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Panikorchester oder Zukunftspartei – Die Grünen Gut, dass wir die Grünen haben! Ohne sie wäre der Rhein noch vergiftet und Debatten über Nitrat im Grundwasser, überdüngte Äcker und Insektensterben mit sehr viel weniger Engagement geführt worden. Gut, dass wir die Grünen haben? Sie waren gegen die NATO und die Deutsche Einheit. Sie wollen den Deutschen Veggie-Days und Böllerverbote vorschreiben, und Robert Habeck akzeptiert "notfalls" Enteignungen für mehr Mietraum. Und sie rütteln am Fundament unseres Wohlstands: Ausstieg aus der Kernkraft, Kohlekompromiss, Gasausstieg, am liebsten 100 Prozent Erneuerbare aber wie das gehen soll, weiß keiner so genau. Noch dazu am liebsten eine radikale Verkehrswende samt Abschied vom Auto und in der Migrationspolitik ein "Bleiberecht für alle", ohne Wenn und Aber. Ansgar Graw, Chefreporter der WELT, beobachtet die Grünen aus nächster Nähe –und auch hinter den Kulissen. Er hat mit den führenden Politikern der Partei, mit internen Kritikern und mit vielen Veteranen der ersten Stunde gesprochen. Herausgekommen ist eine kritische, aber faire Bilanz grüner Politik.
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Meiner Frau Anja Georgia mit Dank für etliche inhaltliche Anregungen. Und ihr und unserer Tochter für ihre Geduld mit dem Autor in der Phase des Schreibens.
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Originalausgabe, 1. Auflage 2020
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Redaktion: Daniel Bussenius
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Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-95972-271-1
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Fünf Thesen zur Macht der Grünen
Kapitel 1 Die Farbe Grün
Historie Wie sich Rudi Dutschke an Herbert Gruhl vorbeimogelte
Kapitel 2 Die halbherzige Umweltpolitik von Union und SPD
Kapitel 3 Totalitarismus, Liberalismus, Ökomoralismus
Kapitel 4 Wir wissen alles über den Klimawandel – und fast nichts
Kapitel 5 Der Klimawandel hat Folgen – auch positive
Kapitel 6 Überfluss an Gesellschaft statt Überflussgesellschaft
Kapitel 7 Wie die Republik unter Schwarzen, Roten und Gelben grün wird
Kapitel 8 Neue Deutsche Welle: Robert Habeck, Annalena Baerbock und der grüne Griff nach der Macht
Historie Staatsknete für Staatsgegner oder: Wie die K-Gruppen die Grünen übernahmen
Historie Nicht mehr links, doch wieder links, gegen Jamaika, für Jamaika – und für Grün-Rot-Rot
Kapitel 9 Veggie-Day und Sitzenbleiben: Sind die Grünen Gestaltungs- oder Verbotspartei?
Kapitel 10 Zur Ehrenrettung der Grünen: Legenden und gefälschte Zitate im Netz
Kapitel 11 Was Greta Thunberg verdient
Kapitel 12 Der CO2-Fußabdruck der »Generation Panik«
Kapitel 13 Die Grünen, der Moralismus und die Doppelmoral
Kapitel 14 Die drohende Ökodiktatur
Historie Die Anti-SPD-Partei
Kapitel 15 Grünen-Prinzipien: Basisdemokratie, imperatives Mandat, Rotation und Promi-Verbot
Historie Grüne und Gewalt: Briefe an die RAF
Kapitel 16 »Burn Capitalism«: Fridays for Rebellion
Historie »Nie wieder Deutschland«
Kapitel 17 Warum die Grünen nicht mehr aus der Nato wollen
Kapitel 18 Für Europa – zusammen mit »progressiven Nationalisten«
Kapitel 19 Öko-Wirtschaft und Wohlfühl-BIP: Warum Grüne keine Liberalen sein können
Kapitel 20 Das grüne Panikorchester und die Atomkraft
Kapitel 21 Die untaugliche Verkehrswende
Kapitel 22 Können Grüne regieren? Von Rot-Grün im Bund über R2G in Berlin bis zum »Kretsch« in Stuttgart
Kapitel 23 Grüne Verirrung: Die Pädophilie-Debatte
Kapitel 24 Der Traum von offenen Grenzen und linkem Patriotismus
Kapitel 25 Die gescheiterte Energiewende
Kapitel 26 Warum Grüne und AfD einander brauchen
Kapitel 27 Grüner Feminismus
Kapitel 28 Die Kraft der Innovationen oder: Wie leben wir 2050?
Kapitel 29 Die Zukunft der Farbe Grün
Über den Autor
Literaturverzeichnis
Grün steht für Hoffnung. Und für Macht? Die Grünen sind in Deutschland an der Macht, unabhängig von Regierungskoalitionen und der Zahl von Abgeordneten. Wenn vor allem die Periode des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg christdemokratisch geprägt war, 1968 eine sozialdemokratische Periode einleitete und kurz nach dem Jahrtausendwechsel die Zeit des Liberalismus gekommen zu sein schien, dann erleben wir heute eine grüne Hegemonie.
Dieses Buch zeigt auf, so lautet die erste These, dass in Deutschland ein grüner Konformismus herrscht. Ein Konformismus, der politische Entscheidungen vorantreibt, aber sich nicht auf die Politik beschränkt. Er hat Auswirkungen darauf, wie wir leben und denken. Oder zumindest vorgeben, zu leben und zu denken. Nach der politischen Korrektheit hat sich eine ökologische Korrektheit entwickelt, die keinen geringeren Anspruch erhebt, als die Welt zu retten.
Der Klimawandel ist real, und der Mensch trägt eine Mitverantwortung daran. Aber die gesellschaftliche Polarisierung über die richtige Balance zwischen Klimaschutz und Erhalt von Arbeitsplätzen und Wohlstand, dies ist die zweite These des Buches, wird weiter zunehmen, weil die CO2-Emissionen in jedem Fall auf absehbare Zeit steigen werden – schon wegen des rasanten Wachstums der Weltbevölkerung, das nach UN-Prognosen erst zur nächsten Jahrhundertwende stagnieren wird. Mehr Menschen bedeuten mehr Energiebedarf, mehr Konsum, mehr Produktion. Das begünstigt den Populismus auf beiden Seiten. »Die Wirtschaft wird ruiniert«, sagen die einen, »der Planet stirbt«, warnen die anderen.
Dritte These: Eine globale anhaltende Steigerung von CO2-Emissionen wird in Teilen der grünen Bewegung, zu der die Kids von Fridays for Future und die Untergangspropheten von Extinction Rebellion gehören, als Versagen der Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie verstanden. Enttäuschte Klimaaktivisten erleben, dass auch die Grünen zähe Kompromisse schließen müssen. Möglicherweise entsteht eine Party for Future, eine radikalgrüne Partei deutlich links von den heutigen Grünen. Und während es bislang nur einzelne verirrte Befürworter ökodiktatorischer Maßnahmen gibt, droht diese Stimmung vor einem solchen Hintergrund zu wachsen.
Die vierte These: Panik ist nicht angezeigt. Innovationen und Marktmechanismen sind die Lösung. Und: Eine Rehabilitierung neuer Generationen der Kernkraft, die bei näherer Betrachtung ohnehin keine Hochrisikotechnologie ist, mag dazugehören. Zukunftsvertrauen ist gefragt. Leider begegnet uns das Grüne derzeit allzu häufig als fantasiebefreites Ressentiment wider die Moderne.
These Nummer fünf: Wenn die Grünen, als Idee, an der Macht sind, und die Grünen, als Partei, nach der Macht greifen, ist es wichtig, auf die Geschichte der Grünen zurückzublicken. Auf die wichtigen und positiven Beiträge, die sie seit 1980 für die Sensibilisierung unseres ökologischen Gewissens geleistet haben. Aber auch auf ihre ideologischen Irrungen und politischen Versäumnisse. Sie standen häufig auf der falschen Seite der Geschichte. Darum ist das Fundament dünn, auf dem sie jetzt als Kompass in unsere Zukunft weisen wollen.
Grün, es sei wiederholt, ist Hoffnung. Grün ist sympathisch. Grün ist die Farbe der Flora. Grün steht seit Jahrhunderten für Natur, Wachstum und Fruchtbarkeit. Für das, was in Ordnung ist: »Wie geht’s?« – »Danke, alles im grünen Bereich.«
Grün hat weltweit eine hohe Symbolkraft. In den USA steht Grün wegen der Farbe der Dollarnoten, der Greenbacks, für Geld und für die Wall Street. Die amerikanische Freiheitsstatue schimmert grün, obwohl sie bei ihrer Enthüllung 1886 noch bräunlich glänzte – dann reagierte die Kupferummantelung auf Luft und Regen. Fast alle Wüstenstaaten haben ein grünes Element in ihrer Fahne, das Oase und Wasser und Leben versinnbildlicht – und den Islam. Die zu ihren Ahnen und einem Gott namens Mukuru betenden Himba im Norden Namibias kennen mehr Begriffe für »Grün«, als es in der deutschen oder englischen Sprache gibt, aber nicht einen einzigen für »Blau«.
Grün ist Malerei. Albrecht Dürer, der als erster überlebensgroßer Künstler Pflanzen, Gräser und Rasenstücke am Wegesrand in ihrem scheinbar trivialen Grün festhielt, wurde zum »Columbus der Naturstudie«. Johann Wolfgang von Goethe definierte in seiner Farbenlehre Grün als Symbiose aus Hell und Dunkel: »Zunächst am Licht entsteht uns eine Farbe, die wir Gelb nennen, eine andere zunächst an der Finsternis, die wir mit dem Wort Blau bezeichnen. Diese beiden, wenn wir sie in ihrem reinsten Zustand dergestalt vermischen, bringen eine dritte hervor, welche wir Grün heißen.«1
Grün ist Literatur. In Gottfried Kellers monumentalem, teils autobiografischem Bildungsroman Der grüne Heinrich taucht die Farbe wiederkehrend auf. Da ist vom »grünsten Grün« des Grases die Rede und von einer »grünen Seele«, es »schimmert das verborgene Grün durch den dunklen Hausflur so kokett auf die Gasse«, und der Protagonist, ein an sich ebenso zweifelnder Maler, wie es der Schweizer Keller vor seiner Zeit als Literat war, erhält den Spitznamen, der zum Buchtitel wurde, weil ihm seine Mutter aus dem grünen Frack des früh verstorbenen Vaters einen Anzug schneiderte. Das Buch Kellers, des »größten deutschen Realisten« (so der ungarische Philosoph und Literaturkritiker Georg Lukács2), endet mit den Schlussworten des alt gewordenen Erzählers, alles habe sich gefügt, um »noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln«.3
Die österreichische Autorin Maria Grengg beschrieb 1930 in ihrem Erfolgsroman Die Flucht zum grünen Herrgott eine Frau, die von ihrem brutalen und verständnislosen Ehemann enttäuscht wird und ihren Frieden in und mit der Tiroler Natur findet – und in der letzten Passage des Buches kommen »all die guten Geister« und »umringten sie wie die Engel am Fass der grünen Jägerin die himmlische Maria umschwebten«.4 Grengg, die gefeierte Heimatdichterin, wurde eine glühende Nationalsozialistin und Verehrerin Adolf Hitlers. Grün, das sei nicht vergessen, ist ambivalent. Es steht auch für Neid, für Gift. Wem übel ist, der wird grün im Gesicht. Wen man nicht mag, dem ist man nicht grün. Und es steht für mangelnde Erfahrung: für das »Greenhorn« in der englischen Sprache, den unbedarften Neuling im Wilden Westen, für den überforderten Anfänger. Das entspricht dem deutschen Tadel: »Du bist ja noch grün hinter den Ohren.«
Aber diese Interpretation ist schon wieder von Sympathie getragen für die Jungen, die sich noch entwickeln werden: Die Partei der Grünen sei 1980 »aus einem ›Crosby, Stills, Nash & Young‹-artigen Gefühl des ›We can change the world‹ gegründet worden«, schreibt der taz-Autor Peter Unfried unter Anspielung auf den Text des Titels »Chicago« der Folkrock-Band.5
Die Deutschen waren grün, bevor es die Grünen gab. Das Grüne, das Naturliebende und gelegentlich -verklärende liegt den Deutschen spätestens seit der Romantik im Blut. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert schufen deutsche Maler wie Caspar David Friedrich und Literaten wie Novalis, die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel oder Clemens Brentano eine gefühlsdominierte Gegenästhetik zu der insbesondere von ihrem Landsmann Immanuel Kant vorangetriebenen Vernunft der Aufklärung. »Waldeinsamkeit, / Du grünes Revier, / Wie liegt so weit / Die Welt von hier!«, schwärmte Joseph von Eichendorff. Das Erleben des deutschen Waldes, aber auch exotischer Landschaften, die vermeintliche Wahrhaftigkeit des unverbildeten Volkes auf dem Land und die Suche nach der metaphysischen Wahrheit hinter der empirisch erfassbaren Welt gehören zum Kanon der deutschen Kultur.
Die deutsche Schwärmerei distanzierte sich von der in Zeiten einer enger werdenden Welt als rücksichtslos gelesenen Botschaft aus Genesis 1,28: »Füllet die Erde und machet sie euch untertan.« Sie war auch ein Gegenentwurf zu Friedrich Nietzsches auf das 20. Jahrhundert bezogene Allmachtfantasien: »Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch die Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann ... Statt Kunstwerke zu schaffen, wird man die Natur im großen Maße verschönern in ein paar Jahrhunderten Arbeit, um die Alpen aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben.«6
Die Alpen verschönern! Die Schöpfung vervollkommnen! Solche Vorstellungen eines stadtmüden, in anderen Fragen ausgesprochen scharfsinnigen Denkers lassen nicht mehr lachen angesichts von Plänen, im Tiroler Ötztal eine Bergspitze östlich des Linken Fernerkogels um 36 Meter zu kürzen, um mittels einer Seilbahn zwei Skigebiete zu verbinden.7 Sie machen das Erstarken des ökologischen Gedankens nachvollziehbar – und zugleich bleiben die touristischen Wünsche vieler Skifahrer und ökonomische Interessen der Anwohner legitim.
Grün ist kein deutsches Monopol. Es gibt in anderen Ländern ebenfalls erfolgreiche Umweltparteien, darunter die »Groen« in Flandern und »Ecolo« in Wallonien, die beide im gesamtbelgischen Senat vertreten sind und im Parlament eine Fraktion bilden. In Luxemburg sitzen sie in der Regierung. In Frankreich avancierte »Europe Écologie – Les Verts« bei der Europawahl 2019 zur drittstärksten Partei. In Österreich bilden die Grünen nach den Skandalen um den vormaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache seit Januar 2020 mit der dezidiert konservativen FPÖ von Sebastian Kurz eine schwarz-grüne Koalition. Der Wirtschaftswissenschaftler Alexander van Bellen, ein Grüner mit sehr bürgerlichem Auftreten, nicht unähnlich dem Schwaben Winfried Kretschmann, wurde als formal unabhängiger Kandidat im Januar 2017 zum neunten österreichischen Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt.
In Island wurde die Links-Grüne Bewegung im Oktober 2017 zweitstärkste Partei, so dass die Vorsitzende Katrín Jakobsdóttir ein Bündnis schmieden und Ministerpräsidentin werden konnte. In Finnland gelangten die Grünen im Sommer 2019 als Juniorpartner in die Regierung. In der Schweiz lag nach den Parlamentswahlen im Oktober 2019 zwar die konservative Schweizerische Volkspartei SVP weiterhin klar vorne, aber sie verlor Prozentpunkte. Gleich zwei Ökoparteien verdoppelten hingegen ihre Ergebnisse nahezu: Die klassischen linken Grünen, vergleichbar der deutschen Partei, kamen auf 13 Prozent, und die Grünliberalen, eine Art ökologische FDP, auf 7,8 Prozent. In den USA mit ihrem faktischen Zweiparteiensystem fristen die intern oft zerstrittenen Grünen ein Schattendasein. Ihr damaliger Spitzenkandidat Ralph Nader holte bei der Präsidentschaftswahl 2000 immerhin 2,7 Prozent. In Australien und Neuseeland sind grüne Parteien hingegen ernstzunehmende Kräfte; die United Tasmania Group (später Tasmanian Greens), gegründet am 23. März 1972 von dem Biologieprofessor Richard Jones, war die erste grüne Partei weltweit. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2019 kamen die australischen Greens als drittstärkste Partei auf gut 10 Prozent.
In der pazifischen Inselrepublik Vanuatu schaffte es der grüne Hinterbänkler Moana Carcasses Kalosil 2013 zuerst in die Regierung und schließlich gar in das Amt des Premiers. Der Schönheitsfehler an der Geschichte: Kalosil wurde 2015 wegen des Versuchs der Bestechung einzelner Abgeordneter abgesetzt und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.8
Grün ist die Modefarbe vor allem der deutschen Politik – und das begann nicht erst mit Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Anfang 2018 zu Grünen-Vorsitzenden gewählt und Ende 2019 eindrucksvoll bestätigt wurden. Große Koalitionen und selbst schwarz-gelbe Regierungen in Berlin fassen oder fassten Beschlüsse mit grünem Inhalt, während die Grünen in der Opposition sind oder waren: Quoten für Aufsichtsräte, Kohlekompromiss, den endgültigen Atomausstieg. Menschen kaufen bio, imkern auf dem Balkon, schämen sich für ihre Teneriffa-Flüge, radeln zur Arbeit und verehren Greta – kaum einer macht das alles, aber fast jeder zumindest etwas. Vieles davon ist positiv. Doch in der Summe wird es gefährlich, wenn auf der Straße eine Stimmung entsteht, nach der grüne Anliegen, vor allem das der Klimarettung, mehr Legitimität besäßen als andere Interessen, etwa das der Sicherung von Arbeitsplätzen, individueller Mobilität, Wohlstand und Freiheit. Wenn es nicht auf demokratischem Weg, durch Wahlen und in Parlamenten, gelingt, den grünen Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen, erscheint es vielen nahezu zwingend, Demokratie und Parlamente zur Disposition zu stellen.
Verstärkt wird dieser Trend durch die von Greta Thunberg inspirierte Fridays-for-Future-Bewegung. Idealistische junge Leute, vornehmlich Schüler und Studenten, weniger Auszubildende, demonstrieren gegen den Klimawandel, hüpfen für den Kohleausstieg und schwänzen freitags die Schule, um die Welt zu retten. Das hat etwas Anrührendes, etwas Tröstliches nach Jahrzehnten, in denen die Jugend als apolitisch galt. Aber da drängen zugleich Selbstgerechtigkeit, Intoleranz und Dogmatismus ins Bild. Wer sich entschieden hat, dass sein Weg der einzig richtige sei und, mehr noch, dass nur dieser Weg die Menschheit retten kann, sieht sich legitimiert, die gesetzliche Schulpflicht in Frage zu stellen oder Hauptverkehrsadern, Flughäfen, Kreuzfahrtschiffe oder Automessen zu blockieren. Und gegen den Kapitalismus, vulgo: unser Wirtschaftssystem zu agitieren. Wenn auch das nicht weiterhilft? Wer jeden Zweifel ausgeschlossen hat an der eigenen Wahrheit, akzeptiert kein Stoppschild.
Dabei ist trotz der medialen Dauerpräsenz grüner Kernanliegen der Eindruck falsch, für die gesamte Bevölkerung habe das Thema CO2-Emissionen Priorität. Die Immigration ist nach wie vor die größere Sorge der Europäer. 34 Prozent nannten in dem im Juni 2019 veröffentlichten »Eurobarometer« der Europäischen Kommission dieses Thema das »wichtigste«, dem sich die EU gegenübersehe. Der Klimawandel folgte mit 22 Prozent auf Platz 2, die wirtschaftliche Situation auf Rang 3 (18 Prozent). Unter den deutschen Befragten war die Reihenfolge nicht anders, auch wenn der Abstand mit 37 Prozent für das Immigrationsthema und 31 Prozent für den Klimawandel geringer ausfiel.9 Und während die Grünen im Juni 2019 im ARD-Deutschlandtrend mit 26 Prozent erstmals auf Platz 1 lagen und die Union um einen Punkt überflügelten, lehnten zugleich nahezu zwei Drittel der Deutschen die von den Grünen geforderte CO2-Steuer ab.10
Sieben von zehn Deutschen sagten laut diesem ARD-Deutschlandtrend, sie hätten ihre persönliche Einstellung zu Klima- und Umweltfragen aufgrund Greta Thunbergs Aktivitäten nicht (41 Prozent) oder kaum (31 Prozent) verändert. Nur wenige Deutsche gaben an, stark (17 Prozent) oder sehr stark (7 Prozent) von der jungen Schwedin und der »Fridays for Future«-Bewegung beeinflusst worden zu sein.
Laut Forschungsgruppe Wahlen wird bei der Frage nach »wichtigen Themen« mit klarem Vorsprung (und deutlich fallender Tendenz) der Komplex »Ausländer / Integration / Flüchtlinge« von rund 25 Prozent der Deutschen genannt. Erst auf die Anschlussfrage nach »weiteren wichtigen Themen« dominiert hingegen mit bis zu 60 Prozent »Umwelt / Klima / Energiewende«.11 Als der Versicherer R+V »die größten Ängste der Deutschen 2019« abfragte, rangierten »Überforderung des Staats durch Flüchtlinge« (56 Prozent) und »Spannungen durch Zuzug von Ausländern« (55 Prozent) ganz vorne. »Klimawandel« (41 Prozent) nahm lediglich Platz 12 ein.12
Die »grüne Hegemonie«, die Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo konstatierte (wir kommen darauf zurück), ist angesichts einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung und Polarisierung nicht begrenzt auf die Wahlergebnisse der grünen Partei. Grün ist an der Macht, weil andere Parteien grüne Themen zu kopieren versuchen und grüne Inhalte umsetzen, während die grüne Partei noch auf den Oppositionsbänken sitzt. Die CDU ist über die Jahre deutlich nach links gerückt, in der Wirtschafts- wie in der Migrationspolitik. Und die Sozialdemokraten seien gar »linker als die Linkspartei geworden und ökologischer als die Grünen«, sagte der einstige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im August 2019. Derweil bemüht sich Markus Söder um eine grüne Grundierung für die Christsozialen, von der Betonung des Schutzes der Schöpfung über einen vorgezogenen Kohleausstieg (was für den Freistaat ohne Kohlevorkommen eher unproblematisch ist) bis zur Frauenquote für Vorstandsämter in der CSU.
Selbst die AfD, deren Altvordere jeden nennenswerten menschengemachten Beitrag zum Klimawandel bestreiten, sah sich nach dem Ergebnis der Europawahl, bei der sie unter ihren Erwartungen blieb, vom Berliner Landesverband ihrer Jugendorganisation gedrängt, »von der schwer nachvollziehbaren Aussage Abstand zu nehmen, der Mensch würde das Klima nicht beeinflussen«.13
Darum sind die Grünen an der Macht als konsensuales Prinzip, ganz losgelöst von der Stärke der Partei. Dieses Prinzip hat den Kampf gegen die unübersehbaren Folgen der vom Menschen beschleunigten Erderwärmung, gegen schmelzende Gletscher und Polkappen, zur vordringlichen Aufgabe der Politik erhoben. Das Pariser Klimaabkommen vom Dezember 2015 proklamiert das Ziel, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf »deutlich unter« 2 Grad Celsius und nach Möglichkeit auf »nur« 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Doch es wird von Monat zu Monat schwieriger, Fachleute zu finden, die es für erreichbar halten. Gerade idealistische junge Menschen zweifeln aber an der Aufrichtigkeit der Erwachsenen, wenn der Kampf gegen CO2-Emissionen einerseits von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur »Menschheitsherausforderung« erklärt wird und die Regierungskoalition andererseits im September 2019 Maßnahmen beschließt, die zunächst niemandem weh zu tun scheinen. Von einem »Klimaschutzpaketchen« sprach Grünen-Chefin Annalena Baerbock im Herbst 2019. »Der homöopathische Einstieg in die CO2-Bepreisung von 10 Euro die Tonne CO2 wird keinerlei Lenkungswirkung entfalten«, kritisierten Umweltverbände wie Nabu, Greenpeace, BUND und WWF in einer gemeinsamen Stellungnahme.14 Oder tun die Maßnahmen doch weh? »Die Bundesregierung ist gerade dabei, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu ruinieren«, warnte BDI-Präsident Dieter Kempf. Ungerührt verschärfte der Bundesrat auf Druck der Grünen im Dezember die Maßnahmen.15
Die Wahrheit liege nicht in der Mitte, sondern nur in der Tiefe, hat der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler gesagt. Wer das »Klimaschutzprogramm 2030« der Bundesregierung als mutlos und ineffizient geißelt, muss nicht nur berücksichtigen, dass es auf eine bereits schwächelnde Konjunktur trifft in einem Industrieland, dessen Strompreise schon zuvor (neben denen Dänemarks und Belgiens) an der Spitze Europas lagen.16 Er sollte auch die Bilder der gewalttätigen Proteste der Gelbwesten oder »gilets jaunes« in Frankreich im Blick haben, die sich an einer ökologisch begründeten Mineralölsteuer entzündeten. Darum bemüht sich das Programm der Regierungskoalition um eine sachgerechte Balance. Auf der einen Seite schafft es den Einstieg in eine CO2-Bepreisung nicht mehr nur des Energiesektors, sondern nun auch für Gebäude und Verkehr. Auf der anderen Seite nimmt es Rücksicht auf soziale und wirtschaftliche Erfordernisse. Es enthält Anreize für Konsumenten und eine (zeitlich befristete) Kompensation etwa bei der Pendlerpauschale. Doch die Lenkungswirkung bleibt zunächst sehr gering. Subjektiv wird das Klimaschutzpaket vor dem Hintergrund der oft dröhnenden Öko-Rhetorik des Kanzleramts als unambitioniert empfunden. »Menschheitsherausforderungen«, so stellt man sich vor, dulden keinen Aufschub, sondern erfordern umgehend Blut, Schweiß und Tränen.
Das jedoch wäre ein Irrweg in einem Land, das 2,1 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß beiträgt – nicht etwa, weil es nicht lohnte, bei einer solchen überschaubaren Marge anzusetzen, sondern, ganz im Gegenteil, weil Deutschland mit diesen 2 Prozent und etwa 800 Millionen jährlich emittierten Tonnen Kohlendioxid zu den Top-Ten-Emittenten gehört. Darum muss es ein Vorbild sein. Aber eine Zerstörung der deutschen Wirtschaft durch noch höhere Energiepreise im Namen des Klimaschutzes samt Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen würde international eben nicht nachgeahmt, sondern als abschreckendes Beispiel dienen. Dann hätte Deutschland beim Klimaschutz mutig Tempo gemacht, und andere schauen eingeschüchtert zu, wie eine mächtige Wirtschaftsnation die Automobilbranche als ihren Motorblock ins Stottern bringt und letztlich abwürgt. Dem Beispiel würde niemand folgen.
Strategisch kommen den Grünen die moderaten Schritte der großen Koalition zupass, weil dadurch ihr Monopol auf radikalere Forderungen gewahrt bleibt. Das gilt, solange sie in der Opposition sind. Aber der nächsten Bundesregierung werden sie angehören – es ist wegen der Unberührbarkeit der AfD (insbesondere nach dem Abgang des ehemaligen CDUlers Alexander Gauland als Bundesvorsitzender im November 2019) politisch schlicht keine Koalition denkbar, die ohne die Grünen eine Mehrheit bekäme. Was aber, wenn die Partei an die Regierung kommt, vielleicht gar den Kanzler stellt und angesichts der Sachzwänge auf eine radikale Klimapolitik unter den Augen enttäuschter Jugendlicher verzichten muss? Wenn sich die Grünen entgegen ihrer »Wir können keine Minute mehr warten«-Rhetorik mit zähen Kompromissen begnügen müssen?
Dann kann links von den heutigen Grünen eine neue linksgrüne Fridays-for-Future-Partei entstehen, die zunächst als außerparlamentarische, später vielleicht als parlamentarische Opposition viel kompromissloser argumentieren und ganz offen das marktwirtschaftliche System ablehnen dürfte. Der linke Digitalexperte und Autor Johnny Haeusler nennt Schlagworte, bei denen Jugendliche wesentlich radikalere Forderungen stellen können als die um einigermaßen realpolitische Positionen bemühten Grünen. Dazu gehören aus seiner Sicht Europa, Nachhaltigkeit, Bildungspolitik, Jugendwahlrecht, Asylrecht, Verkehrspolitik, Stadtplanung, Tierrechte und Chancengleichheit. »Eine aus diesen Überlegungen und mit diesen Themen entstehende neue Partei, gegründet von den engagiertesten Köpfen von ›Fridays for Future‹, der erweiterten YouTube-Community und solidarischen, natürlich auch älteren Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, dem digital orientierten Bildungs- und Sozialwesen und vielen weiteren, auch bereits politisch aktiven Akteuren und Teilnehmenden von #wirsindmehr und #unteilbar, könnte nicht zuletzt durch den Einsatz von gekonnter Online-Kommunikation erfolgreich sein«, schreibt der Autor ohne Angst vor Bandwurmsätzen. Offenkundig hat Haeusler, Mitbegründer der Gesellschaftskonferenz re:publica, auch die Überreste der einstigen Piratenpartei dabei im Visier. Laut Haeusler zeigten sich FFF-Aktivisten bislang, »angesprochen auf eine solche Perspektive, eher wenig motiviert«. Doch »auf Dauer« lasse sich »Politik mit echter Nachhaltigkeit nur parlamentarisch machen.«17
Über 50 Prozent der Schüler bei Fridays for Future haben nach einer Befragung des Protestforschers Moritz Sommer keine Parteipräferenz. Diejenigen, die sich mit einer Partei identifizieren, sympathisieren zu 63 Prozent mit den Grünen.18 Laut Sommer sind die Klimaaktivisten gut beraten, sich »als Bewegung weiterzuentwickeln«. Ob es dann »in näherer Zukunft eine Parteientwicklung gibt, werden wir sehen«.19
Auch ohne die Entstehung einer linksgrünen Partei erlebt Deutschland eine weitere Linksverschiebung. Bündnis 90 / Die Grünen hat für die Wähler die Rolle eingenommen, die den Sozialdemokraten noch in der Bundestagswahl 2017 zugebilligt wurde. Seit ihrem Godesberger Programm hat sich die SPD als zuverlässiger innen-, außen- und sicherheitspolitischer Stabilisator der Bundesrepublik erwiesen und mehrfach als wichtiger Modernisierer. Das Votum der Genossen Ende November 2019 für die linke Doppelspitze Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (Botschaft auf Twitter: »Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.«20) war eine Absage an diese Modernisierung. Wo immer die Union mit der SPD künftig koaliert, wird sie noch größere Zugeständnisse machen müssen an deren neolinken Kurs. Und obwohl die SPD versuchen wird, die Grünen als »liberale« Partei zu denunzieren, fehlt für Grün-Rot-Rot nur noch das Votum des Wählers. Sollte es hingegen zu Schwarz-Grün kommen wie in Wien, liefe diese Konstellation eher auf Grün-Grün hinaus – weil der CDU in Deutschland das konservative Selbstverständnis fehlt, das die österreichische ÖVP des Sebastian Kurz zu einem ebenbürtigen Korrektiv für die Grünen macht.
1 Goethe, Johann Wolfgang von: Farbenlehre, ausgewählt und erläutert von Rupprecht Matthaei, Ravensburg 1971, S. 75.
2 Lukács, Georg: Gottfried Keller, (Ost-)Berlin 1947, S. 9 und 39.
3 Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich, München, o. J., S. 707.
4 Grengg, Maria: Die Flucht zum grünen Herrgott, Berlin 1930, S. 302.
5 Unfried, Peter: Das große Missverständnis, in: Kursbuch, 197, März 2019, S. 12 ff., hier S. 16.
6 Zit. nach Djuric, Mihailo: Nietzsche und die Metaphysik, Berlin 1985, S. 263.
7https://www.welt.de/politik/ausland/plus203914376/Oesterreich-Fusion-der-Skigebiete-Pitz-und-Oeztal-sorgt-fuer-Streit.html?wtrid=onsite.onsitesearch (2.12.2019)
8https://www.abc.net.au/news/2015-10-09/vanuatu-court-rules-on-mps-corruption-case/6842050 (14.8.2019).
9https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2253 (15.8.2019).
10https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/crbilderstrecke-583.html und https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klimapolitik-mehrheit-der-deutschen-gegen-co2-steuer-16314807.html (25.9.2019).
11http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Politik_II/ (31.10.2019).
12https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/grafiken-die-aengste-der-deutschen (1. 12. 2019)
13https://www.welt.de/politik/deutschland/article194321453/Nach-Europawahl-Berliner-AfD-Jugend-gegen-Leugnung-des-Klimawandels.html (25.10.2019).
14https://www.bund.net/service/presse/pressemitteilungen/detail/news/regierung-verweigert-notwendigen-klimaschutz/ (25.10.2019).
15https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klima-energie-und-umwelt/bdi-chef-kempf-die-regierung-ruiniert-die-industrie-16449690.html (25.10.2019).
16https://www.ee-news.ch/de/erneuerbare/article/41714/strompreise-in-europa-danemark-setzt-sich-an-die-spitze-und-verweist-deutschland-auf-platz-2 (25.10.2019).
17 Haeusler, Johnny: »Neue Zeit, neue Partei«, in: Berliner Zeitung, 19.7.2019.
18 Sommer, Moritz/Rucht, Dieter/Haunss, Sebastian/Zajak, Sabrina: »Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland«. Berlin 2019, S. 29.
19https://www.morgenpost.de/berlin/article226721795/Berlin-spielt-fuer-Fridays-for-Future-eine-zentrale-Rolle.html (22.10.2019).
20https://twitter.com/EskenSaskia/status/950285499926745089 (1.12.2019)
Rudi Dutschke kam im Dunkel der Nacht über die Grünen. Damit der frühere Studentenführer in die Geschäftsstelle der soeben eigens für die Europawahl gegründeten »sonstigen politischen Vereinigung« gelangen konnte, hatte Petra Kelly an jenem Abend im Herbst 1979 heimlich ein Fenster in dem kleinen Bungalow in der Bonner Friedrich-Ebert-Allee 120 offenstehen lassen. Sie hatte Angst, Herbert Gruhl, der vormalige CDU-Bundestagsabgeordnete und starke Mann in der Gründungsphase der neuen Partei, könne beim Anblick des linken Revoluzzers und Bürgerschrecks das von ihm angemietete gemeinsame Parteibüro »platzen lassen«, erzählte Kelly später.1 Das zeige, »welche Autoritätsperson Gruhl sein wollte, wie intolerant er war«.
Die Anekdote deutet die Gegensätze zwischen den Initiatoren der neuen politischen Kraft an. Würden die Grünen als »Bewahrer der Schöpfung« antreten oder als Feinde des Kapitalismus? »In der Anfangsphase war völlig offen, ob die Grünen eher ein emanzipatorisches, linkes Projekt würden oder ein sehr konservatives, fast ein Blut-und-Boden-Projekt«,2 sagt Ludger Volmer, einer der Parteilinken, der gleichwohl früh auf Regierungsbeteiligungen setzte und in der rot-grünen Bundesregierung Staatsminister im Auswärtigen Amt wurde – der Aufpasser der Linken für Joschka Fischer, wurde damals geunkt.
Es war ein verwirrendes Geflecht unterschiedlicher Strömungen: Da gab es die konservativen Ökologen um Gruhl, den Autor des 1976 erschienenen Bestsellers Ein Planet wird geplündert, und den Biobauern Baldur Springmann. Petra Kelly, geboren bei München, aufgewachsen in den USA, sozialisiert in Brüssel und bis kurz zuvor Mitglied der SPD, war das authentische Gesicht der Grünen als Bewegung, als »Antiparteien-Partei«. Sie wurde 1992 von ihrem Lebensgefährten, dem Grünen-Abgeordneten Gerd Bastian, im Schlaf erschossen, bevor sich der Ex-General selbst richtete. Ein linker Gegenspieler Gruhls war der RAF-Verteidiger Otto Schily, lange Zeit der einzige Krawattenträger in der Partei; er wechselte 1990 zur SPD und wurde Bundesinnenminister. Für eine sehr kurze Zeit schien Rudi Dutschke eine Anknüpfung an die Veteranen der Studentenbewegung zu verkörpern; schon zu Weihnachten 1979 sollte der gesamtdeutsch denkende Sozialist allerdings an den Spätfolgen des Attentats auf ihn im Jahr 1968 sterben. Die Nationalneutralisten in der »Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher« (AUD) um den CSU-Mitbegründer August Haußleiter suchten einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus und zwischen West und Ost. Der international bekannte Künstler Joseph Beuys war ein Vertreter der Anthroposophen, die sich auf Rudolf Steiner beriefen; Lukas Beckmann, später lange Jahre Bundesgeschäftsführer der Grünen, stammte aus diesem Kreis. Zu den undogmatischen Linken gehörten die pazifistischen »Ökopaxe«, aber auch linke »Spontis«, von denen viele gewaltfrei und andere eher handfest agierten.
Zum Beispiel Joschka Fischer, Ex-Straßenkämpfer ohne abgeschlossene Schulausbildung, der 1982 der jungen Partei beitrat. Er initiierte den Arbeitskreis Realpolitik; seine Realos (heute Reformer) wollten an der Seite der SPD Regierungsverantwortung übernehmen. Und es gelang: Fischer wurde schon 1985 erster grüner Landesumweltminister in Hessen und 1998 Vizekanzler und Bundesaußenminister in Bonn. Auf dem anderen Flügel bekämpften die Fundamentalisten oder Fundis, darunter Radikalökologen oder Ökosozialisten wie Jutta Ditfurth, jede Regierungsbeteiligung. Von ihnen spaltete sich 1988 das Linke Forum (Lifo) ab, das Systemkritik und Antikapitalismus mit Ministerposten verbinden wollte.
Viele Ökosozialisten und Lifo-Grüne wechselten später zur PDS/Linkspartei. Zum grünen Personalreservoir wurden zahlreiche Bürgerinitiativen in Kommunen und auf Ebene der Bundesländer. Grünen-Mitbegründerin Eva Quistorp, später Bundesvorsitzende (1986 bis 1988) und Europaabgeordnete (1989 bis 1994), kam aus diesem Milieu und zugleich aus dem der gewaltfreien Spontis.
Schließlich gab es noch die Ökolibertären, die frühzeitig zur Zusammenarbeit sogar mit der CDU bereit waren, aber einflusslos blieben. Einer ihrer Vertreter, Wolf-Dieter Hasenclever, wurde 2002 Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, ein anderer, Winfried Kretschmann, brachte es zum ersten grünen Ministerpräsidenten. Rudolf Bahro, der SED-kritische Marxist aus der DDR mit spiritualistischen Anwandlungen, verkündete: »Rot und Grün und Grün und Rot geht gut zusammen« – er war ein Außenseiter und verließ die Partei 1985. Ab 1980 sollten die Maoisten aus den K-Gruppen vorübergehend den Laden übernehmen; für Konservative wie Gruhl und Springmann war da kein Platz mehr.
Die APO, entstanden aus der 68er-Rebellion, zu deren Wortführer Dutschke geworden war, bildete eine der wichtigen Wurzeln der Grünen. Aus dem ursprünglich sozialdemokratischen, dann aber extrem nach links gewendeten und von der SPD 1961 mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss belegten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) stieß beispielsweise der spätere RAF-Anwalt Christian Ströbele zu den Grünen. Vor allem der Vietnamkrieg hatte sie auf die Straße gebracht. In den Siebzigerjahren mobilisierten zusätzlich Nachrichten über sauren Regen und Waldsterben, über die verdreckten Flüsse und Smog in den Städten, über Atomkraftwerke, in deren Nähe angeblich gehäufte Fälle von Leukämie und anderen Krebserkrankungen auftraten. Der SDS blieb gleichwohl von derartigen Themen weitgehend unberührt. »Die Studentenbewegung hat die Antiatom- und die Ökologiefrage voll verpennt«, urteilt die Theologin und Grünen-Mitgründerin Quistorp.3
Im Juli 1976 erschütterte ein Unfall in dem Lombardei-Städtchen Meda, unweit von Mailand, Italien und ganz Europa: Aus einer Chemiefabrik wurden mehrere Kilo des Umweltgiftes Dioxin freigesetzt. Pflanzen starben, Tiere verendeten, vor allem Kinder erkrankten an massiven Hautveränderungen. Besonders schwer traf die Dioxinwolke die nahe Gemeinde Seveso, die diesem möglicherweise schwersten Chemieunglück in Europa den Namen gab.
Die Angst vor Kernkraft und nun auch vor Dioxin prägte die weitere Umweltpolitik. In der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft entwickelte sich ein Bewusstsein für die Begrenztheit der Ressourcen und die Notwendigkeit, Energie und Rohstoffe zu sparen. Regionale grüne Gruppen mobilisierten in Westdeutschland gegen wenig regulierte Mülldeponien, einen sorglosen Umgang mit Chemikalien in der Landwirtschaft und die Einleitung von Giften und Abfällen in Gewässer.
Von Beginn an wohnte linken ökologischen Basisgruppen ein systemfeindlicher Gedanke inne. Sie lehnten unter der Chiffre der »konkreten Utopie« die bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung ab. Das galt für Initiativen wie »Tunix«, in deren Einladung zu einem großen Kongress 1978 in Westberlin es hieß: »Wir werden bereden, wie wir das Modell Deutschland zerstören und durch Tunix ersetzen.« Ebenfalls 1978 entstand die links-alternative Tageszeitung taz, zu deren Initiatoren mit Hans-Christian Ströbele und Otto Schily zwei Protagonisten gehörten, »die zur gleichen Zeit die Gründung der West-Berliner Alternativen Liste vorantrieben«.4 Ein »Netzwerk Selbsthilfe« bündelte linke Betriebe, Kultureinrichtungen, politische Initiativen und grün-alternative Wahlbewegungen. Alle diese Initiativen »gehorchten demselben Trend zur Vernetzung und Institutionalisierung, der die Neuen Sozialen Bewegungen und das grün-alternative Milieu im letzten Drittel der 1970-er Jahre kennzeichnete«, schreibt Silke Mende in ihrer Studie über die »Gründungsgrünen«.5
Von der parlamentarischen Demokratie hielt die »basisdemokratische« alternative Szene wenig. Deshalb hatten Linke wie Joschka Fischer zunächst gezögert, den Grünen beizutreten.
Sie sei »natürlich links, aber undogmatisch« gewesen, erzählte Mitgründerin Eva Quistorp dem Autor im Frühjahr 2019. Ihr politisches Engagement begann sie in einer Berliner Bürgerinitiative gegen ein geplantes Straßenprojekt. Später war die westfälische Pfarrerstochter Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). »Wir lebten in Wohngemeinschaften, noch mit Obstkisten statt Möbeln, es gab erst zwei Italiener und einen Griechen als Szenelokale.«
Derartige »neue sozialen Bewegungen« engagierten sich gegen Straßenprojekte, Kernkraft oder Flughafenerweiterungen und sind durchaus vergleichbar mit jenen Umweltbewegten, die heute mit dem Hinweis auf Natur- und Tierschutz Windkraftanlagen zu verhindern versuchen. Der fundamentale Unterschied: Die heutigen Bürgerinitiativen werden von den Grünen nicht sonderlich geschätzt. Da kommt der Verdacht auf, dass der emanzipatorische Gestus der Grünen und der Ruf nach Bürgerbeteiligung und Basisentscheidungen stets eher instrumentell denn ideell war: Sprechen sich Initiativen etwa gegen Endlagerstätten aus, müssen sie gehört werden. Als 2017 aber 56,1 Prozent der Berliner in einem Volksentscheid für den Weiterbtrieb des Flughafens Berlin-Tegel stimmten, erklärte der rot-rot-grüne Senat umgehend, man werde das Votum nicht umsetzen.
In Ostberlin gab es schon seit 1971 einen Umweltminister, und der Artikel 15, Absatz 2 der DDR-Verfassung behauptete: »Im Interesse des Wohlergehens der Bürger sorgen Staat und Gesellschaft für den Schutz der Natur.« Gleichwohl war die ökologische Situation »im anderen Deutschland« ungleich dramatischer als in der Bundesrepublik. Insbesondere nach dem Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt 1973 setzte das SED-Regime vollständig auf Braunkohle, das »Gold der DDR«. 1985 kamen 30 Prozent der Weltproduktion von dort. Die Folgen waren verödete Wälder und erodierte Böden. Dörfer mussten dem Tagebau weichen, weit mehr als in der Bundesrepublik.6 Menschen litten unter Smog, Gestank und Atemproblemen. Einige Chemiestandorte wie Bitterfeld und Espenhain hätten nach den von der UNO empfohlenen Grenzwerten als nicht bewohnbar eingestuft werden müssen7. Deshalb erhielten Umweltdaten in der DDR die höchste Geheimhaltungsstufe. In dem halbautobiografischen Roman Flugasche der Schriftstellerin Monika Maron schreibt die DDR-Journalistin Josefa Nadler gegen den Willen ihres Chefredakteurs einen ungeschminkten Artikel über das marode Bitterfeld, »die schmutzigste Stadt Europas«.8 Dadurch gerät sie in Konflikt mit Staat und Partei; Marons Roman, die erste literarische Auseinandersetzung mit den deprimierenden Folgen eines Braunkohleabbaus ohne Rücksicht auf Mensch und Natur, durfte in der DDR nicht erscheinen und wurde 1981 in Westdeutschland publiziert.
1979 starteten drei couragierte 17-jährige Schüler aus Schwerin, Jörn Mothes, Nikolaus Voss und Olaf Naasner, im Rahmen der evangelischen Jugendarbeit eine Baumpflanzaktion. Die Teenager setzten mit 50 weiteren Jugendlichen rund 5000 Bäume entlang einer Straßenbahnlinie in Schwerin. Sie luden zu Umweltwochenenden mit Vorträgen ein. In den Achtzigerjahren entstanden im oppositionellen Milieu der DDR zunehmend ökologisch ausgerichtete Gruppierungen. Die SED wertete die Aktivitäten als Angriff und Bedrohung. Aktivisten wurden von der Stasi verfolgt, manche dadurch erst politisiert. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR griff 1984 bei seiner Synode in Greifswald das Thema der ökologischen Verantwortung auf.9 In Potsdam initiierte der spätere SPD-Politiker Matthias Platzeck eine Interessengemeinschaft Stadtökologie. Trotz staatlicher Repressionen entstand eine unabhängige Umweltbewegung. Sie wurde zu einer Säule der Demokratiebewegung im historischen Herbst 1989.
Im November 1989 gründete sich eine »Grüne Partei« in der DDR, daneben eine »Grüne Liga«. Die Grüne Partei ging zur ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 ein Wahlbündnis mit dem Unabhängigen Frauenverband ein, erzielte 2 Prozent und bildete zusammen mit dem Bündnis 90, das 2,9 Prozent geholt hatte, eine Fraktionsgemeinschaft. Zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 traten sie als Listenvereinigung mit dem bürgerrechtlich inspirierten Bündnis 90 an. Mit 6,1 Prozent der Zweitstimmen im Osten gelang »Bündnis 90/Grüne-BürgerInnenbewegung« der Sprung ins Parlament, während die West-Grünen in der alten Bundesrepublik mit 4,8 Prozent unerwartet scheiterten. Der Bundestagsgruppe (zur Bildung einer Fraktion reichten die insgesamt acht Mandate nicht aus) gehörten die Grünen Klaus-Dieter Feige und Vera Lengsfeld an. 1993 fusionierten die Parteien in Ost und West zu Bündnis 90/Die Grünen. Lengsfeld kritisierte in der Folge den »PDS-Schmusekurs« der Partei und wechselte 1996 zur CDU.10 Feige verließ die Grünen 2011 »wegen zunehmender Entfernung« von seinen Werten.11
Die West-Grünen waren bei ihrer Gründung gegen Nationalstaaterei – und gegen zu viel Brüsseler Integration auch. »Wir beteiligen uns an der Europawahl, um einer weiteren Zentralisierung der Entscheidungsgremien entgegenzuwirken und die Entscheidungen wieder in den Bereich des Bürgers zu rücken. Wir wollen deshalb ein Europa der Regionen, das aus überschaubaren Selbstverwaltungsräumen zusammengesetzt ist«, hieß es im Programm, mit dem die »sonstige politische Vereinigung Die Grünen« zur Europawahl 1979 antrat.12 (Das war übrigens, dank der Konservativen um Gruhl, noch freundlich formuliert. 1984 sollten die Grünen im Europawahlprogramm bereits gegen die »Zentralisierung von Entscheidungen in wasserkopfartigen europäischen Bürokratien« polemisieren.)
Die endgültige Beteiligung an der ersten Europawahl im Juni 1979 wurde bei einem Treffen des Koordinierungsausschusses am 3. und 4. Februar beschlossen. Kelly, Gruhl, Beuys, Quistorp und Roland Vogt gehörten am 17. und 18. März in Frankfurt-Sindlingen zu den Gründern der »sonstigen politischen Vereinigung Die Grünen«. Unter den ersten sechs Kandidaten für die Europawahl gab es, im deutlichen Kontrast zur heutigen grünen Bevorzugung von Frauen bei Vorstands- und Kandidatenwahlen, nur eine einzige Frau, nämlich Kelly als Spitzenkandidatin.13 Der Koordinierungsausschuss bestand aus je drei Vertretern der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher August Haußleiters, der Grünen Aktion Zukunft (GAZ) von Herbert Gruhl und der Grünen Liste Umweltschutz (GLU) um Rainer Trampert und den vormaligen Sozialdemokraten Holger Strohm, die unter anderem in Hamburg und Niedersachsen zu Landtagswahlen angetreten war. Der Maoist Trampert kam aus dem Kommunistischen Bund (KB), insgesamt aber gab es unter den 500 Teilnehmern in Frankfurt lediglich 15 Vertreter von extrem linken Listen.
Petra Kelly, Roland Vogt und sie seien unabgestimmt auf den Namen »Die Grünen« gekommen und hätten gemeinsam die Sonnenblume als Symbol der künftigen Partei auserkoren, sagt Quistorp. Damit ging es in den ersten nationalen Wahlkampf. »Wir hatten damals überhaupt keinen Etat, wir waren unbekannt, wir Kandidaten haben alle unsere Ausgaben aus eigener Tasche zahlen müssen.« Sie wisse nicht mehr, »auf wessen Sofas ich da bei den Reisen durchs Land übernachtet habe, damit die Hotelkosten nicht zu hoch wurden. Es gab kein Beraterteam, kein Pressebüro.«
Etliche Prominente unterstützten die Grünen. Neben Beuys waren dies Schriftsteller wie Carl Amery und Heinrich Böll. Aus der CSSR war der Dissident Milan Horáček einer der Kandidaten. »Das war ein Moment des gemeinsamen Aufbruchs«, erzählte Horáček dem Autor im Frühjahr 2019. »Trotz der inhaltlichen Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen waren wir alle sehr optimistisch.«
Die Distanz zur parlamentarischen Demokratie und zur westlichen Verteidigungsallianz war in diesem frühen Stadium der Grünen nicht zu übersehen. Im Zentrum der Präambel standen die Begriffe »ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei«. Europa sei bedroht durch eine »militärische Katastrophe und durch einen ständigen Abbau der Demokratie und der Grundrechte«. In Richtung Umverteilung und Wachstumskritik ging die Formulierung, die Wertvorstellungen der Europäer seien von einer »Überschätzung des Lebensstandards und der quantitativen materiellen Eingleisigkeit« zu befreien. Es seien »umfassende Wandlungen in der Einstellung des Menschen zu seinem Leben und seiner Umwelt« nötig.
Neben dieser urlinken Idee, den Menschen verbessern zu können (in Abgrenzung dazu sagt Robert Habeck heute, man wolle »nicht den Menschen verbessern, sondern eine bessere Politik machen«), finden sich im Europaprogramm von 1979 weitere Positionen, die mutmaßlich große Teile der gegenwärtigen Grünen-Basis begeistern würden. So wird die »Einführung einheitlicher Höchstgeschwindigkeitsverordnungen auf Autobahnen und Landstraßen« gefordert. Das Schienennetz solle ausgebaut, der Flugverkehr vermindert, jedes Flughafengroßprojekt gestoppt werden. Es findet sich auch die »Anregung eines autofreien europäischen Sonntags«.14
In etlichen Passagen wurden Umweltschutz, ökologische Landwirtschaft, energiesparende Maßnahmen oder ein Ausstieg aus der Kernkraft gefordert. Interessanterweise taucht die Warnung vor einem zu hohen Kohlendioxidgehalt in der Luft als Ursache für die Klimaerwärmung an keiner Stelle auf. Dabei warnte die Deutsche Physikalische Gesellschaft bereits 1971 »vor einer drohenden Klimakatastrophe«. Ursache dafür sei ein Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre durch »Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas« sowie »vor allem durch Rodung tropischer Regenwälder und durch Bodenerosion als Folge intensiver landwirtschaftlicher Nutzung von Kulturböden«,15 so die Wissenschaftler in ihrem Appell. Er wurde ignoriert – nicht nur von der breiten Öffentlichkeit und dem »politischen Establishment«, sondern sogar von den Aktivisten der wenige Jahre später entstehenden Partei, die doch gerade auf diesem Gebiet eine besondere Expertise reklamierten.
Die SPV scheiterte zur großen Enttäuschung insbesondere von Kelly an der damals auch fürs Europaparlament gültigen Fünf-Prozent-Hürde. Aber sie kam in Deutschland mit 893 683 Stimmen auf 3,2 Prozent. Dieser erste Auftritt oberhalb der Ebene von Kommunen und Bundesländern war nicht nur ein großer Achtungserfolg. Die »sonstige politische Vereinigung Die Grünen« kassierte 4,5 Millionen D-Mark Wahlkampfkostenerstattung – »das politische und finanzielle Startkapital für weitere Pläne«, wie Ludger Volmer bilanzierte.16 Der Geldsegen eröffnete Möglichkeiten. Im Januar 1980 konstituierten sich die Grünen in Karlsruhe als Partei. Staatsknete für Staatsgegner, wie damals im alternativen Milieu geätzt wurde – die Grünen sind wohl die erste Partei in Deutschland, die durch den Steuerzahler groß wurde.
Auf der Ebene der Länder war der Zuspruch stärker: Der Bremer Grünen Liste gelang im Herbst 1979 mit 5,1 Prozent der erste Sprung in ein Landesparlament.17 Kurz darauf kamen die Grünen in Baden-Württemberg mit 5,3 Prozent in den Landtag.
Die neue Bundespartei trat im Oktober 1980 erstmals zur Bundestagswahl an. Es reichte nur für 1,5 Prozent, das bedeutete »einen schweren Rückschlag«, so Hubert Kleinert. Heftige Flügelkämpfe seien einerseits der Grund gewesen – und andererseits seien die Grünen zwischen dem Unionskandidaten Franz Josef Strauß (CSU; 44,5 Prozent) und SPD-Kanzler Helmut Schmidt (42,9 Prozent) in einer »zum Teil hysterisierten« Anti-Strauß-Stimmung »regelrecht an die Wand gedrückt« worden.18 Und doch sollte diese Wahl die letzte sein, in der das seit den Fünfzigerjahren so stabil wirkende westdeutsche Dreiparteiensystem von Union, SPD und FDP unter sich blieb. Die Grünen waren die erste Partei in Deutschland ohne Verankerung in der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts. Sie waren gewissermaßen eine Partei 2.0 lange vor dem digitalen Zeitalter, und Anhänger konnten sie nicht durch Berufung auf klassische Vordenker rekrutieren, sondern nur durch die Überzeugungskraft ihrer Führungsfiguren.
1 Kelly, Petra: »Nicht nur Revolutionen fressen ihre Kinder«, in: Schroeren, Michael (Hrsg.): Die Grünen. Zehn bewegte Jahre, Wien 1990, S. 180 ff., hier S. 187.
2https://www.youtube.com/watch?v=bk5qvXIT55k (19.9.2019).
3https://www.boell.de/de/2016/08/02/die-seele-der-gruenen (30.10.2019).
4 Mende, Silke: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn.« Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 49.
5 Ebd., S. 47–50.
6https://www.mdr.de/nachrichten/wirtschaft/regional/mehr-als-achtzigtausend-menschen-mussten-braunkohle-weichen-100.html (8.10.2019).
7https://www.kas.de/web/ddr-mythos-und-wirklichkeit/umweltschutz (2.8.2019).
8 Maron, Monika: Flugasche, Roman. Frankfurt a. M. 1986, S. 32.
9 Beleites, Michael: Dicke Luft: Zwischen Ruß und Revolte. Die unabhängige Umweltbewegung in der DDR, Leipzig 2016, insbes. S. 15 f., 20, 47, 106.
10https://www.berliner-zeitung.de/vera-lengsfeld-wechselt-zur-cdu---kritik-am--pds-schmusekurs----kanzlermehrheit-in-bonn-waechst-buergerrechtler-verlassen-buendnisgruene-15976632 (9.9.2019).
11http://www.kdfeige.de/Lebensbilder/lebensbilder.html (9.9.2019).
12https://www.boell.de/sites/default/files/assets/boell.de/images/download_de/publikationen/1979_001_Wahlprogramm_Europawahl_1979.pdf (7.7.2019).
13https://www.boell.de/sites/default/files/uploads/2008/08/bdk_1979-1993_die_gruenen.pdf (3.8.2019).
14 Ebd.
15https://www.dpg-physik.de/veroeffentlichungen/publikationen/stellungnahmen-der-dpg/klima-energie/warnung.pdf; vgl. dazu Lossau, Norbert:https://www.welt.de/wissenschaft/plus196231407/Menschengemachter-Klimawandel-Eine-Warnung-von-1971.html (3.8.2019).
16 Volmer, Ludger: Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei. Eine Bilanz, München 2009, S. 93.
17 Kleinert, Hubert: Vom Protest zur Regierungspartei. Die Geschichte der Grünen, Frankfurt a. M. 1992, S. 27.
18 Ebd., S. 42.
»Der technische Fortschritt muss Rücksicht auf die Umwelt nehmen«, dröhnte der Politiker. »Die Schäden an unseren Wäldern sind alarmierend, die zunehmende Verschmutzung von Nord- und Ostsee ist erschreckend. Die Bürger erwarten zu Recht wirksame Gegenmaßnahmen.«
Der das sagte, war Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner ersten Regierungserklärung am 4. Mai 1983. Erstmals saßen grüne Abgeordnete im Bonner Bundestag, und obwohl sie zur Auftaktsitzung dieser zehnten Wahlperiode im März mit den obligatorischen Sonnenblumen, Zweigen einer »umweltkranken« Tanne und gekleidet in grobmaschige Wollpullover in das Hohe Haus eingezogen waren, begleitete eine ihrer Abgeordneten das ökologische Bekenntnis des neuen Bundeskanzlers mit einem »Bravo«-Zwischenruf. »Ich habe eine geringe Chance, auch von diesen Damen einen Beifall zu erreichen«, unterbrach sich Kohl daraufhin selbst.1
Die etablierte Politik hatte das Potenzial der neuen Partei und der grünen Bewegung unterschätzt. Für die SPD, damals noch die Partei der traditionellen Industriearbeiterschaft, wäre es ohnehin schwierig gewesen, sich dem wachstums- und damit arbeitsplatzfeindlichen Kurs der Grünen zu nähern. Und Kohl hatte sich keine Mühe gegeben, den prinzipienfesten und zugleich eitlen Herbert Gruhl an die CDU zu binden. Jetzt wandte sich der Kanzler zunehmend umweltpolitischen Aspekten zu, machte aber in der Regierungserklärung zugleich deutlich, dass er auf andere Mittel als die antikapitalistischen Grünen setzen würde. »Die von der modernen Technik verursachten Schäden können nur durch den Einsatz modernster Mittel der Technik wieder abgebaut und beseitigt werden«, kündigte Kohl an.
Seine CDU/CSU-FDP-Regierung blieb nicht untätig: Kohlekraftwerke und Müllverbrennungsanlagen mussten nach der Großfeuerungsanlagenverordnung aus dem gleichen Jahr ihren Rauch entschwefeln. Autos wurden obligatorisch mit Katalysatoren nachgerüstet und tanken seit 1988 ausschließlich bleifreies Benzin. Und die Emissionen nahmen rasant ab: Im Gebiet der alten Bundesrepublik sank der Ausstoß von Schwefeldioxid laut Umweltbundesamt bis 1993 um beeindruckende 89 Prozent, die Werte für Stickoxide und Staub gingen um 72 bzw. 80 Prozent zurück.2
Übrigens hatte es in der Bundesrepublik durchaus schon vor den Grünen ökologisch motiviertes Ordnungsrecht gegeben. Das begann spätestens 1961 mit dem »Gesetz über Detergentien in Wasch- und Reinigungsmitteln« und 1964 mit der »TA Luft« (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft). Es ging weiter in den Siebzigerjahren mit dem Benzinbleigesetz, dem Fluglärmgesetz, dem Abfallbeseitigungsgesetz und dem Bundesnaturschutzgesetz.
Die verbreitete Behauptung, die etablierten Parteien in der Bundesrepublik hätten den Umweltschutz ignoriert, ist falsch. Aber sie taten zu wenig und agierten erst nach dem Aufkommen der neuen Bewegung ambitioniert. Kohl hätte den vormaligen Frankfurter Oberbürgermeister und späteren hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann (CDU) im Juni 1986 mutmaßlich nicht zum ersten Bundesumweltminister ernannt, wenn nicht zwei Monate zuvor die Katastrophe von Tschernobyl passiert wäre – drei Jahre nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag, die unablässig vor der Kernkraft gewarnt hatten. Wallmanns Nachfolger, der Saarländer Klaus Töpfer (CDU), Bundesumweltminister von 1987 bis 1994, schwamm 1988 durch den Rhein, zwei Jahre nach dem großen Chemieunglück beim Unternehmen Sandoz, als 20 Tonnen Gift in den Fluss gespült worden waren.
In Hessen gab es bereits seit dem 17. Dezember 1970 ein Landesministerium, eingeführt unter SPD-Ministerpräsident Albert Osswald und zunächst mit dem ebenso vergessenen Parteifreund Werner Best besetzt. Neben dem Begriff »Landwirtschaft« führte das Ressort in unterschiedlichen Reihungen Zuständigkeiten für »Umwelt«, »Naturschutz« oder »Forsten« im Titel. Neun Tage zuvor, am 8. Dezember 1970, war im Freistaat Bayern ein Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen gegründet worden, mit dessen Leitung Ministerpräsident Alfons Goppel seinen späteren Nachfolger Max Streibl (beide CSU) betraute. Die Bajuwaren haben damit das älteste Umweltministerium nicht nur Deutschlands, sondern Europas.
Aber Joseph Martin (Joschka) Fischer, der sich 1985 vom hessischen Ministerpräsident Holger Börner (SPD) in weißen Turnschuhen zu Jeans und Sakko zum ersten grünen Landesminister vereidigen ließ, blieb es vorbehalten, die Prioritäten neu zu definieren. Für »Umwelt und Energie« war das Ressort nunmehr zuständig. Inzwischen wurde es unter anderem um »Klimaschutz« erweitert.
Seitdem gelten Umweltministerien als grün. Dazu beigetragen hat das Desinteresse von SPD und Union. In Wiesbaden wollte Börner das Umweltressort 1984 gar abschaffen, »ermutigt durch das stillschweigende Einverständnis der Grünen im hessischen Landtag«, wie der Spiegel notierte: Hauptgrund sei gewesen, dass der Amtsinhaber Karl Schneider (SPD) »die Lust verloren hatte und kein anderer Genosse so recht interessiert gewesen sei, seine Nachfolge anzutreten«.3
Es ist bezeichnend, dass der engagierte Bundesumweltminister Klaus Töpfer, später Bundesbauminister und von 1998 bis 2006 Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) in Nairobi, bis heute als das ökologische Gewissen der CDU wahrgenommen wird. Nach ihm gab es in der Partei viel grünes Bekennertum, aber keine stringente Umweltpolitik mehr. Angela Merkel