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Ein barockes Ölgemälde mit der Darstellung der Kreuzigung Jesu auf Golgatha , ein historischer Abendmahlskelch und eine Glocke bilden den Schlüssel zu einem sehr alten und über viele Jahrhunderte gut verborgenen Geheimnis in der Pfarrkirche von Groß-Eichen. Auf wundersame Weise wird die Pfarrerin nach und nach in dieses Geheimnis eingeweiht und mit einer besonderen Aufgabe betraut: Die Entschlüsselung verschiedener Botschaften ihres Amtsvorgängers, die verborgene Dinge offenbaren, die bis in die Gründungszeit der ersten Kapelle im Mittelalter zurückreichen. Die Verfolgung der einzelnen Spuren und die Zusammenführung aller Hinweise werden schließlich nach Mainz führen, wo unlängst bei archäologischen Ausgrabungen der Sarkophag des Bischofs entdeckt und identifiziert wurde, der während seines Pontifikats einst die erste Eichener Kapelle weihte und den damaligen Priester mit einem besonderen Geschenk betraute, das nun nach mehr als 1000 Jahren an seinen Ursprungsort zurückgebracht werden muss.
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Seitenzahl: 202
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„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…“
WIE ALLES ANFING
EINIGE ZEIT SPÄTER
ERSTE ERKENNTNISSE
GEWISSHEIT
WEITERE BESTÄTIGUNGEN
EINE ÜBERRASCHUNG
EINBLICKE UND ERKENNTNISSE
WEITERE ERKENNTNISSE
ERSTE ERGEBNISSE
EINWEIHUNG
KONKRETISIERUNG
REFLEXIONEN
ÜBERRASCHUNGEN
DAS ERGEBNIS
EINE NEUE ÜBERRASCHUNG
VERBORGENES WIRD OFFENBAR
NEUE ERFAHRUNGEN
FINALE VORBEREITUNGEN
MITTEILUNGEN VON DRÜBEN
DAS FINALE STEHT BEVOR
DER ABSOLUTE HÖHEPUNKT
EPILOG
Alles begann an einem kalten Nachmittag in der Woche vor dem ersten Advent. Es hatte ab dem frühen Morgen kräftig geschneit, und die grüne Landschaft des Vogelsbergs war unter einer dichten weißen Schneedecke verschwunden.
Auch in Groß-Eichen war sehr viel Schnee gefallen, und die Kirchgasse, die auf den letzten Metern steil zur Kirche hin ansteigt, war noch nicht geräumt worden. So musste ich mir mit dem Auto den Weg nach oben bahnen, zum Glück ohne Probleme, denn es machte sich wieder einmal bezahlt, einen Wagen mit Allradantrieb zu besitzen, mit dem man auch im tiefsten Winter fast überall hinkommt. Aber selbst im Vogelsberg musste man feststellen, dass die kalten Winter, die es in den vergangenen Jahrzehnten immer mit großer Regelmäßigkeit gegeben hatte, seit einiger Zeit immer seltener geworden waren, gewiss eine Folge des Klimawandels unserer Tage!
Ja, die Zeiten hatten sich ohnehin geändert, das war mir schon seit geraumer Zeit bewusst geworden: Erst die schreckliche Pandemie mit all ihren Folgen, und seit diesem Frühjahr auch noch ein Krieg, mitten in Europa. Das hätten wir vor einem Jahr noch nicht für möglich gehalten!
Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, vor allem die Frage, wie es wohl diesmal zu Weihnachten in der Kirche werden würde, wäre es doch das erste Mal, dass wir wieder ohne Einschränkungen den Heiligabendgottesdienst mit Krippenspiel feiern könnten.
Die Krippenspielproben liefen schon seit einigen Wochen, das Team, das sich neu zusammengefunden hatte, arbeitete mit großer Freude mit den Kindern und Jugendlichen daran, die biblische Weihnachtsgeschichte szenisch umzusetzen, um sie dann am Heiligen Abend im Gottesdienst aufzuführen.
Nun war es nach dem Ewigkeitssonntag endlich soweit, die Kirche für den Advent zu schmücken und liturgisch neu zu dekorieren: Die Krippe musste aufgebaut werden, der Herrnhuter Stern durfte wieder seinen Platz über dem Altar einnehmen und das Tannengrün für den Adventskranz hatte ich gerade auf der Heßlersmühle abgeholt.
Oben vor der Kirche angekommen, stellte ich das Auto ab, stieg vorsichtig aus, nahm alles mit, was ich besorgt hatte und in der Kirche gleich benötigen würde. Dann erklomm ich die vier Stufen zum Nordportal der Kirche, holte den Schlüssel aus meiner rechten Jackentasche und schloss auf. Von drinnen dröhnte mir schon das Gebläse der Heizung entgegen und ich fühlte die angenehme Wärme im Kircheninnern.
Schnell trat ich ein, stellte die Sachen ab, betätigte den Lichtschalter links neben der Tür und schloss das Portal hinter mir. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, war es im Kircheninnern schon ziemlich dunkel. Dann verließ ich die Kirche noch einmal, um alle Gegenstände aus dem gegenüberliegenden Gemeindehaus zu holen, die ich jetzt noch brauchte. Es war einigermaßen mühsam durch den frischen Schnee zu laufen, aber auch ein wunderbares Gefühl, das Knirschen unter den Füßen zu hören.
Ich blickte nach rechts zum Friedhof hinüber, auch dort war alles von einer dicken weißen Schneeschicht bedeckt. Vor der Kirche stand bereits der kleine Weihnachtsbaum, und alles zusammen erweckte in mir ein wunderbar adventlich-vorweihnachtliches Gefühl. Aber es dürfte gewiss nicht so schön winterlich bleiben, vielleicht würden wir zu Weihnachten sogar wieder frühlingshafte Temperaturen haben, das war in den vergangenen Jahren fast zu einer Regelmäßigkeit geworden - und dürfte auch in diesem Jahr nicht auszuschließen sein.
Zügig holte ich den violetten Teppich für die steinerne Altarstufe, das künstliche Adventsgesteck im Pokal und den Herrnhuter Stern. Dann stellte ich alles unter dem Vordach vor dem Eingang ab, lief ich mit dem Teppich zur Kirche hinüber und öffnete das Portal. Ich ging hinein, trat zum Altar, verbeugte mich vor dem Kreuz und machte, wie immer, wenn ich allein war, das Kreuzzeichen. Dann tauschte ich den grünen Teppich gegen den violetten aus und brachte ersteren hinüber ins Gemeindehaus.
Jetzt konnte ich dort wieder abschließen und mit Stern und Gesteck zur Kirche zurückkehren, noch einmal genoss ich den kurzen Weg durch den Schnee, noch einmal wandte sich mein Blick zum Friedhof hinüber und dann war ich wieder in der warmen Kirche und schloss die Tür hinter mir ab. Das mache ich immer so, es ist einfach ein besseres Gefühl, wenn man weiß, dass niemand völlig überraschend und unangemeldet eintreten kann. Und vor allem kann es passieren, dass bei starkem Nordwind die Tür plötzlich aufgedrückt wird, wenn sie nicht ganz fest ins Schloss gefallen ist. Also – sicher ist sicher!
Vom Kirchturm erklang gerade in diesem Augenblick der Glockenschlag, der mir anzeigte, dass es jetzt drei Uhr war. Das hatte ja perfekt geklappt, und wenn alles gut laufen würde, dürfte ich gegen fünf Uhr fertig sein und könnte dann noch das Abendläuten hören. Es ist etwas ganz wunderbares, wenn man alleine in der Kirche sitzt und in aller Ruhe den Glocken zuhören kann: Eine kurze Zeit zum Innenhalten, die einem ganz allein gehört bzw. die man dem Ewigen widmet.
So begab ich mich mit großer Freude an die Arbeit. Gewiss, seit unser hochbetagter Küster und seine Frau vor einigen Jahren aus Altersgründen ihren Dienst aufgegeben hatten, hatte ich mehr zu tun, denn nun machte ich neben meinem Pfarrberuf auch noch einen großen Teil der Küsterarbeit mit, aber das Dekorieren der Kirche und des Altars ist eine wunderbare Aufgabe, für die ich mir regelmäßig und sehr gerne ausgiebig Zeit nehme!
Als die Turmuhr durch den erneuten Stundenschlag vier Uhr anzeigte, hatte ich bereits den Stern über dem Altarraum aufgehängt und den Altar in adventlichem Violett mit dem entsprechenden Parament und den Decken fertiggestellt. Auch an der Kanzel und dem Lesepult hingen bereits die violetten Antependien. Ebenso stand schon das Adventsgesteck auf der rechten Altarseite und auf der linken Seite der aus dem Tannengrün zusammengesetzte Adventskranz.
Zufrieden setzte ich mich für einen Moment in die rechte erste Bankreihe, betrachtete den Altar und überlegte, was noch zu tun wäre. Als erstes müsste ich gleich das Deckenlicht einschalten und dazu auf die Orgelempore hochsteigen, denn die untere Beleuchtung neben dem Nordeingang wurde nun langsam zu schwach. Danach könnte ich dann in Ruhe auf der Ablage unter der Kanzel die Krippenfiguren aufstellen.
Von Draußen hörte ich starken Wind, und ich konnte durch das Fenster rechts neben mir erkennen, dass auch der Schneefall wieder eingesetzt hatte. Ich blickte dann nach links, als ich neben dem Nordportal auf dem alten Ölgemälde mit der Kreuzigungsdarstellung einen Lichtschein zu sehen glaubte. Bei genauerem Hinschauen bewegte er sich leicht über das Bild, aber als ich aufstand und näher darauf zuging, war der Lichtschein wieder verschwunden.
Gerade als ich mich umdrehen und die Treppe zur Orgelempore hinaufsteigen wollte, kam der Lichtschein zurück, größer als zuvor, und ich glaubte, dass er auch heller geworden war. Er bedeckte nun das ganze Bild und bewegte sich kreisend darum. Sehr verwundert drehte ich mich um, ob ich vielleicht erfahren könnte, woher das Licht kommen würde, denn es gab unten in der Kirche keine Lichtquelle, und draußen war es inzwischen schon ziemlich dunkel geworden. Von dort her konnte eigentlich auch niemand mit einer Taschenlampe oder ähnlichem durch das Fenster in die Kirche hineinleuchten und mir einen Streich spielen. Als ich wieder auf das Bild schaute, da war der Lichtschein verschwunden und er kehrte auch nach einigem Warten nicht zurück. Ich war ganz sicher, ihn gesehen zu haben, aber vielleicht hatte ich mich doch getäuscht? „So fängt es langsam an“, das dachte ich im Stillen, und ich beschloss, jetzt endlich nach oben zu gehen und das Licht dort einzuschalten.
Zuerst betätigte ich die beiden Lichtschalter am Treppenaufgang, dann stieg ich die alte und äußerst gefährliche Treppe zur Orgelempore hinauf. Sie ist noch ganz im Originalzustand aus der Erbauungszeit der Kirche, also 1746/1747, und entsprechend ausgetreten sind die Stufen. Oben ging ich den schmalen Gang hinter der Orgel entlang und betätigte dann die Lichtschalter unter dem Sicherungskasten. „Man sollte irgendwann dafür sorgen, dass die Lichtschalter unten angebracht werden, es ist ein furchtbarer Umstand wenn man immer erst hier hochsteigen muss, um das Licht anzuschalten!“ So dachte ich laut und stieg dabei vorsichtig die Treppenstufen hinunter. Dort wieder sicher angekommen, begab ich mich sogleich an den Aufbau der Weihnachtskrippe. Dazu mussten zunächst die beiden großen Truhen mit den hölzernen Krippenfiguren unter der Kanzelablage hervorgeholt werden. Vorsichtig nahm ich alle Figuren heraus, staubte sie ab, und da klopfte es laut vernehmlich am Kirchenportal.
„Na, das nenne ich perfektes Timing“, rief ich froh aus und schloss auf. Vor der Tür stand Regine, die ihr Kommen zugesagt hatte, um mich beim Krippenaufbau zu unterstützen, wenn sie es denn zeitlich schaffen würde. „Grüß dich, bin ich schon zu spät?“ „Nein, überhaupt nicht, genau richtig, ich habe gerade eben damit begonnen, die Akteure auszupacken und abzustauben.“ „Na, denn los! Ach, das Tannengrün hast Du ja auch schon verarbeitet, sehr schön so!“ „Ihr habt eben bei Euch das beste und frischeste Tannengrün weit und breit!“
Regine lachte, „ja, so wie unsere Bäume auch. Komm bloß nicht zu spät zum Aussuchen des Kirchenweihnachtsbaums, ich werde schon mal einen Blick auf die Neuzugänge werfen, es geht ja jetzt zum Wochenende los.“ „Ja, es ist ein Segen, dass wir unseren Weihnachtsbaumlieferanten direkt im Dorf haben!“ „Aber die trockenen Sommer der vergangenen Jahre haben den Weihnachtsbaumanbau hart getroffen, vor allem die jungen Pflänzchen sind gar nicht oder nur sehr schlecht angewachsen. Das wird in den nächsten Jahren problematisch werden.“
Zusammen hatten wir schnell den goldenen Stoff auf der Ablage ausgebreitet, den hölzernen Stern von Bethlehem unter der Kanzel befestigt und die Figuren aufgestellt. „So, geschafft, das sieht wieder toll aus, besonders mit diesem Hintergrund.“ Regine war sehr zufrieden, denn diesmal waren wir beide ganz allein dafür zuständig. „Oh ja, es ist wunderbar, dass ihr mit dem Künstlerkreis im letzten Jahr den Sternenhimmel von Chagall auf die große Leinwand gezaubert habt!“ Wir prüften noch einmal alle Figuren auf Standfestigkeit und eine gute Position - und wir waren rundum zufrieden mit dem Ergebnis unserer Arbeit.
Ich war sehr froh, dass die Künstlerinnen, die sich in unserem Gemeindehaus immer zu Projekten treffen, diesen Krippenhintergrund im vergangenen Jahr angefertigt hatten. Regina und viele andere Frauen aus der Gemeinde sind mit großer Freude dabei, und sie bringen stets wunderbare Kunstwerke unter der Leitung von Anna, einer pensionierten Kunstlehrerin, hervor.
„Brauchst du mich noch?“ „Nein, liebe Regina, ganz lieben Dank, den Rest mache ich gleich noch alleine fertig, Hauptsache die Krippe steht!“ „Prima, ich muss nämlich um fünf im Stall sein, die Familie ist unterwegs und die Kühe warten.“ „Klar, dann mach dich gleich auf den Weg. Ihr seid da hinten sicher bald eingeschneit.“ „So schlimm wird’s hoffentlich nicht werden, aber die Schneemenge ist schon heftig. Also dann, bis Sonntagabend zum Gottesdienst, wenn es nicht zu voll wird und ich pünktlich wegkomme.“ „Alles klar, dann nochmals herzlichen Dank und Gruß an alle!“ „Danke, ich richte es gerne aus!“ Wir gingen zum Portal, ich schloss auf und wir verabschiedeten uns. Es hatte wieder aufgehört zu schneien und zum Glück war Regines Auto noch nicht eingeschneit, so dass sie gleich losfahren konnte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es kurz vor fünf war. Zufrieden schloss ich das Portal wieder ab und setzte mich noch einmal in die Bank. Jetzt war für heute fast alles geschafft, ich konnte gleich nach Hause fahren und hatte dann tatsächlich Feierabend. Aber die Sache mit dem Lichtschein ging mir nicht aus dem Kopf. „Ich habe ihn doch deutlich gesehen!“ Ich blickte wieder zum Bild hinüber, aber diesmal tat sich nichts. Ich schloss die Augen und in diesem Moment setzte der Fünfuhrschlag ein, nach einer kurzen Pause gefolgt vom dreiminütigen Gebetsläuten.
Es ist immer wieder ein besonderes Gefühl auf die Glocken zu hören. Noch vor einigen Jahren nahmen es viele Dorfbewohner als selbstverständlich hin, manche murrten auch über die Lärmbelästigung, aber als die Glocken für mehr als ein halbes Jahr wegen der Kirchturmrenovierung schweigen mussten, da fehlten sie den Menschen doch sehr. Und wie froh waren sie, als die Glocken nach der Zwangspause endlich wieder läuten durften.
Nachdem das Geläut beendet war, öffnete ich wieder die Augen und schaute nochmals nach links zum Ölgemälde. Es war nichts besonders zu erkennen. So beschloss ich, am Altar noch den Segen zu sprechen, so wie es immer nach der Neugestaltung tue, um danach wieder zur Orgelempore hinaufzusteigen, um die Deckenbeleuchtung auszuschalten. Auf dem Rückweg nach unten schaltete ich auch die Treppenbeleuchtung aus und ging Richtung Nordportal. Dabei blickte ich beim Vorbeigehen noch einmal auf das Bild und glaubte, für einen ganz kurzen Moment nur, das Licht wieder zu erkennen.
Ein leichtes Flackern, wie ein Zeichen, dass ich jetzt gut nach Hause kommen möge? Ich lächelte, zog meine Jacke über und löschte auch das Licht am Eingang, nachdem ich zuvor den Schlüssel ins Türschloss gesteckt hatte, um von draußen dann abschließen zu können. Kurz dachte ich nach, ob alles erledigt wäre: Die Heizung sollte angeschaltet bleiben wegen der morgigen Krippenspielprobe und die Lichter waren alle aus. Noch einmal ein kurzes Flackern über dem Ölgemälde, dann war die Kirche komplett in Dunkelheit getaucht, nur der Schnee und der über dem Friedhof stehende Vollmond sorgten dafür, dass es nicht ganz so finster war.
Für den nächsten längeren Aufenthalt in der Kirche beschloss ich, das Ölgemälde genauer in Augenschein zu nehmen, war ich vielleicht einfach nur überarbeitet oder las ich zu viele Bücher zu übersinnlichen Themen, dass ich nun merkwürdige Erscheinungen in meiner Kirche wahrnahm? Ein letzter Blick zum Altar, das Kreuzzeichen, und dann trat ich vorsichtig hinaus, schloss das Portal ab und ging zum Auto.
Der Schneefall setzte erneut ein, ich befreite das Fahrzeug einigermaßen vom Schnee, stieg ein, und dann fuhr ich fröhlich und gutgelaunt bei festlicher Adventsmusik nach Hause, wo ich rund zwanzig Minuten später wohlbehalten ankam und von meinem Mann freudig und erleichtert begrüßt wurde.
Wir hatten eine wunderbare Advents- und Weihnachtszeit, die Gottesdienste konnten wieder ohne besondere Auflagen stattfinden, und ganz pünktlich zu Weihnachten wurde es immer milder, zu Silvester erreichten die Thermometer mancherorts sogar neue Rekordwerte. Wegen der notwendigen Energiesparmaßnahmen hatten wir in beiden Kirchenvorständen beschlossen, auch im Neuen Jahr nur vierzehntägig die Gottesdienste an den Sonntagen zu feiern.
Inzwischen hatte ich den adventlichen Lichtschein in der Kirche schon fast wieder vergessen, als ich am Abend nach dem Weltgebetstags-Gottesdienst, Anfang März, nach der Feier im Gemeindehaus noch einmal in die Kirche ging, um die letzten Requisiten zu holen, die wir für die Dekoration verwendet hatten und jetzt ihren Besitzern zurückgegeben werden sollten. Ich schloss das Nordportal auf, betätigte den Lichtschalter für die Beleuchtung neben der Tür und suchte die Sachen zusammen, die noch vor dem Altar standen. Auf dem Weg zur Tür schaute ich eher zufällig auf das Ölgemälde und traute meinen Augen nicht: Es war komplett beleuchtet, und es war nicht das Deckenlicht, das auf das Bild strahlte.
Dann erfolgte wieder das Flackern, ich lächelte und das Licht war verschwunden, nur die normale Beleuchtung erhellte noch den Eingangsbereich. Da kamen all die Erinnerungen an die Adventszeit wieder zurück. Hatte ich mir das alles doch nicht nur eingebildet? War der Lichtschein tatsächlich mehr als eine Sinnestäuschung?
Von draußen hörte ich Schritte und jemand rief nach mir. Es war Tanja, unsere stellvertretende KV-Vorsitzende, die mich gesucht hatte und feststellte, dass die Kirchentür offenstand. „Ich bin hier in der Kirche und komme sofort“, rief ich zurück, dann schaute ich noch einmal auf das Bild und löschte das Licht. Von außen schloss ich das Portal ab und übergab Tanja die Sachen, die sie mitgebracht hatte. Sie legte alles in ihr Auto, und wir gingen gemeinsam zurück in den Gemeindesaal, wo sich noch einige Gäste aufhielten und munter miteinander ins Gespräch vertieft waren. Der Abend klang gemütlich aus, seit langer Zeit war es die erste Feier mit Essen und Trinken und Beisammensein.
Inzwischen waren wieder einige Wochen vergangen und ich war unterdessen mehrmals in der Kirche gewesen, ohne dass mir dabei besondere Dinge aufgefallen wären. Auch eine genauere Inspektion des Ölgemäldes, das wir erst vor einigen Jahren komplett haben restaurieren lassen und das dabei auch einen neuen Rahmen erhalten hatte, ergab keine besonderen Auffälligkeiten.
Doch dann kam der Karfreitag! Wie immer feierten wir am Morgen erst in Ilsdorf den Gottesdienst und danach fuhr ich direkt weiter nach Groß-Eichen. Natürlich gehörte auch hier die Abendmahlsfeier mit dazu. Schon seit einigen Jahren feiern wir am Gründonnerstag und am Karfreitag das Abendmahl in Form der Intinctio, das heißt, alle erhalten ihre Hostie, warten und tauchen sie dann in den Wein im Kelch ein. Dafür wird stets einer der beiden historischen Kelche verwendet, entweder der aus dem Jahr 1697, der gemeinsam mit dem Ölgemälde angeschafft wurde, das im gleichen Jahr entstanden ist und schon in der Vorgängerkirche in Gebrauch war, oder der Kelch von 1873, der durch eine bekannte und angesehene Groß-Eichener Familie als Sühne für einen vertuschten Selbstmord gespendet werden musste. In diesem Jahr entschied ich mich für den älteren der beiden Kelche.
Der Gottesdienst verlief zunächst ganz normal, während des Liedes nach der Predigt ging ich nach vorn zum Altar, um das Abendmahl vorzubereiten. Ich nahm den Kelch in die Hand, um ihn an die richtige Position zu stellen, da entdeckte ich auf dem Kelchfuß ein kleines glänzendes Licht. Zunächst dachte ich, dass sich die Sonne darauf spiegeln würde, aber es regnete draußen und von Sonnenstrahlen war keine Spur zu entdecken. Auch nachdem ich den Kelch wieder abgestellt hatte, war das Licht ganz deutlich zu sehen. Doch ich hatte jetzt keine Zeit, um lange darüber nachzudenken, da das Lied beendet war und ich mit der Abendmahlsliturgie beginnen musste. Nach dem Abendmahlsgebet folgte das Vaterunser und ich läutete dazu mit der Fernbedienung die Vaterunser-Glocke. Gewohnheitsgemäß hob ich danach bei den Einsetzungsworten, die ich immer zum Altar gewendet spreche, zunächst die Hostien empor, dann den Kelch.
Das Licht auf dem Kelchfuß wurde noch intensiver und sprang dann plötzlich vom Kelch nach links weg und kam, wie ich es aus dem Augenwinkel sehen konnte, auf dem Ölgemälde zum Stehen. Ich konnte mich in diesem Moment nicht umdrehen, da ich mich auf die Liturgie konzentrieren musste, aber in der Kirche schien noch niemand etwas von den Vorgängen bemerkt zu haben, denn es blieb alles ruhig. Nach dem Agnus-Dei-Gesang wendete ich mich wieder der Gemeinde zu und sah, dass das gesamte Ölgemälde in strahlendes Licht getaucht war, ja, dass es richtig hell erleuchtet war, aber dennoch niemand etwas zu bemerken schien.
Mit den Hostien in der linken und dem Kelch in der rechten Hand sprach ich die Einladungsworte: „Kommt, denn es ist alles bereit…“. In diesem Augenblick erkannte ich einen Lichtstrahl zwischen Bild und Kelchfuß, der beide miteinander verband, doch auch diesen schien außer mir niemand zu sehen. Langsam begann ich innerlich an meinem Verstand zu zweifeln, und während ich die Hostien reichte und den Kelch darbot, konnte ich die ganze Zeit das Lichtband zwischen Kelch und Bild sehen. Irgendwie gelang es mir, den Gottesdienst wie gewohnt zu Ende zu führen. Der Lichtstrahl zwischen Kelch und Bild war auch während des Schlussliedes für mich deutlich sichtbar, obgleich ich den Eindruck hatte, dass er schwächer geworden war.
Während der letzten Strophe ging ich wieder nach vorn zum Altar, hielt inne, verbeugte mich leicht und drehte mich zur Gemeinde um. Dann lud ich dazu ein, zum Segen aufzustehen. Gewohnheitsgemäß sprach ich mit ausgebreiteten und erhobenen Armen die Worte des aaronitischen Segens, und plötzlich spürte ich, viel stärker als sonst, eine Energie durch mich hindurchfließen. Jetzt war ich mit dem Kelch hinter mir auf dem Altar und dem Ölgemälde rechts neben mir an der Wand wie in einem Dreieck verbunden. Ich zeichnete das Segenskreuz über die Gemeinde und gab das Zeichen, zum Orgelnachspiel noch einmal Platz zu nehmen. Auch ich setzte mich auf meinem Stuhl und noch immer verband mich der Lichtstrahl mit dem Kelch und dem Bild. Als das Orgelnachspiel beendet war, erhob ich und ging zum Nordportal, um die Gottesdienstbesucher zu verabschieden. In diesem Moment verlosch der Lichtstrahl.
Nachdem ich alle verabschiedet hatte und die Nacharbeiten und die Gespräche mit den noch anwesenden Kirchenvorstandsmitgliedern beendet waren, bat ich meine Familie schon mit dem anderen Auto nach Hause zu fahren, um mit den Essensvorbereitungen zu beginnen, was diese gerne tat. Ich wollte unterdessen noch schnell die Kirche fertig aufräumen und dann nachkommen.
Als ich allein in der Kirche war, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und zitterte am ganzen Körper. Bisher konnte ich mich noch irgendwie beherrschen, aber nun war ich am Ende meiner Kräfte. Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen habe, aber plötzlich war das Licht wieder da, nicht nur auf dem Bild und auf dem Kelch, sondern überall im Raum. Es schien mich sanft einzuhüllen, fühlte sich sehr tröstend an und war nicht so stark wie vorher beim Segen. Und dann glaubte ich aus dem Licht heraus eine leise Stimme zu hören: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Es waren Worte aus dem 41. Kapitel des Buches des Propheten Jesaja, die ich gut kenne und sehr gerne mag.
„Jetzt bin ich total verrückt geworden, so muss sich der religiöse Wahn anfühlen.“ Das ging mir als erstes durch den Kopf. Aber die Stimme sprach weiter: „Alles ist gut! Du bist ganz normal, es ist alles in Ordnung, aber wir haben einen Auftrag und du bist dazu auserwählt worden. Du wirst das Werkzeug sein, das eine besondere Aufgabe erfüllen soll!“
„Wer bist du?“ Ich sprach diese Worte nicht laut aus, sie gingen mir eher durch den Sinn, und auch die Stimme schien mehr aus dem inneren des Lichtes zu kommen als irgendwo im Raum lokalisierbar zu sein.
„Sei getrost und unverzagt, wir sind Boten aus der himmlischen Sphäre, und heute war es soweit, dich einzuweihen, nachdem du die Grüße mit dem Lichtstrahl zumindest im Ansatz bereits verstanden hattest. Heute war der Tag auf den wir schon sehr lange gewartet haben!“ „Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen dem Kelch und dem Bild?“ „Ja, sie haben eine besondere Verbindung, und wenn alle Bedingungen stimmen, so wie heute am Karfreitag, dann können vom Kelch und dem Bild Energien ausgehen, doch auch die Glocke ist wichtig. Du hast den Kelch zwar schon oft hier beim Abendmahl verwendet, aber da war die Zeit noch nicht gekommen, um es dir zu offenbaren, und vor allem war es kein Karfreitag. Ferner musstest du noch geprüft und für diese Aufgabe für würdig befunden werden.“
„Darf ich denn erfahren, um welche Aufgabe es sich handelt?“ „Im Augenblick nicht, denn es ist uns noch nicht gestattet, dir mehr zu offenbaren.“ „In Ordnung, ich habe verstanden. Der Wille des Ewigen möge geschehen! Habt Dank und seid im Namen des Ewigen und Allerhöchsten gesegnet!“ „Sei auch du in seinem Namen gesegnet, und habe keinerlei Furcht! Erledige jetzt deine restliche Arbeit hier und vor allem: Sprich zu Niemandem über das, was du heute hier erlebt hast! Zu gegebener Zeit werden wir dich in deine Aufgabe einweihen! Gott zum Gruß!“
Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, war das Licht verschwunden und ich blieb einigermaßen ratlos zurück. Aber ich war zumindest erleichtert, dass ich mir das alles nicht bloß eingebildet hatte und vermutlich auch nicht verrückt geworden war. Trotzdem fragte ich mich, wie viele meiner Schwestern und Brüder wohl ähnliche Begegnungen in ihren Kirchen machen dürfen?
Zügig räumte ich das gesäuberte Abendmahlsgerät in den Altarschrank und wollte mich gerade auf den Nachhauseweg begeben, als Wilma in die Kirche eintrat. Sie lächelte verlegen und sagte, dass sie doch langsam alt und vergesslich werde, da sie schon wieder ihren Regenschirm hiergelassen habe. Draußen auf dem Friedhof habe sie es noch nicht bemerkt, aber jetzt ginge der Regen wieder los und da wäre es ihr eingefallen, wo sie den Schirm vergessen habe. Und tatsächlich, es regnete inzwischen sehr stark. „Na, das Wetter passt zum Anlass dieses Tages und in diesem Fall ist es sicher gut, wenn ich dich jetzt mit dem Auto mitnehme und du