Die Heimkehr - John Grisham - E-Book
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Die Heimkehr E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Erstmals legt der Meister des Justizthrillers drei Kurzromane vor: packend, humorvoll, berührend.

Jake Brigance erreicht der Hilferuf eines alten Freundes: Mack Stafford ist vor Jahren mit viel veruntreutem Geld untergetaucht. Nun will er mit Jakes Unterstützung heimkehren. Aber dann läuft alles anders als geplant.

Seit vierzehn Jahren sitzt Cody in der Todeszelle, und an diesem Tag soll das Urteil vollstreckt werden. Doch er hat noch einen letzten Wunsch.

Zwei verfeindete Brüder und Anwälte wollen einen krummen Deal drehen, um ihren Vater zu ruinieren – mit verhängnisvollen Folgen.

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Seitenzahl: 467

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Das Buch

Erstmals legt John Grisham drei meisterhafte Kurzromane vor:

Die Heimkehr: Vor drei Jahren hat der Anwalt Mack Stafford eine große Summe Geld veruntreut und ist untergetaucht. Nun liegt seine Ex-Frau im Sterben, und sein alter Kumpel Jake Brigance soll ihm dabei helfen, nach Ford County und zu seinen Töchtern heimzukehren. Doch nichts läuft nach Plan.

Erdbeermond: Seit vierzehn Jahren sitzt Cody in der Todeszelle, obwohl er erst neunundzwanzig ist. Alle Einsprüche gegen das Urteil sowie ein letztes Gnadengesuch wurden abgelehnt. An diesem Tag soll das Urteil vollstreckt werden. Doch Cody hat noch einen letzten Wunsch.

Sparringspartner: Zwei Brüder führen gemeinsam eine Kanzlei, obwohl sie sich gegenseitig zutiefst verabscheuen. Einig sind sie sich nur in ihrem Hass auf den Vater. Sie spinnen eine Intrige gegen ihn, in der auch die treue Mitarbeiterin Diantha Bradshaw eine tragende Rolle spielen soll – mit verhängnisvollen Folgen.

Der Autor

John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.

JOHN GRISHAM

DIE HEIMKEHR

DREI KURZROMANE

Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter, Kristiana Dorn-Ruhl und Imke Walsh-Araya

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Sparring Partners bei Doubleday, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Übersetzung: Bea Reiter (Die Heimkehr/Homecoming),

Kristiana Dorn-Ruhl (Erdbeermond/Strawberry Moon),

Imke Walsh-Araya (Sparringspartner/Sparring Partners)

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock/Jrossphoto

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30193-4V001

www.heyne.de

INHALT

Die Heimkehr

Erdbeermond

Sparringspartner

DIE HEIMKEHR

1

Es war einer dieser nasskalten, windigen und trostlosen Montagnachmittage im Februar, an denen sich eine düstere Stimmung über das Land legte und Winterdepressionen überhandnahmen. Im Gericht fanden keine Verhandlungen statt. Das Telefon klingelte nicht. Kleinkriminelle und weitere potenzielle Mandanten hatten andernorts zu tun und kamen nicht auf den Gedanken, sich einen Anwalt zu suchen. Wenn hin und wieder doch jemand in die Kanzlei kam, waren es eher Leute, die im Urlaub zu viel ausgegeben hatten und wegen ihrer Kreditkartenschulden Rat suchten. Sie wurden kurzerhand nach nebenan oder auf die andere Seite des Clanton Square oder sonst wohin geschickt.

Jake saß oben an seinem Schreibtisch und machte kaum Fortschritte mit dem Stapel von Papierkram, den er seit Wochen, ja Monaten vor sich herschob. In den nächsten Tagen waren weder Verhandlungen noch Anhörungen angesetzt, und es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, um zu bearbeiten, was liegen geblieben war – die »Fischakten« mit dem öden Kleinkram, die so genannt wurden, weil sie umso mehr stanken, je länger sie herumlagen und Staub ansetzten. Jeder Anwalt hatte solche Fälle, die er irgendwann mal angenommen hatte und nach einer Weile nur noch verschwinden lassen wollte. Eine Kleinstadtkanzlei hatte den großen Vorteil, dass einen jeder kannte – insbesondere dann, wenn sie in dem Ort lag, in dem man geboren worden war. Für Jake war es wichtig, dass er angesehen und beliebt war und einen guten Ruf hatte. Wenn die Nachbarn in Schwierigkeiten gerieten, wollte er der Mann sein, den sie anriefen. Der Nachteil war, dass solche Fälle immer banal und selten lukrativ waren. Ablehnen konnte er trotzdem nicht. Der Klatsch war unerbittlich, und ein Anwalt, der seine Freunde im Stich ließ, blieb nicht lange im Geschäft.

Jakes trübsinnige Gedanken wurden von Alicia unterbrochen, seiner aktuellen Teilzeitsekretärin, die sich über die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch meldete: »Jake, hier ist ein Paar, das mit Ihnen sprechen möchte.«

Ein Paar. Verheiratet also, aber mit dem Wunsch, bald unverheiratet zu sein. Noch eine Scheidung, die nichts einbringen würde. Jake warf einen Blick in den Terminkalender, obwohl er genau wusste, dass er für diesen Tag keinen Eintrag finden würde.

»Haben sie einen Termin?«, fragte er, um Alicia daran zu erinnern, dass sie ihn nicht mit der Laufkundschaft behelligen sollte.

»Nein. Aber sie sind nett und sagen, dass es sehr dringend ist. Sie wollen nicht gehen, ohne mit Ihnen gesprochen zu haben. Es dauert nur ein paar Minuten, sagen sie.«

Jake hasste es, auf diese Weise in seinem Büro überfallen zu werden. Wenn mehr los gewesen wäre, hätte er sich geweigert und die beiden rausgeworfen. »Sehen sie so aus, als hätten sie Geld?« Die Antwort war immer Nein.

»Na ja, auf mich machen sie schon den Eindruck, wohlhabend zu sein.«

Wohlhabend? In Ford County? Interessant.

»Sie sind aus Memphis und auf der Durchreise, aber wie ich schon sagte: Sie behaupten, es sei sehr wichtig.«

»Wissen Sie, um was es geht?«

»Nein.«

Wenn die beiden in Memphis lebten, war es mit Sicherheit keine Scheidung. Jake ging in Gedanken eine Liste mit Möglichkeiten durch: Testament der Großmutter, Land in Familienbesitz, vielleicht ein Sohn an der Ole Miss, den man mit Drogen erwischt hatte. Da er gelangweilt und neugierig war und eine Entschuldigung brauchte, um mit dem Papierkram aufzuhören, fragte er: »Haben Sie ihnen gesagt, dass ich gerade an einer Telefonkonferenz mit einem Dutzend Anwälte teilnehme, um einen Vergleich auszuhandeln?«

»Nein.«

»Haben Sie ihnen gesagt, dass ich gleich einen Termin beim Bundesgericht drüben in Oxford habe und nur ein paar Minuten für sie erübrigen kann?«

»Nein.«

»Haben Sie ihnen gesagt, dass ich vollauf mit meinen anderen Terminen beschäftigt bin?«

»Nein. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Kanzlei leer ist und das Telefon nicht klingelt.«

»Wo sind Sie gerade?«

»In der Küche, damit ich ungestört mit Ihnen reden kann.«

»Also gut. Kochen Sie frischen Kaffee und führen Sie die beiden in den Konferenzraum. Ich bin in zehn Minuten unten.«

2

Das Erste, was Jake auffiel, war ihre Sonnenbräune. Die beiden waren offensichtlich irgendwo im Warmen gewesen. Niemand sonst in Clanton war im Februar so braun gebrannt. Das Zweite war der schicke Kurzhaarschnitt der Frau, elegant, mit ein paar grauen Strähnen und eindeutig teuer. Dann fiel ihm das modische Sakko auf, das der Mann trug. Anders als die übliche Laufkundschaft waren beide gut angezogen und hatten ein gepflegtes Äußeres.

Er gab ihnen die Hand, während sie sich vorstellten. Gene und Kathy Roupp aus Memphis. Ende fünfzig, sehr sympathisch, mit einem strahlenden Lächeln, bei dem perfekte Zähne gezeigt wurden. Jake konnte sich die beiden problemlos auf einem Golfplatz in Florida vorstellen, wo sie, beschützt von hohen Mauern und Sicherheitspersonal, ein schönes Leben führten.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte er sich.

Gene lächelte. »Ich sag’s nicht gern, aber wir sind keine potenziellen Mandanten«, begann er.

Jake blieb locker und überspielte das mit einem vorgetäuschten Lächeln und einem Schulterzucken, als wollte er sagen: Was soll’s? Ein Anwalt muss ja nicht für seine Zeit bezahlt werden. Er würde den beiden zehn Minuten und eine Tasse Kaffee geben, bevor er sie rauswarf.

»Wir sind gerade von einem vierwöchigen Urlaub in Costa Rica zurückgekommen, eines unserer Lieblingsländer. Sind Sie dort schon mal gewesen?«

»Nein. Aber ich habe gehört, dass es toll ist.« Jake hatte nichts dergleichen gehört, aber was hätte er sonst sagen sollen? Er würde nie zugeben, dass er die Vereinigten Staaten in seinem achtunddreißigjährigen Leben genau ein Mal verlassen hatte. Auslandsreisen waren für ihn nur ein Traum.

»Wir sind sehr gern dort, es ist ein richtiges Paradies. Schöne Strände, Berge, Regenwald, fantastisches Essen. Einige unserer Freunde haben sich Häuser gekauft – Immobilien sind ziemlich günstig. Die Leute sind sehr angenehm, gebildet, fast alle sprechen Englisch.«

Jake hasste Small Talk über Urlaub, weil er nie wegfuhr. Die Ärzte aus Clanton waren am schlimmsten – sie prahlten ständig mit angesagten neuen Hotels.

Kathy brannte darauf, sich am Gespräch zu beteiligen. »Man kann dort hervorragend Golf spielen, es gibt unglaublich tolle Plätze«, warf sie ein.

Jake spielte kein Golf, weil er Clantons Country Club nicht beigetreten war. Unter den Mitgliedern waren zu viele Ärzte, Aufsteiger und Familien mit geerbtem Geld.

Er lächelte, nickte und wartete, dass einer der beiden die Unterhaltung fortsetzte. Aus einer Tasche, die er nicht sehen konnte, holte Kathy ein Pfund Kaffee in einer glänzenden Dose hervor. »Ein kleines Geschenk für Sie«, sagte sie. »San Pedro Selection. Einfach unglaublich. Wir bringen immer Unmengen davon mit.«

Jake nahm den Kaffee, um nicht unhöflich zu wirken. Statt mit Bargeld waren seine Rechnungen schon mit Wassermelonen, frisch geschossenem Wild, Brennholz, Autoreparaturen und mehr Tauschwaren und Dienstleistungen beglichen worden, als ihm lieb war. Sein bester Anwaltskumpel, Harry Rex Vonner, hatte einmal einen John-Deere-Rasentraktor als Honorar akzeptiert, allerdings war der Mäher nach kurzer Zeit kaputtgegangen. Ein anderer Anwalt, der inzwischen nicht mehr praktizierte, hatte von einer Mandantin in einer Scheidungssache sexuelle Gefälligkeiten erhalten. Als er den Fall verlor, legte sie Beschwerde wegen Verstoß gegen die Standespflichten ein und behauptete, es sei eine »unzulängliche Leistung« gewesen.

Jake bewunderte die Dose und versuchte, den Aufdruck in Spanisch zu entziffern. Ihm fiel auf, dass die Besucher ihren Kaffee nicht angerührt hatten, und plötzlich fragte er sich, ob die beiden Kenner waren und sein übliches Gebräu ihren Ansprüchen nicht gerecht wurde.

»Vor zwei Wochen waren wir in einer Öko-Lodge, bei der wir Stammgäste sind«, fuhr Gene fort. »Hoch oben in den Bergen, mitten im Regenwald, ein kleines Hotel mit nur dreißig Zimmern und einer unglaublichen Aussicht.«

Wie oft wollten die beiden denn noch das Wort »unglaublich« benutzen?

»Während wir draußen gefrühstückt und die Klammeraffen und Papageien beobachtet haben, ist ein Kellner an unseren Tisch gekommen, um Kaffee nachzuschenken. Er war sehr nett –«

»Die Leute dort sind so wahnsinnig nett. Und sie lieben Amerikaner«, warf Kathy ein.

Wie sollte es auch anders sein.

Gene nickte. »Wir haben uns eine Weile mit ihm unterhalten, er sagte, er heiße Jason und stamme aus Florida, lebe aber schon seit zwanzig Jahren in Costa Rica. Beim Mittagessen haben wir wieder mit ihm gesprochen. Danach sind wir uns öfter über den Weg gelaufen, und jedes Mal haben wir nett geplaudert. Am Tag vor unserer Abreise hat er uns zu einem Glas Champagner in einer kleinen Baumhaus-Bar eingeladen. Er hatte frei und sagte, die Getränke gingen auf ihn. Die Sonnenuntergänge in den Bergen sind unglaublich, und wir amüsierten uns großartig, als er plötzlich ernst wurde.«

Gene legte eine Pause ein und sah Kathy an, die ihm sofort zu Hilfe kam: »Er sagte, er müsse uns etwas erzählen, etwas streng Vertrauliches. Er heiße gar nicht Jason, und er sei auch nicht aus Florida. Dann hat er sich entschuldigt, weil er nicht ehrlich zu uns war. Er sagte, sein richtiger Name sei Mack Stafford, und er stamme aus Clanton, Mississippi.«

Jake versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, was ihm aber nicht gelang. Ihm klappte die Kinnlade herunter.

Die Roupps beobachteten seine Reaktion gespannt. »Ich gehe davon aus, dass Sie Mack Stafford kennen«, stellte Gene fest.

Jake atmete heftig aus und war sich nicht sicher, was er sagen sollte. »Ich fasse es nicht.«

»Er sagte, Sie seien alte Freunde«, fügte Gene hinzu.

Jake war so schockiert, dass er nach Worten rang. »Ich bin froh, dass er am Leben ist.«

»Dann kennen Sie ihn also gut?«

»Oh ja, sogar ziemlich gut.«

3

Drei Jahre zuvor war die Stadt von der spektakulären Nachricht erschüttert worden, dass Mack Stafford, ein bekannter Anwalt mit einer Kanzlei am Clanton Square, durchgedreht war. Er hatte Insolvenz angemeldet, sich von seiner Frau scheiden lassen und mitten in der Nacht seine Familie verlassen. Das Gerede hielt wochenlang an, alle möglichen Geschichten machten die Runde, und als sich der Staub endlich legte, sah es so aus, als würden die Gerüchte zur Abwechslung einmal stimmen.

Mack hatte siebzehn Jahre lang praktiziert, und Jake kannte ihn gut. Er war ein mittelmäßiger Anwalt mit passablem Ruf. Wie die meisten von ihnen kümmerte er sich um die Routinefälle jener Mandanten, die in seiner Kanzlei vorbeikamen, und schaffte es gerade so, sich über Wasser zu halten. Seine Frau, Lisa, war stellvertretende Rektorin der Highschool von Clanton und bezog ein festes Gehalt. Ihrem Vater gehörte das einzige Zementwerk im County, weshalb ihre Familie ein oder zwei Klassen besser war als andere, allerdings immer noch weit unter den Ärzten angesiedelt wurde. Lisa war ganz nett, aber arrogant, weswegen Jake und Carla nie richtig warm geworden waren mit ihr.

Nachdem Mack sich davongemacht hatte und langsam klar wurde, dass er tatsächlich spurlos verschwunden war, sickerte von irgendwoher durch, dass er die Stadt mit Geld verlassen hatte, das genau genommen nicht ihm gehörte. Lisa bekam bei der Scheidung alles, aber die Schulden des Paars waren fast genauso hoch wie das gemeinsame Vermögen. Mack lud Akten, Mandanten und juristische Probleme auf Harry Rex ab, der Jake ganz im Vertrauen mitteilte, dass er in bar dafür bezahlt worden war. Außerdem hatte Mack Geld für Lisa und die beiden Töchter dagelassen. Lisa hatte keine Ahnung, wo es herkam.

Die Tatsache, dass Mack seine Flucht sorgfältig geplant hatte, heizte die Spekulationen darüber an, dass er etwas Unrechtes getan hatte. Veruntreuung von Mandantengeldern wurde für das Wahrscheinlichste gehalten. Jedem Anwalt wurde von Mandanten Geld anvertraut, selbst wenn es nur für kurze Zeit war, und der schnellste und am häufigsten vorkommende Weg zu einem Berufsverbot bestand darin, hin und wieder etwas davon abzuzweigen. Es gab jede Menge legendärer Fälle, in denen Anwälte der Versuchung erlegen waren und erhebliche Summen aus Treuhandfonds, Vormundschaftskonten und Vergleichszahlungen in die eigene Tasche gesteckt hatten. In der Regel versuchten sie, für eine Weile unterzutauchen, doch irgendwann erwischte man sie, entzog ihnen die Zulassung und schickte sie ins Gefängnis.

Doch Mack wurde nie geschnappt, und man hörte nie wieder etwas von ihm. Nach ein paar Monaten fing Jake an, Harry Rex zu fragen, ob er etwas von Mack gehört habe, und das immer bei einem Bier. Ganz sicher nicht, antwortete sein Freund stets. Unter den Anwälten in Clanton wurde er zur Legende. Mack war die Flucht gelungen. Er hatte eine unglückliche Ehe und eine trostlose Karriere hinter sich gelassen und sonnte sich irgendwo am Strand, mit einem Glas Rum in der Hand. Zumindest stellten sich das die Anwälte, die zurückgeblieben waren, so vor.

4

»Wir hatten den Eindruck, dass er hier etwas Unrechtes getan hat, aber er hat nicht darüber gesprochen«, fuhr Kathy fort. »Wenn ein Mann wie er an einem derart exotischen Ort lebt, einen falschen Namen benutzt und so weiter, geht man doch davon aus, dass er eine ziemlich bewegte Vergangenheit hat. Aber wie gesagt, er hat uns nicht viel über sich erzählt.«

»Als wir wieder zu Hause waren, haben wir Nachforschungen angestellt und ein paar Artikel in den Lokalzeitungen gefunden, aber es war alles ziemlich allgemein«, ergänzte Gene. »Seine Scheidung, die Insolvenz und die Tatsache, dass er verschwunden ist.«

»Mr. Brigance, würden Sie uns sagen, ob Mack sich etwas zuschulden hat kommen lassen? Ist er auf der Flucht?«, fragte Kathy.

Jake hatte nicht vor, zwei Fremden, die er vermutlich kein zweites Mal sehen würde, Vertrauliches zu enthüllen. Genau genommen wusste er nicht einmal, ob Mack eine Straftat begangen hatte. Er wich der Frage aus. »Ich glaube nicht. Es ist kein Verbrechen, sich scheiden zu lassen und wegzuziehen.«

Die Antwort war vollkommen unzureichend. Sie hing für ein paar Sekunden in der Luft, dann beugte sich Gene vor und fragte: »Haben wir etwas Unrechtes getan, als wir uns mit ihm unterhalten haben?«

»Natürlich nicht.«

»Beihilfe oder so etwas in der Art?«

»Auf keinen Fall. Wirklich nicht. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

Die beiden seufzten erleichtert.

»Aber die naheliegende Frage ist: Warum sind Sie hier?«, sagte Jake.

Die beiden warfen sich einen wissenden Blick zu, dann griff Kathy in ihre Handtasche. Sie zog einen unfrankierten braunen Briefumschlag heraus und gab ihn Jake, der ihn argwöhnisch entgegennahm. Die Klappe war mit Klebeband und Heftklammern versiegelt.

»Mack hat uns gebeten, bei Ihnen vorbeizugehen und Grüße von ihm auszurichten. Außerdem sollen wir Ihnen das hier geben. Wir haben keine Ahnung, was es ist«, erklärte Gene.

Kathy wurde wieder nervös. »Das geht doch in Ordnung, oder? Wir sind nicht in irgendetwas Ungesetzliches verwickelt?«, fragte sie.

»Natürlich nicht. Niemand wird je etwas davon erfahren.«

»Er hat gesagt, Sie seien vertrauenswürdig.«

»Das ist richtig.« Jake wusste zwar nicht, warum Diskretion von ihm erwartet wurde, aber er wollte die beiden nicht beunruhigen.

Gene gab ihm einen Zettel. »Das ist unsere Telefonnummer in Memphis. Mack möchte, dass Sie uns in ein paar Tagen anrufen und einfach Ja oder Nein sagen. Das ist alles. Nur Ja oder Nein.«

»Okay.« Jake nahm das Stück Papier und legte es neben den Umschlag und die Dose mit dem Kaffee. Kathy trank endlich einen Schluck aus ihrer Tasse. Ihr Gesicht blieb regungslos.

Die Roupps hatten ihren Auftrag erfüllt und verabschiedeten sich. Jake versicherte ihnen, dass er striktes Stillschweigen wahren und niemandem von ihrem Gespräch erzählen werde. Er begleitete sie zum Ausgang und ging mit ihnen nach draußen, wo sie in einen teuren BMW stiegen und davonfuhren.

Dann eilte er in den Konferenzraum zurück, schloss die Tür und riss den Umschlag auf.

5

Der Brief war auf einfachem weißen Papier getippt, zweimal gefaltet und enthielt einen kleineren Umschlag, der im Falz steckte.

Er hatte folgenden Wortlaut:

Hallo Jake,

inzwischen kennst du meine neuen Freunde, Gene und Kathy Roupp aus Memphis. Nette Leute. Ich komme gleich zur Sache. Ich möchte mit dir reden, hier in Costa Rica. Ich will nach Hause kommen, weiß aber nicht, ob das möglich ist. Jake, ich brauche deine Hilfe. Ich bitte dich und Carla darum, Urlaub zu machen und mich zu besuchen, nächsten Monat während des Spring Break. Ich nehme an, dass Carla immer noch unterrichtet, und die Schulen dürften ihre Frühjahrsferien für die zweite Märzwoche ansetzen. Ich werde für euch sechs Übernachtungen in der Terra Lodge arrangieren, einem fantastischen Hotel für Ökotouristen. Es wird euch bestimmt gefallen. Anbei eintausendachthundert Dollar in bar, das ist mehr als genug für zwei Hin- und Rückflüge von Memphis nach San José in Costa Rica. Dort wird ein Wagen warten und euch herbringen. Die Fahrt dauert etwa drei Stunden und ist sehr schön. Zimmer, Mahlzeiten, Ausflüge, alles geht auf mich. Ein Traumurlaub. Wenn ihr hier seid, werde ich euch finden, dann reden wir. Was Diskretion angeht, bin ich inzwischen Experte, und ich versichere dir, dass niemand von unserem Treffen erfahren wird. Je weniger du anderen über den Urlaub erzählst, desto besser. Ich weiß, dass die Leute in dieser furchtbaren Stadt nichts lieber tun, als zu tratschen.

Jake, bitte tu mir den Gefallen. Es wird sich mit Sicherheit für dich lohnen, allein schon wegen der unvergesslichen Reise.

Lisa geht es nicht gut. Du kannst mit Harry Rex darüber reden, aber bitte verpflichte das Großmaul zur Verschwiegenheit.

Ich werde nichts tun, was dich in Gefahr bringen könnte.

Denk darüber nach. Ruf in ein paar Tagen Gene an, und sag entweder Ja oder Nein.

Ich brauche dich.

Mack

Der kleine Umschlag enthielt das Geld und eine Hochglanzbroschüre der Terra Lodge.

6

An einem Montag war der gefährlichste Ort im Stadtzentrum von Clanton zweifellos die Kanzlei von Harry Rex Vonner. Aufgrund seines wohlverdienten Rufs als fiesester Scheidungsanwalt im County zog er Mandanten an, die so viel Geld hatten, dass sich ein Kampf darum lohnte. Der Montag war aus verschiedenen Gründen explosiv: schlechtes Benehmen am Samstagabend oder zu viel Zeit zu Hause, in der über alles Mögliche gestritten wurde, oder ein konfliktgeladenes Sonntagsessen mit den Schwiegereltern zu viel. Es gab jede Menge Zündstoff, und die genervten und miteinander streitenden Ehegatten wollten sich so schnell wie möglich einen Rechtsbeistand sichern. Gegen Mittag war die Kanzlei ein Pulverfass. Die Telefone klingelten ununterbrochen, und ständig kamen bestehende und neue Mandanten herein, mit und ohne Termin. Die gestressten Sekretärinnen versuchten, für Ordnung zu sorgen, während Harry Rex entweder herumtrampelte und alle anblaffte oder sich in seinem bunkerähnlichen Büro versteckte, um dem Chaos zu entgehen. An einem Montag kam es häufiger vor, dass er aus seinem Hinterzimmer stürmte und Mandanten oder andere Besucher hochkant hinauswarf.

Sie fügten sich immer, weil Harry Rex dafür bekannt war, unberechenbar zu reagieren. Auch diesen Ruf hatte er völlig zu Recht. Vor ein paar Jahren war eine der Sekretärinnen in sein Büro geeilt und hatte gesagt, sie habe gerade mit einem Ehemann telefoniert, der unterwegs in die Stadt sei, mit einer Waffe in der Hand. Harry Rex ging zu seinem Schrank und griff sich seine Lieblingsflinte, eine Browning Pumpgun Kaliber 12. Als der Ehemann seinen Pick-up in der Nähe des Gerichtsgebäudes parkte und auf die Kanzlei zuging, lief Harry Rex auf den Bürgersteig hinaus und gab zwei Schüsse in den Himmel ab. Der Ehemann trat den Rückzug an, stieg in seinen Wagen und verschwand. Die Schüsse dröhnten wie Haubitzen über den Clanton Square. Büros und Geschäfte leerten sich, als die Leute nach draußen rannten, um herauszufinden, was geschehen war. Jemand rief die Polizei. Als Sheriff Ozzie Walls vor der Kanzlei hielt, hatten sich zahlreiche Schaulustige auf dem Rasen vor dem Gericht versammelt, in sicherer Entfernung. Ozzie betrat die Kanzlei und sprach mit Harry Rex. Das Abfeuern einer Schusswaffe in der Öffentlichkeit war zwar eine Straftat, aber in einer Kultur, in der das Recht auf Waffenbesitz durch die Verfassung garantiert war und in jedem Fahrzeug mindestens zwei Gewehre, Pistolen oder Revolver mitgeführt wurden, wurde diesem Gesetz nur selten Geltung verschafft. Harry Rex berief sich auf Notwehr und schwor, das nächste Mal tiefer zu zielen.

Nach Einbruch der Dunkelheit am Montag ging Jake um den Stadtplatz herum, schlich sich in eine kleine Gasse und betrat die Kanzlei durch die Hintertür, damit er das Chaos am Eingang vermeiden konnte. Harry Rex saß an seinem Schreibtisch und lächelte sogar. »Was zum Teufel machst du denn hier?«, wollte er wissen.

»Wir müssen uns ein Bier teilen«, erwiderte Jake.

Es war ihre Umschreibung für: Wir müssen reden, jetzt, und es ist streng vertraulich. Harry Rex schloss die Augen, holte tief Luft und fragte leise: »Um was geht es?«

»Mack Stafford.«

Noch ein tiefer Atemzug, dann ein ungläubiger Blick.

»Wir treffen uns um acht im Riviera«, sagte Jake.

Zu Hause küsste und umarmte er Carla, die gerade das Abendessen zubereitete und ein Hühnchen in den Ofen schob. Er ging nach oben und vergewisserte sich, dass Hanna über ihren Hausaufgaben saß. Dann warf er einen Blick ins Zimmer von Luke, der ruhig unter seinem Bett spielte. Als er wieder in der Küche war, bat er seine Frau, sich an den Frühstückstisch zu setzen, und gab ihr den Brief. Während sie ihn las, schüttelte sie immer wieder den Kopf und fing an, sich mit dem Fingernagel auf die Zähne zu tippen, eine Angewohnheit, die vieles bedeuten konnte.

»Was für ein widerlicher Mensch«, sagte sie schließlich.

»Ich habe Mack immer gemocht.«

»Er hat Frau und Kinder verlassen und ist einfach verschwunden. Und hat er nicht auch Geld von seinen Mandanten gestohlen?«

»Das erzählt man sich jedenfalls. Er ist vor drei Jahren untergetaucht, hat aber seine Frau genau genommen nicht verlassen. Sie haben sich scheiden lassen. Ist sie krank?«

»Jake, ich bitte dich. Lisa hat seit einem Jahr Brustkrebs. Das weißt du doch.«

»Ich muss es vergessen haben. So viele Leute haben Krebs. Wenn ich mich recht erinnere, konntest du sie nie richtig leiden.«

»Stimmt.« Carla warf noch einen Blick in den Brief. »Sieh mal nach den Kartoffeln.«

Jake ging zum Herd und rührte die Kartoffeln im Topf um. Dann füllte er ein Glas mit Leitungswasser und kehrte an den Tisch zurück.

»Warum will er mit dir reden? Sein Anwalt war doch Harry Rex, oder?«

»Richtig, und ich glaube, er ist es immer noch. Vielleicht weil Harry Rex Flugangst hat und Mack wusste, dass er nicht kommen würde. Es ist nichts Falsches daran, wenn wir nach Costa Rica fliegen, es ist nicht illegal.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Warum denn nicht? Eine Woche alles inklusive in einem Luxushotel in den Bergen.«

»Nein.«

»Komm schon, Carla. Wir waren seit Jahren nicht mehr richtig im Urlaub.«

»Wir waren noch nie richtig im Urlaub, wenn du unter Urlaub verstehst, in ein Flugzeug zu steigen und irgendwohin zu fliegen.«

»Eben. Das ist eine einmalige Gelegenheit.«

»Nein.«

»Warum nicht? Der Mann braucht Hilfe. Er will nach Hause kommen und sich vielleicht mit seiner Familie aussöhnen. Es wäre doch nicht schlimm, nach Costa Rica zu fliegen und mit ihm zu reden. Mack ist ein netter Kerl.«

»Er hat zwei Töchter, die er einfach im Stich gelassen hat.«

»Stimmt, und das ist nicht in Ordnung. Aber vielleicht will er alles wiedergutmachen. Gib ihm eine Chance.«

»Ist er auf der Flucht?«

»Ich weiß es nicht. Ich treffe mich um acht mit Harry Rex und werde ihn einiges fragen. Gerüchten zufolge hat Mack eine Menge Geld an sich genommen und die Stadt verlassen, aber ich kann mich nicht erinnern, etwas von einer Anklage oder so gehört zu haben. Er hat Insolvenz angemeldet, die Scheidung beantragt und sich in Luft aufgelöst. Die meisten Anwälte in der Stadt waren neidisch auf ihn. Ich natürlich nicht.«

»Natürlich nicht. Ich kann mich noch gut an den Klatsch erinnern. In Clanton wurde monatelang über nichts anderes mehr geredet.«

Jake schob ihr die Hotelbroschüre hin. Sie griff danach.

7

Das Riviera war ein kleines Motel im Fünfzigerjahre-Stil. Es hatte zwei Seitenflügel mit winzigen Zimmern, von denen einige angeblich stundenweise zu mieten waren, und eine schmuddelige Bar, in der sich Anwälte, Banker und Geschäftsleute trafen, um über Dinge zu sprechen, die nicht belauscht werden sollten. Jake war seit Jahren nicht dort gewesen und bekam ein paar neugierige Blicke ab, als er eintrat. Er lächelte dem Barkeeper zu, bestellte zwei Bier vom Fass und brachte sie zu einem Tisch in der Nähe der Jukebox. Fünfzehn Minuten lang nippte er an einem der beiden Gläser, während er wartete. Harry Rex kam immer zu spät, vor allem, wenn er auf einen Drink verabredet war. Es war ein Leichtes, ihn in eine Kneipe zu bekommen, aber für gewöhnlich bestand das Problem darin, dass er nicht wieder gehen wollte. Mit seiner dritten Frau lief es nicht gut, und er zog es vor, möglichst wenig Zeit zu Hause zu verbringen.

Harry Rex trudelte um 20.20 Uhr ein und unterhielt sich kurz mit drei Männern an einem Tisch, an dem er vorbeiging. Manchmal bekam man den Eindruck, dass er alle und jeden kannte.

Er ließ sich Jake gegenüber auf einen Stuhl fallen, griff nach seinem Glas und trank es halb leer. Jake wusste, dass es nicht sein erstes Bier an diesem Abend war. Harry Rex hatte einen mit Bud Light gefüllten Kühlschrank in seinem Büro, und jeden Abend, wenn der letzte Mandant gegangen war, zischte er ein paar.

»Willst du mir mal wieder einen Mandanten abjagen?«, fragte er.

»Eher nicht. Ich bezweifle, dass Mack einen neuen Anwalt sucht.«

»Erzähl mir, was du weißt.«

»Wann hat er die Stadt verlassen? Vor drei Jahren? Hast du seitdem was von ihm gehört?«

»Keinen Pieps. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, stand er in meinem Büro und hat sich die Scheidungspapiere angesehen. Er hat ihr alles gegeben, einschließlich fünfzigtausend in bar. Das steht so in der Scheidungsvereinbarung. Nash war ihr Anwalt, er hat mir später erzählt, dass die beiden während ihrer Ehe zu keiner Zeit fünfzigtausend in bar besessen hatten, nicht einmal annähernd. Er hatte mit Freda gesprochen, Macks ehemaliger Sekretärin, und sie hatte keine Ahnung, wo das Geld hergekommen ist. Sie sagte, die beiden hätten es in den meisten Monaten gerade so geschafft, ihre Rechnungen zu zahlen.«

»Also: Wo ist das Geld tatsächlich hergekommen?«

»Langsam.« Noch ein großer Schluck. »Das Bier ist ja warm. Wie lange steht es hier schon rum?«

»Na ja, ich habe es geholt, als ich wie vereinbart um Punkt acht Uhr hier war. Kein Wunder, dass es jetzt nicht mehr so kalt ist wie vorhin.«

Harry Rex kämpfte sich von seinem Stuhl hoch, ging zur Theke und bestellte noch zwei Bier. Er kam zurück, stellte die Gläser auf den Tisch und fragte: »Er hat also Kontakt mit dir aufgenommen?«

»Ja.« Jake erzählte ihm die Geschichte von Gene und Kathy Roupp und ihrem Überraschungsbesuch am Vormittag. Dann gab er Harry Rex den Brief, und sein Freund begann zu lesen. Nach einer Weile hob er den Blick und sagte: »Du weißt, dass Lisa Brustkrebs hat? Nash hat es mir vor ein paar Monaten gesagt.«

»Ja, ich weiß es.«

Jake machte sich nur selten die Mühe, dem Klatsch hinterherzujagen. In dieser Hinsicht verließ er sich voll und ganz auf Harry Rex. Der hatte den Brief zu Ende gelesen und griff nach seinem Glas. »Ich frage mich, warum er mir keinen Urlaub angeboten hat.«

»Es könnte an deiner Flugangst liegen.«

»Vermutlich. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, eine Woche lang mit Millie zu verreisen. Gehst du auf den Deal ein?«

»Carla sagt Nein, aber sie wird ihre Meinung schon noch ändern. Es ist doch nichts dabei, oder?«

»Ich sehe da kein Problem. Mack ist ja nicht auf der Flucht.«

»War da nicht was mit der Anklagejury, die in der Sache rumgestochert hat?«

»Stimmt. Ich dachte, es könnte brenzlig werden, als der Bezirksstaatsanwalt angefangen hat, Fragen zu stellen. Das FBI ist sogar ein paarmal bei mir vorbeigekommen.«

»Das hast du mir nie erzählt.«

»Es gibt vieles, was du nicht weißt.«

»Und wo ist jetzt das Geld hergekommen?«

»Ich habe keine Ahnung. Wirklich nicht. Mack hat immer versucht, etwas dazuzuverdienen, weil seine Kanzlei praktisch pleite war und seine Frau große Träume hatte.«

»Hat er dich eigentlich bezahlt?«

»Jake, mein Lieber, ich werde immer bezahlt. Ja, Mack hat mir fünftausend in bar gegeben. Ich habe keine Fragen gestellt.«

»Und im Insolvenzverfahren wurde er entlastet?«

»Richtig. Dabei habe ich ihn auch vertreten. An Vermögenswerten war nicht viel da und Bargeld sowieso nicht. Mack gehörte nicht einmal das Hemd, das er auf dem Leib trug, zumindest nicht offiziell. Lisa hat bei der Scheidung alles bekommen. Das Gebäude, in dem die Kanzlei war, wurde von der Bank zwangsversteigert. Einen Monat nach seinem Verschwinden ist das FBI nach Clanton gekommen und hat rumgeschnüffelt, aber die Jungs haben nur ihre Zeit verschwendet.«

»Was wollten sie?«

»Das wussten sie nicht. Sie hatten nichts, schließlich hatte niemand Anzeige erstattet. Irgendwie waren ihnen Gerüchte zu Ohren gekommen, nach denen sich Mack mit geklautem Geld aus dem Staub gemacht hatte, aber dafür gab es keine Zeugen. Ich hatte den Eindruck, dass die Ermittlungen reine Formsache waren.«

»Dann gibt es also keine Anklage und keine ausstehenden Haftbefehle? Mack wird nicht gesucht?«

»Meines Wissens nicht. Das soll jetzt nicht heißen, dass er aus dem Schneider ist. Wegen der Scheidung würde ich mir keine Gedanken machen. Nach dem, was ich gehört habe, ist die Arme vermutlich bald tot. Wenn er Geld versteckt hat, wäre Insolvenzbetrug vielleicht ein Problem. In der Sache könnten immer noch Ermittlungen gegen ihn angestellt werden.«

»Wer sollte gegen ihn ermitteln?«

»Eben. Wen interessiert’s? Mack wurde entlastet. Ich kann nicht glauben, dass er zurückkommen will. Deine Runde.«

Jake ging zur Theke und holte zwei weitere Bier. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, begann er zu lachen. »Harry Rex, sei ehrlich: Wie oft hast du an Mack gedacht und insgeheim davon geträumt, alles hinzuwerfen und dich wie er irgendwo an einen Strand zu legen?«

»Mindestens tausendmal. Erst letzte Woche habe ich wieder mal an ihn gedacht.«

»Ich glaube, diesen Traum hatten wir alle, allerdings kann ich mir nicht vorstellen, Carla und die Kinder zu verlassen.«

»Du hattest bei der Auswahl deiner Angetrauten ja ein gutes Händchen. Was man von mir nicht behaupten kann.«

»Kannst du dir vorstellen, warum Mack zurückwill?«

»An diesem Punkt kommst du ins Spiel, Jake. Du musst mit ihm reden. Mach diesen Traumurlaub und verschwinde für eine Woche von hier. Viel Spaß!«

»Und ich habe deiner Meinung nach nichts zu befürchten, wenn ich Macks Angebot annehme?«

»Nein. Es wird dich bestimmt niemand beschatten. Nimm das Geld, kauf die Flugtickets und schau dir mit Carla zusammen die Berge von Costa Rica an. Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«

»Ich schicke dir eine Postkarte.«

8

Postkarten wurden der Terra Lodge nicht gerecht. Das Hotel lag dreihundert Meter über dem Pazifik an einem Berghang, und Jake und Carla, die sich mit einem Drink in der Hand auf dick gepolsterten Liegen am Pool niedergelassen hatten, starrten wie gebannt auf das Meer. Am Himmel über ihnen stand keine einzige Wolke, die Sonne brannte auf sie herunter und wärmte ihre durchgefrorenen Glieder. Bei ihrem Abflug in Memphis waren sie von Schneeregen überrascht worden. Jake fragte sich zum ersten Mal, warum jemand dieses Paradies verlassen wollte.

Nachdem sie eingecheckt hatten, waren sie zu ihrem Haus geführt worden, einem von lediglich dreißig, die es in der Lodge gab. Es bestand aus drei Räumen, hatte ein Strohdach, eine Außendusche, ein kleines Tauchbecken und eine Klimaanlage, die nicht gebraucht wurde, und war von einem üppig bewachsenen tropischen Garten umgeben. Ricardo, ihr neuer Freund, würde innerhalb von Sekunden zur Stelle sein. Einer Preisliste an der Tür des Badezimmers war zu entnehmen, dass eine Übernachtung sechshundert Dollar kostete.

»Ich weiß nicht, wie viel Einfluss Mack hier hat, aber es muss eine ganze Menge sein«, sagte Jake.

»Dieses Hotel ist fantastisch«, erwiderte Carla, während sie eine riesige Badewanne untersuchte, in der drei Leute Platz hatten. Ihr Widerwille, den kostenlosen Urlaub anzunehmen, verflog in dem Moment, als sie das Meer sah.

Ricardo begleitete sie zum Pool, brachte ihre Drinks und erklärte, das Abendessen werde um sieben serviert, an einem für sie reservierten Tisch mit Blick auf den Sonnenuntergang, den sie nie vergessen würden. Nach dem ersten Drink sprang Jake in den Infinitypool. Er legte die Arme auf den Rand, genoss das warme Salzwasser und starrte staunend auf den glitzernden blauen Pazifik.

Ihre Flitterwochen waren eine billige Pauschaltour in die Karibik vor elf Jahren gewesen, Jakes erste und einzige Auslandsreise. Carlas Eltern waren finanziell besser gestellt, daher war sie einmal mit einer Studentengruppe einen Monat lang in Europa unterwegs gewesen. Doch mit dem hier war das alles nicht zu vergleichen.

Am späten Nachmittag kamen die anderen Gäste, alles Erwachsene, zum Pool und sahen sich den beeindruckenden Sonnenuntergang an. Das Abendessen wurde auf einer Terrasse in der Nähe serviert – gebackener Hummer mit frischem Biogemüse, das auf dem hoteleigenen Bauernhof die Straße hinunter angebaut wurde. Danach wechselten sie in die Sky Lounge, eine Open-Air-Bar unter dem mit funkelnden Sternen übersäten Himmel, und tanzten zur Musik einer einheimischen Band.

Am nächsten Morgen schliefen sie so lange, dass sie fast das Boot für die Walbeobachtung verpasst hätten, einen großen, umgebauten Ponton, auf dem auch Frühstück, Mittagessen und Drinks serviert wurden. Den Tag verbrachten sie in der Sonne, auf der Suche nach Walen. Der Kapitän entschuldigte sich, weil sie nur Delfine sahen.

Am späten Abend, als sie erschöpft im Bett lagen, sprach Carla schließlich das Offensichtliche an. »Keine Spur von Mack, oder?«

»Nein. Noch nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass er ganz in der Nähe ist.«

Den dritten Tag verbrachten sie auf dem Rücken von Pferden, die nicht zu Jakes bevorzugten Transportmitteln zählten, aber die Gruppe war enthusiastisch und der Fremdenführer ein guter Unterhalter. Er redete ununterbrochen, während er seinen Schützlingen exotische Vögel, Klammeraffen und Blumen zeigte, die sonst nirgendwo auf der Welt zu finden waren. Sie machten an heißen Quellen und Wasserfällen Rast und nahmen ihr Mittagessen mit drei Gängen und Wein am Rand eines Vulkans ein. Fast tausend Meter über dem Meeresspiegel war die Aussicht auf den Pazifik sogar noch spektakulärer.

Am vierten Tag standen vormittags Wildwasserrafting und nachmittags nervenzerfetzendes Ziplining auf dem Programm, unterbrochen von einem köstlichen Brunch mit tropischen Früchten und Rumpunsch am Flussufer. Am späten Nachmittag, als sie duschten und sich für die Strapazen des Abendessens zurechtmachten, klingelte das Telefon. Jake, der nach sechs Stunden im Sattel tags zuvor mit Problemen im Schritt zu kämpfen hatte, humpelte mühsam hinüber und meldete sich.

Es war Mack. Endlich. Sie hatten ihn fast schon vergessen. »Hallo, Jake. Ich freue mich, deine Stimme zu hören.«

»Geht mir genauso.« Jake nickte Carla zu, die lächelte und wieder ins Bad ging.

»Ich hoffe, du und deine Frau amüsiert euch gut.«

»Und wie. Vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Hier kann man es schon mal eine Woche aushalten.«

»Stimmt. Ich dachte mir, ihr könntet morgen eine kleine Pause vertragen. Daher habe ich einen Tag im Wellnesscenter des Hotels arrangiert, mit allen möglichen Behandlungen. Carla wird es gefallen. Könnten wir beide uns zum Mittagessen treffen?«

»Das passt in meinen Terminkalender gerade noch so rein.«

»Schön. Wie schmeckt dir das Essen bis jetzt?«

»Fantastisch. Ich habe nicht mehr so gut gegessen, seit es letzte Woche bei Claude’s Catfish gegeben hat.«

»Ich kann mich gut an Claude erinnern. Wie geht es ihm?«

»So wie immer. In Clanton hat sich nicht viel geändert.«

»Das denke ich mir. Jake, am Eingang des Hotels siehst du einen Wegweiser für den Barillo Trail und daneben einen schmalen Pfad. Du gehst etwa achthundert Meter durch den Regenwald, dann triffst du auf einen Wegweiser für ein Café namens Kura. Die Tische stehen alle draußen, wegen der schönen Aussicht. Ich habe einen davon für dreizehn Uhr reserviert.«

»Ich werde da sein.«

»Und Carla sollten wir bei unseren Gesprächen besser nicht dabeihaben. Sie hat doch sicher nichts dagegen, oder?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Sie wird vollauf mit den Behandlungen im Wellnesscenter und Mittagessen am Pool beschäftigt sein.«

»Ich bin sicher, dass sie mich nicht vermissen wird.«

»Gut. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.«

»Geht mir genauso.«

9

Mack hatte nicht erwähnt, dass es auf dem Barillo Trail steil nach oben ging. Nach wenigen Minuten hatte Jake das Gefühl, einen Berg zu besteigen, was genau genommen auch so war. Die achthundert Meter kamen ihm eher wie drei Kilometer vor, und er blieb zweimal stehen, um zu verschnaufen. Er war völlig außer Atem und frustriert darüber, dass er mit seinen achtunddreißig Jahren so schlecht in Form war. Die Zeiten, in denen er beim Highschool-Football unaufhörlich Sprints hingelegt hatte, waren schon lange vorbei.

Am Café waren keine Autos zu sehen, lediglich ein paar Fahrräder. Jake schwitzte, als er an der Bar vorbei auf die Terrasse hinausging. Mack wartete an einem Tisch unter einem großen bunten Sonnenschirm. Sie gaben sich die Hand und setzten sich.

»Du siehst gut aus«, sagte Mack. Seine Aussprache war präziser als früher, es war ihm nicht mehr anzuhören, dass er aus den Südstaaten kam.

»Du auch.« Jake war sich nicht sicher, ob er seinen Freund erkannt hätte, wenn er ihn auf der Straße getroffen hätte. Mack war jetzt fünfundvierzig und trug seine von grauen Strähnen durchzogenen Haare erheblich länger als vor ein paar Jahren. Sein ordentlich gestutzter Bart war mehr grau als dunkelbraun. Mit seiner runden Schildpattbrille hätte man ihn durchaus für einen gut aussehenden College-Professor halten können. Und er war viel schlanker, als Jake ihn in Erinnerung hatte.

»Vielen Dank für den Urlaub und die Gastfreundschaft. Das Hotel ist unglaublich.«

»Bist du das erste Mal in Costa Rica?«

»Ja. Und hoffentlich nicht das letzte Mal.«

»Du bist jederzeit willkommen, Jake, als mein Gast.«

»Du musst den Besitzer kennen.«

»Ich bin der Besitzer. Einer von dreien. Ökotourismus ist hier groß im Kommen. Ich habe mich vor einem Jahr eingekauft.«

»Dann wohnst du hier in der Nähe?«

»Mal hier, mal da.« Es war seine erste ausweichende Antwort, die erste von vielen. Jake hakte nicht weiter nach.

»Wie geht’s der Familie?«, erkundigte sich Mack.

»Könnte nicht besser sein. Carla unterrichtet immer noch, Hanna geht jetzt in die dritte Klasse und wird wahnsinnig schnell groß. Luke ist ein Jahr alt.«

»Von Luke habe ich noch nie gehört.«

»Wir haben ihn adoptiert. Lange Geschichte.«

»Von denen habe ich einige.«

»Davon gehe ich aus.«

»Ich vermisse meine Mädchen.« Ein Kellner kam mit einer Karaffe Wasser zu ihnen und fragte, ob sie einen Drink bestellen wollten. Jake war offen für alles, nickte aber erleichtert, als Mack sagte: »Nur Wasser.«

Nachdem der Kellner gegangen war, fragte Jake: »Wie heißt du hier? Ich bin sicher, dass dich niemand mit Mack anspricht.«

Mack lächelte und trank einen Schluck. »Na ja, ich habe mehrere Namen, aber hier heiße ich Marco.«

Jake nippte an seinem Glas und wartete auf eine Erklärung. »Okay, Marco, erzähl mir von dir.«

»Brasilianer mit deutschen Wurzeln. Deshalb sehe ich nicht so aus wie ein Einheimischer. Ich komme aus dem Süden Brasiliens, da unten gibt es jede Menge Deutsche. Geschäftsmann mit Investitionen in Mittelamerika. Ich reise viel.«

»Was für ein Name steht in deinem Reisepass?«

»Welchen meinst du?«

Jake lächelte und nahm noch einen Schluck. »Ich werde jetzt nicht weiter nachfragen, außerdem schätze ich, dass ich nur das erfahren werde, was du mir erzählen willst. Richtig?«

»Richtig. In den letzten drei Jahren ist viel passiert, und was dich angeht, ist das meiste davon unwichtig.«

»Okay.«

»Hast du mit Harry Rex gesprochen?«

»Natürlich. Ich habe ihm deinen Brief gezeigt. Er ist eingeweiht.«

»Wie geht’s dem alten Sack?«

»So wie immer. Allerdings glaube ich, dass er mit jedem Tag fieser wird.«

»Das hätte ich jetzt nicht für möglich gehalten. Aber wir reden später über ihn.«

Der Kellner kam wieder, und Mack bestellte Krabbensalat für beide. Als er weg war, beugte er sich vor und sagte: »Du weißt ja, dass ich mich mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht und das Land verlassen habe. Die erste Station war Belize, dort habe ich etwa ein Jahr lang gelebt. Das Land hat mir gefallen, die ersten drei Monate habe ich damit verbracht, zu viel zu trinken, Mädchen nachzujagen und mich am Strand zu sonnen. Aber mit der Zeit wurde das langweilig. Ich bin oft angeln gewesen, Grätenfische, auch Kurznasenmakrelen und Tarpune. Dann habe ich einen Job als Angelguide angenommen, das hat eine Menge Spaß gemacht. Ich war immer vorsichtig und habe auf Touristen, Gäste im Hotel, Angler, jemanden von zu Hause geachtet. Es ist erstaunlich, was man alles mitbekommt, wenn man aufmerksam zuhört. Ein Südstaatenakzent, und schon war ich alarmiert. Ich habe die Gästebücher im Hotel durchgesehen, weil ich wissen wollte, wer anreist, und mich von allen ferngehalten, die aus Mississippi kamen. Es waren nur sehr wenige, die meisten Angler, mit denen ich auf eine Tour ging, reisten aus dem Nordosten an. Ich habe mich nicht darauf verlassen, bin aber davon ausgegangen, dass ich sicher war. Ich legte mir einen Bart zu, ließ mich von der Sonne braun brennen, nahm zehn Kilo ab, trug immer eine Mütze oder einen Hut.«

»Dein Akzent ist anders.«

»Ja, und das war gar nicht so einfach. Ich rede oft mit mir selbst, aus vielen Gründen, und bin immer am Üben. Jedenfalls gab es einen Zwischenfall, und ich beschloss, Belize zu verlassen.«

»Was ist passiert?«

»Eines Abends kam eine Gruppe etwas älterer Männer zum Abendessen ins Hotel. Sie übernachteten nebenan, waren zum Angeln angereist, hatten einen schönen Urlaub. Alle aus dem Süden. Einen von ihnen habe ich erkannt, einen Richter aus Biloxi. Der Ehrenwerte Harold Massey. Hattest du mal mit ihm zu tun?«

»Nein, aber der Name kommt mir bekannt vor. Mississippi ist klein.«

»Richtig. Zu klein, wenn du mich fragst. Ich stand gerade an der Bar und flirtete mit einem Mädchen, ganz in der Nähe der Restaurant-Terrasse. Wir hatten Blickkontakt, und er musterte mich ziemlich ausführlich. Ich war mir immer sicher, dass die meisten Anwälte und Richter in Mississippi von meinem Verschwinden gehört haben. Irgendwann stand er auf und ging an mir vorbei zu den Toiletten. Für meinen Geschmack starrte er mich etwas zu lange an. Ich ließ mir nichts anmerken, geriet aber in Panik. Deshalb schlich ich mich aus der Stadt, verließ Belize und wechselte nach Panama, wo ich einige Monate blieb. Jake, ein Leben auf der Flucht ist ziemlich beschissen.«

»Woher weißt du, dass Lisa krank ist?«

Mack lächelte, zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. »Ich habe einen Maulwurf zu Hause, einen alten Freund aus der Highschool, der ein Mädchen aus Clanton geheiratet hat. Du weißt ja, Gerüchte verbreiten sich schnell.«

»Harry Rex hat geschworen, dass er keinen Kontakt zu dir hatte.«

»Stimmt. Ich habe mir gedacht, wenn mich jemand finden will, beobachtet er meinen Anwalt. Es gibt keinen Kontakt zu irgendjemandem, der einen Fehler machen könnte. Bis jetzt.«

»Wer könnte nach dir suchen?«

»Deshalb bist du hier, Jake. Ich will nach Hause, aber ich kann es nicht riskieren, erwischt zu werden.«

Ihre Bestellung wurde serviert, große Bambusteller mit Krabbensalat auf Blattgemüse. Sie begannen zu essen. »Warum ich?«, fragte Jake schließlich.

»Weil ich dir vertraue. Von den meisten anderen unserer Kollegen kann ich das nicht behaupten. Wie viele Anwälte gibt es zurzeit in Clanton?«

»Keine Ahnung. Dreißig, vierzig, vielleicht auch mehr. Sie kommen und gehen. Anders als die meisten anderen Städte in Mississippi stirbt Clanton nicht. Es blüht und gedeiht nicht gerade, aber es schlägt sich tapfer.«

»Als ich gegangen bin, waren es fast fünfzig, viel zu viele, als dass auch nur einer von uns ein ordentliches Auskommen gehabt hätte. Und den Anwälten, die ich kannte, habe ich nicht vertraut, nur dir und Harry Rex.«

»Die Besten der Besten, ohne Zweifel.«

»Lebt Lucien noch?«

»Oh ja. Ich gehe ihn oft besuchen.«

»Ich konnte den Scheißkerl nie leiden.«

»Da bist du eindeutig in der Mehrheit.«

Sie lachten auf Luciens Kosten, während der Kellner ihre Gläser auffüllte. »Und was genau ist jetzt mein Auftrag?«

»Es gibt keinen. Ich möchte lediglich, dass du und Harry Rex dafür sorgt, dass niemand auf mich wartet, wenn ich nach Hause komme. Mir sind Gerüchte von einer Anklage zu Ohren gekommen.«

»Harry Rex und ich haben uns lange unterhalten, nachdem ich deinen Brief bekommen habe. Er glaubt, dass die Anklagejury zusammengetreten ist und sich über deinen Fall, wenn man es denn so nennen will, beraten hat, aber nichts dabei herausgekommen ist. Einen Monat später ist das FBI aufgetaucht und hat herumgeschnüffelt. Die Jungs haben mit Harry Rex geredet, sind aber wieder gegangen. Er hat seit über zwei Jahren nichts von ihnen gehört.«

Mack runzelte die Stirn und legte die Gabel aus der Hand. »Das FBI?«

»Sie sind die Scheidungsakte durchgegangen und haben sich deine Unterlagen angesehen, oder besser gesagt, das, was sie noch finden konnten. Die fünfzigtausend in bar, die an Lisa gegangen sind, haben Fragen aufgeworfen. Niemand schien zu wissen, wo das Geld hergekommen ist. Den Gerüchten zufolge hast du Geld unterschlagen und bist dann aus der Stadt getürmt.«

Jake unterbrach sich und nahm einen Bissen von seinem Krabbensalat. Es war der perfekte Augenblick für Mack, die gewaltigen Lücken in der Geschichte zu schließen, aber er entschied sich dafür, es nicht zu tun. »Harry ist der Meinung, dass das FBI nicht wiederkommt?«, fragte er stattdessen.

»Ja, es sieht ganz danach aus. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, weshalb er sich Sorgen macht, aber der Insolvenzbetrug könnte ein Problem sein. Offenbar hast du von irgendwoher Geld bekommen und versäumt, es zusammen mit deinen übrigen Vermögenswerten anzugeben.«

Mack schien keinen Appetit mehr zu haben. »Und die Scheidung?«

»Die ist seit Langem rechtskräftig, und Harry Rex bezweifelt, dass Lisa Interesse daran hat, noch einmal einen Rosenkrieg zu beginnen. Zumindest nicht in ihrem Zustand. Aber wenn du Vermögenswerte vor ihr versteckt hast, könnte das ein Problem sein. Marco, ich habe den Eindruck, als würde ich unser Gespräch allein bestreiten.«

»Ich höre dir sehr aufmerksam zu und nehme jedes deiner Worte zur Kenntnis. Seit ich Clanton verlassen habe, denke ich jeden Tag stundenlang darüber nach, was ich zurückgelassen habe. Ich versuche, mir jedes nur mögliche Szenario vorzustellen, in dem jemand nach mir suchen könnte.«

»Harry Rex ist fest davon überzeugt, dass es kein solches Szenario gibt.«

»Und du? Was ist deine Meinung?«

»Mack, ich werde dafür bezahlt, meine Meinung zu sagen, aber ich bin nicht dein Anwalt. Ich werde nichts mit dieser Sache zu tun haben, aber es wäre hilfreich, wenn ich die Fakten kennen würde. Ich werde sie an Harry Rex weiterleiten, streng vertraulich natürlich.«

Mack schob seinen Teller weg und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. Er sah sich um, wie beiläufig, ohne misstrauisch zu wirken. Mit leiser Stimme begann er zu erzählen: »Ich hatte vier Fälle, vier Mandanten, alle Holzfäller, die sich mit dem gleichen Kettensägenmodell verletzt hatten. Einer der Männer verlor ein Auge, einer seine linke Hand, einer einige Finger, der vierte kam mit einer großen Narbe auf der Stirn davon. Zuerst dachte ich, die Sicherheitseinrichtungen der Kettensäge wären defekt gewesen. Die Verfahren sahen vielversprechend aus, führten aber zu nichts. Ich versuchte, zu bluffen und den Hersteller zu einem Vergleich zu drängen, was mir nicht gelang. Dann verlor ich das Interesse daran, und die Akten verstaubten. Du weißt, wie das ist. Monate und Jahre vergingen. Und dann bekam ich ganz plötzlich einen Anruf aus New York, von einer großen Kanzlei, Durban & Lang. Ihre Mandantin, eine Schweizer Firma, wollte einen schnellen, vertraulichen Vergleich schließen, um die Sache aus den Büchern zu bekommen. Einhunderttausend pro Fall, dazu noch einmal der gleiche Betrag für Anwalts- und Verfahrenskosten. Eine halbe Million, Jake, einfach so. Ein wahr gewordener Traum. Da ich nie Klage eingereicht hatte, gab es keine Unterlagen darüber, bis auf die Akten in meiner Kanzlei und die in New York. Die Versuchung war groß. Meine Ehe war am Ende, schon lange, und mit einem Mal passte alles. Es war der perfekte Zeitpunkt für ein perfektes Verbrechen. Ich konnte mir das Geld schnappen, mich scheiden lassen und die Kanzlei aufgeben. Ein Leben hinter mir lassen, in dem ich, gelinde gesagt, unglücklich war.«

Jake hatte seinen Krabbensalat zur Hälfte aufgegessen und schob den Rest weg. Der Kellner kam und räumte den Tisch ab.

»Ich brauche einen Drink. Möchtest du ein Bier?«, fragte Mack.

»Gerne.«

»Kennst du Imperial, das Bier, das hier gebraut wird?«

»Oh ja. Das nehme ich.«

Mack bestellte zwei Bier vom Fass und starrte auf das Meer unter ihnen. Jake wartete, bis das Bier kam. Er trank einen Schluck, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und fragte: »Was ist mit den vier Mandanten?«

Mack wurde aus seinem Tagtraum gerissen. Er griff nach seinem Glas. »Einer war tot, einer nicht aufzutreiben«, sagte er nach einem großen Schluck. »Die beiden, die ich finden konnte, waren mehr als gewillt, fünfundzwanzigtausend in bar zu nehmen und niemandem etwas davon zu erzählen. Ich habe die Papiere unterschrieben und das Geld übergeben.«

»Ich bin sicher, dass die Unterschriften beglaubigt werden mussten.«

»Deshalb habe ich sie auch beglaubigt. Erinnerst du dich noch an Freda, meine ehemalige Sekretärin?«

»Aber natürlich.«

»Ich hatte sie kurz vorher gefeuert, und dann habe ich ihre Unterschrift und den Stempel auf den Dokumenten gefälscht. Die Unterschriften der beiden Mandanten, die ich nicht auftreiben konnte, habe ich ebenfalls gefälscht. Niemand wusste etwas davon. Den Anwälten in New York war es egal. Sie waren einfach froh, dass der Papierkram erledigt war und die Fälle abgeschlossen werden konnten.«

»Wegen der Fälschungen machst du dir keine Sorgen?«

»Jake, ich mache mir wegen allem und jedem Sorgen. Wenn man etwas Unrechtes getan hat und auf der Flucht ist, sieht man ständig über die Schulter und fragt sich, wer einen verfolgt.«

»Verstehe. Du bist also mit etwa vierhunderttausend Dollar getürmt?«

»Richtig.«

»Beeindruckend.«

»Was war das höchste Honorar, das du je erhalten hast?«

»Na ja, für die Verteidigung von Carl Lee Hailey habe ich tausend Dollar bekommen.«

»Deine Sternstunde.«

»Hast du einen Mann namens Seth Hubbard gekannt?«

»Nicht persönlich, aber ich weiß, wer er war. Besitzer eines großen Sägewerks.«

»Genau. Nach seinem Tod wurde das Testament angefochten. Ich habe die rechtliche Vertretung seines Nachlasses übernommen und dafür im Laufe zweier Jahre etwa einhunderttausend Dollar in Rechnung gestellt.«

»In den siebzehn Jahren, in denen ich als Anwalt praktiziert habe, war mein höchstes Honorar zwanzigtausend Dollar für einen schweren Verkehrsunfall. Plötzlich hatte ich zwanzig Mal so viel vor mir liegen, wie einen Topf voll Gold. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen.«

»Bereust du es?«

»Und wie. Nur Feiglinge rennen weg. Es war falsch, alles war falsch. Ich hätte in Clanton bleiben, die Scheidung durchziehen und wenigstens eine kleine Rolle im Leben meiner Töchter spielen sollen. Meine Mutter habe ich auch zurückgelassen. Ich habe sie seit drei Jahren nicht gesehen.«

»Was hast du vor?«

»Na ja, ich möchte Lisa wiedersehen und mich bei ihr entschuldigen. Das wird vermutlich nicht klappen, aber ich werde mich bemühen. Und ich will zumindest versuchen, den Kontakt zu Margot und Helen wiederherzustellen. Sie sind jetzt siebzehn und sechzehn und verlieren vielleicht bald ihre Mutter. Du und Harry Rex kommt in meinen Plänen ebenfalls vor. Ich will euch nicht in diese Sache hineinziehen, ihr sollt euch nur ein wenig umhorchen. Wenn es keine Anklage gibt und auch keine geplant ist und wenn kein Haftbefehl auf mich ausgestellt wurde, werde ich in die Staaten fliegen. Ich werde nicht in Clanton bleiben, das kommt nicht infrage. Wahrscheinlich werde ich mich in Memphis verstecken, jenseits der Staatsgrenze. Und beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten werde ich wieder verschwinden. Jake, ich gehe nicht ins Gefängnis, das kann ich dir versprechen.«

»Das wirst du nicht geheim halten können. Sobald du irgendwo in Ford County auftauchst, werden es am nächsten Morgen alle wissen.«

»Stimmt, aber niemand wird mich sehen. Ich werde nachts kommen und nachts wieder gehen. Die beiden Mandanten, die die fünfundzwanzigtausend in bar bekommen haben, heißen Odell Grove und Jerrol Baker. Harry Rex soll sie suchen. Baker war mit Crystal Meth zugedröhnt, als er die Vereinbarung für den Vergleich unterschrieben hat, er könnte also tot oder wieder im Gefängnis sein. Ich glaube nicht, dass sie Schwierigkeiten machen werden.«

»Und die beiden anderen?«

»Doug Jumper ist mit Sicherheit tot. Travis Johnson hat das County vor Jahren verlassen.«

Jake hatte sein Bier ausgetrunken und lehnte sich zurück. »Wie sieht dein Zeitplan aus?«

»Ich habe keinen. Du und Harry Rex schnüffelt ein paar Wochen rum. Wenn die Luft rein ist, tauche ich irgendwann auf. Deine Kanzlei bekommt dann einen Anruf von mir.«

»Und wenn wir spitzkriegen, dass es Probleme geben könnte?«

»Schickt ihr mir einen Eilbrief ans Hotel, adressiert an Marco Larman.«

»Das ist fast schon Beihilfe.«

»Aber nur fast. Jake, du brauchst nichts zu tun, was dir widerstrebt. Ich verspreche dir, dass du meinetwegen keinen Ärger bekommen wirst.«

»Ich glaube dir.«

»Wem hast du von der Reise erzählt?«

»Harry Rex und meinen Eltern. Sie passen auf Hanna und Luke auf. Sonst weiß niemand davon, wir haben nur gesagt, dass wir für ein paar Tage nicht da sind.«

»Großartig. Bleib bei der Geschichte. Jake, ich bin dir wirklich sehr dankbar.«

»Vielen Dank für den Urlaub. Wir werden ihn nie vergessen.«

»Gern geschehen, und falls ihr wiederkommt, seid ihr natürlich meine Gäste.«

10

Nachdem Carla einen ganzen Tag lang massiert und gepflegt worden war, brauchte sie Bewegung. Sie verließen das Hotel am frühen Morgen, auf Fahrrädern und ohne Begleitung, und fuhren auf gut markierten Wegen durch den Regenwald. An den Aussichtspunkten hielten sie an und machten Fotos, meist mit dem Meer im Hintergrund, dann setzten sie sich in den Eingang einer Höhle und tranken Mangosaft. Nach zwei Stunden, als sie am Ende ihrer Kräfte waren und eine Stelle suchten, an der sie eine längere Rast einlegen konnten, trafen sie zufällig die Schweden. Olga und Luther waren ebenfalls Gäste im Hotel, aber nur selten am Pool zu sehen, was daran lag, dass sie entweder auf einen Berg radelten oder wanderten oder eine Kajaktour auf einem reißenden Fluss unternahmen. Die beiden waren mindestens dreißig Jahre älter als Jake und Carla, schlank und drahtig und in hervorragender körperlicher Verfassung. Sie aßen nur Obst und Gemüse, tranken keinen Alkohol und hatten zwei Nächte in einer Hütte in der Krone eines sehr hohen Baums geschlafen, an dem man hinaufklettern musste, einen Rucksack mit Bettzeug, Proviant und Wasser auf dem Rücken. Sie behaupteten von sich, erfahrene Ökotouristen zu sein, und waren schon überall gewesen. Jake und Carla beneideten Leute, die viel in der Welt herumgekommen waren, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Schweden mit ihren siebzig Jahren so fit waren, dass sie bestimmt noch dreißig Jahre leben würden.

Nachdem die beiden davongefahren waren, sagte Jake: »Ich brauche ein Bier. Immer wenn ich diese Leute sehe, muss ich an Alkohol denken.« Er lag auf einem überdachten Picknicktisch am Ufer eines kleinen Flusses und streckte alle viere von sich.

»Trink einen Schluck von deinem Mangosaft. Haben wir eigentlich unser Gespräch über Mack und seine Pläne zu Ende gebracht?«

»Ich glaube schon. Seine Pläne sind nicht sehr konkret. Er vermisst sein altes Zuhause und will seine Mutter und die Mädchen besuchen.«

»Ja, darüber haben wir uns unterhalten.«