser Vater schwankte. Er stieg eine Stufe höher. «Nein», sagte mein Bruder. Seine Stimme war klar, voll und selbstbewusst. Unser Vater stand benommen da. Er machte noch einen Schritt hinauf, drehte sich dann um, ging wieder hinunter und sah sich verwirrt um.

«Meine eigenen Söhne», sagte er.

Wir machten ihm das Bett auf dem Wohnzimmersofa, doch selbst dann wollte Corrigan nicht unter einem Dach mit ihm sein: Er verschwand in Richtung Stadtmitte, und ich fragte mich, in welcher Gasse man ihn später finden, gegen welche Faust er rennen, in welche Flasche er kriechen würde.

Am Morgen der Beerdigung hörte ich unseren Vater Corrigans Vornamen rufen. «John, John Andrew.» Eine Tür fiel ins Schloss. Noch eine. Dann folgte ein langes Schweigen. Ich ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken und mich von der Stille einlullen. Schritte auf der Treppe. Das Knarren der obersten Stufe. Rätselhafte Geräusche. Corrigan kramte unten in den Schränken und knallte die Haustür zu.

Als ich ans Fenster trat, sah ich auf dem Strand vor unserem Haus eine Reihe gutgekleideter Männer. Sie trugen die alten Anzüge, Hüte und Schals unseres Vaters. Einer steckte gerade ein rotes Taschentuch in die Brusttasche des schwarzen Anzugs. Ein anderer hielt ein Paar geputzte Schuhe in der Hand. In ihrer Mitte Corrigan, schwankend und die Hand an der Flasche, die in seiner Hosentasche steckte. Er trug kein Hemd und sah abgerissen aus. Zerzaustes Haar. Arme und Hals gebräunt, doch der Rest seines Oberkörpers bleich. Er grinste und winkte meinem Vater zu, der jetzt barfuß an der Haustür stand und verwirrt zusah, wie ein Dutzend Kopien seiner selbst über den Strand marschierten.

Ein paar Frauen, die ich bei der Altkleiderausgabe in den Absteigen gesehen hatte, schlenderten in den Sommersachen meiner Mutter über den schmutzigen Sand und freuten sich über ihre neue Garderobe.

 

Corrigan sagte mir einmal, Christus sei ganz einfach zu begreifen. Er sei gegangen, wohin Er habe gehen müssen. Er sei geblieben, wo Er gebraucht worden sei. Er habe wenig bis gar nichts mitgenommen – ein Paar Sandalen, ein Hemd, einige Sachen, um die Einsamkeit in Schach zu halten. Er habe die Welt nie abgelehnt. Wenn Er sie abgelehnt hätte, dann hätte Er das Mysterium ablehnen müssen. Und wenn Er das Mysterium abgelehnt hätte, dann hätte Er den Glauben ablehnen müssen.

Was Corrigan wollte, war ein durch und durch glaubhafter Gott, einer, den man auch im Schmutz des Alltäglichen finden konnte. Der Trost, den er aus der harten, kalten Wahrheit, aus Dreck, Krieg und Armut schöpfte, war, dass das Leben zu kleinen Schönheiten imstande war. Er interessierte sich nicht für wunderbare Geschichten über das Leben nach dem Tode oder für die Vorstellung von einem in Honig gebadeten Himmel. Für ihn war so etwas bloß die Umkleidekabine für einen Auftritt in der Hölle. Lieber tröstete er sich damit, dass er in der Finsternis der wirklichen Welt ein Licht finden konnte, wenn er nur gründlich genug danach suchte – ein schwaches, malträtiertes Licht, aber dennoch ein Licht. Er wollte ganz einfach, dass die Welt ein besserer Ort wurde, und hatte sich angewöhnt, darauf zu hoffen. Das verschaffte ihm eine Art Triumph, der keine theologischen Klügeleien brauchte und Grund für einen allen Widrigkeiten trotzenden Optimismus war.

«Eines Tages werden die Sanftmütigen sie vielleicht wirklich besitzen wollen», sagte er.

Nachdem unsere Mutter gestorben war, verkauften wir das Haus. Unser Vater nahm die Hälfte des Geldes. Corrigan verschenkte seinen Anteil. Er lebte von den milden Gaben anderer und begann, die Schriften des Franz von Assisi zu studieren. Stundenlang ging er durch die Stadt und las. Er machte sich Sandalen aus Lederabfällen und trug Socken in wilden Farben. Mitte der sechziger Jahre war er auf den Straßen von Dublin so bekannt wie ein bunter Hund: strähniges Haar, Zimmermannshose, Bücher unter dem Arm. Seine Schritte waren schlurfend und ausgreifend. Er besaß keinen Penny, keinen Mantel, kein Hemd. In jedem August am Jahrestag des Angriffs auf Hiroshima kettete er sich ans Tor des Parlaments in der Kildare Street; es war eine stille, eine Nacht dauernde Mahnwache ohne Fotografen, ohne Journalisten – nur er und das Stück Pappe, auf dem er saß.

Mit neunzehn begann er, bei den Jesuiten im Emo College zu studieren. Messe bei Morgengrauen. Stundenlange theologische Studien. Nachmittägliche Spaziergänge durch die Felder, wobei er lateinische Gebete sprach. Nächtliche Spaziergänge entlang dem Barrow, wobei er seinen Gott unter dem Sternenzelt auf Latein beschwor. Die Morgen-, die Mittags-, die Abendgebete, die Komplets. Die Glorias, die Psalmen, die Lesungen aus der Schrift. Das alles verlieh seinem Glauben Strenge. Es gab ihm ein Ziel. Doch die Hügel von Laois konnten ihn nicht halten. Er konnte kein gewöhnlicher Priester sein – dieses Leben war nicht für ihn bestimmt, er war nicht dafür geeignet, er brauchte mehr Raum für seine Zweifel. Er verließ das Noviziat und ging nach Brüssel, wo er sich einer Gruppe junger Mönche anschloss, die ihr eigenes Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams abgelegt hatten. Er lebte in einer kleinen Wohnung in der Stadtmitte. Ließ sein Haar wachsen. Vergrub sich in Bücher: Augustinus, Meister Eckhart, Massignon, Charles de Foucauld. Es war ein von körperlicher Arbeit, Freundschaft und Solidarität gekennzeichnetes Leben. Er fuhr einen Obstlieferwagen für eine örtliche Kooperative und stellte mit einer kleinen Gruppe eine Gewerkschaft auf die Beine. Bei der Arbeit trug er kein Habit, keinen Kragen; er hatte keine Bibel dabei und sprach nicht viel, nicht einmal in Gesellschaft seiner Ordensbrüder.

Nur wenige, die ihn kennenlernten, ahnten etwas von seinen religiösen Überzeugungen, und selbst dort, wo er am längsten blieb, wusste man nur selten um sein besonderes Verhältnis zu Gott – vielmehr erfüllte er die Menschen mit wehmütiger Sehnsucht nach einer anderen Zeit, als alles noch langsamer und weniger kompliziert gewesen war. Selbst das Schlimmste, was Menschen einander antaten, machte Corrigan nicht schwankend. Er mochte naiv sein, doch das war ihm gleichgültig. Er sagte, er wolle lieber in gutem Glauben sterben, anstatt als Zyniker zu enden.

Die einzigen Möbel, die er besaß, waren eine eichene Kniebank und ein Bücherregal, in dem die Werke einer Reihe meist radikaler religiöser Dichter und einiger Befreiungstheologen standen. Er bemühte sich lange um eine Stelle irgendwo in der Dritten Welt, jedoch ohne Erfolg. Brüssel war ihm zu gewöhnlich. Er wollte an einen Ort, wo es rauer zuging. Eine Weile lebte er in den Elendsvierteln von Neapel und kümmerte sich um die Armen im Quartiere Spagnolo, doch in den frühen siebziger Jahren wurde er nach New York beordert. Das gefiel ihm nicht, er wehrte sich dagegen, denn in seinen Augen war New York zu zivilisiert, zu keimfrei, aber die Oberen seines Ordens ließen sich nicht überzeugen – er hatte zu gehen, wohin man ihn schickte.

Mit seiner Kniebank, seiner Bibel und einem Koffer voller Bücher stieg er ins Flugzeug.

 

Ich hatte mein Studium abgebrochen, verbrachte den größten Teil meiner späten Zwanziger in einer Souterrainwohnung in der Raglan Road und kostete das Ende der Hippiezeit aus. Irland ist mit den meisten Dingen ein paar Jahre zu spät dran, und mir ging es nicht anders. Ich ließ mich treiben, wurde dreißig und fand einen Bürojob, sehnte mich aber noch immer nach dem alten, wilden Leben.

Ich hatte mich nie sonderlich für das interessiert, was in Nordirland passierte. Manchmal erschien es mir wie ein fernes, fremdes Land, aber im Frühjahr 74 kam die Gewalt nach Süden.

An einem Freitagabend ging ich, wie ich es gelegentlich tat, zum Dandelion Market, um ein bisschen Hasch zu kaufen. Es war einer der wenigen Orte in Dublin, wo etwas los war: Dort kriegte man afrikanische Perlen, Lavalampen und Räucherstäbchen. An einem Stand mit gebrauchten Schallplatten kaufte ich ein paar Gramm Marokkaner. Als ich auf der South Leinster Street in Richtung Kildare Street ging, gab es eine Detonation. Für einen Augenblick wurde alles gelb, dann kam ein weißer Blitz. Ich wurde durch die Luft gegen einen Eisenzaun geschleudert. Ich war benommen, ringsum herrschte Panik. Glasscherben lagen herum. Ein Auspufftopf. Ein Lenkrad rollte noch über die Straße. Als es an Schwung verlor, fiel es kreiselnd um, und alles war eigenartig still, bis Sirenen ertönten – es klang, als trauerten sie bereits. Eine Frau ging vorbei; ihr Kleid war vom Halsausschnitt bis zum Saum aufgerissen, als wäre es eigens so entworfen, damit man ihre Brustwunde besser sehen konnte. Ein Mann beugte sich zu mir, um mir aufzuhelfen. Wir rannten ein paar Meter weiter und trennten uns dann. Ich taumelte um die Ecke in die Molesworth Street, als mich ein Guard anhielt und auf die Blutflecken auf meinem Hemd zeigte. Ich fiel in Ohnmacht. Als ich im Krankenhaus erwachte, sagte man mir, ich hätte ein Stück meines rechten Ohrläppchens verloren, als ich gegen die eiserne Spitze des Zauns geschleudert worden sei. Eine Zierspitze in Form einer Fleur de lis. Wie ironisch. Ich hatte ein Stück Ohr auf der Straße verloren. Im Übrigen war alles intakt, sogar mein Gehör.

Im Krankenhaus hatte die Polizei auf der Suche nach Ausweispapieren meine Taschen durchwühlt. Ich wurde wegen Drogenbesitz festgenommen und vor Gericht gebracht. Der Richter hatte Mitleid mit mir und sagte, es sei eine unrechtmäßige Durchsuchung gewesen. Dann ermahnte er mich und ließ mich laufen. Ich ging auf dem kürzesten Weg zu einem Reisebüro in der Dawson Street und kaufte mir ein Flugticket.

Mit einem afghanischen Mantel, einer langen Halskette und einer zerlesenen Ausgabe von Howl kam ich am John F. Kennedy Airport an. Die Zöllner kicherten. Als ich alles wieder in meinem Rucksack verstaut hatte, riss die Deckellasche ab.

Ich hielt nach Corrigan Ausschau – er hatte mir eine Postkarte geschrieben und versprochen, mich abzuholen. Dreißig Grad im Schatten, die Hitze traf mich wie ein Axthieb. Im Wartebereich herrschte Hochbetrieb. Familien liefen durcheinander und suchten nach Fluginformationen. Taxifahrer hatten etwas schimmernd Bedrohliches. Weit und breit keine Spur von meinem Bruder. Ich saß eine Stunde auf meinem Rucksack, bis ein Polizist mich mit seinem Schlagstock anstieß und mir das Buch aus den Händen schlug.

In Hitze und Lärm stieg ich in einen Bus. Später, in der U-Bahn, stellte ich mich unter einen rotierenden Ventilator. Eine schwarze Frau stand neben mir und fächelte sich mit einer Zeitschrift Luft zu. Unter ihren Armen hatte sie große, ovale Schwitzflecken. Ich hatte noch nie eine Schwarze aus solcher Nähe gesehen. Ihre Haut war so dunkel, dass sie beinahe blau wirkte. Ich wollte sie berühren, einen Finger auf ihren Unterarm drücken. Sie bemerkte meinen Blick und zog an ihrer Bluse. «Was glotzt du?»

«Irland», stotterte ich. «Ich bin aus Irland.»

Sie warf mir einen weiteren Seitenblick zu. «Kein Scheiß», sagte sie. Der Zug hielt mit quietschenden Bremsen im U-Bahnhof 125th Street, und sie stieg aus.

Als ich in der Bronx ankam, brach bereits die Dunkelheit herein. Ich trat aus dem U-Bahnhof in die abendliche Wärme. Grauer Backstein und Reklametafeln. Aus einem Radiorecorder drangen rhythmische Klänge. Ein Junge in einem ärmellosen T-Shirt wirbelte auf einem Stück Pappkarton herum, wobei der Drehpunkt seines Körpers die Schulter war. Die Konturen lösten sich auf. Keine Grenzen. Hände auf dem Boden, während die Füße einen weiten Kreis beschrieben. Er sank in sich zusammen und rotierte dann plötzlich auf dem Kopf, bog sich rückwärts durch und sprang auf die Füße. Reine Schwärze.

Auf dem Concourse standen wartend ein paar Taxis. Alte weiße Männer mit breitkrempigen Hüten. Ich warf den Rucksack in den Kofferraum eines riesigen schwarzen Wagens.

«Die haben Hummeln im Hintern, Mann», sagte der Fahrer, als er sich über die Lehne zu mir umsah. «Meinst du, aus dem Burschen da wird nochmal was? Nachdem er sich auf seinem Scheißkopf gedreht hat?»

Ich zeigte ihm den Zettel mit Corrigans Adresse. Er grunzte irgendwas von Servolenkung – dass sie so was in Vietnam nicht gehabt hätten.

Nach einer halben Stunde fuhr er abrupt rechts ran. Wir waren auf verschlungenen Wegen im Kreis gefahren. «Macht zwölf Dollar, Junge.» Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Ich warf das Geld auf den Beifahrersitz und holte den Rucksack aus dem Kofferraum. Bevor ich den Deckel schließen konnte, fuhr das Taxi weiter. Ich drückte mein Buch an die Brust. Ich sah die besten Geister meiner Generation. Der Kofferraumdeckel des Taxis wippte noch einmal hoch und klappte dann zu, als der Wagen an der nächsten Ampel scharf abbog und verschwand.

Auf der einen Straßenseite stand hinter einem Maschendrahtzaun eine Reihe von Wohnblocks. Hier und da war der Zaun mit Stacheldraht versehen. Gegenüber verlief auf hohen Betonstelzen die Schnellstraße; dort oben zischten die Lichter der Autos vorbei. Unten standen in einer langen Reihe Frauen. Pkws und Laster schoben sich durch die Schatten. Die Frauen warfen sich in Positur. Sie trugen Hotpants, Bikinioberteile und Badeanzüge, als wäre hier, mitten in der Stadt, ein bizarrer Strand. Im trüben Licht unter der Hochbrücke reichte der Schatten eines angewinkelten Arms bis zur Schnellstraße. Ein Stilettoabsatz kletterte über den Stacheldraht des Zauns. Ein Bein streckte sich, bis es halb so lang war wie ein Häuserblock.

Unter den Betonträgern der Schnellstraße flogen Nachtvögel hervor, strebten für einen Augenblick zum Himmel, kehrten jedoch um und verschwanden wieder im Dunkel.

Eine Frau trat zwischen den Stelzen hervor, eine Schwarze, die einen am Kragen offenen Pelzmantel und kniehohe Stiefel trug. Sie stellte sich breitbeinig hin, und als ein Wagen vorüberfuhr, öffnete sie beide Mantelschöße weit. Darunter war sie nackt. Der Wagen hupte und fuhr schnell davon. Sie schrie ihm etwas nach und kam auf mich zu. In der Hand hielt sie etwas, das wie ein Sonnenschirm aussah.

Ich suchte die Balkone nach einem Hinweis auf Corrigan ab. Die Straßenlaternen flackerten. Eine Plastiktüte wirbelte vorbei. An einer Telefonleitung hing ein Paar Schuhe.

«Na, Süßer?»

«Ich bin pleite», sagte ich, ohne mich umzudrehen. Die Hure spuckte mir vor die Füße und hob den Sonnenschirm über den Kopf.

«Arschloch», sagte sie im Vorübergehen.

Auf der beleuchteten Seite der Straße blieb sie stehen und wartete unter ihrem Sonnenschirm. Jedes Mal, wenn ein Wagen vorbeifuhr, senkte und hob sie ihn und machte sich zu einem kleinen, in Licht und Dunkelheit getauchten Planeten.

So nonchalant wie möglich trug ich meinen Rucksack zu dem nächstgelegenen Häuserblock. Im Unkraut jenseits des Zauns lagen Spritzennadeln. Jemand hatte das Schild am Eingang mit Farbe besprüht. Ein paar alte Männer saßen vor der Eingangshalle und fächelten sich Luft zu. Sie sahen klapprig und hinfällig aus – die Art von alten Männern, die sich bald in leere Stühle verwandeln würden. Einer von ihnen nahm den Zettel, auf dem die Adresse meines Bruders stand, schüttelte den Kopf und sackte wieder in sich zusammen.

Ein Junge rannte vorbei. Ein metallisches Geräusch ertönte, ein blechernes Klacken. Er verschwand im Dunkel eines Treppenhauses und zog einen Geruch von frischer Farbe hinter sich her.

Ich bog um eine Ecke und stand vor einer anderen Ecke. Hier bestand alles nur aus Ecken.

Corrigans Wohnung war in einem grauen Wohnblock. Im vierten von zwanzig Stockwerken. Neben dem Klingelknopf ein kleiner Aufkleber: Frieden und Gerechtigkeit in einem Dornenkranz. Fünf Schlösser, von denen keines funktionierte. Ich gab der Tür einen Stoß. Sie schwang auf und knallte gegen die Wand. Weißer Staub rieselte zu Boden. Ich rief seinen Namen. Bis auf ein Sofa mit zerrissenem Bezug, einem niedrigen Tisch und einem schlichten Kruzifix über dem schmalen hölzernen Bett war der Raum leer. Die Kniebank stand an der Wand. Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Boden, als wären sie in ein Gespräch vertieft: Thomas Merton, Rubem Alves, Dorothy Day.

Erschöpft ließ ich mich auf das Sofa sinken.

Ich erwachte, als die Hure mit dem Sonnenschirm hereinpolterte. Sie wischte sich über die Stirn und warf die Handtasche neben mich auf das Sofa. «Hoppla», sagte sie, «’tschuldigung, Süßer.» Ich wandte den Kopf ab, damit sie mich nicht erkannte. Sie ging durchs Zimmer und zog dabei den Pelzmantel aus. Bis auf die Stiefel war sie nackt. Sie blieb einen Augenblick stehen und musterte sich in einer langen Spiegelscherbe, die an der Wand lehnte. Ihre Oberschenkel waren glatt und gewölbt. Sie fuhr mit der Hand über ihren Hintern, seufzte, reckte sich und rieb ihre Brustwarzen, bis sie hart wurden. «Verdammt», sagte sie. Dann ertönte aus dem Badezimmer das Geräusch fließenden Wassers.

Als sie wieder erschien, war der Lippenstift aufgefrischt und ihr Gang schwungvoller. Der Geruch eines Parfüms erfüllte die Luft. Sie warf mir einen Kuss zu, schwenkte den Sonnenschirm und verschwand.

Das wiederholte sich fünf- oder sechsmal. Der Türknopf wurde gedreht. Das Klacken hochhackiger Schuhe auf den nackten Dielenbrettern. Jedes Mal war es eine andere Hure. Eine beugte sich sogar über mich und ließ ihre langen, dünnen Brüste vor meinem Gesicht baumeln. «Collegebubi», sagte sie, und es klang wie ein Angebot. Ich schüttelte den Kopf, und sie sagte knapp: «Hab ich mir gedacht.» An der Tür drehte sie sich um und sagte: «Bevor du nochmal so was Gutes siehst, kommen Rechtsanwälte in den Himmel.»

Lachend ging sie den Flur hinunter.

Im Badezimmer stand ein kleiner Abfalleimer aus Blech. Tampons und benutzte, in Papiertaschentücher gewickelte Kondome, die aussahen wie traurige Polypen.

Später weckte mich Corrigan. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Er trug eins von den dünnen Hemden, die er schon seit Jahren hatte: schwarz, kragenlos, mit langen Ärmeln und Holzknöpfen. Er war schmal, als hätte das schiere Gewicht der Armen ihn noch ein wenig mehr abmagern lassen. Er hatte Koteletten, sein Haar war schulterlang und an den Schläfen bereits grau. Im Gesicht waren ein paar kleine Schnitte, und sein rechtes Auge war geschwollen. Er sah älter aus als einunddreißig.

«Eine schöne Welt, in der du da lebst, Corrigan.»

«Hast du mir Tee mitgebracht?»

«Was ist mit dir? Mit deiner Wange? Die ist aufgeplatzt.»

«Sag mir, dass du mir wenigstens ein paar Teebeutel mitgebracht hast, Bruder.»

Ich öffnete den Rucksack. Fünf Schachteln seiner Lieblingssorte. Er küsste mich auf die Stirn. Seine Lippen waren trocken. Die Bartstoppeln kratzten.

«Wer hat dich verprügelt, Corr?»

«Mach dir um mich keine Sorgen. Lass mich dich ansehen.»

Er strich über mein rechtes Ohr, an dem ein Stück des Ohrläppchens fehlte.

«Alles in Ordnung?»

«Das ist ein Andenken, würde ich sagen. Bist du noch immer Pazifist?»

«Noch immer», sagte er grinsend.

«Du hast nette Freundinnen.»

«Die müssen ab und zu mal das Badezimmer benutzen. Aber sie dürfen keine Freier mitbringen. Haben sie doch auch nicht, oder?»

«Sie waren nackt, Corrigan.»

«Nein, waren sie nicht.»

«Wenn ich’s dir doch sage, Mann: Sie waren nackt.»

«Sie mögen eben keine hinderliche Kleidung», sagte er mit einem kleinen Lachen. Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte mich aufs Sofa. «Außerdem hatten sie mindestens Schuhe an. Wir sind hier in New York. Hier brauchen sie gute Stilettos.»

Er drehte sich um, füllte den Wasserkessel und stellte zwei Tassen hin.

«Mein überaus ernsthafter Bruder», sagte er, doch sein Lächeln erstarb, als er den Herd anstellte. «Mensch, die sind verzweifelt. Ich will ihnen ja nur ein Plätzchen geben, wohin sie sich mal zurückziehen können. Wo sie raus sind aus dem Geschehen. Wo sie sich ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzen können.» Er wandte mir den Rücken zu. Ich musste daran denken, wie er sich einmal bei einem unserer Spaziergänge recht weit von uns entfernt hatte und von der aufkommenden Flut auf einer Sandbank eingeschlossen worden war: Corrigan, allein auf der Sandbank, umspielt vom Licht, während Stimmen vom Ufer seinen Namen riefen. Der Kessel pfiff laut und schrill. Selbst von hinten sah mein Bruder aus wie einer, der verprügelt worden war. Ich sagte seinen Namen, einmal, zweimal. Beim dritten Mal zuckte er zusammen, drehte sich um und lächelte. Es war fast wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war: Er hatte aufgeblickt und gewinkt und war, bis zum Bauch im Wasser, zum Strand gewatet.

«Bist du hier allein, Corr?»

«Ist bloß für eine Weile.»

«Keine Ordensbrüder? Keine anderen?»

«Tja, ich lerne die elementaren Gefühle kennen», sagte er. «Hunger, Durst, die Müdigkeit am Ende des Tages. Ich fange an, mich zu fragen, ob Gott da ist, wenn ich mitten in der Nacht aufwache.»

Er schien zu einem Punkt über meiner Schulter zu sprechen. Er hatte Ringe unter den tief in den Höhlen liegenden Augen. «Das gefällt mir an Gott. Man lernt Ihn durch Seine gelegentlichen Abwesenheiten kennen.»

«Geht’s dir gut, Corr?»

«So gut wie noch nie.»

«Wer hat dich zusammengeschlagen?»

Er wandte den Blick ab. «Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem der Zuhälter.»

«Warum?»

«Darum.»

«Also warum?»

«Weil er der Ansicht war, dass ich sie von der Arbeit abhalte. Der Typ nennt sich Birdhouse. Hat nur ein gutes Auge. Kannst dir ja vorstellen, warum. Er ist gekommen, hat angeklopft und hallo gesagt, hat mich Bruder genannt und war sehr nett und höflich. Hat sogar seinen Hut am Türknopf aufgehängt. Hat sich aufs Sofa gesetzt, das Kruzifix angesehen und gesagt, dass er für Priester was übrighat. Und dann hat er ein Stück Bleirohr hervorgeholt, das er in meinem Badezimmer abmontiert hatte. Stell dir vor. Die ganze Zeit, als er hier herumgesessen hat, lief im Badezimmer das Wasser an der Wand herunter.»

Er zuckte die Schultern.

«Aber sie kommen noch immer», sagte er. «Die Mädchen. Ich fordere sie nicht direkt dazu auf. Aber was sollen sie machen? Auf der Straße pinkeln? Es ist ja nicht gerade viel. Bloß eine kleine Geste. Ein Ort, wo sie sich aufhalten können. Wo sie aufs Klo gehen können.»

Er stellte den Tee und einen Teller mit Keksen auf den Tisch, holte seine Kniebank – einen schlichten kleinen Hocker, auf dem er im Knien sitzen konnte – und dankte Gott für die Kekse, den Tee und das Kommen seines Bruders.

Er hatte das Gebet noch nicht beendet, als die Tür aufflog und drei Huren hereinkamen. «Oh, hier drinnen schneit’s», rief die mit dem Sonnenschirm und blieb unter dem Deckenventilator stehen. «Hallo, ich bin Tillie.» Sie verströmte Wärme, auf ihrer Stirn standen winzige Schweißperlen. Sie legte den Sonnenschirm auf den Tisch und sah mich mit einem halben Grinsen an. Sie war so zurechtgemacht, dass sie die größte Wirkung auf einige Entfernung entfaltete: Sie trug eine riesige Sonnenbrille mit rosarotem Rahmen und glitzerndes Augen-Make-up. Eine andere küsste Corrigan auf die Wange, stellte sich dann vor die hohe Spiegelscherbe und begann, an sich herumzuzupfen. Die Größte, die ein weißes, ziemlich durchsichtiges Minikleid trug, setzte sich neben mich. Sie sah aus, als wäre sie halb schwarz, halb mexikanisch, war schlank und geschmeidig und hätte auch auf einen Laufsteg gepasst. «Hallo», grinste sie. «Ich bin Jazzlyn. Du kannst mich Jazz nennen.»

Sie war sehr jung – siebzehn oder achtzehn – und hatte ein grünes und ein braunes Auge. Ihre Wangenknochen wirkten durch das Make-up noch höher. Corrigan zog einen Stuhl an den Tisch. Sie nahm seine Tasse, blies auf den Tee, damit er abkühlte, und hinterließ einen Lippenstiftabdruck am Rand.

«Ich weiß nicht, warum du kein Eis in diesen Scheiß tust, Corrie», sagte sie.

«Ich mag’s eben nicht.»

«Wenn du Amerikaner sein willst, musst du Eis reintun.»

Die Hure mit dem Sonnenschirm kicherte, als hätte Jazz etwas wunderbar Gemeines gesagt. Es war, als verständigten sie sich mittels eines geheimen Codes. Ich rückte ein Stückchen weiter, doch Jazzlyn beugte sich zu mir und zupfte ein Stäubchen von meiner Schulter. Ihr Atem roch süß. Ich wandte mich wieder an Corrigan.

«Hast du ihn angezeigt?»

Mein Bruder machte ein verwirrtes Gesicht. «Wen?», fragte er.

«Den Kerl, der dich zusammengeschlagen hat.»

«Warum sollte ich ihn anzeigen?»

«Soll das ein Witz sein?»

«Nein. Warum sollte ich ihn anzeigen?»