Die Hölle hat keine Hintertür - Jan Flieger - E-Book

Die Hölle hat keine Hintertür E-Book

Jan Flieger

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Beschreibung

Dieses Buch präsentiert zwei spannende Kriminalerzählungen von Jan Flieger aus dem Jahre 1987. In der Titelgeschichte geht es um einen Unfall, in dessen Folge ein junger Mann noch im Krankenwagen stirbt, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Den Polizisten fallen einige Unstimmigkeiten auf. Offenbar muss ein Auto den Mann noch einige Meter mitgeschleift haben. Aber so sehr die Kriminalisten auch suchen, sie können kein Auto finden, das für diesen Umfall infrage kommt. Es scheint wie vom Erdboden verschwunden zu sein … Die zweite Geschichte beginnt mit einer verzweifelten Frau, die sich an einem Sonnabend um11 Uhr 45 an einen Polizisten im Volkspolizeikreisamt wendet: „Meine Töchter sind weg.“ Sie habe sie am Freitag um 16 Uhr 15 mit den Fahrrädern von Friedebach nach Kleinen zum Bruder geschickt, wo sie die Nacht verbringen sollten, weil sie selbst in die Oper gehen und erst am nächsten Vormittag zurückkehren wollte. Dabei mussten die Mädchen durch den Wald fahren. Am nächsten Tag, sagte die Frau, habe sie von einer Freundin ihrer älteren Tochter gehört, dass diese nicht in der Schule gewesen seien. Ihr Bruder bestätigte am Telefon, dass ihre Töchter nicht angekommen seien und er der Meinung war, sie hätte es sich anderes überlegt und die Mädchen doch in Friedebach gelassen. Die Bewohner zweier Dörfer suchten bereits, die Funkstreife, der ABV und VP-Helfer … INHALT: Sie kommen zu sechst Der Montag Die Hölle hat keine Hintertür LESEPROBE: »Sie waren gar nicht weg?« »Nein. Ich war müde, hab' mich hingehauen.« »Und Sie hörten immer Tonband? Die ganze Zeit?« »Ja. War's alle, hab' ich ein neues Band aufgelegt. Ich brauch' Musik, wissen Sie, so wie andere das Rauchen.« »Sie haben nur gelegen?« »Na, ich hab' dann auch geschnitzt.« »Und Sie waren nicht draußen?« »Nein. Warum auch. Holz zum Schnitzen hab' ich genug. Sie sehen's ja.« »Ja, ja«, sagte Kellermann mit einem Blick in die Richtung, in die Winklers Finger wies. »Um Viertel nach sieben habe ich Abendbrot gemacht«, sagte Winkler. »Sie haben wohl keinen Freund und keine Freundin?« »Ich bin lieber für mich.« Kellermann lächelte. »Und kein Mädchen?« Winkler hob die Hände. »Klappt nicht so recht. Hab' ja noch Zeit.« »Auf dem Dorf ist es nicht so gut wie in der Stadt, Herr Winkler.« »Da hab'n Sie recht. Zur Disco muss man ein paar Kilometer fahren. Da vergeht's einem.« »Hat Sie jemand hier gesehen am Freitag?« »Na, die Alte doch. Ich muss ja vorbei an ihrer Tür, wenn ich gehe und komme.

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Impressum

Jan Flieger

Die Hölle hat keine Hintertür

Kriminalerzählungen

ISBN 978-3-86394-481-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1987 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Sie kommen zu sechst

Der Sonnabend

1. Kapitel

Es ist eine meiner alten Maximen: was übrig bleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie sich auch ausnehmen mag.

Arthur Conan Doyle

Es war ein ausgesprochen schöner Sonnabend, der den regnerischen der vergangenen Woche vergessen ließ, ein Sonnabend, der nach Wochen der Anspannung das erste freie Wochenende für die fünf Männer und die eine Frau der Morduntersuchungskommission des Bezirkes einleitete.

Das siebente Mitglied der Kommission lag im Krankenhaus.

Die Nummer eins der MUK, Major Erwin Bullesbach, arbeitete an diesem Sonnabend in seinem Schrebergarten, den er sich auf Anraten seines Arztes angeschafft hatte, jätete Unkraut, das sich in den Wochen, die zurücklagen, über den ganzen Garten ausgebreitet hatte. Er tat es allein, weil seine Frau erst um zwölf kommen würde, doch er wollte auch allein sein, ja, war sogar froh, dass er allein war.

Oberleutnant Hans Cundius klebte Briefmarken in seine Alben, und da es windstill war, völlig windstill, konnte er sein Hobby auf dem Balkon ausüben. Ein ganzes Wochenende würde er endlich den Briefmarken widmen, die vier Zigarrenkisten füllten und auf das Einkleben warteten.

Leutnant Peter Fichtel spielte mit seinem Sohn Fußball auf dem Hof, der zwischen den beiden Neubaublöcken lag. Er genoss diese Stunden, die selten genug waren. Am Sonntagvormittag stand dann der Besuch des Schwimmbades auf dem Programm und nachmittags der Zoo, und Fichtel würde seinen neuen Fotoapparat einweihen können.

Oberleutnant Herbert Fuchs leitete den Einsatz dreier Hausgemeinschaften, die den Abenteuerspielplatz für das Wohngebiet anlegten. Er arbeitete in Turnhose, sägte die Balken zu, die das Blockhaus bilden sollten. Morgen würde er gleich früh auf sein Grundstück fahren und, nachdem er den Rasen gemäht hatte, der kniehoch stand, in dem Buch lesen, das ihm Fichtel geborgt hatte und das den Titel »Der Polizistenmörder« trug. Der Autor, ein Schwede, der Wahlöö hieß, schrieb nach Fichtels Worten die einzigen Kriminalromane, die man als Kriminalist lesen könne.

Nur zwei Mitglieder der MUK hatten Bereitschaft, mussten sofort telefonisch in der Wohnung zu erreichen sein: Hauptmann Fritz Kellermann und Leutnant Rita Havenstein.

Bullesbach wechselte ein paar Worte mit seinem Nachbarn, der Wagner hieß, einem Rentner, dessen dreijähriger Enkel im Garten spielte.

»Morgen«, sagte Bullesbach, »kommt auch mein Sven. So nach zwei. Da wird es hier noch lauter.«

»Sie waren lange nicht draußen?«, fragte Wagner.

»Arbeit, Arbeit«, lächelte Bullesbach. »Aber an diesem Wochenende ist mal wirklich Pause.«

»An Wochenenden Arbeit?«, fragte Wagner überrascht.

»Ja, ja«, wehrte Bullesbach ab, der über seinen Beruf in der Kleingartensparte nicht sprechen wollte. Was genau in diesem Augenblick geschah, konnte er nicht wissen, weder er noch die anderen fünf Mitglieder seiner MUK. Es war 11 Uhr 45.

Der Polizist im Volkspolizeikreisamt blickte die Frau an, die bleich vor ihm stand und deren Stimme zitterte. »Meine Töchter sind weg.« Sie sprach sehr hastig. Ihre Töchter habe sie am Freitag um 16 Uhr 15 mit den Fahrrädern von Friedebach nach Kleinen zum Bruder geschickt, wo sie die Nacht verbringen sollten, weil sie selbst in die Oper gehen und erst am nächsten Vormittag zurückkehren wollte. Dabei mussten die Mädchen durch den Wald fahren. Am nächsten Tag, sagte die Frau, habe sie von einer Freundin ihrer älteren Tochter gehört, dass diese nicht in der Schule gewesen sei.

Ihr Bruder bestätigte am Telefon, dass ihre Töchter nicht angekommen seien und er der Meinung war, sie hätte es sich anderes überlegt und die Mädchen doch in Friedebach gelassen. Die Bewohner zweier Dörfer suchten bereits, die Funkstreife, der ABV und VP-Helfer.

Der Polizist versuchte beruhigend zu lächeln, ehe er seine Fragen zu stellen begann. Dann hörte er den Namen Beate Bammer, die 11 Jahre alt, blond und blauäugig sei und einen Pferdeschwanz trage, den der grauäugigen Bärbel, 10 Jahre alt, mit kurzem Haar, blond wie das der Schwester. Vermisst wurden beide seit dem Freitag um 16 Uhr 15, nachdem sie in den Wald gefahren waren. Als mitgeführte Gegenstände waren ein rotes Minifahrrad zu registrieren, das Eigentum von Bärbel Bammer war, und ein blaues Damenfahrrad, eine Uhr und kleine Halsketten mit einem Marienkäfer, die Beate gehörten, die eine rote Bundjacke trüge mit Knopfleisten.

Der Polizist rieb sich das Kinn. Eine ganze Nacht und ein Vormittag? Wie leichtsinnig war diese Frau gewesen, und was für einen gewaltigen Apparat setzte sie nun in Bewegung ...

2. Kapitel

Rita Havenstein sonnte sich nackt auf dem Balkon ihrer Wohnung. Da sie im obersten Stock wohnte, war ihr das ohne besondere Vorkehrungen möglich. Als es ihr zu heiß wurde, duschte sie sich im Bad kalt ab und setzte das Sonnenbad fort.

Sie genoss die Ruhe, die Faulheit, nicht einmal lesen wollte sie, sondern einfach nur dösen, liegen und dösen nach diesen harten Wochen, die hinter ihr lagen, und der Mordsache Heimer. Sie hatte Bereitschaft, aber rechnete mit keiner Störung.

Das Telefon hörte sie erst beim sechsten Ruf, weil sie eingeschlafen war. Erschrocken sprang sie auf, vergaß ihre Nacktheit, sodass dem Mann von gegenüber der Mund offen stehen blieb, und lief in das Wohnzimmer. Als sie den Telefonhörer abnahm, blickte sie unwillkürlich auf die Wanduhr: Es war zehn Minuten nach 12 Uhr. Noch hoffte Rita Havenstein, dass dieser Anruf kein dienstlicher war.

3. Kapitel

Bei Kellermann schrillte das Telefon drei Minuten später. Marianne beobachtete das Gesicht ihres Mannes. Sie kannte jede Regung in seinem Gesicht, sie wusste sofort, ob er ein dienstliches Gespräch führte oder ein privates, und sie wusste auch, wann das Gespräch einem Einsatz galt. Sie hatte sich auf den langen Nachmittag mit ihrem Mann gefreut, den ersten nach vielen Wochen. Nun war sie enttäuscht, maßlos enttäuscht.

Kellermann legte den Hörer auf.

»Das darf doch nicht wahr sein«, hörte er Marianne sagen. Er verspürte das Bedürfnis, ihr etwas Tröstendes zu sagen, um sie zu besänftigen, doch er fand nicht die passenden Worte. In dieser Hinsicht war er unbeholfen, er wusste es selbst. Was er dann sagte, klang sachlich. Wie im Dienst. »In fünf Minuten ist Rita hier. Zwei Mädchen werden vermisst. In Friedebach.«

Marianne schüttelte den Kopf. »Warum passiert es immer am Wochenende?«, fragte sie. »Es ist einfach wie verhext. Friedebach? Das liegt wohl am Ende der Welt?«

»So ähnlich«, erwiderte Kellermann.

Er trat an sie heran, und sie blickten sich in die Augen. Und plötzlich legte Marianne den Kopf an seine Brust. Er streichelte ihr Haar, bis sie wieder ruhiger atmete. Sie löste das Gesicht von seiner Brust.

Er sah ihr müdes Lächeln. »Du kannst nicht mal essen, Fritz.« Er winkte ab. »Ich esse heute Abend.«

Sie beobachtete ihn, als er vor dem Spiegel stand und den Sitz seines Binders prüfte. Er würde auf sie immer wie ein großer Junge wirken, dieser Fritz, mit seinem schmalen langen Gesicht, den aschblonden kurz geschnittenen Haaren und den graublauen lebhaften Augen, der schlanker war als die meisten Männer, die die Vierzig überschritten hatten. Er liebte seinen Beruf, und sie liebte diesen Mann. So hatte sie sich an seinen Beruf gewöhnt. Und so wollte sie es ihm auch nicht schwerer machen, als es schon war. Es gab wenig Männer, für die der Dienst Berufung war.

Kellermann fuhr in die Jacke des grauen Anzuges, als der Gong anschlug.

Rita Havenstein wartete im Auto. Sie ließ den Motor an, als Kellermann aus dem Haus trat, und lächelte ihm zu, als er einstieg. »Es hat uns zwei wieder erwischt, Fritz.«

»Ja«, brummte Kellermann. »Vielleicht sind die Mädchen schon zurück, wenn wir in Friedebach eintreffen.«

Rita Havenstein lächelte nicht mehr, sie dachte plötzlich an die Mordsache Rübsam. Auch damals waren es zuerst sie zwei gewesen, weil sie Bereitschaft hatten. Aber sie verdrängte die Gedanken, als sie Gas gab. Man sollte den Teufel nicht an die Wand malen.

»Also auf nach Friedebach ...«, sagte Kellermann.

4. Kapitel

Friedebach war ein Dorf, das sich von anderen Dörfern dieser Landschaft nicht unterschied: Eine lange Straße, von der kleinere Straßen und Wege abzweigten, führte zu einem Dorfplatz und einem einstöckigen Gebäude, das blau gestrichen war, dem Gemeindeamt.

Mitten auf dem Platz stand ein Lautsprecherwagen.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Kellermann, als er den Gurt löste.

Sie gingen an Menschen vorbei, die sie neugierig musterten. In Rita Havenstein mit ihrer Schüttelfrisur und der sich leicht in die Höhe wölbenden Nase, die ihrem Gesicht einen kessen Ausdruck verlieh, vermuteten sie wohl keine Polizistin.

Rita Havenstein und Kellermann betraten das Haus.

»Ich habe Sie schon erwartet«, sagte ein grauhaariger gedrungener Mann, den Kellermann als K.-Leiter des Volkspolizeikreisamtes kannte. Er hatte die Einsatzgruppe gebildet und veranlasst, dass der Lautsprecherwagen die Suchmeldung in den Dörfern Friedebach, Wengen und Kleinen verbreitete und die Bevölkerung um Mithilfe bat.

Er wies auf eine Karte, ein Waldstück zwischen den Dörfern Friedebach, Wengen und Kleinen. »Es gibt Zeugen«, sagte er, »die gesehen haben, dass die Mädchen in den Wald hineingefahren sind, aber keiner hat sie herauskommen sehen. Die Rundumermittlung läuft auf vollen Touren, und um zwanzig Uhr hatte ich die erste Ergebnisauswertung angesetzt.«

Was beide, Kellermann und Rita Havenstein, noch nicht wissen konnten in diesem Augenblick: Um zweiundzwanzig Uhr würden sie in den Wartburg-Tourist steigen, um nach Hause zu fahren, und um acht Uhr am folgenden Tag würden sie wieder in Friedebach sein, weil dann die Suche durch eine VP-Bereitschaft und VP-Helfer im Wald begann.

Seit zwei Nächten und einem Tag fehlte von den Mädchen jede Spur.

Um 23 Uhr 11 schloss Kellermann die Tür seiner Wohnung auf. Marianne kam ihm entgegen, küsste ihn. Er zog das Sakko aus, legte den Binder ab und folgte ihr in das Wohnzimmer. Er sah, dass sie Schallplatten gehört und gelesen hatte, als er sich in einen Sessel fallen ließ.

»Erledigt?«, fragte sie. »Sind sie zurück?«

Minutenlang schwieg er, ehe er zu erzählen begann.

Dann ging sie zum Schrank, füllte ein Glas mit Kognak, und nachdem sie es ihm gereicht hatte, setzte sie sich auf die Lehne seines Sessels.

Ihren Arm legte sie um seine Schulter.

Aber er musste an die Mädchen denken, auch dann noch, als Marianne auf seinen Schoß glitt und er sie mechanisch zu streicheln begann.

»Komm ins Bett«, sagte sie.

Er nickte, aber er wusste, dass er nicht mit ihr schlafen konnte.

Der Sonntag

5. Kapitel

Es war 8 Uhr 10, und die Durchsuchung des Waldes durch die Bereitschaftspolizei hatte begonnen.

»Wo spielt ihr, wenn ihr in den Wald geht?«, fragte Kellermann das Mädchen, das Elke Wiegand hieß, in Beate Bammers Klasse ging und mit ihr oft zusammen war, einen Minirock trug und sehr lange Beine hatte.

»Bei den drei Eichen«, antwortete das Mädchen.

»Wo ist das? Ich würde mir den Ort gerne mal ansehen.«

»Es ist nicht weit«, sagte das Mädchen. »Der Weg hinter dem Dorf führt direkt hin. Aber mit Ihrem Auto können Sie dort nicht fahren.«

»Gehen wir gemeinsam«, erwiderte Kellermann.

»Lieber mit dem Fahrrad.«

»Ich habe keines, Elke.«

»Sie können das von meinem Vater nehmen.«

Es war ein altes Fahrrad, nicht gepflegt, und es wurde sicher nur benutzt, wenn der Vater des Mädchens auf die Felder wollte. Das Mädchen fuhr sehr schnell, auch auf dem Anstieg, der kurz vor dem Wald begann, aber hinter dem Waldrand wieder endete.

Ein alter dunkler Wald, dachte Kellermann, mit hohen, sehr hohen Bäumen. Der Waldweg war breit, drei Radfahrer hätten bequem nebeneinander Platz gehabt.

Das Mädchen fuhr noch immer vor ihm her. Aber dann bog der Weg scharf nach links ab, und das Mädchen fuhr plötzlich in die Büsche hinein. Als Kellermann die Stelle erreicht hatte, sah er, dass ein schmaler Weg begann, den man als Fremder nicht bemerken würde. Er streifte Zweige, Blätter und sah nach einigen Minuten vor sich einen kleinen Platz.

Das Besondere an diesem Platz waren die Eichen, riesige Eichen, die man gewöhnlich nur an Hünengräbern sah. Sie mussten uralt sein, älter als die anderen Bäume.

»Hier sind wir oft«, sagte das Mädchen. »Hier kommt kein Erwachsener her. Wir sind unter uns, die Stelle kennt kaum einer.«

»Jeden Tag?«

»Ja. Nach der Schule. Oder nach den Schularbeiten.«

»Wer kommt noch hierher?«

Das Mädchen zählte ein paar Namen auf. Es waren Mädchennamen.

»Kein Junge?«

»Die haben einen anderen Platz.«

»Freitag warst du nicht mit hier?«

»Nein. Ich wollte erst. Aber ich musste Mutti helfen.«

Kellermann stieg vom Rad und begann das Gelände abzugehen. »Ihr habt hier keine Angst?«

»Vor wem?«, fragte das Mädchen.

Hinter den Eichen begannen dichte Büsche, dahinter folgte eine Wiese.

Das Mädchen kicherte plötzlich.

»Hier kann man sogar FKK machen.«

Eine Falte halbierte Kellermanns Stirn.

»Haben Sie was gegen FKK?«, fragte das Mädchen kokett.

Kellermann schwieg.

»Einmal haben die Jungen unsre Sachen geklaut. Für ein Kleid musste man einen Kuss geben.«

Das Mädchen kicherte erneut.

»Aber sagen Sie es nicht meinen Eltern?«

»Nein, nein«, winkte Kellermann ab. »Waren es Jungen aus Friedebach?«

»Ja.«

»Wohl schon ältere?«

Das Mädchen nickte stolz. »Der Torsten Gottlebe ist siebzehn.«

»Und die anderen waren jünger?«

»Ja. Aber der Uwe Kautner ist auch schon siebzehn.«

»Für so etwas seid ihr ja eigentlich noch zu lütt«, sagte Kellermann.

Das Mädchen kicherte.

Kellermann blickte das Mädchen nachdenklich an.

»Ist was?«, fragte das Mädchen.

Kellermann winkte ab.

Die Stille des Waldes wurde nur von den Vögeln gebrochen.

»Ich muss zurück«, sagte das Mädchen.

»Ich bleibe noch«, sagte Kellermann. »Ich bringe dir nachher das Rad.«

»Tschüss«, sagte das Mädchen und winkte.

Kellermann ging das Gelände um die drei Eichen ab. Dann blickte er auf die Uhr und erschrak, wie schnell die Zeit vergangen war. Er fuhr den schmalen Waldweg zurück, bis er den breiten erreichte, doch ehe er weiterfuhr, stieg er ab und lehnte das Fahrrad an eine Buche, in deren Rinde ein Herz geschnitten worden war.

Der kleine Weg war tatsächlich so zugewachsen, dass ihn nur jemand entdecken konnte, der ihn kannte. Da erblickte er den Fremden auf dem Weg.

Der Mann torkelte, er war sehr groß, größer als Kellermann und breitschultrig. Als er näher kam, sah Kellermann, dass er unrasiert war, und roch, dass er betrunken war, als der Mann vor ihm stand.

Der Mann blickte Kellermann mit dunklen Augen an.

»Ist was?«, fragte er drohend.

Kellermann schüttelte den Kopf.

»Du sprichst wohl nicht mit jedem?«, lallte der Mann.

Kellermann schwieg.

»Hau ab«, brüllte der Mann plötzlich. Dann schnellte seine Faust Kellermanns Gesicht entgegen. Kellermann wich blitzschnell aus, packte das Handgelenk des Mannes und von unten dessen Arm, warf sich mit einer Drehung herum und ließ den schweren Körper über seinen Kopf fliegen.

Sekunden lag der Mann reglos, dann richtete er sich benommen auf. Er schien etwas ernüchtert zu sein.

»Alle Achtung«, ächzte er, sich sein Kinn reibend. »Seit zwanzig Jahren hat das keiner geschafft.«

Er torkelte weiter auf dem Weg nach Friedebach.

Kellermann sah ihm nach, dann stieg er auf das Rad und überholte den Mann, der ihm einen Fluch nachsandte.

Die Sonne stand hoch.

Und die Suche ging weiter.

Stunde um Stunde.

Wo waren die Mädchen?

6. Kapitel

Es war 15 Uhr 10, als auf dem gleichen Weg, den Kellermann auf dem klapprigen Fahrrad zurückgefahren war, von Wengen her der Agronom Dieter Bangemann und seine Frau Karin kamen.

»Ich muss mal, Karin«, sagte Bangemann und ging ein paar Schritte in den Wald hinein. Als er sich aus einer kauernden Stellung erhob, nahm er die Blaubeeren wahr, die sehr groß waren und hinter einem Dornengebüsch begannen. Hier hatte noch keiner gesucht. Überrascht ging er weiter hinein in den Wald.

»Was ist denn?«, rief seine Frau, die ihm nachging. Als sie ihren Mann sah, stand er wie erstarrt und blickte vor sich auf den Boden.

»Hier hat einer die Grasnarbe abgestochen und wieder eingesetzt«, sagte Bangemann nachdenklich.

»Ach was, Dieter.«

»Na, sieh doch!«, sagte Bangemann. »Und er hat noch versucht, die Stelle mit Zweigen zu verdecken.«

Seine Frau lachte.

»Ein Tier, Dieter.«

»Das war kein Tier.«

Bangemann schwieg. Er kratzte sich den Hinterkopf.

»Als ob einer was vergraben hat«, sagte er nachdenklich. Er wandte sich an seine Frau.

»Du gehst ins Dorf, holst die Polizei.«

»Die lacht uns aus«, erwiderte seine Frau.

Bangemann stand wie versteinert, und er schüttelte den Kopf. »Die lachen nicht. Geh gleich zu dem langen Blonden. Ich glaube, das ist der Chef.«

7. Kapitel

Kellermann hockte sich nieder und begann vorsichtig den Boden an der Stelle zu untersuchen, auf die Bangemann wies. Aber schon, als er in die Hocke ging, wusste er mit einem Blick auf die Größe der Grabstelle, was ihn erwarten würde.

Nun würde die gesamte MUK kommen müssen, und er wusste sogar, wo man seine Kollegen finden würde: Bullesbach in seinem Schrebergarten, Cundius in seiner Wohnung, wo er Briefmarken in Alben klebte, Fuchs auf seinem Grundstück und Fichtel im Zoo. Alle hatten sie am Freitag nachmittag von diesem Wochenende gesprochen und auch vom Sonntag. In einer Stunde würden sie alle im Auto sitzen, alle vier.

Aber wenn sie graben würden, käme schon bald die Dunkelheit ...

Um 17 Uhr 31 rollte ein Wartburg-Tourist ein in Friedebach, dem vier Männer entstiegen: Major Erwin Bullesbach, Oberleutnant Hans Cundius, Oberleutnant Herbert Fuchs und Leutnant Peter Fichtel. Sie waren nun zu sechst.

8. Kapitel

Sie gruben, gruben im Licht der Scheinwerfer, unendlich vorsichtig, nur mit Händen und kleinen Spaten.

Kellermann stand neben dem Staatsanwalt und Dr. Keule, dem Gerichtsmediziner.

In der Stille des Waldes hörte man nur die Geräusche der Spaten. Jeder der Männer glaubte, dass sein eigener Atem sehr laut wäre.

Nach Abheben der abgestochenen Grasnarbe wurde eine Grabstelle in einer Länge von 1,70 Metern sichtbar. Vorsichtig wurde weitergegraben.

Dann hielten die arbeitenden Männer einen Augenblick lang inne und setzten die Arbeit nur noch mit den Händen fort. Am nördlichen Ende der Grabstelle war in fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter Tiefe ein rotes Bekleidungsstück zum Vorschein gekommen, daneben ein Kinderschuh aus beigefarbenem Leder. Bei dem roten Bekleidungsstück handelte es sich um eine kaminrote Bundjacke mit Knopfleisten.

Vorsichtig wurde das Erdreich entfernt. Sichtbar wurde ein mit Strumpf und Sportschuh bekleidetes menschliches Bein.

Sie fanden zwei Mädchen. Die Größere trug keinen Schlüpfer, die Kleinere war völlig bekleidet. Die Handgelenke der Mädchen waren mit einem Bindfaden verknotet.

Der ABV trat heran, als Bullesbach winkte.

Die Stimme des ABV zitterte, als er sprach.

»Das ist Beate Bammer.«

Dr. Keule fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als er sich aufrichtete, nachdem er die Mädchen untersucht hatte.

»Vermutliche Todesart Erdrosseln«, sagte er. »Die Totenstarre hat sich schon teilweise gelöst. Die Mädchen sind länger als zwei Tage tot.«

Kellermann spürte ein würgendes Gefühl im Hals, als er hinabsah auf Fuchs, der Spuren zu sichern begann. Er dachte an Miriam und Kathrin, die Mädchen seines Schwagers. Wenn er sich vorstellte, dass sie ...

Er streifte mit einem Blick Bullesbachs Gesicht, das im Licht der Scheinwerfer wie das eines Toten wirkte.

Er blickte wieder auf die Mädchen herab, die nun völlig von der Erde befreit waren. Sein Blick ruhte auf dem Hals Beate Bammers. Die silberne Kette mit dem Marienkäfer fehlte ...

Neben den Mädchen entdeckten sie ein zum Anlegen eines Knebels benutztes Stück Holz. »Das Prinzip der spanischen Garrotte«, sagte Bullesbach leise, und Kellermann dachte an eine Zeichnung von Goya.

Der Montag

9. Kapitel

Einen Augenblick lang, als ein Scheinwerfer gewendet wurde, stach das Licht in Kellermanns Augen, sodass er sie schließen musste. Als er sie wieder öffnete, sah er, wie der Scheinwerfer in die Richtung gedreht worden war, wo Fuchs am Boden hockte und zwei haarähnliche Gebilde unter der Lupe betrachtete. Haare vom Täter oder von den Mädchen? Wer konnte das wissen in diesem Augenblick? Aber sie hofften auf ein Haar des Täters, sie hofften auch, dass sie unter den Nagelkuppen der Toten auf artfremdes organisches Material stießen, das sie dem Mörder zuordnen konnten. Fuchs war ein Meister seines Fachs, wenn es eine Spur gab, fand er sie. So hatte er auch von den Handinnenflächen der Toten Klebebandspuren abgenommen, um Fasern zu finden, die nicht zur Kleidung der Toten gehörten.

Noch kannte keiner das Ergebnis dieser Untersuchung, die bei Tageslicht wieder beginnen würde. Nie war Fuchs mit leeren Händen in die Einsatzberatung gekommen, denn jeder Täter handelte unter den Bedingungen von Raum, Zeit und Umständen und war außerstande, alles zu durchdenken und zu kalkulieren.

10. Kapitel

Es war 0 Uhr 10.

Der Hund, den sie doch noch eingesetzt hatten, obwohl sie aufgrund der Durchsuchung des Waldes nicht an ein Ergebnis glaubten, war vor ihnen hergelaufen, quer durch den Wald, aber immer in Richtung Friedebach. Kurz vor Friedebach hatte er die Spur verloren. Zehn Meter hatten gefehlt bis zum Waldrand, von dem aus Friedebach zu sehen war, Friedebach im Mondlicht. »Wenn der Mörder in Friedebach wohnt, muss er sich unheimlich sicher fühlen«, waren Bullesbachs Worte gewesen.

Kellermann beobachtete Bullesbach, der seinen kalt gewordenen Kaffee trank und die Aufgaben zu verteilen begann.

Kellermann hätte nie einen anderen Vorgesetzten haben wollen als diesen Erwin. Im eigentlichen Sinne war er kein Vorgesetzter, denn in ihrer MUK galt das Wort des Leutnants so viel wie das Wort des Majors. Man konnte ihr Kollektiv nicht vergleichen mit einer Armee-Einheit. Jeder war angewiesen auf den anderen, und zwar in weit stärkerem Maße als in anderen Berufen.

Erwin sah sie der Reihe nach an.

»Wir sind sechs«, sagte er. »Und wir haben fünf Komplexe. Für jeden von euch einen. Und wir bekommen noch zwanzig Mann.« Er schob die Tasse, die er nun doch nicht austrinken wollte, von sich weg.

»Rita«, sagte er, »du übernimmst die Personenbewegung zum Fundort der Leichen hin und von ihm weg. Von Freitag fünfzehn Uhr bis Sonnabend früh. Du kriegst zehn Genossen.«

Rita Havenstein nickte.

»Wir brauchen jeden, der in den Wald gegangen ist und wieder aus dem Wald kam. Aus allen drei Dörfern. Jeden.«

Rita Havenstein nickte.

Bullesbach wandte sich an Kellermann.

»Du, Fritz, übernimmst die Öffentlichkeitsarbeit. Jedem Hinweis der Bevölkerung gründlich nachgehen. Den Lautsprecherwagen immer wieder einsetzen. Aushänge in allen Gemeinden. Aufrufe zur Mitfahndung weiter senden. Alle VP-Helfer einbeziehen. Du bekommst fünf Genossen.«

Bullesbach wandte sich an Cundius.

»Du, Hans«, fuhr Bullesbach fort, »übernimmst die Schule hier im Ort, die LPG, die Forstwirtschaft. Du bekommst fünf Genossen. Frag alle ab.«

Cundius nickte.

»Peter macht den Auswerter. Wie üblich. Alles läuft bei ihm zusammen.«

Peter Fichtel nickte und stocherte mit einem Streichholz in seinen Zähnen herum.

Bullesbach fuhr sich mit der Hand über den beinahe kahlen Schädel.

»Du, Herbert«, sagte er zu Fuchs, »nimmst dir den Fundort noch mal vor. Und den Platz bei diesen Eichen, wo die Mädchen immer gespielt haben.«

Bullesbach blickte in die Runde und sprach leiser.

»Den Kontakt mit der Frau Bammer halte nur ich. Ihr versteht?« Jeder der fünf war froh, als er die Worte hörte.

Bullesbach blickte auf die Uhr.

»In fünf Minuten fahre ich zur Sektion. Alles weitere morgen früh. Hier, in diesem Raum, um sieben Uhr. Die Maßnahmepläne für eure Gruppen brauche ich dann. Suchbeginn für die Fahrräder acht Uhr.«

Er erhob sich, als er ein kurzes Hupen hörte.

Bullesbach wird nicht zum Schlafen kommen, dachte Kellermann. Aber auch für uns werden es nur zwei Stunden sein und gleich hier auf den Tischen oder den Stühlen.

11. Kapitel

Der Mörder erwachte durch ein Motorengeräusch. Ein Auto verließ in schneller Fahrt das Dorf. Er lag völlig still, und er dachte nach. Sie waren nun da, waren zu sechst gekommen, fünf Männer und eine Frau. Er hatte die vier Männer aussteigen sehen am Nachmittag. Alle im Dorf hatten sie aussteigen sehen. Sie sahen eigentlich wie ganz normale Menschen aus.

Er spürte den Schweiß unter den Achselhöhlen, doch er musste ruhig bleiben, völlig ruhig. Sein Benehmen im Dorf durfte sich nicht ändern, nicht im Dorf und nicht bei der Arbeit. Es gab keine Zeugen, und alle Spuren hatte er verwischt, alle. Die Räder und den Spaten würden sie nicht finden. Nie! Und die Hose und das Hemd, die er bei der Tat getragen hatte, lagen tief im Boden vergraben.

Jede Spur war gelöscht.

Jede!

12. Kapitel

Kellermann erwachte, schlug die Augen auf, wusste einen Moment lang nicht, wo er lag, denn sein Bett war ein Schreibtisch. Er sprang herunter und reckte sich, sah auf die Uhr: 6 Uhr 20. In meinem Gehirn muss ein Wecker sein, dachte er.

Rita stand am Fenster, ungeschminkt und mit Augenrändern sah sie fremd aus, älter, schien nicht die Rita zu sein, die er mochte. Bullesbach sah er nicht, doch er hörte die Wasserspülung. War er zurück?

Keiner sagte ein Wort.

Sie wechselten nur Blicke.

Wenn man aus dem Saal heraustrat, sah man gleich links eine Tür, die zur Toilette führte. Keinem blieb viel Zeit, denn pünktlich um sieben würde Erwin beginnen, auf die Minuten genau.

Kellermann trug noch immer seinen Binder, er war nicht einmal verrutscht. Ich muss sofort geschlafen haben, dachte er, als ich auf dem Tisch lag.

Als er den Saal wieder betrat, standen auf dem langen Tisch in der Mitte sechs Tassen Kaffee, sechs Teller, Brötchen und Butter.

Mitten im Saal aber stand Bullesbach.

»Jeder fängt an, wenn er so weit ist«, sagte er. »Um sieben sitzen wir hier am Tisch. Da kaut keiner mehr.«

Aber das wussten sie auch so.

Diese Worte hätte er nicht sagen müssen.

Das Dorf war schon lange erwacht.

Es horchte, es lauschte, es tuschelte.

Der Platz vor dem Gemeindeamt war noch leer.

13. Kapitel