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Freundschaft und Liebe, Tradition und Veränderung, Sprache und Nationalität im Schmelztiegel des modernen Amerika. Wenn Omar eines in den wenigen Monaten in Boston gelernt hat, dann dies: Amerikaner lieben es, wenn sie Namen aussprechen können. Den Namen von jemand anderem zu lernen heißt, einen Teil seiner Existenz zu verstehen. Und so hat sich Ömer in Omar verwandelt, ist in eine WG mit Abed und Piyo gezogen und hat sich Hals über Kopf in die ausschweifende Amerikanerin Gail verliebt. Was Gail und Omar vereint, ist das Gefühl, nur in ihrer Beziehung sie selbst sein zu können. Auch wenn ihre Vorstellung vom amerikanischen Traum nicht dieselbe ist ... »Die Heilige des nahenden Irrsinns« – der erste Roman, den Elif Shafak auf Englisch geschrieben hat – fasziniert mit all den Themen, die ihr gesamtes Werk prägen: Identität, Kultur und Sprache.
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Seitenzahl: 531
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin zahlreicher Romane, darunter Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013), Ehre (2014) und Der Geruch des Paradieses (2016), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit Unerhörte Stimmen (2019) stand sie auf der Shortlist des Booker Prize. Mit Das Flüstern der Feigenbäume wurde sie 2022 für den Women’s Prize nominiert. Shafak wurde von der BBC zu einer der 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen gewählt. Ihre viel beachteten Auftritte, u. a. als Rednerin bei TED - Global, machten Shafak zum Sprachrohr für Gleichberechtigung und Frauen- und LGBTQ+-Rechte. Sie trägt weltweit zu wichtigen Publikationen bei und wurde mit dem Orden Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres ausgezeichnet. Sie ist Jurorin zahlreicher Literaturpreise, z. B. des PEN Nabokov-Preises. www.elifshafak.com
Wenn Omar in den wenigen Monaten in Boston eines gelernt hat, dann dies: Amerikaner lieben es, wenn sie Namen aussprechen können. Den Namen von jemand anderem zu lernen hieße, sich auf ihn einzulassen und einen Teil seiner Existenz zu verstehen. Stattdessen hat sich Ömer in Omar verwandelt, ist in eine WG mit Abed und Piyu gezogen und hat sich Hals über Kopf in die exzentrische Amerikanerin Gail verliebt. Was Gail und Omar vereint, ist das Gefühl, nur in ihrer Beziehung sie selbst sein zu können. Auch wenn ihre Vorstellung vom amerikanischen Traum nicht dieselbe ist …
Ich sah eine Krähe mit einem Storch umherlaufen;ich wunderte mich und erforschte ihren Zustand,um zu ergründen, was die zwei verband …
Erstaunt und verwundert näherte ich mich ihnenund sah: Beide waren lahm.
RUMI, MASNAWI
Nur noch zwei Gäste sind in der Bar. Zwei Examensstudenten, deren Kosten für Unterricht und Miete ihre Stipendien bei Weitem übersteigen, beide Fremde in dieser Stadt, beide aus muslimischen Ländern. Trotz der scheinbaren Ähnlichkeit und obwohl sie gute Freunde sind, haben sie offenbar nicht sehr viel gemein, zumindest nicht in diesem Augenblick, morgens um 2 Uhr 36, da der eine sturzbesoffen ist, der andere nüchtern wie immer. Seit Stunden sitzen sie in immer deutlicherer Unterschiedlichkeit. Fünf Stunden, genauer gesagt.
Aber jetzt ist es für sie Zeit zu gehen, in wenigen Minuten wird der Nüchterne, der kleiner, dunkler und viel redseliger ist als der andere, von der Toilette kommen, dem Kellner, der seine Langeweile vom Fußboden fegt, entschuldigend zulächeln und steif zu der auf dem Barhocker klebenden verknöcherten Gestalt seines Freundes gehen. Sein Freund stiert unterdessen mit ouzobenebelten Augen das Gekritzel auf einer Serviette an. Er ist vollkommen reglos, vollkommen unempfänglich für den grimmigen Blick des puerto-ricanischen Barkeepers, der ihm direkt gegenübersteht.
Datum: 16. Dezember 2003
Ort: BOSTON
Zeit: 2 Uhr 24
Temperatur: KALT
Subjekt: OMER OZSIPAHIOGLU
Auszug: Wieder angefangen zu trinken … nach elf Monaten, sechzehn Tagen absoluter Nüchternheit … (11 Monate, 16 Tage = 351 Tage = 8424 Stunden = 505440 Minuten = 30326400 Sekunden = 17545846 mal Nick Caves »As I Sat Sadly By Her Side«)
»Was schreibst du da auf die Serviette?«
»Meine Gefühle«, murmelte die Gestalt auf dem Hocker, die nun nicht mehr so verknöchert aussah. »Ich fasse meine Gefühle zusammen … damit ich sie nicht vergesse.«
Der bullige, breitschultrige Barkeeper warf jetzt beiden genervte Blicke zu, sah theatralisch auf die Wanduhr, um klarzumachen, dass er nahe – aber sehr nahe – daran war, sie rauszuschmeißen. Ehrlich gesagt, das Benehmen des Mannes hatte sich gewaltig geändert. Er war ein ausnehmend höflicher Barkeeper gewesen, besonders am Anfang, und war es in den folgenden vier Stunden geblieben; danach war seine Freundlichkeit stetig, sichtlich und unwiderruflich geschrumpft. Seit zwanzig Minuten war er alles andere als höflich.
»Reicht das nicht langsam? Das machst du jetzt schon seit fünf Stunden, Mann. Komm, lass uns gehen«, bellte der Kurze. Er hieß Abed. Sein Englisch hatte einen schweren, gutturalen, aber äußerst wankelmütigen Akzent, der ständig zwischen nichtgegenwärtig und allgegenwärtig schwankte. In einem Moment war er fast weg, und im nächsten lauerte er in jedem Wort.
»Los, komm, die machen zu.« Abed stieß seinen Freund an, sah sich nervös um und versuchte, Blickkontakt mit dem Kellner und dem Barkeeper zu vermeiden; ihm misslang beides. Der Nüchterne neben dem Säufer zu sein, war, fand er, ein ungeheuer anstrengender Job. Der Besoffene konnte sich alle möglichen Absurditäten erlauben, die am nächsten Morgen vergeben und vergessen waren, während dem Nüchternen nur die Rolle des leidvollen Zuschauers einer Farce blieb, an der er nicht beteiligt war, jedoch unmöglich unbeteiligt bleiben konnte.
Abed atmete durch die zusammengebissenen Zähne, kratzte sich an seinem Kinngrübchen, wie immer, wenn er unter Spannung stand, und zog eine Locke seiner ungeheuer lockigen Haare herunter, wie immer, wenn das Kratzen am Grübchen nicht half. Abrupt wandte er den Kopf in Richtung Toiletten, starrte jedoch gegen seinen Willen das strahlende, karmesinrote Augenpaar an, das sie von dem Brett fixierte, auf dem das Vieh platziert war, erstarrt in abstruser Würde, die es mehr wie ein unheimliches Spielzeug wirken ließ als eine einst lebendige Elster. Wie Menschen stolz ausgestopfte Vögel ausstellen konnten, würde Abed nie verstehen. Mit wachsendem Unbehagen wandte er sich zu seinem Freund um und stellte fest, dass der inzwischen mit seinem Füller große Löcher in die Serviette bohrte.
»Himmel, was machst du denn jetzt?«
»Ich gebe meinem Namen die Pünktchen zurück«, stöhnte der andere und spähte mutlos auf die kobaltblauen Kleckse über den Buchstaben seines Namens; jeder Punkt verlief auf der Serviette, wurde größer, während er zerrann, wie zum Beweis, dass man sich, um für die Augen anderer sichtbarer zu werden, so weit wie möglich von seinem innersten Kern entfernen musste ••••
Lässt man die Heimat hinter sich, heißt es, muss man zumindest einen Teil von sich aufgeben. Wenn das stimmte, dann wusste Ömer genau, was er hinter sich gelassen hatte: seine Pünktchen!
In der Türkei war er ÖMER ÖZSIPAHIOGLU gewesen.
Hier in Amerika war er OMAR OZSIPAHIOGLU geworden.
Seine Pünktchen hatte man ausgegliedert, damit er eingegliedert werden konnte. Schließlich mochten die Amerikaner, genau wie alle anderen, Vertrautes – Namen, die sie aussprechen, Klänge, die sie tönen lassen konnten, auch wenn beides nicht viel Sinn ergab. Wenige Nationen brachten es so selbstbewusst fertig wie die Amerikaner, die Vor- und Nachnamen von Ausländern zu verändern. Wenn zum Beispiel ein Türke erkennt, dass er in der Türkei den Namen eines Amerikaners falsch ausgesprochen hat, wird er verlegen und sieht dies höchstwahrscheinlich als seinen Fehler an, auf alle Fälle als etwas, das mit ihm zu tun hat. Wenn ein Amerikaner erkennt, dass er in den Vereinigten Staaten den Namen eines Türken falsch ausgesprochen hat, liegt der Fehler nicht bei ihm, sondern vielmehr an dem Namen an sich.
Sobald Namen an ein fremdes Land angepasst werden, geht immer etwas verloren – sei es ein Punkt, ein Buchstabe oder eine Betonung. Was in einem anderen Land mit deinem Namen passiert, ähnelt dem, was beim Kochen mit einem Riesenhaufen Spinat passiert – man kann dem Hauptbestandteil eine neue Würze geben, aber seine Größe schrumpft sichtlich. Dieses Zusammenfallen ist es, was ein Ausländer als Erstes erfährt. Die erste Veränderung, die die Anpassung an ein fremdes Land mit sich bringt, ist die Veränderung des bisher Vertrautesten: des eigenen Namens.
Man spielt mit der Aussprache herum, amputiert Buchstaben, wandelt Klänge ab, sucht nach dem besten Ersatz, und wenn jemand zufällig mehr als einen Namen hat, gibt er denjenigen, der den Muttersprachlern am meisten Probleme bereitet, völlig auf … Ausländer sind Menschen, von deren Namen ein oder mehrere Teile im Dunkeln bleiben. Auch Ömer hatte seinen Namen, je nach Belieben des Sprechenden, durch das weniger mühsame und geläufigere Omar oder Omer ersetzt.
Stumm auf dem Barhocker sitzend, während die Welt sich um ihn und er sich um kobaltblaue Kleckse drehte, die auf einer Serviette verliefen, fühlte sich Ömer inspiriert, nahezu in Hochstimmung und in der Lage, stundenlang über einen Tintenpunkt zu philosophieren. Abed musste sich ebenso gefühlt haben, doch er zerrte Ömer unsanft am Arm und holte ihn vom Hocker. Mit diesem Schwung schafften sie es, den Ort zu verlassen, bevor den Barkeeper seine Mordlust überwältigte.
Die Nacht war kühl. Doch während sie die Somerville Avenue entlangstapften, schien die Temperatur sie nicht zu kümmern. Nicht die Kälte ließ sie so finster blicken, sondern etwas anderes. Etwas weniger Windiges und Feuchtes, etwas Diffuseres, Beklemmenderes … etwas, das sie, wären sie gefragt worden, vielleicht als ein plötzliches Gefühl verdrießlicher Verlassenheit bezeichnet hätten, allerdings vermutlich nicht mit diesen Worten, und schon gar nicht in dieser Reihenfolge. Obwohl sie in den vergangenen fünf Stunden treue Gefährten gewesen waren, obszöne Hänseleien und noch obszönere Witze, viel Gekicher und brüderliche Solidarität geteilt hatten – als sie schließlich durch die Schwingtüren der Bar auf die nachtglänzende Straße stürmten und dabei kurzzeitig Ertrinkenden glichen, die voller Panik an die Wasseroberfläche zu gelangen suchten, hatten beide gleichzeitig und doch jeder für sich ihre verzweifelte Einsamkeit erkannt. Neben dem Schwall frischer Luft mussten der scharfe Gegensatz zwischen ihrem Geistes- und Gemütszustand, ganz zu schweigen von ihrem jeweiligen Blutalkohol bei dieser unerwarteten Distanziertheit eine Rolle gespielt haben.
Doch nach einem Moment unbehaglichen Schweigens war es nicht, wie man meinen sollte, der Betrunkene, sondern der Nüchterne, der herausplatzte und Dampfwölkchen ausstieß, bevor Wortwölkchen folgten:
»Ist dir der Name der Bar aufgefallen, in der ich fünf Stunden mit dir rumsitzen musste, dostum – mein Freund? Weißt du, wie das deprimierende Loch hieß? Fünf kostbare Stunden unseres Lebens!«, schnaubte Abed. »Zur lachenden Elster, so hieß das Ding! Aber Elstern lachen nicht, sie krächzen! Es gibt sogar einen Ausdruck, einen amerikanischen: ›krächzen wie eine Elster‹! Du denkst vielleicht, so eine belanglose Kleinigkeit! Na ja, jetzt denkst du das wahrscheinlich nicht, aber nur, weil du zu betrunken bist, um zu denken. Aber wenn Amerikaner einen Ausländer sagen hörten, ›oh, das Mädchen lacht wie eine Elster‹, würden sie den Fehler sofort korrigieren, stimmt’s? Warum korrigieren sie ihn dann nicht, wenn er auf einem schicken Messingschild steht? Oder auf den Untersetzern? Was mich zu der Frage berechtigt, wenn sie ihn da nicht korrigieren, warum korrigieren sie dann den Ausländer? Verstehst du, was ich meine?«
Subjekt Ömer Özsipahioğlu blieb stehen und blinzelte seinen Freund an, als hoffte er, so besser sehen zu können.
»Klar, das ist nur ein kleines Beispiel.« Abed ging weiter, bis er merkte, dass Ömer stehen geblieben war. »Bloß die Miniaturausgabe eines größeren Fehlers, der für die Gesellschaft insgesamt typisch ist.«
»Gail sagt …«, kam Ömers zitternde Stimme von hinten, während er versuchte, Abed einzuholen. Aber dann musste er stehen bleiben und mehrmals schlucken, als hätte die Tatsache, dass er zum hundertstenmal in dieser Nacht den Namen aussprach, einen säuerlichen Geschmack in seinem Mund hinterlassen. »Sie … sie sagt, die Krähe ist die verehrte Älteste der verehrten Vogelfamilie. Und wenn du eine richtig alte Krähe findest, kann es sein, dass sie einst deiner Urgroßmutter in die Augen gesehen hat.«
»Gail! Gail! Gail!«, schrie Abed, drehte sich um und breitete verzweifelt die Hände aus. »Seit fünf Stunden schwafelst du von ihr. Ich habe neben dir gesessen und war ganz Ohr, weißt du noch? Also erbarm dich, gib mir ein paar Gail-lose Minuten. Keine Prise Gail in meinem Elstern-Monolog, bitte. Keine Konservierungsmittel, keine Chemikalien, keine Gails, bis ich dich heil nach Hause gebracht habe, okay?«
Ömer holte ihn ein und seufzte trübsinnig. Die Gläser Ouzo, die er diese Nacht geleert hatte, mitsamt Trauben, Sternanis, Koriander, Nelken, Engelwurz und so weiter, hatten seinem Benehmen etwas Übertriebenes gegeben.
»Übrigens, es wundert mich gar nicht, von Gails Beziehung zu Krähen zu erfahren. Sie ist einfach verrückt. Wenn du das bis jetzt nicht kapiert hast, kapierst du’s nie, Bruder. Sie ist die verrückteste Frau, die je in unser Leben trat, und wenn alle die Leute, die in all diesen Häusern schlafen, sie kennenlernten, dann wäre sie bestimmt auch die verrückteste Frau in deren Leben.« Er legte den Kopf in den Nacken und grölte in die leere Straße: »Schlaft, ihr Glücklichen! Schlaft gut!«
Und zu schlafen schienen sie tatsächlich, denn es kam keine Antwort von den schäbigen Gebäuden, den unscheinbaren Geschäften, den heimeligen Wohnungen. Nur ein teures topasfarbenes Auto fuhr zischend vorbei. Bevor es verschwand, sah Ömer noch flüchtig ein dunkelhaariges Mädchen im Rückfenster; es wirkte erschreckend ruhig trotz der Totenblässe des kleinen, runden, kranken Gesichts. Als das Auto langsamer wurde und um die Ecke bog, beugte er sich vor, um besser zu sehen, doch das Mädchen war nicht mehr da. Ömer wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Wenn Gail hier wäre, würde sie das bestimmt als ein Zeichen deuten, aber er konnte nicht sagen, ob ein gutes oder schlechtes. Miesepetrig sah er sich um, spürte nahende Kopfschmerzen. Nicht, dass ihm die Flut von Beschwerden, die ihn begleitete, etwas ausmachte. Abed war immer so, immer streitsüchtig, ein glühender Aufwiegler, der weniger Eindruck auf seine Zuhörer machte als auf sich selbst. Schlimmer noch, Alkohol schien den frustrierten Redner in ihm zu wecken, eher eine Art verwickelter Nebenwirkung als eine direkte Folge. Jedes Mal, wenn Abed Zeuge wurde, wie jemand neben ihm viel Alkohol konsumierte, wurde er automatisch umso reizbarer und kritisierte die Gesellschaft insgesamt. In solchen Momenten verglich Ömer ihn mit Leuten, die unmöglich still sitzen können in einem Raum, wo die Bilder schief hängen. Genau wie jene musste er unbedingt jede Asymmetrie, die er entdeckte, korrigieren, selbst wenn er spürte, dass sie beabsichtigt war. Anders als bei jenen jedoch waren Abeds Interventionen rein sprachlicher und nicht physischer Natur. Reden und Jammern waren seine Art, Falsches zurechtzurücken. Und je weniger ihm das gelang, desto mehr musste er jammern.
»Heute ist bestimmt die schlimmste Nacht dieses Jahres, die schlimmste seit der Halloween-Katastrophe letztes Jahr.« Abeds Stimme spiegelte seine Wut. »Rechts von mir quasselst du Gail-hier-Gail-da, links von mir plärrt der Trottel mit der Baritonstimme Doris-hier-Doris-da, und Mister Barkeeper reißt alberne Witze über die Weiber … Hast du eine Ahnung, wie lächerlich ihr drei aussaht? Kein Wunder, dass der Laden Zur lachenden Elster heißt! Und wer hat sich diesen fabelhaften Namen ausgedacht? Auch wenn Gail mir das übel nehmen würde, ich sage es trotzdem: Cherchez la femme! Es war bestimmt eine Frau. Die rotbackige Frau vom Boss vermutlich. ›Schätzelchen‹, sagt sie eines Tages, ›ich hab den Namen für unsere Bar!‹ Der Typ sitzt vermutlich gerade über einer schwierigen Kalkulation und versucht zu kapieren, warum die Kosten die Einnahmen übersteigen. Also sagt er: ›Das ist ein hübscher Name, Herzchen‹, bloß um irgendwas zu sagen, ›aber findest du ihn wirklich passend für eine Bar?‹ ›Bestimmt‹, antwortet sie, ›der gibt dem Lokal eine fröhliche Note.‹ Der Typ sagt nichts und hofft, dass sie die Sache schnell vergisst. Aber das ist ein großer Fehler! Unterdessen hat die Frau die Bar schon Zur lachenden Elster getauft!«
In Momenten wie diesen war es außerordentlich schwierig, Abeds Alter zu schätzen. Er war eigentlich ein junger Mann, jung genug, um bei Fragebogen die Rubrik »20 bis 30« anzukreuzen, doch in den Augen derer, die seinen wirren Monologen länger als eine halbe Stunde zuhörten, verschwamm diese Kategorie, schwankte von »40 bis 45« oder »60 und darüber« bis »noch nicht volljährig«. Manchmal klang er wie ein störrischer alter Mann mit einem so dicken Fell, dass kein wie auch immer gearteter Provokationssturm ihn irritieren konnte, dann wieder glich er einem dünnhäutigen Teenager, der schon beim leisesten Hauch von Missachtung außer sich war. Und doch wirkte er bei den seltenen Gelegenheiten, wo es ihm gelang, den Mund zu halten, viel jünger, als wenn er redete. Fing er erst mal an zu protestieren, steuerte sein Verstand direkt auf den Kern der Sache zu, so wie er sie sah, ließ alle Alternativrouten und Nebenstraßen auf dem Weg dorthin außer Acht. Eine derartige Direktheit hat vielleicht eine doppelte Wirkung und umfasst großzügig beide Bedeutungen des Wortes. Anders als andere war Abed stets aufrichtig; er hatte keine Unzufriedenheitskisten im Keller seiner Seele, in denen er lieber-nicht-geäußerte-Bemerkungen verwahrte, bis sie zu verrotten und zu stinken anfingen. Und er war auch im zweiten Sinne des Wortes direkt, da er allzu präzise oder phallogozentrisch war, wie Gail ihm hin und wieder gerne vorhielt.
Bei dem Gedanken an Gail wurde Ömers Blick trübe, und er geriet ins Stolpern. Er fragte sich, was sie in diesem Augenblick machte, allein zu Hause mit den Katzen. Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn sie sähe, dass er wieder angefangen hatte zu trinken. Hatte sie ihn vermisst, und wenn ja, würde sie es ihm sagen, und wenn sie nichts sagte, würde das heißen, dass sie ihn nicht vermisst hatte … Ömer hätte gerne laut darüber nachgedacht und das vermutlich auch getan, wenn Abed sich hätte unterbrechen lassen.
»Dann, ta-ta-ta-ta … der Tag der Eröffnung ist da. Wie sagt man auf Englisch, wenn eine neue Bar oder ein neues Geschäft zum ersten Mal geöffnet wird?«
»Weiß ich nicht«, sagte Ömer finster.
Das war wirklich das Beste daran, wenn ein Ausländer sich mit einem anderen Ausländer in einer Sprache unterhielt, die beiden fremd war. Wenn der eine ein bestimmtes Wort nicht finden konnte, ging es dem anderen genauso.
»Okay, aber du verstehst«, fuhr Abed zuversichtlich fort.
Das war das Zweitbeste daran, wenn ein Ausländer sich mit einem anderen Ausländer in einer Sprache unterhielt, die beiden fremd war. Wenn der eine ein bestimmtes Wort nicht wusste und der andere auch nicht, waren sie trotzdem imstande, sich wunderbar zu verständigen.
Wie ein Geist, der in irdische Angelegenheiten eingreift, ohne tatsächlich in Fleisch und Blut vorhanden zu sein, findet das nicht gefundene Wort einen Weg, seine Bedeutung mitzuteilen, ohne selbst auf der Bühne zu erscheinen. Unter Menschen, die sich in einer gemeinsamen Fremdsprache verständigen, entwickeln Wörter eine abstruse Fähigkeit, durch Schweigen zu sprechen, durch ihre Abwesenheit zu existieren. Eine Art sprachlicher Phantomgliedmaßeneffekt. So, wie Patienten noch lange nach der Operation ihre amputierten Gliedmaßen fühlen, spüren Menschen, die, vollständig und brüsk von ihrer Muttersprache abgeschnitten, gelernt haben, in einer Fremdsprache zu überleben, nach wie vor die abgetrennten Wörter ihrer fernen Vergangenheit und versuchen, Sätze zu bilden mit Wörtern, die sie nicht mehr besitzen.
»Weil es die Eröffnung ist, sind die ersten Getränke frei. Kein Wunder, dass die ganze Nachbarschaft da ist. Der Boss ist sehr glücklich, sehr beschäftigt und wahrscheinlich sehr betrunken. Dann sagt der einzige nüchterne Mensch in Sichtweite: ›Sir, verzeihen Sie, aber warum haben Sie Ihre Bar Zur lachenden Elster genannt?‹ Der Boss ist verdutzt. Er merkt, dass er keine Antwort weiß! Dann erinnert er sich an die Worte seiner Frau: ›Weil es dem Lokal eine fröhliche Note gibt.‹ Die Angestellten hören seine Erklärung und plappern sie augenblicklich nach, denn auch sie hatten versucht, das Geheimnis des albernen Namens zu lüften. Und so geht es weiter wie eine ansteckende Krankheit. Jahre später schleppst du mich in dieses Loch, ich stelle dieselbe Frage, und rate mal, was der Barkeeper antwortet: ›Weil es dem Lokal eine fröhliche Note gibt.‹ Ouaghauogh!«
Dies mag zwar keine exakte Wiedergabe des Lautes sein, den Abed ausgestoßen hat, aber es kommt diesem so nahe wie möglich. Ouaghauogh war eine Gesamtlautmalerei für diverse Dinge, die Abed partout nicht gefielen. Es war ein Schirmausdruck, unter dem sich alle möglichen persönlichen Habseligkeiten wirksam stapeln ließen, einschließlich zahlreicher Verstimmungen und einem Gemisch von Tönen (schallendes Gelächter, Gebrüll, Schnauben und Stöhnen in unterschiedlicher Lautstärke). Egal welches Gefühl es gerade bezeichnen sollte, ouaghauogh war in der Praxis weniger ein abschließender Ruf als eine Startpistole. Sowie Abed sich den Laut ausspucken hörte, startete er eine neue Attacke in seinem rastlosen Redemarathon.
»Was jammerst du die ganze Zeit?«, krächzte Ömer. »Was kümmert es dich überhaupt? Du trinkst doch nie! Verdammt noch mal, Abed! Du hast nichts getrunken an dem Tag, als du erfuhrst, dass deine Freundin noch in Marokko auf dich wartete. Du hast nichts getrunken, als ich Gail vor deinen Augen einen Antrag gemacht habe. Wenn Freude kein Anlass ist, was ist dann mit Kummer? Du hast nichts getrunken an dem Tag, als du erfuhrst, dass deine Freundin deinen Vetter heiraten wird! Wenn du in diesem Alter nicht trinkst, wirst du in Alkohol schwimmen, wenn du alt bist.«
»Das also hast du heute Abend gemacht? In eine bessere Zukunft investiert!«, knurrte Abed mit vor Verachtung blitzenden Augen. Doch das Stirnrunzeln, das die Verachtung begleitete, verkehrte sich sogleich in Milde. »Omar, mein Freund, warum hast du wieder angefangen zu trinken? Voriges Jahr um diese Zeit lagst du im Krankenhaus im Koma, nachdem du dir den Magen ausgekotzt hattest. Du hast versprochen, nie wieder zu trinken. Und sieh dich jetzt an!«
»Elf Monate, sechzehn Tage.« Ömer nickte und kicherte, als hätte er sich gerade selbst einen Witz erzählt. »Weißt du, was mir klar geworden ist? Wenn ich vor elf Monaten einfach meine Kopfhörer aufgesetzt und ständig diesen Song von Nick Cave gespielt hätte …« Er hielt inne und suchte auf der Serviette nach der Information, »… dann hätte ich nach 17545846 Runden einfach die Kopfhörer abnehmen können, und elf Monate wären um gewesen. Für mich wäre es bloß ein einziger Song.«
Abed kniff die Augen zusammen und starrte ihn einigermaßen verblüfft an. »Omar, das ist das Vernünftigste, was heute Abend aus deinem Mund gekommen ist. Warum machen wir nicht anderthalb Jahre draus? Mal sehen … in den vergangenen anderthalb Jahren bist du von Istanbul in die USA gekommen, um deinen Doktor zu machen; das mit dem Doktor hast du vergessen und dich stattdessen auf Freundinnen spezialisiert, das hat aber alles nicht geklappt; du hast deinen Magen umgebracht, und dann hätte dein Magen beinahe dich umgebracht … und dann warst du entweder krank oder hast dich verliebt, keiner konnte das mehr unterscheiden; danach hast du geheiratet, und zwar ausgerechnet Gail, und hast dein ganzes Leben ruiniert! Ja, es wäre bestimmt viel besser gewesen, wenn du, als du nach Amerika kamst, einfach die Kopfhörer aufgesetzt und dir den Song angehört hättest, den du so oft ertragen konntest. Wenn du das getan hättest, hätten wir jetzt unsere Ruhe.«
Abed verstummte, holte ein Taschentuch aus der Tasche, putzte sich die Triefnase und wischte weiter daran herum. Ömer wartete, wusste nur zu gut, wenn Abeds heuschnupfengeplagte Nase zu laufen anfing, dann blieb die Zeit stehen.
»Und was mein Nichttrinken betrifft«, näselte Abed, als seine Nase ihn endlich weiterreden ließ. »Du kannst völlig offen und völlig aggressiv sein. Das macht Gail doch ständig mit uns, nicht? Wenn du also denkst, ich bin ein altmodisches, langweiliges Arschloch, das sich im Paradies eine hübsche kleine Weide sichern will, um zu dir runterzuwinken, dann sag es einfach laut heraus. Lass deinem Widerwillen freien Lauf!«
Ungeduldig und mit mulmigem Gefühl starrten sie einander in die Augen. Abed war ungeduldig, wartete auf die einsetzende Flut von Kommentaren. Ömer war mulmig, presste unbehaglich die Lippen in der plötzlichen Furcht zusammen, dass seinem Mund etwas viel Ekligeres entschlüpfen könnte. Es war das sich ständig wiederholende Schema. Immer wenn er früher getrunken hatte, trank er zu viel, und immer wenn er zu viel trank, endete die Nacht damit, dass er kotzte.
»Na schön, wenn du es unbedingt hören willst.« Als Ömer klar wurde, dass Ungeduld über Unwohlsein siegen würde, wollte er ein paar Dinge loswerden. »Ich sag dir, wie spinnensinnig du bist!«
»Was-was-was?«
»Das ist der türkische Ausdruck für Leute wie dich. Wenn jemand hinter der Zeit herhinkt, konservativ ist, altmodisch, traditionalistisch … den nennen wir spinnensinnig.«
»Aber warum?«
»Warum? Da gibt’s kein Warum!«
»Warum?«, war eine Ersatzfrage, eine veraltete Währung, die nirgends und bei niemandem in Gebrauch war, wenn man erst mal in die stillen Täler gelangte, die ordentlichen Sprengel des unendlich weiten und doch vertrauten Landes namens Muttersprache. Dort konnte man sein ganzes Leben verbringen und auf alle Arten von »warum?« eine Antwort haben – so lange, bis jemand einen fragte.
»Ist das so was wie ›dein Gehirn ist so klein wie eine Spinne‹? Oder geht es mehr um das Spinnennetz als um die Spinne selbst? Als würde man sagen, ›dein Gehirn ist so verstaubt, weil es eine Ewigkeit nicht benutzt wurde‹. Aber sogar dann, sag ich dir, ergibt es keinen Sinn, außer man sagt spinnennetzsinnig statt spinnensinnig.«
Ömer stieß einen Verzweiflungslaut aus, während er gegen eine weitere Welle von Übelkeit ankämpfte. Er wäre an die frische Luft gegangen, wenn er da nicht schon wäre.
»Immerhin«, sagte Abed achselzuckend, »dein Standpunkt hat was. Wenigstens hast du versucht, zum ersten … tatsächlich zum zweiten Mal heute Abend was Vernünftiges zu sagen. Ich bin tatsächlich spinnensinnig. Tarantel oder so was. Aber das kränkt mich nicht. Nein, kein bisschen, weil das in meiner Sprache ›fromm‹ bedeutet. Ich bin ein frommer Muslim, du dagegen bist ein verlorener.«
»Ein verlorener Muslim …«, wiederholte Ömer höflich und schloss die Augen in einer Art Verzückung, als erwartete er, eine Animation »Verlorener Muslim« zu sehen, die ihm von den Tragödien der Sterblichen berichtete.
Als nichts geschah, musste er die Augen wieder aufmachen und erleben, wie tiefes Elend die Leere füllte, die für das Erscheinen des Bildes reserviert war. Während das Elend wuchs, spürte er zuerst väterliches Erbarmen, dann kameradschaftliche Anteilnahme und schließlich wachsendes Mitleid mit seinem bescheidenen Dasein auf Erden. »Verloren« traf es genau, das war er mehr als alles andere die letzten fünf, zehn, fünfzehn Jahre seines Lebens gewesen … ein Examensstudent der Politikwissenschaft, außerstande, sich in der Strömung der Politik oder auf der kleinen Insel der Wissenschaftler zurechtzufinden; ein unerfahrener Ehemann, dem das Atmen inmitten der Flora und Fauna des Ehestandes schwerfiel; ein im freiwilligen Exil Lebender, der das Gefühl nicht loswurde, hier nicht zu Hause zu sein, aber gleichzeitig nicht mehr wusste, wo dieses Zuhause war, obwohl er früher irgendwann eins gehabt hatte; ein geborener Muslim, der nichts mit dem Islam oder mit irgendeiner anderen Religion zu tun haben wollte; ein eiserner Agnostiker, weniger, weil er das Wissen von Gott bestritt, als vielmehr, weil er bestritt, dass Gott von ihm wusste …
»Ich trinke nicht, o nein. Und je mehr man sich über mich lustig macht, weil ich nicht trinke, desto mehr fühle ich mich geehrt. Wenn ich tot bin, sage ich da oben, dass ich nichts zu verzollen habe. Ich kenne den Geschmack von Chardonnay oder Scotch nicht. Ich kenne den Geschmack von diesem Raki-Zeugs nicht. Aber ich weiß, wie das ganze Zeug an Menschen riecht. Und dank dir habe ich auch erfahren, wie es riecht, wenn es ihnen zum Mund rauskommt! Ouaghauogh!«
Ömer wurde blass, erkannte verdrossen, dass in seinem angegriffenen Zustand jedes Wort über das Kotzen eine provozierende Wirkung auf ihn haben könnte.
»Ich kapier das einfach nicht. Wenn du am Ende doch alles wieder auskotzt«, fuhr Abed fort, ohne die physische Verschlimmerung zu bemerken, die er gerade auslöste, »warum trinkst du dann überhaupt?«
»Abed … hör auf … ja?«
»Warum? Fünf Stunden lang habe ich dir geduldig zugehört, und jetzt, wo du dank der frischen Luft, der Kälte und was weiß ich ein bisschen nüchterner geworden bist, hab ich auch ein paar Dinge zu sagen … Ich will dich wenigstens eins fragen: Da ich bisher keinen Alkohol konsumiert habe und das wohl auch in Zukunft nicht tun werde, kannst du bitte so freundlich sein, mir zu sagen, wieso ich eigentlich in Bars gehe?«
»Weiß ich nicht«, grunzte Ömer unwillig. Doch seine falsche Antwort steigerte nur den Drang nach der richtigen.
»Du weißt es ganz genau!«
Obwohl von fünf Stunden Ouzo schwer angeschlagen und trotz seiner geschwollenen Augen begriff Ömers Verstand, dass jeder Einwand gegen ein derart beißendes ganz genau erfolglos sein würde.
»Du warst wegen mir dort«, keuchte Ömer halb zu sich selbst, als sei er im Begriff, eine Sünde zu beichten – oder vielmehr eine ganze Latte von Sünden. »Weil ich dich angerufen und dir gesagt habe, dass ich mich heute nicht wohlfühle …«
»Ist das alles? Du hast noch was gesagt, erinnerst du dich?«
»Ich hab gesagt, ich war … ich hatte das Gefühl … als hätte man mich in einen trockenen Brunnen geworfen.«
»Stimmt. Der Brunnen!«, gackerte Abed, sprang hoch und wedelte mit den Armen.
Die Springerei war eine Art Siegeszeichen. Immer wenn er die Bestätigung bekam, nach der er sich in einem Disput sehnte, vollführte er den Akt, teils weil er von Energie übersprudelte, vor allem aber, weil er im Grunde seiner Seele mit seiner Größe unzufrieden war. Er konnte als recht gut aussehend gelten und war Gott wirklich dankbar für sein Äußeres, wäre er bloß ein bisschen größer. Nicht so groß wie Ömer, der Storch, natürlich, sondern bloß ein bisschen … dreißig Zentimeter, genauer gesagt. Weil er aber keine dreißig Zentimeter größer war, vermutete Abed, ließen die Züge, die ihm Charisma hätten geben können – hohe Stirn, lockiges Haar, dunkle strahlende Augen, leicht gebogene Nase und das Grübchen am Kinn –, ihn stattdessen aussehen wie ein Doktorand im zweiten Jahr, der die Wirkung eines Ceroxidkatalysators auf Wasserdampf und Karbonmonoxid erforscht.
Die sorgsam verborgenen Triebe hinter den auffallend simplen Gesten seines Freundes zu entdecken, war jedoch das Letzte, was Ömer im Sinn hatte, als er seinem Protest weiterhin freien Lauf ließ:
»… ich war so deprimiert, weil Gail deprimiert war. Das geht schon eine ganze Zeit so, und heute musste ich endlich was trinken, drum hab ich dich angerufen … siehst du übrigens den Zusammenhang, Abed? Zuerst hat man das Gefühl, in einen trockenen Brunnen geworfen zu werden, und eh man sichs versieht, braucht man dringend einen Drink! …«
Mit vor gespielter Verwirrung blitzenden Augen war der verblüffte Abed hin- und hergerissen zwischen gelassenem Ertragen, wenn nicht sogar heimlichem Genießen des freien Laufs von Gelaber und dessen Abblocken durch ein Sperrfeuer von Gegenargumenten.
»… du hast mich gebeten, nicht wieder zu trinken, dabei wusstest du, dass ich es trotzdem tun würde, und du musst gedacht haben, ich wäre weniger in Gefahr, wenn du bei mir wärst. Darum bist du gekommen. Dann mussten wir alle Bars in der Nachbarschaft abklappern, weil ich dich überzeugt habe, dass ein fermentierter Sprit meinem Magen nicht schaden würde und dass dieser besondere Sprit Raki sein musste. Aber wir konnten keinen finden. Dafür fanden wir die Kneipe, wo es Ouzo gab. Das hatte was Ironisches, weil die Leute glauben, Griechen und Türken hätten nichts gemeinsam. Aber eins sag ich dir: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Türke sein Nationalgetränk durch Ouzo ersetzt, ist größer als … dass jemand mit einer anderen Nationalität sein Nationalgetränk durch Ouzo ersetzt. Und obwohl die da drüben türkischen Kaffee schamlos ›griechischen Kaffee‹ nennen, ist die Chance, dass ein Grieche türkischen Kaffee jedem anderen Kaffee vorzieht, größer als die Chance, dass … jemand von … einer anderen Nation … Nationalität … türkischen Kaffee … vorzieht … uff!«
Ömer stöhnte auf, als ihm klar wurde, dass seine Kenntnisse dieser Sprache ihm nicht erlaubten, all die Wörter zusammenzutreiben, die er so sorglos verstreut hatte.
»Verstehst du, was ich meine?«, wimmerte er.
Aber er wusste, Abed würde es verstehen. Das war das Drittbeste daran, wenn sich ein Ausländer mit einem anderen Ausländer in einer Sprache unterhielt, die beiden fremd war. Egal, wie sehr der eine mit dem Englischen kämpfte, der andere würde der stillschweigenden Behauptung »Ich hätte mich sicher schlauer anhören können, wenn ich bloß den Wortschatz und die Grammatik hätte« zumindest ein bisschen Glauben schenken.
»… Also habe ich gesagt, Ouzo ist in Ordnung, aber das hat dich bestimmt wütend gemacht, weil wenn ich mich schließlich mit Ouzo zufriedengebe, warum hatte ich dich wegen Raki so weit mitgeschleppt …«
»Omar, mein Freund … ist schon gut.« Vergeblich versuchte Abed, ihn zu besänftigen.
»Nein, ist es nicht! Gar nichts ist gut. An Gail komme ich überhaupt nicht mehr ran. Wenn sie unglücklich ist, dann ist sie so ungeheuer unglücklich, dass ich mir Sorgen mache. Wenn sie glücklich ist, dann ist sie so ungeheuer glücklich, dass ich mir auch wieder Sorgen mache. Ich kann nichts daran tun … es ist hoffnungslos …« Ömer drehte sich immer weiter in Wimmerkreisen und stürzte sich immer tiefer in einen Strudel der Selbstverachtung.
»Gail wird sich wieder einkriegen, und wir helfen uns gegenseitig, dostum.« Abed schien konfus, wusste nicht, was er noch sagen sollte, und suchte, wie immer, wenn er konfus war, nach einem Sprichwort, fand aber nichts Besseres als: »Ein guter Freund ist besser als Milch.«
»Sogar besser als Milch«, kreischte Ömer beherzt; das Sprichwort ergab einen erstaunlich perfekten Sinn für seine erstaunlich beduselte Wahrnehmung.
Die nächsten zehn oder mehr Minuten, bis sie zu einem Backsteinbau wenige Schritte vom Davis Square kamen, wurde verblüffenderweise kein einziges Wort gesprochen. Dort angelangt, verzog sich Ömers Gesicht plötzlich zu einer Grimasse, als seien sie nicht nach einem anstrengenden, abenteuerlichen Weg endlich an seiner Wohnung angekommen, wo die Nacht ihr Ende fand, sondern an der Wölbung des Regenbogens, wo die Welt ihr Ende fand. Abed kannte Ömer gut genug, um seine Bereitschaft zu erfassen, seinen wackligen Leib und seine noch wackligere Seele zu immer stärkeren Gefühlsduseleien zu steigern, und konnte sich beim Abschied nicht enthalten, den Freund ungestüm zu umarmen, was diesen nur noch gefühlsduseliger machte.
Als er knallrot aus der Umarmung wieder auftauchte, wiederholte Ömer wie ein verspätetes Echo: »Sogar besser als Milch!«
Dann war er weg.
Abed stand auf dem Bürgersteig, sah den langgliedrigen, geschmeidigen Körper seines Freundes hinter der gewaltigen Tür verschwinden und fragte sich, was Gail wohl sagen würde, wenn sie sah, dass Ömer wieder getrunken hatte; Abed hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht heftiger versucht hatte, ihn davon abzuhalten, machte sich Sorgen um ihn, um sie, und ehe er sichs versah, machte er sich Sorgen um sie alle.
Das Gebäude hatte einen sonderbaren Geruch. Obwohl man ihn kaum als angenehm bezeichnen konnte, war es aber auch kein schlechter Geruch. Ein höchst eigener bitterer Geruch, was laut Gail bedeutete, dass das Gebäude eine eigene bittere Geschichte hatte. Gail liebte solche Geschichten.
Sie waren im Spätsommer in dieses Haus gezogen.
Im Spätsommer waren sie eingezogen, mit unendlich viel mehr Habseligkeiten als ursprünglich geplant – unter anderem das äußerst bescheidene Mobiliar, bestehend aus einem Doppelbett, zwei Eichenschreibtischen, einer Bambustruhe, und dann der Rest: Ein paar Tausend CDs (Ömers), vier verschiedene Kaffeemaschinen (Ömers, allerdings eher ein Tribut an die gute alte Zeit, als sein Magen noch in Ordnung war), Düfte aller Art (Gails), bündel- und büschelweise Pflanzen-Gewürz-Kräuter-Tees (Gails), Dutzende Göttinnenbildnisse, eine von ihnen bärtig (eindeutig Gails), eine Kollektion Silberlöffel (ganz eindeutig Gails), dann Bücher (Ömers) und Bücher (Gails) und noch mal Bücher … und ein türkisches Schild, das Ende der 1920er-Jahre auf den Fähren in Istanbul den Fahrgästen das Spucken verbot. Ömer hatte den Spruch leicht verdreht, poetisiert und veredelt zu seinem Lebensmotto gemacht:
O Fahrgast, spucke nie auf die Fähre, die dich trägt!
Am Anfang hatten sich Ömer und Gail ostentativ geeinigt, nichts, buchstäblich nichts, mitzunehmen, nur ihr bescheidenes sterbliches Ich und die zwei Perserkatzen (obwohl Ömer bis zur letzten Minute insgeheim gehofft hatte, dass auch sie zurückgelassen würden).
Sie waren sich einig gewesen, in eine vollkommen leere Wohnung zu ziehen und dort einen federleichten Neuanfang zu machen. Es war ein großartiger Plan, schlicht, aber erhaben. Ömer hatte ein sprühendes Lob auf die längst vergessenen Ahnen der Türken losgelassen, die irgendwo in den Steppen Mittelasiens verstreut ein fröhliches nomadisches, schamanisches Leben führten, lange bevor sie in das Land kamen, das die heutige Türkei werden sollte; er schloss seine Rede voller Bedauern, weil sie irgendwo in ihrer Geschichte diesen ungebärdigen Elan verloren und beschlossen hatten, sesshaft zu werden, nur um in dem verrückten Zivilisationsrennen hinterherzuhinken. Nomaden waren nobel und rastlos. Sie waren weder geblendet von der Lehre einer »besseren Zukunft«, die sich aus der Unersättlichkeit des kapitalistischen Konsums nährte, noch waren sie gefangen in einem Gute-alte-Zeit-Fetischismus, der die Anhäufung sentimentaler Reliquien einer unsentimentalen Vergangenheit nötig machte. Auf dem Sattel eines Nomadenpferdes war kein Platz für Memento mori, Familienalben, Kindheitsfotos, Liebesbriefe oder Jugendtagebücher – alle seit Langem tot, aber nie befugt, in Frieden zu ruhen. Nein, nichts von solchen dämlichen Fesseln. Nur Freiheit, die den Namen verdiente, ganz rein und schlicht, konnte auf einem Nomadenpferd reiten.
Wenige Tage nach dieser Rede, als Ömer sich mühte, in dem Labyrinth von Absätzen, die in das zweite Kapitel seiner Doktorarbeit einfließen sollten, einen Platz für ein Zitat zu finden, das er einst einem Buch entnommen hatte – ein Zitat, das damals sinnvoller wirkte als heute –, wurde die Tür aufgerissen, und hereingepoltert kam eine unförmige Kiste auf Rädern, gefolgt von Gail, gefolgt von der Katze, gefolgt von dem Kater.
»Was ist da drin?«
»Oh, Seife und so. Nicht viel …«
Kein Einwand. Nomaden hatten ein Stück Seife bei sich, oder? Und wenn sie Seife mitnehmen konnten, schadete es nicht, auch ein paar CDs mitzunehmen. Das war Dienstagmorgen gewesen. Ehe der Tag zu Ende war, folgten weitere geliebte Dinge – Besitztümer, zu wertvoll, um zurückgelassen zu werden, schlichen sich in die Kiste der Ausnahmen, und als darin kein Platz mehr war, füllten sie einfach noch eine Kiste. So wie die Liste ausgewählter Gegenstände wuchs, wuchs auch die Anzahl der Kisten, die sie in ihr brandneues federleichtes Leben trugen. Am Freitag sahen die beiden sich nach einer Umzugsfirma um. Sie nahmen die erste, kleinste, billigste Firma, die sich anbot. Zufällig trug die Umzugsfirma den schönen Namen Galoppierendes Pferd.
Noch das Gebäude erschnuppernd, ging Ömer zu den Briefkästen in der Lobby und studierte die vielen Nachnamen auf den vielen Schildchen, bis er endlich seinen eigenen fand. Da stand er – ohne Pünktchen! Wenn Gail, die jetzt im vierten Stock wer weiß was tat, wüsste, dass er seinen Nachsuff damit verbrachte, über das Problem seines Nachnamens zu grübeln, der pünktchenlos und viel zu lang war, um auf ein Briefkastenschild zu passen, dann würde sie bissig spotten und die Szene als weiteres Beispiel von Kastrationsangst interpretieren. Männer, argumentierte sie herablassend, fürchteten sich davor, ihren Namen zu verlieren, mehr als Frauen, denen von klein auf die Vergänglichkeit von Nachnamen klar war.
Hatte sie deshalb nicht gewollt, dass ihr Nachname hier stand? Ömer Özsipahioğlu war jetzt nicht imstande, über diese Frage nachzugrübeln. Er öffnete den Briefkasten und zog eine Handvoll Post heraus. Immer derselbe Müll; Werbung, Handzettel, Kreditkartenangebote. In dem Haufen waren auch der Katalog einer Buchhandlung in der Nähe und die zweite Ausgabe von If Ain’t in Pain, Not Alive Enough, der ultranihilistischen Zeitschrift einer hyperkonfusen Gruppe von DJs mit unglaublich antagonistischem Musikgeschmack, aber insgesamt postpunk ausgerichtet – eine Zeitschrift, die Ömer für ein Jahr abonniert hatte, obwohl er genau wusste, dass sie sich kein Jahr halten würde. Und weil ihre Überlebenschancen so gering waren, bereitete die Zeitschrift ihren Lesern allmonatlich eine extra Freude, wenn diese die neue Ausgabe erhielten und sahen, ja, sie hatte es wieder einmal geschafft!
Unter der Zeitschrift stapelte sich Reklame noch und noch und ein Umschlag für eine gewisse … eine gewisse Zarpandit?! Gewöhnlich übergab Ömer alle falsch eingeworfenen Briefe einem kleinen hageren Mann, der wohl der lustloseste Koreaner der Welt und zudem hier der Hausmeister war, aber auf diesem Umschlag stand Gails Nachname.
Hatte Gail noch einen anderen Namen?
Unversehens kam die quälende Frage herangestürmt, die er die meiste Zeit verdrängte, und setzte sich in seinem Kopf fest: Wie gut kannte er seine Frau? War das Aufdecken von Geheimnissen zwischen ihnen nur eine Frage der Zeit, oder war es grundsätzlich, sachlich, erkenntnistheoretisch unmöglich, auch wenn sie eine lange Zeit, ja ein ganzes Leben miteinander verbrachten?
Zweiter Stock. Er schnaufte und keuchte, während er die Treppe hochpolterte. Er polterte die Treppe hoch, während er sich fragte, wie tief Gail wohl mit der Vergangenheit verbunden war. Ömer war es sicher nicht! Nur von Zeit zu Zeit ertappte er sich dabei, dass er sich nach seinen Junggesellentagen sehnte, insbesondere nach der Zeit, als er mit Abed und Piyu zusammenwohnte.
Nicht, dass Gail nicht verstünde, was Piyu und Abed ihm bedeuteten, denn das tat sie, und nicht, dass er nicht dort übernachten konnte, wann immer er wollte, denn das konnte er. Dass er jene Zeit vermisste, obwohl er jetzt heiterer und verheiratet war, das war irgendwie undurchsichtiger und schwieriger zu handhaben. Gewissensbisse, nahm er an. Es war, als würde er mit demselben alten Masturbationstrott weitermachen, obwohl ihm jetzt der ständige Supersex beschert war, den er sich immer ersehnt hatte. Tatsächlich machte er mit demselben alten Masturbationstrott weiter, obwohl ihm jetzt der ständige Supersex beschert war, den er sich immer ersehnt hatte, aber das bereitete ihm keine Gewissensbisse. Dass er das Studentenleben vermisste, das er einst in Pearl Street 8 geführt hatte, das bereitete ihm sehr wohl welche.
Aber es ging um mehr als das. Wenn man seiner Frau erzählte, dass man ab und zu das voreheliche Leben vermisste, war die eigentliche Gefahr nicht, dass sie vielleicht nicht verstand, wovon man sprach, sondern dass sie es womöglich nur zu gut verstand. Könnte es sein, dass auch Gail das Junggesellinnenleben vermisste, das sie einst mit Debra Ellen Thompson führte, ihrer ständigen Hausgenossin? Wenn sie es nämlich tat, könnte dies viel mehr bedeuten als das!
Am Anfang hatte Ömer gedacht, diese Angelegenheit ließe ihn kalt, und als er feststellte, dass sie das nicht tat, beschloss er, nicht mehr darüber nachzudenken. Nicht nur, weil es eine bittere Sache war, an die man deshalb besser nicht rührte, sondern auch, weil er Gail einfach liebte und sie ihm einmal ins Ohr geflüstert hatte: »Wir scheuen davor zurück, uns von unseren Liebsten verändern zu lassen aus Angst, sie zu verlieren, aber vielleicht ist die Veränderung, die mit der Liebe einhergeht, unsere allein selig machende Gnade.«
Ömer war bereit, seine Gewohnheiten, Maßstäbe und sogar Überzeugungen von ihr ummodeln zu lassen – wenn er noch welche auf Lager hätte. Aber den Verdacht loszuwerden hatte sich als zermürbender erwiesen als alles andere. Nach dieser langen Zeit fragte er sich immer noch, ob es stimmen könnte, dass die zwei mehr als ein Haus miteinander geteilt hatten. War es eine »Boston-Ehe« gewesen, wie Gerüchte wissen wollten? Waren Debra Ellen Thompson und Gail einmal ein Liebespaar gewesen, und wenn ja, wieso hatte es aufgehört, wenn überhaupt? Die eine Hälfte von ihm verlangte nach Antworten, während die andere Hälfte ihnen einfach aus dem Weg gehen wollte. Lieber die Finger davon lassen. Obwohl sie in den letzten Tagen gemeinsam verzagt gewesen waren, führten sie dennoch eine sonnige Ehe. Lieber nichts aufrühren.
Spucke nicht auf die Fähre, die dich trägt, o Fahrgast!
Nicht, dass er etwas gegen ihre vergangenen Affären hatte, solange es vergangene Affären waren. Und genau so wollte er Gails Bisexualität auch sehen: Ein schwaches Kerzenlicht, das längst erloschen war – eine Art Kinderkrankheit wie Masern oder Windpocken, die keine Spur hinterlässt –, wie auch immer die Entsprechung, auf alle Fälle ein anderer Besitz, den sie nicht in die von der Umzugsfirma Galoppierendes Pferd so verdrossen in ihr Eheleben geschleppten Kisten gepackt hatte.
Vierter Stock. Nummer achtzehn. Ömer wählte einen Schlüssel aus dem Bund, blieb ein paar Sekunden ausdruckslos stehen, als wüsste er nicht, was als Nächstes zu tun sei, und weil ihm nichts Besseres einfiel, schloss er die Tür auf.
»Gail!«, brüllte er, als er hereinstolperte.
Sich verlieben ist die Inbesitznahme der Namen der geliebten Menschen, sich entlieben ist somit eine Rückeroberung. Namen sind die Brücken zu den Festungen der menschlichen Existenz. Über sie finden andere, Freunde und Feinde, einen Weg, sich einzuschleichen. Jemandes Namen zu erfahren heißt, ihr halbes Dasein an sich zu bringen, der Rest ist eine Sache von Bruchstücken und Details. Kinder wissen das im Tiefsten ihres Herzens. Deswegen weigern sie sich instinktiv zu antworten, wenn ein Fremder sie nach ihrem Namen fragt. Kinder begreifen die Macht der Namen, und wenn sie erwachsen sind, vergessen sie es einfach.
Religionsgeschichte ist ein Zählappell der zu verehrenden Namen wie auch eine Bezeugung der Namensverehrung. Die Juden übten sich in der geheimen Tradition der Namensgebung, insbesondere im Augenblick des Todes. Sie änderten die Namen derer auf dem Totenbett, um ihnen eine zweite Lebenschance zu geben. Auch die Muslims übten sich in der Tradition, besonders im Moment der Geburt. Sie flüsterten einem neugeborenen Mädchen seinen Namen in die zarten Ohren und wiederholten ihn dreimal, um sicherzugehen, dass er tief in die Seele des Kindes sank. Und die orthodoxen Christen, die sich bis zum heutigen Tag weigern, »Istanbul« statt »Konstantinopel« zu sagen, waren ebenfalls der Tradition treu. Schließlich gleicht die Eroberung einer Stadt dem Verlust der Liebsten an einen anderen. In beiden Fällen wird man sich, egal, wie viel Zeit vergeht, ihrer unter dem Namen erinnern, mit dem man sie zu rufen pflegte, niemals unter dem, den sie nach der Trennung annahm.
»Du hast also wieder angefangen zu trinken?«
Da war sie, trank einen nächtlichen Kräutertee, die Katze klebte an ihr, der Kater klebte an der Katze.
»Vielleicht«, strahlte Ömer voll Ouzostolz, »vielleicht auch nicht. Ich habe beschlossen, mir einen Drink zu genehmigen, aber ich habe keinen blassen Schimmer, ob ich angefangen habe, wieder zu trinken oder nicht.«
Ein unheimliches Lächeln huschte über Gails Lippen, als sie in die Küche ging, gefolgt von der äußerst langhaarigen rauchgrauen Perserkatze, gefolgt vom noch langhaarigeren Kater derselben Rasse, aber gescheckter Farbe.
»Hier ist ein Brief …« Ömer stockte, als er auf den Silberlöffel starrte, der in ihren erstaunlich schwarzen Haaren steckte. In vernünftigen Momenten wunderte er sich wohl, warum Gail sich ausgerechnet einen Silberlöffel ins Haar schob. Da aber jetzt kein solcher Moment war, verschob er die Frage und sagte stattdessen: »Kennst du zufällig jemanden namens … Zar-pan-dit?«
»Ja«, kam die Antwort aus der Küche. »Das bin ich.«
Stimmt, Namen sind der Zugang zur Festung des Partners, aber sie sind nicht unbedingt der einzige Weg, um hinein- oder herauszugelangen. Es kann immer andere Wege geben (und gewöhnlich gibt es sie), die zu versteckt sind, um auf den ersten Blick sichtbar zu sein. Andere Namen, Spitznamen oder Bezeichnungen, die ohne Frage zu einer anderen Zeit und einem anderen Bewusstsein gehören, nicht amtliche, nicht beurkundete, nicht identifizierte Namen, teils für immer vergangen, teils zeitlos und ewig, jeder ein verborgener unterirdischer Weg in das Labyrinth der Liebe, auf dem die Geliebte entschwinden kann, bevor der Liebende ihre Abwesenheit überhaupt bemerkt. So ist das mit Namen, das Einfachste, was man über Menschen lernen kann, doch so schwierig zu besitzen.
Sie kam mit einem Glas Milch aus der Küche, nahm ihm unterwegs den Brief ab und steuerte, ohne ihn zu öffnen, direkt das Badezimmer an, alles im sinnbetäubenden Gänsemarsch. Es war pathetisch, was diese Katzen taten. Außerdem stand es vollkommen im Widerspruch zu dem Mythos »Katzen lieben ihre Unabhängigkeit, Hunde nicht«.
»Dieses überspannte Etwas ist dein Name?«
Gail nickte seufzend, ehe sie ihre Hose herunterzog und sich auf die Toilette setzte. Ömers Blick glitt über sie und konzentrierte sich auf den Spiegel dahinter, vermied es, ihr beim Pinkeln zuzusehen. Er musterte die Kollektion von Fläschchen und Flakons vor dem Spiegel, die Handtücher in den Fächern und jeden grinsenden rosa Polyp auf dem Duschvorhang – alles im Badezimmer, nur nicht sie. Warum sie darauf bestand, öffentlich zu pinkeln, vor den Katzen, vor ihm, würde er nie begreifen. Nicht, dass er sich deswegen schämte oder dadurch gestört fühlte, aber wieso tat sie es nicht?
Immer noch pinkelnd, langte Gail nach unten und streichelte die Katze am Bauch. Die fing sofort aberwitzig zweistimmig an zu schnurren, und der Kater schnurrte neben ihr, als wären sie ein einziger Körper, und seine Wonne hinge ab von ihrer Wonne. Ömer sah dieses plüschige Geschöpf mit der platten Nase und dem flachen Gesicht finster an. Es war ihm nie gelungen, das Tier zu mögen. Es war ihm auch nie gelungen, die Katze zu mögen, aber die Katze schien es nicht darauf anzulegen, gemocht zu werden. Da sie von niemandem Liebe verlangte, belohnte schon die geringste Liebkosung sie mit mehr, als sie je begehrt hatte. Anders als sie forderte der Kater mehr Liebe von jedem Lebewesen, ganz besonders von der Katze, und bekam deshalb am Ende immer weniger, als er ursprünglich gewollt hatte.
»Führst du Selbstgespräche? Warum nennst du sie immer Kater und Katze? Sie haben Namen, wie du weißt«, sagte Gail tonlos.
Ömer blinzelte zweimal, einmal für jeden Namen. West und Der Rest. Die Katze hieß West, von Gail erfunden als Kritik an der steten Feminisierung des Ostens durch die Predigten der Orientalisten, was in Ordnung wäre, wenn der Kater nicht entsprechend Der Rest hieße. Er ärgerte Ömer am meisten, mit seiner unersättlichen Gier danach, von der Katze bewundert zu werden. Als Ömer mit dem zweiten Blinzeln fertig war, war seine Wut vom Kater zu seiner Frau geschlittert. Wenn sie so sorglos und öffentlich pinkelte, warum hatte sie dann ihren Namen und Gottweißwasnoch vor ihrem Ehemann geheim gehalten? Die Folgerungen waren verzwickt und heikel. Wieder wollte ein Teil von ihm die Antwort sofort, auf der Stelle, während der andere Teil es vorzog, nicht auf die Fähre zu spucken, die ihn trug, und lieber etwas Lohnenderes zu tun, zum Beispiel auf der Stelle in einen tiefen, erquickenden Schlaf zu sinken.
»Warum hast du mir das nie erzählt?«, stöhnte er, als er begriff, welcher Teil von ihm gewonnen hatte.
»Wahrscheinlich, weil du nie gefragt hast.«
Die Katze fixierte eine unsichtbare Gesellschaft, Ömer starrte eine mauvefarbene Tonicflasche vor dem Spiegel an und überlegte, ob sie neu war, der Kater sah der Bewegung des eigenen Schwanzes zu, und Gail blickte ins Leere.
»Und was hätte ich fragen sollen? Übrigens, Gail, hast du zufällig einen absolut lächerlichen Namen? Oder hätte ich lieber fragen sollen: Was ist in deine Eltern gefahren, dass sie ihrem Kind diesen überspannten Namen gaben?«
»Weißt du«, sagte Gail, »die Leute haben sich früher so oft darüber lustig gemacht, dass ich es leid war. Wenn du also über meinen Namen spotten willst, nur zu, tu dir keinen Zwang an. Es macht mir wirklich nichts mehr aus.«
»Was ist mit Debra Ellen Thompson?« Ömer ertappte sich beim Brüllen. »Wird dein komischer Name sie auch schockieren, oder kennt sie ihn schon? Ihr zwei wart euch einmal sehr nahe, oder?«
Es folgte eine Minute verlegenes Schweigen, während Gail ihn erstaunt ansah. »Versuchst du, was zu fragen?«
»Was denn?«, kreischte Ömer und sah noch finsterer die blöde mauvefarbene Flasche an, dann die blöden lächerlichen Polypen auf dem Duschvorhang, dann den strunzblöden Kater … wieder gewissermaßen alles im Badezimmer, nur nicht sie.
»Zum Beispiel, ob wir ein lesbisches Paar waren?«
Gail stand auf, drückte die Toilettenspülung und blinzelte, als sie sich vorbeugte, um Ömer prüfend zu mustern.
»Wenn du das fragen willst, dann brauchst du eine Erinnerungsauffrischung! Du warst es doch, der mir gesagt hat, dass du nichts von meiner Vergangenheit wissen willst, außer ich will es von mir aus erzählen, und dass wir ganz neu anfangen, leben wie die Nomaden, und egal, wie meine persönliche Geschichte war, für dich ist es in Ordnung, solange du weißt, dass ich dich liebe … blablabla! Und jetzt sieh dich an. Du fängst wieder an zu trinken und dir mit Abed das Hirn zu benebeln, kommst knüllevoll nach Hause, und urplötzlich wird dir klar, dass es dein tragischster Kummer in diesem miserablen sterblichen Leben ist, ob deine Frau und eine gewisse Debra Ellen Thompson mal eine lesbische Affäre hatten. Wo ist deine legendäre Fortschrittlichkeit geblieben? Hast du sie am Bartresen gelassen?«
Ömer sah sie mit kläglichen Rehaugen an, die er kaum offen halten konnte. Er hatte bestimmt ein Gegenargument parat, konnte sich aber nicht besinnen, was für eins. Außerdem war es viel zu hell. Das Licht tat seinen Augen weh. Als er Minuten später die Augen wieder aufschlug, lag er allein auf dem Badezimmerboden, in Fötushaltung zusammengerollt. Hier unten war es warm und bequem, das einzige Problem war ein ekliger Gestank. Jemand hatte auf die Matte gekotzt.
Das notwendige Verbindungsglied zwischen dem Zustand des Zufrieden-auf-dem-Badezimmerboden-Liegens und demjenigen, in welchem er sich sauber und im Schlafanzug im Bett befand, ging ihm verloren. Er hatte keine Ahnung, wie oder wann Gail ihn hierhergebracht hatte. Ein Lächeln überzog sein finsteres Gesicht, als er zusah, wie sie den Silberlöffel aus ihren erstaunlich dichten, wild gewellten rabenschwarzen Haaren zog. Nach dieser langen Zeit intimen Beisammenseins war die Frage, wie sie es fertigbrachte, jeden Morgen einen Löffel in ihrem Haar zu befestigen, für Ömer immer noch äußerst verblüffend, und wie sie ihn jeden Abend herauszog, ohne ihre Frisur zu beschädigen, das war noch verblüffender.
»Sag mal, hat der Name … Zarpandit«, nuschelte er, schon fast weggetreten, »was zu bedeuten?«
»Allerdings«, sagte sie und knipste ihre Leselampe an, die eigentlich nur ihre Betthälfte beleuchten sollte, sich aber nie zufriedengab, bevor sie nicht auch die andere Hälfte erreicht hatte. Bei dem Versuch, dem Licht auszuweichen und gleichzeitig Gail zu betrachten, gelang Ömer ein verschwommener Blick auf ihr Gesicht, das sich auf ein Buch mit dem Titel Did Somebody Say Totalitarianism? konzentrierte.
Ömer drückte das Gesicht ins Kissen und dämpfte damit seinen verzweifelten Schrei: O nein, nicht schon wieder Zizek!
Da sein Doktorvater ein eingefleischter Zizekgegner und seine Frau ein eingefleischter Zizekfan war, konnte niemand, nicht einmal Zizek selbst in seiner ganzen durchgeistigten Finesse, verstehen, welche Qualen Ömer seit Monaten durchlitten hatte; schließlich musste er sich anhören, wie derselbe Mann an ein und demselben Tag verdammt und verehrt, verehrt und verdammt wurde, oft aus genau denselben Gründen.
»Ist er nicht brillant! Soll ich dir vor dem Einschlafen ein paar Seiten vorlesen?«, fragte Gail begeistert, meilenweit von der Realität entfernt.
»Neinnn!«, antwortete Ömer – kreischte er, weil er diesmal vergessen hatte, sein Gesicht ins Kissen zu drücken.
Gail drehte sich mit einem fragenden Lächeln auf die Seite und streichelte zärtlich sein Gesicht, seinen Mund, ließ dann ihre Hände sacht zu seiner Brust, zu seinem Penis hinuntergleiten, um festzustellen, wie schläfrig er wirklich war. Die Antwort war eindeutig, denn binnen weniger Sekunden brach sie ihre Bemühungen leicht enttäuscht ab.
»Zarpandit ist ein uralter Name«, hauchte sie nach einer kurzen Pause die Erklärung hervor. »So hieß eine frühassyrisch-babylonische schwangere Göttin, die jeden Abend bei Mondaufgang verehrt wurde. Er bedeutet die Silberglänzende.«
»Wirklich! Wie poetisch!«, murmelte Ömer halb im Schlaf, und ein grämliches Mitgefühl schlich sich in seine Stimme, als bezeichnete poetisch etwas, das es hier nicht mehr gab.
Auf einmal schämte er sich für das ganze Theater, das er heute Abend veranstaltet hatte. Stück für Stück fügte sich alles zusammen und ergab erstaunlicherweise einen Sinn. Gläser mit Ouzo auf einem Bartresen, Tintenkleckse, die auf einer Serviette verliefen, eine frühassyrisch-babylonische schwangere Göttin, die an jedem Abend bei Mondaufgang verehrt wurde, eine lachende Elster und das totenblasse Gesicht eines kleinen Mädchens allein in einem Taxi in später Nacht … alles ergab Sinn, in ungetrübter Harmonie. Ömer hatte den Eindruck, wenn er es fertiggebracht hätte, lange genug zu warten, still und geduldig, wären alle Wunder des Kosmos zu einem bedeutsamen, belangvollen Ganzen zusammengefügt und ihm dann insgesamt dargeboten worden.
»Wenn dich das so sehr überrascht, sag ich dir lieber gleich, dass ich noch ein paar Namen habe.«
»Nämlich?«, fragte Ömer mechanisch, doch bevor er zu seinem Fragezeichen gelangte, geschweige denn zu ihrer Antwort, sank sein Körper in den samtenen Schlummer, den er ersehnt hatte.
Heiß war es hier, sehr heiß. Sein Mund wurde trocken, und er brauchte dringend einen Drink. Wenige Schritte entfernt bemerkte er den glitzernden Eingang einer Bar. Das Licht war lästig, aber er ging trotzdem rein. Als sie ihn kommen sahen, schenkten ihm der puerto-ricanische Barkeeper, der jetzt der Kellner geworden war, und der Kellner, der jetzt der Barkeeper geworden war, ein zögerliches Lächeln. Die Regale hinter dem Tresen waren voll mit Schachteln und ausgestopften Vögeln.
»Ist in all den Schachteln Kaffee drin?«, fragte Ömer und setzte sich auf den erstbesten Hocker. »Wie heißen die Sorten?«
»Oh, kommt drauf an, welchen Sie wollen. Es gibt so viele verschiedene Namen …«
Ömer drehte den Kopf weg, um dem Sonnenlicht auszuweichen, das durch die großen Fenster hereinfiel.
»Dieser hier heißt zum Beispiel Caffe latte«, fuhr der Barkeeper fort und stellte einen schaumigen, mit Ananasscheiben dekorierten Cocktail auf den Tresen. »Aber ich empfehle unbedingt …«, er drehte sich um, hastete zu den Flaschen im Regal und holte drei, vier Cocktailgläser auf einmal heraus, »… Caffe mocha oder auch den hier, unsere Spezialität, Caffe Sansibar.«
»Sansibar … Merk dir den Namen«, dachte Ömer bei sich. »Sansibar … Merk dir den … Namen …«
Während der Barkeeper seinem einzigen Gast diverse Kaffeesorten aus dem Regal präsentierte, wurden seine Handbewegungen ungeheuer flink, als wollte er Ömer überlisten.
Sosehr Ömer sich auch bemühte, den Bewegungen zu folgen, jeder auf den Tresen gestellte Cocktail war nicht mehr als ein flüchtiger Blick in einem Karussell ständig wechselnder Spiegel, und jeder Name blieb ein Rieseln in der Luft.
Für jemanden, zu dessen Persönlichkeit Zwangsneurosen, Panikattacken oder Soziale Phobie gehören, ist wahrscheinlich eine sich am ersten Tag des Semesters endlos durch das Büro des Sozialdienstes windende Schlange von Leuten, die anstehen, um sich für den Studentenausweis knipsen zu lassen, nicht der richtige Ort, um dort über eine Stunde lang festzustecken. Für andere mag das nicht so schlimm sein. Langweilig, aber erträglich. Einige können sogar Spaß an der Situation haben, weil es ihnen Gelegenheit gibt, neue Leute kennenzulernen, zu tratschen, Informationen auszutauschen und dies und das über das Wo und Wie zu erfahren.
Zu denen gehörte sie eindeutig nicht.
Der einzige Trost, der ihr half, durchzuhalten, war das wohlige Wissen, dass sie irgendwo in den Tiefen ihrer Tasche noch einen Schokoriegel hatte. Wenn sie den hier aufgegessen hatte, würde sie sich den nächsten vornehmen. Bis dann, so hoffte sie, würde sie in der Schlange bis zu der griesgrämig dreinblickenden Frau am Schalter vorgerückt sein, die fortwährend »Die Nächste, bitte!« kreischte in einem Ton, der mehr Befehl als Bitte schien.
Sie überprüfte ihre pechschwarzen Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Nicht das Schlangestehen an sich marterte sie am meisten, sondern das Schlangestehen mit anderen Leuten. Es waren immer die Leute. Wie sie redeten, wie sie witzelten, wie sie eben waren … immer waren sie es, immer dasselbe Problem. Sie nahm noch einen Bissen, so klein wie möglich, damit ihr Wundermittel länger vorhielt. Seit ihrer Ankunft auf diesem Campus hatte sie sich von zwei Substanzen ernährt, denen sie gerne mehr Gemeinsamkeiten zuschrieb als offensichtlich vorhanden: Schokolade und Bananen. Beide wurden auf ähnliche Weise verzehrt, ausgepackt und in kleinen Bissen genossen. Sie brauchte den ganzen Tag nichts anderes. Manchmal aß sie Schokolade als Hauptmahlzeit und Bananen zum Nachtisch, und manchmal aß sie Bananen als Hauptmahlzeit und Schokolade zum Nachtisch.
Direkt vor ihren Augen war ein Paar riesenhafte Ohren, die zu einem großen, schlanken Mädchen gehörten, mit Haaren so kurz wie frisch gemähtes Gras und so rot wie ein Roteichenblatt. Schwer zu sagen, wie ihr Gesicht aussah, aber so makellos und weiß, wie ihr Hals war, wirkte er wie etwas Essbares. Der Rotschopf unterhielt sich lebhaft mit einer Gruppe Mädchen, die sie umgab, und ab und zu brachen alle in Gelächter aus.
Sie suchte nach dem zweiten Schokoriegel in ihrer Tasche, während die Schlange einen Schritt vorrückte. In dem Haufen Plunder fand sie eine halb gegessene Banane, die innen schon fast ganz schwarz war. Ihr fiel ein, wie die Banane dahin gekommen war. Beim ersten Mal im Shuttlebus hatte sie neben dem Fahrer gesessen und still an einer Banane gekaut, dieser Banane, als ihr Blick auf die drei Schilder oben fiel. Das erste fragte: »Wussten Sie, dass Hetzreden ein Verbrechen sind?« Das wusste sie. Das zweite Schild war eine Werbung für ein Frauenbetreuungszentrum mit dem Bild einer lächelnden jungen Frau, die einen Luftsprung machte. Das verstand sie nicht. Sie konnte sich keine Frau vorstellen, die nach einem Besuch beim Gynäkologen so herumhüpfte, egal, wie angenehm der Ort oder die Auskunft auch sein mochte. Das dritte Schild verkündete: »Trinken und essen im Bus verboten.« Sofort hatte sie die Banane in die Tasche gesteckt und dabei aus dem Augenwinkel die Reaktion des Fahrers beobachtet, dem das alles schnurz war. Das war vor zwei Tagen gewesen. Jetzt war die Banane innen dunkel, das tiefe Schwarz kontrastierte heftig mit dem reinen Weiß des Halses, auf den sie blickte. Sie beschloss, den Kontrast als gutes Zeichen zu nehmen. Genau in diesem Moment drehte das Mädchen vor ihr sich um und lächelte.
»Du isst gern Schokolade, was?«
Sie errötete panisch, als wären die Worte von dem Busfahrer unter dem »Trinken und essen verboten«-Schild gekommen.
»Ich heiße Debra Ellen Thompson«, sagte der Rotschopf und streckte die Hand aus. Direkt über ihrer Stirn wuchs eine fadendünne Haarsträhne in entgegengesetzter Richtung der übrigen Haare.
Doch bevor sie antworten konnte, blaffte eine bekannte Stimme: »Die Nächste, bitte!«
Die Nächste in der Schlange, die geknipst werden sollte, war Debra Ellen Thompson, also würde sie danach dran sein. In Ordnung, dachte sie, holte endlich den Reserveschokoriegel aus ihrer Tasche und packte ihn augenblicklich aus, um ihn schnell zu verzehren, ehe sie an der Reihe war. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sich die überwiegende Mehrheit der Schokoriegel mit zweieinhalb Bissen vertilgen ließ, jetzt aber versuchte sie, ihr übliches Quantum auf anderthalb Bissen zu reduzieren. Mit diesem Vorsatz nahm sie den größtmöglichen Bissen und betrachtete gleichgültig einen Mann mit einem dunklen Spitzbart, der soeben auf der anderen Seite des Schalters erschienen war.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, murmelte der Mann in unterwürfigem Ton.