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Liebt der König der Finsternis, so muss er sterben Auf William aus der Dunkelheit lastet ein Fluch: Sollte er sich je verlieben, wird die Frau seines Herzens ihn umbringen. Er hat jedoch eine Chance, seinem Schicksal zu entkommen. Wenn er jemanden findet, der den Code des magischen Buchs entschlüsselt, kann William den Fluch aufheben. Dabei soll ihm die verführerische Sunny Lane helfen. Noch weiß er nicht, dass sie eine der letzten ihrer Art ist und den Tod ihrer Familie rächen will. Und selbst wenn er es wüsste, könnte er Sunnys Magie nicht widerstehen. Viel zu schnell empfinden sie mehr füreinander, als sie wollen. Gelingt es ihnen, den Fluch zu brechen, oder wird Sunny ihren Geliebten töten? »Eine der Besten, wenn es um paranormale Liebesromane geht. Gena Showalter liefert eine absolute fesselnde Geschichte ab!« SPIEGEL-Bestsellerautorin Kresley Cole »Ich liebe diese Welt und diese Alpha-Männer, das ist Gena Showalter in Bestform!« Bestsellerautorin J. R. Ward über »Aus Dunkelheit und Eis. Das Erwachen« »Die heißeste sexy paranormal Romance! Die Dunkelheit und Eis-Reihe ist meine neue Obsession.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Christine Feehan über »Aus Dunkelheit und Eis. Das Erwachen«
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Seitenzahl: 685
Zum Buch
Sunny knackt Codes wie keine andere. Was sie aber nicht nur von Menschen, sondern auch von anderen magischen Wesen unterscheidet: Sie ist eine der letzten Einhorn-Gestaltwandlerinnen und hat die Macht, Unsterbliche zu töten. Für den Tod ihrer Vorfahren und ihrer Familie verantwortlich sind Luzifer und sein Bruder William. Als Sunny einem der beiden Prinzen der Dunkelheit begegnet, scheint die Zeit der Rache gekommen zu sein. Doch plötzlich fühlt Sunny sich so stark zu William hingezogen, dass sie fast ihren Plan vergisst …
»Gena Showalter überwältigt jedes Mal.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Jeaniene Frost
Zum Autor
Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.
Lieferbare Titel
Aus Dunkelheit und Eis – Das Erwachen Aus Dunkelheit und Eis – Die Jagd
Die Herren der Unterwelt – Schwarze Sehnsucht
© 2020 by Gena Showalter Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./SARL Covergestaltung von Birgit Tonn, PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln Coverabbildungen von Harlequin Books S.A.
ISBN E-Book 9783745752007
www.harpercollins.de
Für Max, meinen ganz persönlichen William.
Du bringst Farbe in mein Leben, sorgst dafür, dass ich genug esse, liebst meine Hunde-Katzen-Menagerie und gibst mir das Gefühl, die schönste Frau der Welt zu sein, auch wenn ich aussehe wie ausgekotzt. Also, jedenfalls war das so, als ich das einzige Mal in meinem Leben ausgesehen habe wie ausgekotzt. Also damals, als ich dachte, ich würde aussehen wie ausgekotzt, aber es war gar nicht so, weil ich überhaupt nicht dazu in der Lage bin, auszusehen wie ausgekotzt. Moment. Benutze ich das Wort »ausgekotzt« zu oft? Fangfrage, das Wort »ausgekotzt« kann man gar nicht oft genug benutzen! Jedenfalls: Ich liebe dich, Babe!
Und für Naomi, die beste Social-Media-Managerin der Welt. Buch William sei Dein! Du bist eine bemerkenswerte Frau, und ich kann mich unendlich glücklich schätzen, dich zu kennen.
Und für meine Arbeitsaffäre, die unfassbar schöne und talentierte Jill Monroe, eine der fantastischsten Personen auf dieser Welt. Du richtest mich auf, wenn ich am Boden bin. Du hast unzählige Stunden damit verbracht, mit mir zu plotten, mich zu kritisieren und mir dabei zu helfen, meine Figuren (je nach Tagesverfassung) zu quälen oder zu retten. Langer Rede kurzer Sinn: Du machst die Welt für mich zu einem besseren Ort.
Im Reich Lleh
Viele Jahrtausende vor unserer Zeit
Ein brutaler Schlag brach dem Jungen den Kieferknochen. Er taumelte über den steinigen, rußbedeckten Boden und spuckte Blut und Zähne aus. Sengender Schmerz presste ihm die Luft aus der Lunge, vor seinen Augen tanzten Sterne, Säure füllte seinen Magen. Zwar heilte er schneller als viele andere und seine Knochen wuchsen fast umgehend wieder zusammen, dennoch pulsierte der Schmerz weiter.
Claw, der für die Qualen des Jungen, den sie »Abschaum« nannten, verantwortlich war, trat ihm in die Rippen. »Wenn wir dir Essen geben, isst du es.« Ein weiterer Tritt, dann noch einer. Die riesige Bestie hatte Hörner und Stoßzähne und war über und über mit Muskelbergen bepackt. Wie alle anderen hier im Reich Lleh trug er nur einen fleckigen Lendenschurz, um schnell zur Sache kommen zu können, dazu Schienbeinschoner und Stiefel aus Stein. »Hast du verstanden?«
Obwohl seine Atmung nur noch rasselnd ging, feixte der Junge namens Abschaum: »Oh ja, und wie ich verstehe.«
Auch wenn ihm Blut aus Augen und Mund rann, behielt er seine Umgebung genau im Blick. Hügeliges Ödland ohne jegliche Vegetation, bevölkert von unsterblichen Kannibalen, Vergewaltigern und Mördern, die aus ihren Heimatwelten verbannt worden waren. Nacht hatte sich über das Land gesenkt, das Lager wurde von offenen Feuerstellen beleuchtet, über denen Gefangene am Spieß brieten. Ihr schmelzendes Fleisch tropfte in die zischenden Flammen.
Beißender Wind tobte, brannte in Abschaums Wunden und katapultierte ihn zurück in die Realität, zurück zu Claw. »Mit Essen meinst du wohl den Schenkel eines Mitgefangenen. Den Fraß kannst du dir in den …«
Ein Tritt. »Als du vor einigen Monaten vom Himmel gefallen bist, haben wir dich mit offenen Armen willkommen geheißen. Du hattest keinen Namen, also haben wir dir einen gegeben. Du hattest kein Zuhause, also haben wir dich aufgenommen. Dein Gedächtnis war leer wie eine unbeschriebene Tafel, also haben wir dir Erinnerungen geschenkt. Und so dankst du uns unsere Freundlichkeit?«
Freundlichkeit? Der Junge lachte bitter auf und spuckte im nächsten Moment wieder Blut, da sich – wie er annahm – ein Splitter einer gebrochenen Rippe durch seine Lunge gebohrt hatte. »Ihr habt mich ›Abschaum‹ getauft. Und mein sogenanntes Zuhause ist eine winzige Lehmhütte, überfüllt mit Gefangenen in Ketten.« Was seine Erinnerungen betraf, schauderte er nur schweigend. Denn was diese grauenhaften Kreaturen ihm und den anderen Gefangenen in den vergangenen Monaten angetan hatten … Ein Teil von ihm hätte alles dafür gegeben, sich niemals wieder daran erinnern zu müssen. Einem anderen Teil von ihm war das Grauen jedoch immer noch lieber als die nahezu vollkommene Leere, die zuvor in seinem Gedächtnis geherrscht hatte. Es war erbärmlich, aber … er wollte nun mal unbedingt die Wahrheit über sich selbst kennen.
Wer bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Habe ich eine Familie, die mich verzweifelt sucht?
Die Sehnsucht durchfuhr ihn so schmerzhaft und heftig, dass es ihn fast zerriss. Hier gibt es so viele Leute, und doch fühle ich mich allein, immer allein.
»Du wagst es, dich zu beschweren?« Claw trat ihm gegen den Hinterkopf.
Tränen brannten in Abschaums Augen, Panik setzte ein. Wenn du Schwäche zeigst, verrätst du deinem Gegner damit, wie er dich besiegen kann. Hastig blinzelte er die Tränen fort. Wenn auch nur einer hier witterte, dass er Gefühle hatte … Doch zu spät.
»Tränen?« Claw lachte auf, und die anwachsende Zuschauermenge johlte.
Beschämt senkte Abschaum den Kopf. In der Hoffnung, Claw damit abzulenken, sagte er: »Du irrst dich. Ich bin nicht ohne Erinnerungen gekommen.«
Wann immer er die Augen schloss, sah er eine einzelne Szene in Endlosschleife vor sich, das letzte Echo seines Lebens vor diesem hier.
»Du erinnerst dich an deine Mutter? Na los, erzähl mir mehr, damit ich sie zu dir bringen kann.« Noch ein brutaler Schlag, dieser gegen die Schläfe.
Schwindel, Höllenqualen, erneutes Gelächter.
Abschaum verschwamm die Sicht. Er streckte eine Hand aus, betete, dass ihm einer der Zuschauer helfen würde. Stattdessen trat ihm jemand aufs Handgelenk. Knochen splitterten. Dieser Schmerz! Schlimmer als alles, was irgendeine Kreatur in den Weiten des Universums ertragen konnte. Und doch nicht halb so schlimm wie Abschaums Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein.
Ein Schlag, dann noch einer. Abschaums Hirn prallte gegen die Schädeldecke, und seinem Körper wurde der Segen völliger Gefühllosigkeit zuteil. Weitere Schläge prasselten auf ihn ein. Seine Augen schwollen zu. Sein Bewusstsein um die Prügel verblasste, wich seiner einzigen Erinnerung, die alles sonst auslöschte.
Ich stehe neben einem Jungen, den ich nicht kenne. Ich bin nicht sicher, weshalb wir zusammen sind oder was wir hier oben in den Wolken zu suchen haben. Ich weiß nur, dass ich seine Nähe tröstlich finde.
Eine bildschöne Frau mit schwarzen Locken und makelloser schwarzer Haut steigt aus einer Nebelwolke herab. Sie trägt ein fließendes, elfenbeinfarbenes Kleid, und ihre weißgoldenen Schwingen gleiten langsam durch die Luft. Ich vergöttere sie. Ist sie ein Engel? Eine Himmelsgesandte? Eine Harpyie vielleicht oder eine Vogel-Gestaltwandlerin? Die Möglichkeiten sind endlos, denn jeder Mythos, jede Legende ist getränkt mit Wahrheit.
Ich fühle mich mit ihr verbunden. Was, wenn … sie meine Mutter ist?
Bei dem Gedanken macht mein Herz einen Satz, ob aus Freude oder Furcht, weiß ich nicht. Sie landet, in ihren hellblauen Augen schimmern Tränen. Eine Harpyie ist sie also eindeutig nicht und auch keine Gestaltwandlerin. Aus irgendeinem Grund ist mir bekannt, dass diese Spezies demselben Glauben anhängen wie ich: Tränen sind gleichbedeutend mit Schwäche, und man darf Schwäche niemals, unter keinen Umständen, zulassen.
Leise schniefend kauert sie sich vor uns. Der andere Junge hat bronzefarbene Haut, schwarzes Haar und dieselben hellblauen Augen wie sie. Und auch er hat weißgoldene Schwingen. Ob die zwei verwandt sind? Sind wir alle miteinander verwandt? Wie mag ich selbst wohl aussehen?
»Ich liebe euch beide so sehr«, sagt sie. »Nichts von alldem hier war geplant. Ihr solltet uns retten, nicht …« Ihr entweicht ein Schluchzer. »Wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe … wenn wir einfach … Wir hätten euch niemals in die Welt setzen dürfen. Er hat es herausgefunden, und nun will er euren Tod.«
Mir dreht sich der Magen um. Wie kann sie uns lieben und gleichzeitig wünschen, wir wären nie geboren worden? Wer ist »er«, und warum will er unseren Tod?
Zitternd legt sie eine Hand auf mich, die andere auf den geflügelten Jungen. »Ich werde mein Bestes geben, euch zu beschützen, aber …«
Auf einmal erscheint hinter ihr ein in Schatten gehüllter Mann. Er ist groß – ein Riese – und hat die gewaltigsten Muskeln, die ich je gesehen habe. Die geflügelte Frau gibt gequält ein Keuchen von sich, als der Mann die Onyxspitze seines Speers in ihren Rücken senkt, so tief, dass sie durch die Brust wieder austritt. Der Frau weicht alle Farbe aus den Wangen, Blut strömt aus der Wunde, durchtränkt ihre Robe. Aus ihren Mundwinkeln tröpfeln purpurrote Rinnsale.
Ich weiß, ich sollte Angst haben oder wütend sein, vielleicht auch beides, aber ich empfinde rein gar nichts. Wieder blicke ich an der Frau vorbei zu dem Mann, der sie erstochen hat. Er weckt meine Neugierde. Schatten verzerren seine Gesichtszüge, verbergen seine Identität.
Der andere Junge packt meine Hand, zieht mich rückwärts zu einer Mauer voller Portale – Durchgänge in andere Welten, Reiche und Dimensionen. Sein Gesicht ist angstverzerrt. Er öffnet den Mund, will etwas sagen, und …
Die Erinnerung endete wie stets: abrupt, offen.
In Abschaums Hals bildete sich ein Kloß, erstickte seinen Protestschrei. Warum hatte er keine weiteren Erinnerungen an den anderen Jungen, die Frau oder ihren Mörder? Ich muss mehr herausfinden!
Etwas in seiner Brust verkrampfte sich. Wieso hatte sie gesagt, es wäre besser gewesen, er wäre nie geboren worden?
Bei Claws nächstem Schlag überlagerte die Realität die Erinnerungen wieder, und das glorreiche Taubheitsgefühl verschwand. Noch ein Schlag, und alle Luft wich aus Abschaums Lunge. Ein weiterer, und seine Nervenbahnen heulten auf. Ein Tritt, und er erbrach unter dem Jubel der Menge Blut und Galle.
Bloß nicht schreien. Achte einfach nicht auf den Schmerz!
Claw trat ihm in die Oberschenkelrückseiten und grölte: »Fleisch schmeckt doch besser, wenn man es vorher weichklopft, oder?«
Abschaum kämpfte um jeden Atemzug, während die Zuschauermenge vor Lachen wieherte und zustimmende Rufe erklangen. Atmen, ich brauche Luft, das ist das Einzige, was zählt. Nein. Nein! Ich muss aufstehen! Muss sie alle töten!
Der Drang brandete durch seinen Körper wie eine Sturmflut – ein Gefühl, als wäre er dazu geboren, seine Peiniger zu ermorden. Als lebte er nur für diesen einen Zweck. Erst hacke ich Claw Hände und Füße ab, damit er mir wehrlos ausgeliefert ist. Dann reiße ich ihm die Zähne einen nach dem anderen heraus, schneide ihm seinen winzigen Schwanz ab und stopfe ihn ihm in den Hals. Und dann … töte ich all die anderen. Langsam und genüsslich.
Ein kaltes Lächeln breitete sich allmählich auf seinem Gesicht aus. Lodernder Hass durchströmte seine Adern, Verbitterung vergiftete seine Gedanken. Rachedurst erhob sein hässliches Haupt.
Claw musterte Abschaum finster. »Du findest das witzig?«
»Oh ja.« Die beiden Silben kamen nur undeutlich heraus, substanzlos wie Nebel, doch Abschaum scherte sich nicht darum. »Deine Tritte tun ganz schön weh, dafür, dass du ein toter Mann bist.«
Knurrend trat Claw ihm zwischen die Beine. Die Menge geriet in Aufruhr, und Abschaum erbrach erneut Blut. Schwarze Punkte flackerten vor seinen Augen, dennoch zwang er sich zu lachen. »Mehr … hast du … nicht drauf?«
Claw riss die Augen auf, es nagte an seinem Stolz, dass Abschaum sich nicht unterkriegen ließ. Wütend stürzte er sich auf sein Opfer, drückte Abschaums Schultern mit den Knien zu Boden und drosch mit den Fäusten auf ihn ein, Schlag auf Schlag auf Schlag.
Lähmender Schmerz. Abschaums Herz stand still, einen, zwei Schläge lang. Er hatte nicht … konnte nicht …
»Winsel um Gnade, Abschaum, und das hier hat ein Ende.«
Niemals! Ich würde lieber sterben, als mich brechen zu lassen. Und sterben … nein, der Tod ist keine Option! Er würde …
Er musste das Bewusstsein verloren haben, denn als Nächstes sah er Claw mit erhobenen, blutüberströmten Armen um ihn herumstolzieren. Die Menge stieß Jubelrufe aus.
Abschaums Mordgier – verschwunden. Hoffnungslosigkeit umfing ihn, eine heimtückische Kraft, zerstörerischer als jeder körperliche Schmerz. Er versuchte davonzukriechen, in der Menschenmenge zu verschwinden, aber jemand hielt ihn auf, indem er auf seine Waden einknüppelte. Abschaum warf den Kopf in den Nacken und schrie, konnte nicht mehr aufhören.
Die Menge johlte und schloss sich zu einem engen Kreis um ihn. Jemand drückte ihm einen Viehtreiber an die Schläfe, und heftige Stromstöße durchzuckten Abschaums Körper. Seine Haut spannte, seine Muskeln verkrampften sich, sein Blut begann zu kochen. Schwer keuchend lag Abschaum da, schwitzte, blinzelte, zwang sich zu überleben, ganz gleich, welchen Preis er dafür zahlen musste.
Du kannst deine Feinde nicht töten, wenn du selbst tot bist. Halte durch, und du wirst weiterleben. Bald schon würden die Prügel enden – Abschaum war zu wertvoll, um ihn zu töten. Trotz seiner Jugend konnte er sich Gliedmaßen und Organe nachwachsen lassen. Was bedeutete, dass er für seine Peiniger ein immerwährendes Festmahl darstellte – das einzige seiner Art.
Claw drängte den Mob zurück, dann legte er Ketten um Abschaums Handgelenke. »Heute Nacht bist du unser Nachtisch. Und zwar in mehr als einer Hinsicht.«
Erneuter Jubel. Abschaum biss sich auf die Zunge, um einen zweiten Aufschrei zu unterdrücken. Vielleicht … vielleicht nur würde er ja doch um Gnade betteln. Die Vorstellung, ihnen Nahrung und Spielzeug zugleich zu sein …
Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen, und er winselte leise auf. Haben sie es etwa geschafft? Mich gebrochen?
Auf einmal richtete Claw sich stirnrunzelnd auf. »Ruhe! Etwas kommt näher. Was … was ist das?«
Die anderen gehorchten und verstummten. Kampfeslust lag in der Luft.
Abschaum spitzte die Ohren, nahm verschiedene Geräusche wahr. Da war ein Zischen. Pfeifen. Heiseres Auflachen. Trotz der Schmerzen und obwohl er sich dabei zweimal fast übergeben musste, gelang es ihm, sich aufzusetzen. Ein Wirbelwind aus tintenschwarzem Rauch fegte auf das Lager zu.
Abschaums Instinkte reagierten innerhalb von Sekundenbruchteilen. Gefahr! Lauf los. Jetzt!
Angst half Abschaum, sich auf Hände und Knie zu stemmen, doch er schlotterte am ganzen Leib, sein Körper war zu geschwächt, in seinen unverheilten Knochen und Muskeln wummerte der Schmerz. Er konnte nicht mehr, blieb reglos hocken.
Krieger zückten ihre Waffen: Schwerter, Armbrüste, Macheten. Doch sie waren zu wenige und zu langsam. Der Tornado nahm Geschwindigkeit auf, verschluckte eine … zwei … drei dieser Bestien. Dann wirbelte er weiter, spuckte dabei ihre kopflosen Körper aus.
Andere Männer rannten fluchend davon, doch auch sie wurden schon bald verschluckt und enthauptet und wieder ausgespuckt.
Aufregung flammte in Abschaum auf, vertrieb mit jedem seiner Peiniger, der zu Boden fiel, ein wenig mehr die Angst. Wenn es so weiterging, war es nur eine Frage von Minuten, bis sie alle abgeschlachtet waren – inklusive ihm. Die Vorstellung ließ ihn grinsen. Solange diese Bestien nur starben, würde sein Tod ein glücklicher sein, wäre sein Leid für immer beendet.
Weitere Schreie erklangen, einer schriller als der andere. Mehr und mehr Barbaren fielen dem Tornado zum Opfer. Klatsch, klatsch, klatsch – das Aufprallen ihrer Körper war wie Musik in Abschaums Ohren. Ein abgetrennter Kopf rollte ihm vor die Füße, gefolgt von zwei weiteren. Er atmete so tief ein, wie es seine zerlöcherte Lunge erlaubte. Tiefe Befriedigung breitete sich in seinem Körper aus.
Schließlich war niemand außer ihm mehr am Leben. Und doch griff ihn die Rauchwolke nicht an. Nein, sie umkreiste ihn. Versuchte sie, ihn einzuschätzen? Abschaum kauerte sich hin und hob das Kinn. Er wollte diesen Kampf. Was hatte er schon zu verlieren?
Der Rauch löste sich auf, und ein großer, muskulöser Mann erschien. Er hielt eine Sense und sah aus wie der Tod. Seine Haut war gebräunt, sein Haar schwarz, doch nicht so schwarz wie die Augen, dunkel wie ein unendlicher Abgrund. Er trug eine Lederhose, aber kein Hemd, wodurch die Vielzahl an Piercings und Tätowierungen auf seiner Brust zu sehen waren. Blut bedeckte sein Gesicht und seinen Oberkörper und tropfte von der Sense.
Neben ihm stand ein ebenfalls blutbespritzter Jugendlicher mit goldener Haut, wirrem blondem Lockenkopf und blauen Augen. Sein Sohn?
Tod hob die Sense und machte sich bereit für den finalen Stoß. Ja. Ja! Doch dann begegneten sich ihre Blicke, fixierten sich, und Tod hielt inne, sein Gesichtsausdruck ein Wechselspiel der Gefühle: Entschlossenheit, Zorn, Betroffenheit, Bedauern. Sogar Schuldbewusstsein.
»Du hast seine Augen«, bemerkte Tod unverblümt, seine Stimme grollend und rau.
»Seine Augen?« Ein winziger Funke Hoffnung flackerte in Abschaums Brust auf. Würde er jetzt, nur Sekunden vor seinem Tod, mehr über seine Familie erfahren? »Du kennst meinen Vater?«
»Ja … und nein.«
»Was soll das heißen?«, schnappte Abschaum, dem langsam die Geduld ausging.
»Das, was ich gesagt habe. Niemand kennt deinen Vater wirklich.« Tod hob erneut die Sense … senkte sie jedoch wieder, ohne zuzuschlagen.
Was? Nein, nein, nein. »Los, tu es!«
In einem Tonfall so hart wie Claws Prügel erwiderte Tod: »Du wagst es, mir Befehle zu erteilen?«
»Ja! Los, nun töte mich schon.«
Seine dunklen, abgrundgleichen Augen wurden schmal. »Weißt du denn nicht, wer ich bin, Kind?«
»Du bist Tod.« Warum es leugnen? »So böse wie all jene, die du gerade ermordet hast.«
»Oh, ich bin kein bisschen wie sie. Nein, ich bin viel schlimmer.« Er beugte sich vor, als wolle er ein wichtiges Geheimnis teilen. »Doch es stimmt. ›Tod‹ ist einer der Namen, unter denen man mich kennt. Du aber darfst mich Hades nennen. Ich bin der König der Könige, und ich habe Welten über Welten nach dir abgesucht.«
Abschaum tippte sich gegen die verletzte Brust. Die Ketten an seinen Armen klirrten. »Nach mir? Wieso das?« Kannten sie sich? Was wusste er denn schon über Hades?
Zu seiner Überraschung stiegen zahlreiche Einzelheiten aus den Tiefen seines Gedächtnisses empor. Hades, einer der zwölf Könige der Unterwelt. Bekannt für seine Gefühlskälte und seine Grausamkeit. Tötet ohne Zaudern und Gnade, macht kurzen Prozess mit allen, die seine einzige Regel brechen – ihm bedingungslos zu gehorchen. Besitzt keinerlei Wertesystem, unterscheidet nicht zwischen Recht und Unrecht.
»Meine Gründe gehen nur mich etwas an und unterliegen ständigen Veränderungen«, erwiderte Hades. »Dies ist mein Adoptivsohn Prinz Luzifer.« Er tätschelte dem anderen Jungen den Kopf, wobei seine zahlreichen Ringe im Feuerschein glitzerten. »Und du? Weißt du, wer du bist?«
Dem anderen Jungen gefiel es nicht, getätschelt zu werden. Seine Augenwinkel zuckten, und seine Miene verfinsterte sich. Es dauerte jedoch nur einen Wimpernschlag, bis sein Blick wieder vollkommen ausdruckslos wirkte.
»Ich … nein«, gestand Abschaum ein und sah zwischen Vater und Sohn hin und her. Eifersucht flammte in ihm auf. Oh, was hätte er für eine Familie gegeben. Jemanden, der ihn bedingungslos liebte und beschützte.
»Dein Name lautet William. Er bedeutet ›standhafter Beschützer‹«, sagte Hades. Fast wirkte es, als würde er es genießen, der Überbringer dieser Nachricht zu sein. »Ich habe beschlossen, dich zu meinem Sohn zu machen, so wie ich es bereits mit Luzifer getan habe. Du wirst mein Beschützer sein. Mein Rachewerkzeug.«
William … Ein echter Name. Und eine Aufgabe noch dazu. Der Gedanke entflammte ein Gefühl in ihm, das er nicht einzuordnen wusste. Womöglich seine erste Kostprobe von Glück?
Der König fügte hinzu: »Du wirst die Feinheiten der Magie erlernen, außerdem, wie man kämpft, um zu gewinnen, ganz gleich, wie unmöglich ein Sieg erscheinen mag. Ich werde dafür sorgen, dass du zu deinem eigenen Retter wirst.«
Ja. Ja! All diese Dinge wollte er. Aber … »Warum möchtest du mich zu deinem Sohn machen? Söhne sind wertvoll.« Und laut Claw hatte Abschaum – William – abgesehen von seiner Regenerationsfähigkeit keinerlei Wert.
Hades kauerte sich vor ihn. Er verströmte den süßen Duft von Rosen. »Weißt du, was du bist, William?«
Erneut schüttelte er den Kopf, sein viel zu langes, dreckverklumptes Haar schlug ihm dabei gegen die Wangen. »Nur, dass ich nicht menschlich bin.«
Manchmal, wenn ihn Wut überwältigte, stieg nach Ambrosia duftender Rauch aus seinem Rücken, und unter seiner Haut leuchteten Blitze auf.
Rauch … Sein Herz begann zu rasen. War Hades womöglich sein wahrer Vater?
»Du hast recht«, sagte der. »Du bist kein Mensch. Du bist etwas so viel Besseres, so viel Stärkeres. Und eines Tages werden alle Welten vor dir erzittern.«
Im Reich Maradelle
Sechzehn Jahre später
Goldenes Licht strömte aus einer lodernden Feuerstelle und verjagte die Schatten der Nacht. Nach Sandelholz duftende Rauchsäulen schraubten sich daraus empor und legten einen traumartigen Schleier über die Umgebung. In durchsichtige Tücher gehüllte Hexen umtanzten die Flammen und versuchten, ihr Publikum in Versuchung zu führen. Hexenmeister schlugen in sinnlichem Takt die Trommeln.
Das gesamte Dorf betrachtete Hades’ Söhne als Götter der Unterwelt. Und damit hatten sie durchaus recht. Obwohl in Williams Fall »Mörder der Götter, Verführer der Göttinnen« wohl der passendere Titel gewesen wäre.
Mit den Jahren war er zu Hades’ bevorzugtem Auftragsmörder und Spion aufgestiegen. Meist handelte es sich bei seinen Zielpersonen um Zornentbrannte, eine Gruppe von Mitgliedern verschiedener Spezies, die sich zusammengetan hatten, um die Welten von Drachen-Gestaltwandlern, Vampiren und Hexen zu befreien – den angeblich bösartigen Spezies.
»Und, welche willst du?« Luzifer stupste William mit der Schulter an. Sie saßen mit den Ehemännern der Tänzerinnen im Kreis um die Feuerstelle. »Oder nimmst du sie lieber eine nach der anderen wie am Fließband?«
Die Methode, mit der sie vorzugsweise auch ihre Feinde töteten.
William schürzte die Lippen. Bei ihren Besuchen hatten sie freie Wahl unter den Frauen. Verheiratet oder nicht – es spielte keine Rolle, sie konnten nehmen, wen sie wollten.
»Du die eine Hälfte, ich die andere«, fügte Luzifer hinzu.
»Ts, ts. Solltest du nicht zumindest heute Abend enthaltsam bleiben?« Morgen würde Luzifer Prinzessin Evelina Maradelle heiraten, das einzige Kind der Kaiserin dieses Reichs, die die Gestalt eines Drachens annehmen konnte, und des Hexenmeisters, mit dem sie gemeinsam regierte.
Evelina war von Geburt an hinter Schloss und Riegel aufgewachsen. Nicht mal Luzifer hatte sie je zu Gesicht bekommen. Dieses Vergnügen wurde einzig ihren Eltern zuteil. Und Hades natürlich, der die Ehe arrangiert hatte und behauptete, das Mädchen sei unvorstellbar schön und unvergleichlich stark und freundlich, wenn auch ausgesprochen temperamentvoll.
Luzifer versuchte, finster dreinzublicken, musste aber prusten. William konnte sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. Die Hochzeit würde rein gar nichts ändern. Warum auch? Die meisten Leute betrachteten ihr Ehegelübde höchstens als lose Empfehlung.
Die meisten? Wohl eher alle. Noch nie war William einer verheirateten Person begegnet, die tatsächlich vorhatte, ihrer zweiten Hälfte treu zu bleiben.
Und wenn eine verheiratete Frau ihren Bund nicht ehren will, warum sollte ich es dann tun?
»Die Prinzessin wird keinerlei Einfluss auf meinen Lebenswandel haben«, sagte Luzifer. »Ebenso wenig wie irgendjemand sonst. Weil ich das gar nicht erst zulassen werde.«
»Sehe ich genauso. Wieso etwas ändern, das bereits perfekt ist?« Und was konnte perfekter sein als das Leben eines unsterblichen Prinzen Mitte zwanzig?
William hatte einen Vater, den er über alles liebte, und einen Bruder, den er schätzte. Jeden Morgen trainierte er mit den beiden und einigen erfahrenen Ausbildern seine Kampfkünste und lernte, auch unter widrigsten Umständen zu überleben. Nachts schwelgte er in seinen fleischlichen Gelüsten, wofür sich ihm schier unendliche Möglichkeiten boten.
Dann hatte seine leibliche Familie ihn eben nicht haben wollen und geglaubt, die Welt sei ohne ihn besser dran. Na und? Er ignorierte das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust. Seine neue Familie wusste seine Gesellschaft zu schätzen, und seine Geliebten konnten nicht genug von ihm bekommen, drängten ihm ihre Zuneigung förmlich auf. Das Leben meinte es gut mit ihm.
Ach, was red ich. Das Leben liebt mich! Wie sollte es auch nicht? Mit Selbstverliebtheit hatte das nichts zu tun – es war einfach nur die Wahrheit. Er war reich, schön und voller Erinnerungen, die ihm niemand wieder wegnehmen konnte. Er trug mächtigere Magie in sich als jeder der hier anwesenden Hexenmeister und besaß übernatürliche Kräfte, um die ihn alle Welt beneidete. Er konnte sich an jeden Ort der Welten teleportieren oder Portale dorthin öffnen. Konnte Dämonen kontrollieren und unter Feinden und Verbündeten gleichermaßen Angst und Schrecken verbreiten. Wurde sein Zorn geweckt, wuchsen ihm Flügel aus Rauch aus dem Rücken. Und schon bald würde er genauso wie Luzifer über sein eigenes Fürstentum regieren, ein Herrschaftsgebiet in Hades’ Reich. Was brauchte er mehr? Konnte das Leben schöner sein?
Aber warum bin ich dann trotzdem unglücklich? Warum ließ ihm der Teil der Vergangenheit, an den er sich nicht erinnerte, keinen Frieden? Wieso konnte er den Teil der Vergangenheit, der ihm so verhasst war, nicht einfach vergessen?
Nur zweimal hatte er Hades nach dem Jungen aus seiner ersten Erinnerung gefragt. Beide Male hatte er dieselbe Antwort erhalten: Vertrau mir, es ist besser für dich, nicht mehr darüber zu wissen.
Obwohl er sich nach Antworten sehnte wie ein Ertrinkender nach Luft, brachte er es nicht über sich, weiter nachzuhaken. Nicht nach allem, was Hades für ihn getan hatte.
Luzifer reichte ihm eine Karaffe mit Whiskey, der mit Ambrosia versetzt war, und sagte: »Die Blonde da drüben kann gar nicht mehr aufhören, dich anzustarren, Bruder.«
»Die Frage, wen du meinst, erübrigt sich wohl.« William nahm einen ordentlichen Schluck. »Ich tippe auf die, die sich immer weiter in unsere Richtung schiebt und dabei mit den Hüften wackelt.« Jetzt hob sie die Arme über den Kopf und drückte den Rücken durch, damit ihre Brüste besser zur Geltung kamen. Ihre Brustwarzen standen hervor.
Mmmmhhh, Nippel. Seiner Meinung nach die interessantesten Zielscheiben überhaupt.
»Und? Wirst du ihr Angebot annehmen?«, fragte Luzifer.
»Aber sicher …« Er zwang seinen Blick von ihren Brüsten hoch zu ihrem Gesicht. »… nicht.«
Lilith of Lleh, Evelinas Halbschwester und die Frau des Heerführers. Nicht nur Hexe, sondern auch Orakel. Sie war klein und kurvenreich, die Haut schneeweiß, die Augen smaragdgrün, die Lippen rubinrot.
Größe und Farbe waren für William noch nie ein Ausschlusskriterium gewesen. Schönheit konnte die verschiedensten Formen annehmen, und er wusste sie alle zu schätzen. Die einzigen Anforderungen, die er an eine Frau stellte? Sie musste weich, warm und vor allem unverbindlich sein. Hatte die Frau dann auch noch das Herz einer Heiligen und den Sexualtrieb einer Dämonin, umso besser. Bescheidenheit und Fügsamkeit waren ebenfalls ein Bonus.
Zwei der drei Hauptkriterien – weich und warm – erfüllte Lilith zwar, doch am wichtigsten mangelte es ihr, der Unverbindlichkeit. Vor einigen Wochen hatten sie das Bett geteilt, seitdem klebte sie an ihm wie eine Klette.
Ihn schauderte. Selbst wenn sie seine Seelengefährtin gewesen wäre – die Frau, die vom Schicksal dazu auserkoren war, ihn zu vervollständigen –, hätte er sie heute Abend abgewiesen. Klammerweiber wie Lilith erwarteten monogames Verhalten, ohne es zu erwidern, und hegten eine Neigung zu heftigen Eifersuchtsanfällen. Nein, danke. Abwechslung war ihm lieber – Abwechslung, das Gewürz, das dem Leben seinen einzigartigen Geschmack verlieh.
Nur wenn er eine neue Frau eroberte, erfuhr er wahre Befriedigung. Zumindest für den Moment. Na ja, und eigentlich war es auch nur ein Vorgeschmack auf das, was er sich unter wahrer Befriedigung vorstellte, der allzu schnell wieder verflog. Stets blieb nach diesen flüchtigen Augenblicken ein verzweifeltes Verlangen nach dem nächsten in ihm zurück. Und doch hätte er sie gegen nichts auf der Welt tauschen wollen. Diese Augenblicke waren der Beweis dafür, dass er – der Junge, den niemand gewollt hatte – begehrt, ja, sogar bewundert wurde.
»Ich halte sie dir vom Leib.« Luzifer musterte die Hexe über die Whiskeykaraffe hinweg. »Am besten, ich besorge es ihr einfach in deiner Gestalt, dann denkt sie, sie hat bekommen, was sie wollte.«
»Nein!«, brüllte William auf und handelte sich damit mehrere erschrockene Blicke ein. Seine Atmung beschleunigte sich, kalter Schweiß rann ihm den Nacken hinab. Luzifer war aus guten Gründen als ›der Große Betrüger‹ bekannt. Er konnte sich jederzeit in jede andere Person verwandeln und machte von dieser Fähigkeit häufig Gebrauch. Was auch der Grund für die meisten Unstimmigkeiten zwischen ihnen war.
»Nein«, wiederholte er etwas gefasster. »Das ist Vergewaltigung.« Es gab nur wenige Tabus, die er nicht zu brechen bereit war, sexuelle Nötigung stand auf dieser Liste ganz oben.
»Du irrst dich, es ist das Gegenteil von Vergewaltigung. Schließlich würde ich ihr genau das geben, was sie will. Aber«, fügte Luzifer mit einem spröden Lächeln hinzu und hob in einer Geste der Unschuld die Hände, »du bist mein werter Bruder, und ich werde deinen Wunsch selbstverständlich respektieren.«
Eine weitere Eigenschaft, die Luzifer zu seinem Beinamen verholfen hatte? Er log. Unablässig.
War das die Wahrheit, oder tischt er mir nur eine neue Unwahrheit auf? William biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Er wollte Luzifer lieben. Verdammt, es hätte ihm schon gereicht, ihn einfach nur zu mögen. Aber …
Insgeheim fiel ihm beides schwer. Doch sie waren eine Familie, das wertvollste Geschenk überhaupt. Und deswegen würde er seinen Bruder nicht fallenlassen.
Lilith fuhr sich in einer betörenden Geste mit der Zunge über die Lippen und lockte ihn mit dem Zeigefinger. »Komm zu mir, William. Ich gebe dir alles, was du willst, alles, was du begehrst.«
Bemüht freundlich erwiderte er: »Verzeih mir, Lilith, aber heute Abend begehre ich eine …« – irgendeine – »… andere.«
»Ich kann dafür sorgen, dass du es dir anders überlegst.« Sie ging auf die Knie und kroch näher. In ihren Augen schimmerte ein seltsames, hypnotisches Licht. »Ich habe es vorhergesehen.«
Wohl kaum. In härterem, strengerem Ton sagte er: »Die Antwort ist und bleibt nein.«
Liliths Miene verfinsterte sich vor Zorn, und sie krallte die Hände so fest in seine Schenkel, dass ihre messerscharfen Fingernägel seine Lederhose durchbohrten. »Bitte, William. Noch nie habe ich jemanden so begehrt wie dich.«
»Aaaahhh, Verzweiflung!«, säuselte Luzifer mit seinem üblichen leicht boshaften Grinsen auf den Lippen. »Das mächtigste aller Aphrodisiaka.«
Die Hexe zischte ihn an.
Nun gut, mit Direktheit bewirkte er offenbar ebenso wenig wie mit Freundlichkeit. Dann würde er es eben mit Grausamkeit versuchen müssen. »Verbring die Nacht mit deinem Gatten. Er findet dich anziehend. Im Gegensatz zu mir.«
Sie zuckte zusammen. »Ich liebe dich, und ich weiß, dass wir miteinander glücklich sein könnten. Für immer.«
Was bei allen Höllenfeuern war nötig, um diese Frau abzuwimmeln? »Die Liebe ist nur ein Mythos, und Monogamie lässt sich nicht aufrechterhalten. Ich werde niemals eine feste Bindung anstreben.«
Erneut zuckte sie zusammen. »Aber ich wäre gut zu dir, William. Gib mir eine Chance. Lass uns durchbrennen.«
»Du kennst mich doch gar nicht, Prinzessin.« Kaum einer tat das. Sie sah nur den Mann, der zu sein er vorgab. Den Playboy-Prinzen und erbarmungslosen Auftragsmörder. Niemand wusste, wer er tief in seinem Innern wirklich war. Nicht einmal er selbst.
»Da irrst du dich. Wenn du wüsstest, was ich alles über dich herausgefunden habe.« Sie setzte sich rittlings auf seinen Schoß und strich mit einem Finger über seine Brust. »Vor einigen Wochen hast du mich auserwählt. Danach habe ich von dir geträumt. Von uns und unserer gemeinsamen Zukunft. Und da ist mir klar geworden, dass einem Mann, der so verquer ist wie du, nur eine Frau mit meiner Erfahrung echte Befriedigung verschaffen kann.«
Na wunderbar. Jetzt litt sie auch noch unter Größenwahn. »Wenn dir der Sinn nach einem schwarzen Herzen und einem verzerrten Verständnis von Gut und Böse steht, würde mein Bruder besser zu dir passen.« Er wies mit dem Daumen in Luzifers Richtung. »Er hat sogar angeboten, meine Gesichtszüge anzunehmen, wenn du das möchtest.«
»Aber sei gewarnt, meine Süße.« Luzifer lallte etwas und schwankte leicht, doch das waren die einzigen Anzeichen für seinen Rauschzustand. »Eine Nacht mit mir, und kein anderer Mann wird dir je wieder genügen.«
Die Hexe ignorierte Luzifer, ihr irrer Blick war fest auf William gerichtet. »Ich habe in dein Herz geblickt und weiß, wie verzweifelt du dich nach einer eigenen Familie sehnst.«
Er erstarrte, wagte nicht einmal zu atmen. Was, wenn sie in seinem Herzen zudem die Vergangenheit erkennen konnte, an die er sich nicht erinnerte? Was, wenn sie bereits alles darüber wusste? »Was weißt du noch, Hexe? Sag es mir!«
Mit einem triumphierenden Grinsen, das verriet, dass sie glaubte, ihn für sich gewonnen zu haben, erwiderte sie: »Begleite mich in meine Hütte, und ich verrate dir alles, was ich weiß.«
»Sag es mir hier, und ich schwöre, dass ich dich danach in meine Hütte mitnehme.« Oder auch nicht. Definitiv nicht.
Einen langen Moment sah sie ihm schweigend in die Augen. Dann endlich sprach sie: »Ich weiß, dass du dich nicht an deine Kindheit erinnern kannst. Ich weiß, dass jemand einen Zauber gesprochen hat, damit du vergisst. Ich weiß, dass zwischen Luzifer und dir ein Krieg entflammen wird, den nur einer von euch beiden überleben kann. Ich weiß, dass eine Zeit kommen wird, in der du deinen Vater hasst und deinen Bruder liebst.«
Er hörte ihr genau zu, und jedes Mal, wenn sie »ich weiß« sagte, fühlte es sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Hades hassen? Niemals! Hades’ Sohn töten? Auf keinen Fall. Aber ein Vergessenszauber … das ergab durchaus Sinn. »Du widersprichst dir, Hexe. Wie kann ich Luzifer bekriegen, den Krieg überleben und dann neue Liebe für Luzifer empfinden, obwohl er tot ist?« Außer …
Hatte sie mit »Bruder« womöglich den geflügelten Jungen gemeint?
Er, William, sah ihm so ähnlich, viel mehr als ihre vermeintliche Mutter in seinem Erinnerungsfetzen. Der geflügelte Junge und er hatten die gleiche dunkle Haut, das gleiche schwarze Haar, die gleichen blauen Augen.
Was mochte mit dem Jungen passiert sein? Wo war er jetzt?
Seine Brust zog sich zusammen, so fest, dass er kaum mehr Luft bekam.
»Warum muss denn ich es sein, der stirbt?«, knurrte Luzifer die Hexe an. Plötzlich wieder nüchtern, stellte er den Whiskey beiseite und zückte einen Dolch. »Ach, eigentlich spielt es auch gar keine Rolle. Du lügst uns vor, ein Krieg würde kommen, um Zwietracht zwischen uns zu säen. Bedauerlicherweise bereitet mir kaum etwas mehr Spaß, als Lügner zu töten. Nachdem ich mich ein bisschen mit ihnen amüsiert habe, versteht sich.«
William schürzte die Lippen und tätschelte seinem Bruder die Hand, damit er den Dolch wieder wegsteckte. »Lass uns nicht unsere wertvolle Zeit mit ihr verschwenden. Soll sie sich einen anderen suchen, den sie lieben kann, das ist Strafe genug.«
Lilith blickte hasserfüllt zwischen ihnen hin und her. »Du hältst Liebe für eine Strafe? Nun gut, dann werde ich dich den Wert der Liebe lehren.« Sie nahm ihre Finger von seinen Oberschenkeln und breitete die Arme weit aus. Auf einmal wirbelte starker Wind um sie herum. »Ich verfluche dich, William aus der Dunkelheit. Ich verfluche dich zu einem Leben voller Elend, einem Leben in ewigem Kampf gegen all jene, die dir etwas bedeuten. Einem Leben ohne wahre Gemeinschaft. Und solltest du dich jemals verlieben … und sollte dein Gegenüber diese Gefühle erwidern … dann sei diese Frau ebenfalls verflucht. Sie wird nicht nur ihr Herz verlieren, sondern auch den Verstand, und sie wird dich so lange angreifen, bis du tot bist.«
William schnaubte. »Willst du damit etwa sagen, dass ich niemals sesshaft werde? Dass ich niemals immer und immer wieder derselben Frau beiwohnen und mit ihr eine Horde brüllender Rotznasen großziehen werde? Oh nein, Lilith, nicht das, tu mir das nicht an.« Er verdrehte die Augen.
Lilith fuhr fort, nun in schärferem Ton: »Gestatte mir, dir heute Nacht schon eine Kostprobe dessen zu verschaffen, was ich vermag. Ich verfluche dich, William aus der Dunkelheit, dazu, bis Sonnenaufgang beide Hände zu verlieren.«
Wieder verdrehte er die Augen. »Dann lasse ich mir eben neue wachsen. Das ist nur eine Frage von Tagen.«
»Aber während diese düsteren Tage verstreichen, werden all deine Gedanken um mich kreisen, und du wirst keine Geliebte anrühren können.«
Ein tiefes Grollen bildete sich in seiner Brust, und Lilith lachte auf.
»Nun, ich will ja kein Unmensch sein«, fuhr sie fort. »Deswegen schenke ich dir eine Möglichkeit, dem Fluch zu entgehen. Eine Chance, dich vor deiner Liebsten zu schützen.« Sie winkte, und in seinem Schoß materialisierte sich ein Buch, ein dicker, ledergebundener Wälzer, auf dessen Einband ein großer Saphir funkelte. »Auf diesen Seiten findest du einen magischen Code. Suche jemanden, der ihn knacken kann, und der Fluch ist gebrochen.«
Ein Gefühl des Unbehagens prickelte in seinem Nacken. Langsam reichte es ihm mit Lilith und ihren Drohungen. Also erhob er sich, sodass das Buch polternd zu Boden fiel, und machte auf dem Stiefelabsatz kehrt, um in die Unterwelt zurückzukehren.
»Lass sie nur hier zurück, deine einzige Hoffnung auf Erlösung!«, rief Lilith ihm süffisant hinterher. »Auf dass deine Feinde sie gegen dich verwenden können.«
William hielt inne und sah sich noch einmal um. Trocken erwiderte er: »Wie konnte ich Narr nur je an deiner Liebe zweifeln.« Dennoch, wo sie recht hatte … Er streckte die Hand aus, und das Buch flog hinein. Dann warf er der Hexe eine Kusshand zu und zog von dannen.
Luzifer eilte ihm hinterher und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ich würde niemals gegen dich in den Krieg ziehen, Bruder.«
»Ich weiß.« Sie mochten ihre Differenzen haben, aber sie respektierten Hades viel zu sehr, um sich gegeneinander zu wenden.
»Erlaube mir, es dir zu beweisen. Ich werde das Buch für dich aufbewahren. Meine Armeen sind doppelt so groß wie deine, und auch meine Magie ist stärker. Ich sorge dafür, dass der Code nicht gegen dich verwendet werden kann.«
Erneut prickelte ein ungutes Gefühl in Williams Nacken. »Zwar weiß ich dein Angebot zu schätzen, Bruder, aber ich denke, ich werde das Buch behalten. Es hält sicherlich einige Lacher für mich bereit.« Magie vermochte manch Verblüffendes, Unmögliches sogar. Wahre Liebe zu schmieden gehörte jedoch nicht dazu. Und dass er bis zum Morgen seine Hände verlor, war schlichtweg undenkbar. Denn dafür hätte jemand die Fähigkeit benötigt, sich an ihn heranzuschleichen und ihn bewusstlos zu machen. Viel Glück auch.
Luzifer öffnete ein Portal in sein eigenes Höllenreich, William eines in sein Fürstentum. Dort verschanzte er sich in seinem Schlafgemach und errichtete Fallen für jeden, der so dumm sein mochte, sich ihm zu nähern.
Stunde um Stunde hielt er sich mühsam wach. Schließlich aber dämmerte er doch weg … und erwachte unter unbeschreiblichen Schmerzen.
Überall war Blut, so viel Blut. Es durchtränkte die Laken, bedeckte seinen Körper – und spritzte aus seinen Handgelenken, die nur noch Stummel waren.
Seine Hände waren fort, die Fallen unberührt.
Bittere Angst gesellte sich zu der Sturmflut aus Schmerz, die durch seinen Körper brandete. Die zweite Hälfte von Liliths Fluch hatte sich bewahrheitet. Warum sollte es ihm mit der ersten dann anders ergehen?
Scheiße. Scheiße! Was mach ich denn jetzt?
»Ein Tarnumhang? Was soll ich damit? Dann kann doch keiner sehen, wie höllisch heiß ich bin!«
William der Immergeile
Dritte Ebene der Himmelreiche
Im Sündenfall, ein Nachtclub für Unsterbliche
Heute
William marschierte durch den überfüllten Club und schob dabei eine bunte Mischung aus Vampiren, Gestaltwandlern und Fae aus dem Weg. Körper rempelten gegeneinander, Proteste wurden laut und verstummten gleich darauf wieder, als die Gäste seinen Gesichtsausdruck bemerkten: mörderische Wut.
»Na los, will mir jemand blöd kommen?«, knurrte er. »Nur zu!«
Innerhalb von Sekunden dünnte sich der Pulk aus, und neunzig Prozent der Unsterblichen hasteten so schnell davon, dass ihre Schritte das Gebäude beben ließen.
Im Lauf der Jahrhunderte hatten seine Feinde und seine Freunde gelernt, ihn zu behandeln wie eine Handgranate ohne Stift: Er konnte jede Sekunde explodieren und seine Umgebung dem Erdboden gleichmachen.
Zwei Frauen waren an der Bar stehengeblieben und musterten ihn interessiert.
»Ich hab gehört, dass er wieder in die Hölle gezogen ist, um Luzifer zu bekämpfen«, flüsterte die eine der anderen zu.
Williams empfindliche Ohren nahmen trotzdem jedes Wort wahr.
»Armer Luzifer«, sagte die andere, klang dabei aber eher zufrieden als mitfühlend. »Ich habe nämlich gehört, dass die Kräfte des Immergeilen in der Hölle sogar noch zunehmen!«
Nun ja, da hatten die zwei Hübschen nicht unrecht. William befand sich tatsächlich im Krieg mit Luzifer, genau so, wie Lilith es vorhergesehen hatte. Und tatsächlich nahmen in der Hölle seine übernatürlichen Kräfte zu – wenn auch in eine unheilvolle Richtung.
Die erste Frau lächelte und warf ihm eine Kusshand zu, dann sagte sie zur anderen: »Was er wohl hier will?«
»Frag ihn doch«, schlug die zweite vor. »Na los, Helen, mach schon.«
»Kommt gar nicht infrage, Wendy. Du hast seine Stimme bestimmt mal gehört, oder? Er ist wie eine Sirene, ein einziges Wort, und schwupp hat er dich verführt. Leider habe ich ja beschlossen, auf Strider zu warten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er Kaia satthat. Glaube ich jedenfalls … hoffentlich.«
William seufzte tief. Seine Anwesenheit hier diente nur einem Zweck. Er würde sich von Liliths Fluch befreien. Endlich!
Gestern hatte ihm eine mächtige Seherin eine bemerkenswerte Nachricht überbracht. Darin hieß es, schon bald würde er die Lösung all seiner Probleme finden – die einzige Person mit den notwendigen Fähigkeiten, um den magischen Code zu entschlüsseln und damit Liliths Fluch zu brechen. Diese Person hatte sich für eine Krypto-Analysten-Konferenz angemeldet. Veranstaltungsort: Manhattan.
War diese Person menschlich oder unsterblich? Jung oder alt? Stark oder schwach?
Völlig egal. Ich werde finden, was ich suche, oder bei dem Versuch sterben.
Eine wunderschöne braunhaarige Vampirin in der clubeigenen Uniform aus Crop-Top und Micro-Rock trat ihm in den Weg. Sie lächelte süß – zu süß. »Du vertreibst unsere Kunden und bringst uns damit um unser Trinkgeld.« Ganz sinnliche Anmut und verspielter Charme, zeichnete sie mit einer Fingerspitze seine Brustmuskeln nach. »Ich bin sehr kurz davor, dich von den Türstehern rausschmeißen zu lassen.«
Sollten sie es doch versuchen. Wer so dumm war, ihn anzufassen, starb einen grauenvollen Tod. Und zwar ohne Ausnahme, einfach aus der Notwendigkeit heraus. Denn wenn man auch nur einen Angreifer davonkommen ließ, stand am nächsten Tag eine ganze Meute Schlange, um es ebenfalls zu versuchen.
William sondierte den Club. Die Türsteher waren leicht zu erkennen: eine Mischung aus Berserkern und Phönix-Kriegern. Erneut stieß er einen Seufzer aus. So sehr es ihn auch gefreut hätte, sich anzuhören, wie sie ihn um Gnade anflehten – wobei Gnade ein Konzept war, das sich ihm sowieso nie recht erschlossen hatte –, war seine Zeit heute einfach zu kostbar.
»Ich bezahle dir den doppelten Wochenlohn«, versprach er der Vampirin. Sein Reichtum war unermesslich, er konnte es sich leisten. »Aber nur, wenn du mir die übrigen Gäste vom Leib hältst.«
»Adios, Herrschaften«, erwiderte die Vampirin in fröhlichem Singsang und pumpte die Faust gen Decke. »So, alle raus hier. Sofort! Los, los, los, ehe ich anfange, Gliedmaßen abzuschneiden.« Ein verruchtes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Oder soll ich etwa Björn sagen, dass ihr mir Kummer gemacht habt, Leute?«
Es folgte eine Massenflucht in Richtung Ausgang, bei der reihenweise Stühle zu Boden gingen. Rückzug war unter diesen Umständen ganz klar die bessere Entscheidung. Björn, der nicht grundlos den Beinamen »der letzte wahre Schrecken« trug, war einer der drei Besitzer des Sündenfall, halb Himmelsgesandter – eine Spezies geflügelter, dämonischer Auftragsmörder mit mehr Feuerkraft als Engel – und halb Schrecken, eine der gewalttätigsten Spezies, die es auf Erden je gegeben hatte. Sein Temperament war ähnlich unbeherrscht und legendär wie Williams, kam aber nur zum Vorschein, wenn das »schwächere Geschlecht« weinte.
Hi! Wir sind’s, die1950er! Wir wollten nur mal fragen, ob wir unsere Frauenverachtung zurückhaben könnten. Frauen das schwächere Geschlecht? William schnaubte. Drei Frauen hatten seine Vergangenheit und seine Gegenwart mehr geprägt als jeder Mann, eine weitere würde über seine Zukunft entscheiden. Eine hatte ihm mitgeteilt, es wäre besser gewesen, er wäre niemals geboren worden, ein Stigma, das er seitdem mit sich herumtrug. Die zweite hatte ihn verflucht und damit alle Beziehungen beeinträchtigt, die er je gehabt hatte. Und die dritte war seine Hoffnung in einer ausweglosen Situation. Sie schenkte ihm Zuversicht, was bisher nicht mal seinem Vorbild Hades gelungen war. Gleichzeitig würde sie aber auch versuchen, ihn zu töten, falls er sich je in sie verliebte.
William atmete tief durch, schüttelte die düsteren Gedanken ab und setzte seinen Weg fort. Unterschiedliche Düfte tränkten die Luft, Kerzenwachs, Hormone, kontrastierende Parfüms und Schweiß. Als er den letzten noch anwesenden Gast entdeckte – der einzige Grund für seinen Besuch –, schrumpfte seine lodernde Wut zu leise vor sich hin brodelndem Verdruss zusammen.
Keeleycael, auch bekannt als die rote Königin, war unbeschreiblich mächtig – und unbeschreiblich nervtötend. Sie war alt wie die Zeit selbst und konnte unendlich weit in die Zukunft blicken, was dazu führte, dass sich ihre Erinnerungen hin und wieder vermengten, sodass sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr auseinanderhielt. Zudem war sie häufig so unkonzentriert, dass ihr selbst einfache Tätigkeiten wie das Ankleiden misslangen. So wie heute: Sie trug ihre Kleidung auf links und mit der Rückseite nach vorn, und aus einem ihrer Hosenbeine ragte eine alte Socke. Um ihren Hals hing eine Zuckerperlenkette.
»William! Willy! Will!«, rief sie winkend von ihrem Tisch im hinteren Bereich des Clubs aus. Mit ihrem blassrosa Haar, der goldenen Haut und den grünen Augen war sie ein hinreißender Anblick. »Ich weiß, wir haben uns erst gestern gesehen, aber ich hab dich fürchterlich vermisst. Oder … ist das doch eher so zehn, zwanzig Jahre her? Hm … vielleicht … fünfzehn?«
Na wunderbar, und schon ging der Wahnsinn los. William legte einen Zahn zu. Es war einmal, vor langer Zeit, da war diese liebenswerte Spinnerin Hades’ Verlobte und damit seine Beinahe-Stiefmutter gewesen. Hades und Keeley hatten sich zwar getrennt, doch da hatte er sie bereits für immer ins Herz geschlossen. Erst kürzlich hatte sie Torin geheiratet, einen Dämonenhüter, der zu seinen besten Freunden zählte.
William schob mit dem Fuß einen Stuhl an ihrem Tisch zurecht und ließ sich drauffallen. »Hallo, Keeley.«
Sie lächelte ihr süßes Lächeln, das eine Welle der Zuneigung in ihm auslöste.
»Wie schön, dass du zu diesem Treffen erschienen bist, das wir nie vereinbart haben.«
Jetzt bloß nichts Falsches sagen. Noch nie hatte er eine wichtigere Unterhaltung geführt. Keeley musste bei klarem Verstand sein, und jede unbedachte Frage konnte sie hoffnungslos verwirren. »Hast du den Namen der Person herausgefunden, die den Code entschlüsseln wird?«
»Warum? Weil sich alles bewahrheitet hat, was Lilith vorhergesagt hat? Du befindest dich im Krieg mit Luzifer. Deine Vergangenheit und deine Gegenwart sind trist, ohne jede echte Liebe. Und deine Zukunftsaussichten sind ebenfalls ganz schön trostlos.«
»Genau«, stieß er zähneknirschend hervor. Solange der Fluch über ihm hing wie ein Damoklesschwert, verbrachte er bewusst nie mehr als ein oder zwei Nächte mit derselben Frau, ein Zustand, den er inzwischen gern geändert hätte.
Nicht, weil er sich fest an jemanden binden wollte, das war nicht der Fall. Nach allem, was er erlitten hatte, verdiente er ein Happy End mit so vielen Frauen wie möglich.
Tatsächlich aber hatte sich seine Einstellung zum Thema Monogamie mit der Zeit verändert – jedenfalls was andere betraf. Viele seiner Freunde hatten ihre Seelengefährtin gefunden und waren inzwischen Musterbeispiele der Liebe und Treue. Er dagegen zog nach wie vor die Abwechslung vor. Eine einzige Partnerin wäre nie dazu in der Lage gewesen, all seine Bedürfnisse zu befriedigen.
Aus seiner Sicht waren Frauen wie Aromen. Manchmal war einem nach süß, manchmal nach salzig oder sauer. Warum sich auf eine Geschmacksrichtung festlegen?
»Also«, fuhr er fort, »weißt du den Namen nun oder nicht?«
»Na klar!«, rief sie. »Und das Geschlecht kennt die stolze werdende Mama sogar auch schon.«
Er massierte sich den Nasenrücken.
»Überraschung!« Keeley breitete die Arme aus. »Es ist ein Mädchen. Und sie ist deine Seelengefährtin.«
Was? Schock und Entsetzen brachen über ihn herein, tausend Probleme auf einmal reckten ihr Haupt, Probleme, für die es nur eine Lösung gab.
»Ich weiß schon«, fuhr Keeley fort. »Du dachtest, du hättest deine Seelengefährtin längst gefunden. Aber du hast dich geirrt.«
Seine Brust zog sich zusammen, bis er kaum mehr Luft bekam. Es war gar nicht lange her, da hatte er eine (ehemals) menschliche Frau namens Gillian Shaw kennengelernt, deren Kindheit sogar noch tragischer gewesen war als seine. Da er den Fluch nicht aktivieren wollte, hatte er verbissen jegliches echte Gefühl, das er für sie zu entwickeln drohte, niedergekämpft. Zu zahlreich waren die Fragen gewesen, die ihm in ihrer Gegenwart ständig durch den Kopf kreisten.
Was, wenn er sich auf Gillian einließ und sie wirklich versuchte, ihn zu ermorden?
Was, wenn er sie bei dem Versuch, sich selbst zu schützen, schwer verletzte?
Was, wenn er sie dabei versehentlich sogar tötete? Könnte er sich je verzeihen?
Am Ende hatte sie sich in irgend so einen ätzenden Vollpfosten verliebt, der sie – William schüttelte sich – brauchte. Mit anderen Worten, in einen Idioten. Einander zu brauchen endete zwangsläufig mit Liebeskummer.
»Ich werde nicht zulassen, dass meine zukünftige Mörderin Zugang zu dem einzigen Gegenstand erhält, der mich retten kann«, knurrte er. »Lieber töte ich sie direkt und entziehe damit dem Fluch seine Grundlage, ehe er sich überhaupt aktiviert.«
Aber … konnte er tatsächlich einfach seine einzig wahre Seelengefährtin ermorden, ihr das Leben nehmen, nur weil sie eines Tages versuchen würde, ihm das seine zu nehmen?
Keeley sah ihn mit großen Augen an. »Du würdest wirklich deine einzige Chance auf ewige Glückseligkeit aufgeben?«
»Ja«, fauchte er. Schließlich würde er wohl kaum plötzlich anfangen, einen Zustand zu vermissen, den er gar nicht kannte. Oder? In seinen Schultermuskeln arbeitete es.
Keeley fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. »Und was, wenn du Luzifer ohne ihre Hilfe nicht besiegen kannst?«
Er erstarrte. »Ist es denn so?«
Sie ignorierte seine Frage. »Erinnerst du dich noch, wie ich dir erzählt habe, dass Scarlets und Gideons Kind dir dabei helfen würde, den Fluch zu brechen?«
»Sicher«, erwiderte er bedächtig. Scarlet und Gideon waren Teil seines Freundeskreises aus von Dämonen besessenen Männern und Frauen sowie deren Partnerinnen und Partnern. Man kannte sie als »Herren der Unterwelt«. Auch Torin und Keeley zählten zu diesem Kreis. »Bei aller Liebe bezweifle ich, dass ihr Baby die Macht hat, einem Prinzen der Unterwelt zu helfen.«
»Nun, da hast du recht. Ich habe mich unklar ausgedrückt. Das Baby wird eines Tages deinen Töchtern helfen. Töchtern, die du ohne deine Seelengefährtin nie haben wirst.«
Was? Töchter? Plural? Mädchen, die zu schönen Frauen heranwachsen und sich in irgendwelche verkackten Männer verlieben würden, die er dann wohl oder übel abschlachten musste? Nein! »Ein Grund mehr, die Codeknackerin zu töten. Ich will keine weiteren Kinder.«
»Oh, aber haben wirst du welche. Genügend für eine ganze Base…, Fuß…, Sportmannschaft.« Und als hätte sie nicht gerade eine gehörige Bombe platzen lassen, beugte Keeley sich vor und sagte: »Du wirst dich ja wohl kaum von heute auf morgen in deine Seelengefährtin verlieben, oder? Also schlage ich vor, du räumst ihr eine Schonfrist von zwei Wochen ein, in denen sie an dem Code arbeiten kann. Schwör es, oder ich behalte die Namensliste für mich.«
»In Ordnung.« Er brauchte über seine Antwort gar nicht weiter nachzudenken. Wenn man ewig lebte, waren vierzehn Tage kaum mehr als ein Wimpernschlag. Aber was meinte Keeley mit »Namensliste«? Es sollte doch nur einen Namen geben. »Ich schwöre, ihr zwei Wochen lang kein Haar zu krümmen. Solange sie sich benimmt, versteht sich.« Kein Schwur ohne Reißleine.
»Hervorragend! Also, ehe ich dir die neunzehn Namen auf meiner Liste nenne …«
»Neunzehn?«, brüllte er.
»… wirst du mir verraten, warum du in der Hölle stärker wirst. Und wag es nicht, mir die Antwort zu verweigern. Hier in unserer Welt gelten die Regeln des Gebens und Nehmens.«
Dann hatte also auch sie die beiden Frauen an der Bar reden gehört. Er seufzte. »Ich weiß es doch selbst nicht.« Genauso wenig, wie er wusste, was für eine Rolle das spielen sollte. »Ich weiß nur, dass ich hier oben in den Himmelreichen ebenfalls Flügel aus Rauch erzeugen kann, dass diese Flügel in der Hölle aber mit Sopor versetzt sind, einem Gift, das starke Schmerzen auslöst. Hier wachsen mir Krallen, dort dringt aus diesen Krallen Poena, ein tödliches Gift. Hier habe ich nicht mal kleine Fangzähne, dort kann ich mir nach Belieben regelrechte Säbelzähne wachsen lassen.«
Keeley legte den Kopf schief und fragte: »Ist das der Grund dafür, dass du so schnell ins Reich der Sterblichen gezogen bist, nachdem dein Dad und ich uns getrennt haben?«
Er antwortete mit einem knappen Nicken. Er hatte befürchtet, genauso ein Scheusal zu werden wie Luzifer, falls er länger in der Hölle blieb.
»Interessant, interessant.« Keeley rieb sich in bester Bösewicht-Manier das Kinn. Man konnte förmlich zusehen, wie sich die Zahnräder in ihrem Kopf in Bewegung setzten. »Dann solltest du deine Seelengefährtin-Schrägstrich-Codeknackerin definitiv mit in die Hölle nehmen.« Sie streckte einen Arm aus und enthüllte eine Reihe von Tintenschmierereien, die in ihrer Armbeuge begannen und auf der Handfläche endeten. »Ta-daaaah – die Namen, wie versprochen.«
William brauchte nur einen kurzen Blick darauf zu werfen, um sich alles einzuprägen. Er hob eine Braue. »Es gibt eine Codeknackerin namens ›Veggie-Bolognese‹?«
»Huch!« Keeley befeuchtete ihren Daumen mit der Zunge und rieb sich die Worte vom Arm. »Nein, das war mein Abendessen.«
»Dein Name steht ebenfalls auf der Liste.«
Keeleys Blick wurde schwer. Ein verträumtes Lächeln schmiegte sich in ihre Mundwinkel, und sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Weil ich Torins Abendessen war.«
Möge ich niemals so ein Pantoffelheld werden wie meine Freunde. »Und welches ist nun der Name der Codeknackerin?«
Die Kellnerin erschien, reichte Keeley eine Flasche Champagner und flüsterte erstickt: »Aufs Haus. Bitte bring mich nicht um!« Dann floh sie im Laufschritt.
Die rote Königin nahm einen Schluck direkt aus der Flasche, während William abwartend den Dolch streichelte, den er in einer Scheide an der Taille trug. »Keeley«, erinnerte er sie schließlich sanft. »Ich hab dich was gefragt.«
»Ach so, ja, stimmt. Du wolltest wissen, wo du eine Höllenkrone finden kannst.«
Erneut erstarrte er. Vor langer Zeit hatte der Höchste, Anführer der Himmelsgesandten, elf Kronen angefertigt. Besaß man eine von ihnen, verwandelte man sich in einen mächtigen König, ganz gleich, wer oder was man war. Verlor man sie, so verlor man alles.
Nachdem es Luzifer nicht gelungen war, den Höchsten zu stürzen, hatte er – so hieß es zumindest – zehn der elf Kronen gestohlen und sie Hades zum Geschenk gemacht, der daraufhin einige ausgewählte Verbündete an seine Seite geholt hatte, die neben ihm herrschen sollten. Die zehnte Krone hatte er für Luzifer bestimmt, sie gemeinsam mit den anderen Königen direkt nach Luzifers Krönung aber wieder zurückgestohlen.
Nun behauptete er, die zehnte Krone sei verschwunden. William hatte vor, sie zu finden, der zehnte Höllenkönig zu werden und seinen ehemaligen Bruder auf seinen Platz zu verweisen. Ihm ein für alle Mal das Handwerk zu legen.
Sein Körper prickelte vor Anspannung, er musste darum kämpfen, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Weißt du, wo sich die zehnte Höllenkrone befindet?«, stieß er hervor.
»Nein, wieso sollte ich?«
Ich werde sie nicht umbringen. Auch wenn ich sie würgen könnte. »Weißt du dann wenigstens mehr über meine Seelengefährtin?«
»Nein. Nun ja, eins weiß ich doch.« Wieder dieses unendlich süße Lächeln. »Was du bekommst, ist dein wildester Traum – und dein größter Albtraum. Viel Spaß! Und viel Glück natürlich.«
»Willst du was von mir? Ach nee, das war ja deine Frau.«
Sunday »Sunny« Lane nippte Zuckerwasser aus einem supernoblen Weinglas und schlenderte dabei durch eine schummrige Hotelbar, in der es vor Krypto-Analysten, Hackern und Computerfreaks aller Altersgruppen nur so wimmelte. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Menschen, die extra einen Tag früher nach New York geflogen waren, um zu netzwerken und zu feiern, ehe morgen die erste Krypto-Analysten-Konferenz der Welt begann.
Ihre langjährige Freundin … ähm, Bekannte Sable wich ihr nicht von der Seite. Die eins achtzig große schwarze Schönheit stammte nicht nur aus demselben Reich, sondern sogar aus demselben uralten Dorf wie Sunny.
Sie waren als Venusfallen hier, auf der Jagd nach Unsterblichen, die wiederum ihre Spezies jagten.
Ein Kellner mit einer Weißweinflasche kam auf sie zu. »Darf ich Ihnen nachschenken, Ma’am?«
Ma’am? Das war ja wohl die schlimmste Beleidigung, die man einer Frau antun konnte.
Da Sunny in der Lage war, Auren zu lesen, fiel es ihr leicht, Unsterbliche und Menschen zu unterscheiden, und dieser Kellner hier war menschlich. »Nein, danke«, sagte sie. »Als selbsterklärte Superheldin und stolzes Mitglied der Bürgerwehr ziehe ich es vor, nüchtern und zurechnungsfähig zu bleiben – dann funktioniert auch mein Frauenhelden-Radar besser.« Du Primel.
Sunny war mit einem angeborenen magischen Filter ausgestattet, der verhinderte, dass sie laut fluchte. Schimpfworte kamen stets in Form von Pflanzennamen aus ihrem Mund. »Veilchen« ersetzte v-e-r-d-a-m-m-t, »Schneeglöckchen« und »Schafgarbe« stand für S-c-h-e-i-ß-e, »Ahorn« für A-r-s-c-h, »Fuchsie« für F-u-c-k, »Primel« für P-i-m-m-e-l.
Der Kellner bedachte sie mit einem verunsicherten Lächeln, dann dampfte er ab.
»Auf dass uns die Dualität heute gute Dienste erweisen möge.« Sable stieß ihr Zuckerwasserglas gegen Sunnys.
Ach ja, die Dualität. Zur einen Hälfte strebte ihr Wesen danach, Bösewichte – egal ob unsterblich oder menschlich – zu jagen und zu töten. Dieser Teil von ihr, sie nannte ihn Horrorshow-Sunny, verdingte sich als Auftragskillerin. Irgendeine Aufgabe brauchte schließlich jeder im Leben, richtig? Die andere Hälfte, Regenbogen-Sunny, hatte nur eins im Sinn: Liebe, Frieden und Freude zu verbreiten. Sie arbeitete als Krypto-Analystin.
Die beiden Anteile lieferten sich ein ständiges, brutales Tauziehen.
»Ich hab online gepostet, dass wir hier sind, jetzt weiß alle Welt Bescheid«, sagte Sunny und spielte dabei mit dem Medaillon herum, das sie an einer Kette um den Hals trug. Es war ihr wertvollster Besitz und zu Dingen in der Lage, die sich die meisten nicht einmal vorstellen konnten.
Als extrem seltene »Fabelwesen« verließen sie niemals unbewaffnet das Haus. Dazu gab es zu viele Wilderer und Sammler, die Jagd auf sie machten. Kein Wunder, dass sie niemandem vertraute – nicht einmal Sable – und sich nie länger als einige Wochen am Stück am selben Ort aufhielt. Sie lebte in ständiger Habachtstellung und konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt eine Nacht lang tief und fest durchgeschlafen hatte.
»Falls uns jemand angreift …«, begann Sable.
»… stirbt er unter Höllenqualen«, vollendete Sunny ihren Satz.
Sable vibrierte förmlich vor Anspannung, während sie das restliche Zuckerwasser kippte und ihr Glas abstellte. »Wenn wir erst mal alle Wilderer und Sammler eliminiert haben, brauchen wir nicht mehr ununterbrochen auf der Hut zu sein und können uns endlich auf die Herren der Unterwelt konzentrieren.«
»Und dann schnappen wir uns alle neun Könige und jeden einzelnen Prinzen der Dunkelheit.« Zwei dieser Prinzen standen auf ihrer Liste besonders weit oben: Luzifer der Zerstörer und William der Immergeile. Ihre Namen auch nur zu denken reichte schon aus, um sie mit loderndem Zorn zu erfüllen. All die schrecklichen Dinge, die Luzifer ihrem Volk angetan hatte … Dinge, die er getan hatte, während er brüllte: »Für William!«
Inzwischen mochten sich die beiden Prinzen zwar im Krieg gegeneinander befinden, aber damals waren sie unzertrennlich gewesen.
Konzentrier dich. Du bist aus einem bestimmten Grund hier, schon vergessen? Sunny scannte das Menschenmeer mit Blicken. Einige Teilnehmer bummelten von Gruppe zu Gruppe, andere blieben, wo sie waren, plauderten, lachten und standen im Weg herum. Wieder andere saßen an Tischen und nuckelten an ihren Drinks. Die meisten wirkten entspannt. Ach, was hätte sie gegeben, um ebenso unschuldig und unbekümmert zu sein. So unberührt von all dem Übel in der Welt da draußen, von all den Gefahren, die um sie herum lauerten. Sie hatte keine Ahnung, wann sie sich zuletzt sicher gefühlt hatte.
Irgendwo in der Bar ging ein Glas zu Bruch. Sunny und Sable zuckten zusammen.
Tief ein- und ausatmen. Gut, so ist es richtig.
»Ich hab das ständige Weglaufen, das Leben in Angst so was von satt«, murmelte sie. Sie wollte sich ein Haus mit Garten kaufen. Einen Hund und eine Katze aus dem Tierheim holen. Die ältesten, hässlichsten, unerzogensten Viecher, die zu haben waren. Sie würde zum ersten Mal seit Jahren … nein, seit Jahrzehnten … vielleicht sogar seit Jahrhunderten mit jemandem ausgehen. Vorher musste sie bloß den richtigen Mann dafür finden. Einen, der bereit war, sich die Mühe zu machen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Und von da an würde sie während der Paarungszeit – einer Phase rasenden, unkontrollierbaren sexuellen Verlangens – nie mehr allein sein müssen.
Nur noch zwei Wochen, dann war es wieder so weit.
»Ich auch«, erklärte Sable. »Ich bin es echt leid, mich einschließen und festketten zu müssen, nur um zu verhindern, dass ich irgendwelche nichts ahnenden Männer gegen ihren Willen bespringe.«
»Genau!«
»Eines Tages schmelze ich die Ketten zu einem Butt-Plug zusammen. Und den schenke ich dann Luzifer, ehe ich ihn umbringe.«
Sunny prustete los. »Guter Plan.«