Die Insel der Millionäre - Franz J. Brüseke - E-Book

Die Insel der Millionäre E-Book

Franz J. Brüseke

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Beschreibung

Er, der zweite Mann der Bewegung gegen den Staub muss sich wohl Feinde geschaffen haben. In einem schweren Unfall zieht er sich eine Gehirnverletzung zu. Seine Frau Thalia hilft ihm, sich zu erinnern. Doch warum er auf dieser Insel gelandet ist, weiss er nicht.

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Inhalt: Er, der zweite Mann der Bewegung gegen den Staub, muss sich wohl Feinde geschaffen haben. In einem schweren Unfall zieht er sich eine Gehirnverletzung zu. Seine Frau Thalia hilft ihm, sich zu erinnern. Doch warum er auf dieser Insel gelandet ist, weiß er nicht.

F. J. Brüseke geb. 1954 in Hamm/Westf., Professor für Soziologie an verschiedenen Universitäten Brasiliens. Lebt mit seiner Familie in Florianópolis/Brasilien. Autor mehrerer Romane, vornehmlich mit historischem und politischem Hintergrund, sowie von Publikationen zu Modernisierung, nachhaltiger Entwicklung und Techniksoziologie.

Wenn ich ein Vöglein wär,

Und auch zwei Flügel hätt,

Flög ich zu dir ;

Weil es aber nicht kann sein,

Bleib ich allhier.

Bin ich gleich weit von dir,

Bin ich doch im Schlaf bei dir,

Und red mit dir :

Wenn ich erwachen tu,

Bin ich allein.

Es vergeht keine Stund in der Nacht,

Da mein Herz nicht erwacht,

Und an dich gedenkt,

Das du mir viel tausend Mal Dein Herz geschenkt.

(Verfasser unbekannt; 18. Jhdt.)

Wie ich auf diese Insel gekommen bin? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Dabei sagen sie doch, dass man, je älter man wird, sich an die länger zurück liegenden Dinge immer besser erinnert, während das Geschehen des heutigen Tages schnell in Vergessenheit gerät. Bei mir ist es wohl genau umgekehrt, denn was heute hier abgelaufen ist, steht mir noch so klar vor Augen, dass ich es greifen könnte. Aber fragen Sie mich nicht danach, warum ich hier bin, da muss ich passen.

Außer mir leben noch einige hundert andere hier. Die meisten weiter weg, an einem der vielen Strände. Ich selbst habe es vorgezogen gleich hier im Ort selbst, mein Domizil aufzuschlagen. Eigentlich eher aus Bequemlichkeit, denn von meiner Wohnung aus, erreiche ich alles in wenigen Minuten. Zumindest alles, was wichtig ist. Den Supermarkt, die einzige Bank, das Restaurant, die Cafés und die Tankstelle. Wobei diese letztere auch fehlen könnte, denn seit sie meinen Führerschein für ungültig erklärt haben, fahre ich nicht mehr, brauche also kein Benzin und, logisch, keine Tankstelle. Das mit dem Führerschein beschäftigt mich hin und wieder, aber auch nur, weil er neben meiner Kreditkarte in meiner Geldbörse steckt. Auch gehe ich täglich an meinem Auto vorbei, das völlig verstaubt unten auf der Straße steht, da komme ich nicht umhin mir Gedanken zu machen, zumal aus allen vier Reifen die Luft entwichen ist und es plattfüßig auf irgendetwas zu warten scheint.

Einmal wollte mir einer meiner Freunde helfen, den Führerschein wiederzubekommen, obwohl ich mich an die kurzen Fußwege schon gewöhnt hatte und wirklich kein Auto mehr brauchte. Er hat mir Fotos gezeigt, sehr schlechte, auf denen ich kaum zu erkennen war. Immer hatte ich die Hände am Steuer und guckte nach vorne. Er hatte sogar herausbekommen, wo ich fotografiert worden war und mir die Orte auf einer Landkarte eingezeichnet. Die gucke ich mir manchmal an, aber sie sagt mir nichts, außer dass ich aus dem Norden gekommen bin und jetzt im Süden des Landes wohne. Sogar die genauen Tage und Stunden, an denen ich zu schnell gefahren war, hatte er herausbekommen. Es war alles an drei aufeinander folgenden Tagen passiert. Das hat er hinten auf die Landkarte notiert, die in meiner Nachttischschublade liegt. Warum er nicht auch seinen Namen aufgeschrieben hat, ist mir schleierhaft, denn wie soll ich heute wissen, wer von meinen Freunden mir diesen Gefallen getan hat? Freunde habe ich gottseidank reichlich. Aber dieser Gefallen war recht unnütz, denn, wie gesagt, ich brauche das Auto nicht mehr, also auch keinen Führerschein und noch viel weniger eine Tankstelle. Was mache ich nur mit dem Auto?

Auch heute habe ich mich wieder mit ihnen im Café getroffen. Ich bin freundlich zu allen, denn hin und wieder hilft mir jemand von ihnen und ich will keinen verletzen. Immer klopft mir jemand auf die Schulter und fragt, ob alles in Ordnung ist, was ich nur bestätigen kann. Heute hatte ich den Eindruck, dass es immer derselbe ist, der mir auf die Schulter klopft. Aber wie soll ich sie auseinanderhalten, es sind einfach zu viele. Obwohl die Stühle immer alle besetzt sind, fehlt manchmal der eine oder andere. Das weiß ich, weil sie auch heute wieder fragten, wo denn der Carlos ist und warum der Pedro nicht mehr kommt. Aber da alle Stühle besetzt waren, habe ich diese Abwesenheit nicht empfunden. Für mich waren alle da und auf die Schulter hat mir auch jemand geklopft. Ich glaube, es war derjenige, der mir mit dem Führerschein helfen wollte. Er hätte seinen Namen auf die Straßenkarte schreiben sollen, damit es ein für alle Mal feststeht. Aber was soll das? Im Grunde ist es ja egal, wer einem auf die Schulter klopft, denn wir haben uns wieder prächtig unterhalten und viel gelacht.

Obwohl es also mit meinem Erinnerungsvermögen nicht zum Besten steht, denke ich viel. Es scheint, dass man viel Platz hat, wenn die unnützen Archive ein für alle Mal aus dem Weg geräumt sind. Ist es nicht auch so mit unserem Computer, dass er schneller wird, wenn wir all den angehäuften Krempel über Bord werfen? Vielleicht liege ich auch falsch mit diesem Vergleich, denn ich verstehe kaum etwas von Computern. Aber die Inder, die Philosophen unter den Indern, sagen Ähnliches. Man soll seinen Geist entleeren, dann kommt man weiter. Unter den Stammkunden aus meinem Café sind ein oder zwei Buddhisten, von denen habe ich das. Der eine meint sogar, ich wäre auch einer und hat mich gefragt, ob es stimme. Das war mir irgendwie peinlich, weil ich einfach so bin, wie ich bin. Das habe ich dann gesagt: „Ich bin, wie ich bin.“ Das haben die beiden für eine Weisheit gehalten und bald darauf mich selbst für einen Erleuchteten. Doch ich habe alles abgestritten, was sie mir andichteten. Ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht weise bin und noch viel weniger ein Erleuchteter. Aber je mehr ich es abstritt, um so bescheidener fanden sie mich, und Bescheidenheit musste wohl in ihren Augen etwas mit Weisheit zu tun haben. Wie es auch immer sei, ich wurde sie nicht mehr los, die beiden Buddhisten - oder war es nur einer? - wichen mir fortan nicht mehr von der Seite. Jedes Mal, wenn sie mich erspähten, machten sie mir Platz, falteten die Handflächen vor der Brust und verneigten sich. Es fehlte nur noch, dass sie Blüten vor meine Füße streuten, aber auf die Idee kamen sie nicht. Der Vorteil der Buddhisten ist, dass sie sich schon von der Kleidung her von den anderen unterscheiden. Natürlich weiß ich nie genau, wer von beiden mir gerade zulächelt, sie sind sich einfach zu ähnlich. Als ich sie einmal scherzend frage: „Seid ihr zwei oder nur einer?“ haben sie das wieder für eine Weisheit gehalten. Ich kann machen, was ich will. Wenn ich gar nichts sage, sind sie noch hingerissener. Schweigen ist für sie das Höchste. Und ich muss dieses Mal sagen, irgendwie haben sie damit Recht. Doch manchmal kann ich nicht anders, als diesen ganzen Weisheitsfimmel als lästig zu empfinden. Heute ist so ein Tag. Wenigstens sind sie in ihren orangefarbenen Umhängen gut von den anderen zu unterscheiden, das ist ein Vorteil. Dieses Mal ist nur einer von beiden erschienen, oder gibt es keinen zweiten?

Hin und wieder zieht der Duft von Marihuana durch die offene Tür des Cafés. Hier gehen wieder einmal Leute vorbei die ungeniert dieses Zeug rauchen. Das ist hier, so kann man sagen, durchaus üblich. Niemand regt sich darüber auf oder hebt auch nur den Kopf. Es ist, als ob jemand mit einer Flasche Bier in der Hand vorbei ginge. Das interessiert ja auch niemanden. Ich mag den Geruch, er erinnert mich an irgendetwas Angenehmes, aber was mochte dies gewesen sein? Auch der Buddhist riecht. Es ist ein aufdringlicher Geruch von Räucherstäbchen, die aus undefinierbaren Kräutern gemacht sind. Zimt war sicherlich darunter. Vielleicht auch Flieder. Gibt es in Indien Flieder? Immer wenn er mit seinen orangenen Tüchern wedelt, wird der Geruch fast unerträglich, eine Art Weihrauchkonzentrat, das ich beim besten Willen keine Minute mehr ausgehalten hätte, wenn dieser Mensch sich nicht vor Ablauf dieser Frist nickend, lächelnd und ein letztes Mal mir mit seinen Tüchern diese unerquickliche Luft zu fächernd, verabschiedet hätte. Manchmal meine ich, dass der Buddhist schon besser gerochen hat. Oder war es der andere, der heute nicht gekommen war? Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal besser aufzupassen.

Ob es keine Frauen gibt? Das ist eine gute Frage. Ich selbst habe schon lange keine mehr gesehen. Die Kellnerin zählt nicht. Sie ist eine Bedienungsmaschine, vor der sich alle fürchten. Wer meint, er könne sich in Ruhe etwas aus der umfangreichen Karte aussuchen, die eine breit gefächerte Variation von Kaffee, Gebäck, Torten und auch gesalzenen Kleinigkeiten anbietet, hat sich geirrt. Sie knallt die Kuchenkarte auf den Tisch und steht schnaufend neben der Kundschaft, die sich jetzt schon nicht mehr traut, um die, noch in der Hand der Kellnerin befindliche, Getränkekarte zu bitten. Einer hat es gemessen. Er hatte eine Art Stoppuhr auf seinem Smartphone und geklickt, als sie sich neben dem neuen Gast postierte. Genau sechs Sekunden hatte dieser, bis sie mit einer resoluten Bewegung die auf dem Tisch deponierte Kuchenkarte wieder einzog. Ich mache es wie die anderen und bestelle immer dasselbe. In meinem Fall, eine heiße Schokolade mit einem Käsebrötchen, dazu ein Fläschchen mit Mineralwasser ohne Kohlensäure. In Wahrheit brauche ich gar nichts mehr zu bestellen. Sobald sie mich eintreten sieht, ruft sie nach hinten durch: „Wie immer!“ und kommt bald mit meiner Bestellung zurück. So ist es auch heute. Ich genieße das heiße Getränk, das in einer Tasse serviert wurde, deren Rand mit einem Puder aus echter Schokolade verziert worden war. Warum auch etwas anderes bestellen und den Zorn der Kellnerin auf mich ziehen? Zudem erspart diese prompte Bedienung es mir, lange zwischen Torten und Törtchen etwas auszuwählen, was dann vielleicht doch nicht meinem Geschmack entsprochen hätte. Nein, es ist gut so, gibt dieses eingespielte Ritual mir doch das seltene Gefühl, ein Mensch zu sein, der, wie die anderen um mich herum, seit Langem feststehende Gewohnheiten und Vorlieben hat. Ohne diese Kellnerin wäre ich heute Morgen in dieses Café eingetreten wie einer dieser Neulinge, hätte sechs Sekunden gehabt, in denen ich erfolglos etwas gesucht hätte und wäre mit brüskem Entzug der Kuchenkarte bestraft worden. Nein, es ist gut so.

Ich habe mir vorgenommen, mir Zeit zu lassen. Ist es nicht so, dass manche Gedanken sich regelrecht erschrecken, wenn man sie aussprechen will, ohne dass sie schon reif dazu sind? Durch jeden auch nur irgendwie gearteten Zwang und das kann, wenn es sich um diese zarten Hirngespinste handelt, schon die bloße Eile sein, mit der man achtlos Worte dahinsagt, verlängert man nur die Zeit des Wartens. Ich ziehe es vor, mich an die Tatsachen zu halten und deren gewichtigste ist nun einmal, dass ich da bin, und zwar genau hier auf dieser Insel, wo es von Millionären nur so wimmelt. Meine Kreditkarte habe ich natürlich besonders im Auge. Sie hat mir mit Hilfe des Leiters der hiesigen Filiale nicht nur offenbart, dass meine monatlichen Ausgaben bescheiden sind und in schöner Regelmäßigkeit mein Stammcafé an erster Stelle meiner Ausgaben steht, sondern eben auch, dass ich verständlicherweise und durchaus, so sehe ich es, mit einem gewissen Recht, in den Kreis der Millionäre aufgenommen worden bin. Ich bin nämlich selbst einer. Aber dies erfüllt mich keineswegs mit Stolz. In Wahrheit bedeuten diese astronomischen Zahlen meiner Bankeinlagen nichts für mich. Es sind Zahlen, sonst nichts. Vielleicht würde ich etwas empfinden, wenn ich das Geld nicht hätte, das mag gut sein. Ich brauche nur an die Kellnerin zu denken, wie sie reagiert, wenn jemand seine PIN nicht richtig eingegeben hat. Sie versteht es, den Delinquenten so zu mustern, dass er sich selbst tatsächlich für einen hält. Das gebe ich zu, ganz ohne Geld möchte ich nicht sein, aber Millionen? Die brauche ich nicht. Trotzdem interessiert es mich, wie ich in ihren Besitz gekommen bin. Die Bank hat gesagt, dass sie auf Antrag meine Kontobewegungen der letzten fünf Jahre ausdrucken kann. Ich glaube, diesen Antrag stelle ich. Aber nicht heute, heute habe ich schon genug erlebt.

Als ich abends in meiner Hängematte liege, ist mein letzter Gedanke, dass morgen wieder derselbe Tag anfängt. Dieses Heute, das niemals endet, dieses hier und jetzt, das mich nicht loslässt. Wer keine Vergangenheit hat, wie ich, hat auch keine Zukunft. Ich sage, morgen, aber ich fühle nur das heute. Jetzt liege ich in meiner Hängematte und blicke auf die Lagune. Dieses morgige Jetzt wird diese nächtliche Lagune verschlingen, als ob sie nicht gewesen wäre. Ich versuche nicht einzuschlafen, um noch einige Augenblicke länger in dem zu verweilen, was für andere morgen Vergangenheit ist. Es gelingt mir nicht. Traumlos gleite ich hinüber in einen neuen Tag.

Sie reden viel über Politik, einer besonders. Zuerst lesen sie in der Lokalzeitung und dann, später, in einer anderen, die aus São Paulo kommt. Diese geht von Hand zu Hand und wenn der, der am meisten redet, sie endlich bekommt, springt er gleich auf und liest einzelne Schlagzeilen vor, manchmal auch ganze Sätze. Er kann sich fürchterlich aufregen, das ist ansteckend, denn bald regen sich die anderen auch auf. Nur ein Dicker, der nie über die Lektüre der Lokalzeitung hinauskommt, bleibt gelassen. Ich mag ihn. Aber alle anderen reden und reden. Mir geben sie die Zeitung nicht. Ich könnte sie mir nehmen, denn irgendwann bleibt sie liegen und niemand interessiert sich mehr für sie. Aber ich ziehe es vor, ihnen zuzusehen. Natürlich höre ich auch zu, aber ich gestehe, wenn ich die Hälfte verstehe, ist es viel. Denn kaum habe ich den Anfang eines Satzes aufgenommen, unterbricht schon ein anderer, dessen Wortmeldung ich ebenfalls nur bis ungefähr zu Hälfte verstehe, bis ihm ein anderer ins Wort fällt oder gar der zuerst unterbrochene sich zurückmeldet. Deshalb konzentriere ich mich mehr auf das Sehen, da das Hören mir ohnedies nur zweifelhafte Bruchstücke liefert.

Der, der am meisten redet, ist heute vor den anderen gekommen, er liest in einem Buch, dessen flexiblen Deckel er nach hinten geklappt hat, so als ob es eine Illustrierte wäre. Er ignoriert mich. Mir tut das so geschundene Buch leid. Ich frage mich, was er da wohl liest und riskiere, als die andern schon da sind und er gestikulierend in der Mitte des Raumes steht, einen Blick auf das jetzt zugeklappte Buch. Ich bin verblüfft, nicht weil da „Der Zauberberg“ steht, sondern, weil ich den Titel ohne Mühe lesen kann und weil ich das Buch schon gelesen habe. Ich muss es schon gelesen habe, denn sofort kommt mir Davos in den Sinn und Castorp und Settembrini. Der Zauberberg von Thomas Mann! Die Neugier übermannt mich. Kaum kann ich es abwarten, dass der Vielredner sich einige Schritte entfernt und seinem Tischchen den Rücken zudreht. Ich nehme das Buch und schlage es willkürlich irgendwo auf. Augenblicklich bestätigt sich, was ich vermutet hatte, ich verstehe es! Ich kann lesen! Ich kann auf Deutsch lesen!

Ich muss zugeben, dass ich nicht wenig erschrocken bin und das Buch wie eine heiße Kartoffel fallen lasse. Der Vielredner hatte schon bemerkt, dass ich mich für seine Lektüre interessiere, bevor das Buch auf den Boden fiel. Er hebt es rasch auf und reicht es mir. „Behalten sie es, ich habe es schon zwei Mal gelesen und heute nur noch einmal darin geblättert.“ Ich bedanke mich und gehe sprachlos auf meinen Platz zurück. Neben meiner Kreditkarte und meinem ungültigen Führerschein, die beide auf einen deutschen Namen ausgestellt sind, habe ich jetzt einen weiteren Beweis, dass ich Deutscher bin. Oder, wie ich nach einiger Bedenkzeit einschränkend zugeben muss, dass ich die deutsche Sprache verstehe und ohne jede Schwierigkeit lesen kann.

Gegen Ende des Tages, als die Sonne schon tiefer steht und meine Dachveranda in einem angenehmen Halbschatten liegt, lese ich in dieser Sprache, die ich heute entdeckt hatte, obwohl sie schon immer meine eigene war. Ich lese und lese, obwohl es mir gar nicht um den Inhalt geht, der mir von irgendwoher geläufig ist. Es ist die Sprache selbst, die mich fasziniert, die Leichtigkeit, mit der ich von einem Wort zum anderen hinübergleite, Sätze verfolge und selbst geheimnisvoll in sich verschachtelte Absätze mühelos aufnehme. Zunächst bewege ich nur die Lippen, dann lese ich flüsternd, nun halblaut und schließlich muss ich mich beherrschen, um nicht loszuschreien. Bevor ich nach diesem ereignisreichen Tag dem Schlaf überlasse, auszulöschen, was ich entdeckt habe, lege ich das Buch auf das Nachtschränkchen und mache das Licht aus. Nach einigen Minuten, in denen ich mit offenen Augen in die Finsternis starre, besinne ich mich und schalte das Licht wieder an. Ich lege das Buch neben meine Geldbörse, um zu gewährleisten, dass ich es am nächsten Morgen ja nicht übersehe.

Wer von meinen Freunden hatte mir das Buch geschenkt? Wie immer lächle ich in die Runde, es hätte ja jeder von ihnen sein können und ich will nicht undankbar sein. Aber da alle mich freundlich willkommen heißen, kurz meine Hand nehmen oder mir auf den Rücken klopfen, bin ich ratlos. Es hatte mich schon gewundert, dass heute Morgen ein deutsches Buch neben meiner Geldbörse lag. Da ich allein wohne, musste ich es wohl selbst gewesen sein, der es dort abgelegt hatte. Ich las rasch ein paar Zeilen und tippte gleich auf meine Freunde im Café. Warum hatte nicht jemand eine Widmung hineingeschrieben? So wäre es jetzt ein Leichtes gewesen ihn zu identifizieren und mich entsprechend zu bedanken. Aber so sitze ich vor meiner heißen Schokolade und höre zu, wie sie über Politik reden. Einer redet besonders viel, aber weit kommt er nicht, denn die anderen fallen ihm ungeniert ins Wort. Wieder hebt er an, aber er musste wohl etwas völlig Unakzeptables gesagt haben, denn die anderen reden nun so laut durcheinander, dass er aufgibt und sich hinsetzt. Genau an das Tischchen, das meinem eigenen gegenüberliegt.

„Hallo!“ sagt er und fügt auf Deutsch hinzu: „Mögen Sie Thomas Mann?“ Ich will etwas sagen, aber bevor ich auf Deutsch antworten kann, will zuerst ein portugiesisches „Sim“ und dann ein englisches „Yes“ über meine Lippen.

„Ja,“ sage ich schließlich und frage „woher wissen Sie, dass ich Deutsch lesen kann?“

Er sieht mich erstaunt an und lacht mit einem Unterton, der etwas Verächtliches in sich hatte. „Weil Sie Deutscher sind, wie ich.“

Das also war es, ich bin Deutscher, deshalb verstehe, lese und spreche ich Deutsch. Eigentlich logisch. Nur ist mir peinlich, dass alle es vor mir selbst wussten. Ich will noch etwas sagen, aber der Mann ist schon aufgesprungen und steht wieder gestikulierend zwischen den Freunden. Ich muss mir seinen Namen merken, HJ heißt er, hat er gesagt. Er ist es, der mir das Buch geschenkt hat. Am Abend, als ich wieder in meiner Hängematte liege, beschließe ich, alles aufzuschreiben. Wenn ich aufschreibe, was ich nicht vergessen will, brauche ich es am nächsten Tag nur zu lesen und schon weiß ich es wieder. Warum bin ich darauf nicht früher gekommen? Zufrieden mit meiner Idee, schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen wundere mich über das Buch, das neben meiner Geldbörse liegt. Es kommt mir bekannt vor. Ich lese die ersten Seiten, während ein Gefühl der Vertrautheit in mir aufsteigt. Den Inhalt kenne ich, die Sprache kenne ich. Wer hat mir dieses Buch gegeben?

Heute vermeide ich, sofort ins Café zu gehen. Ein gewisser Überdruss lässt mich das Ufer der Lagune suchen, die, abgeschnitten vom offenen Meer, daliegt, als ob alles immer schon so gewesen wäre. Ich lebe auf einer Insel, was will ich mehr? Das lauwarme Wasser umplätschert meine Füße. Unweit steht ein Schwarm winzig kleiner Fischchen im Wasser, die davonstieben, als ich meine Füße zurückziehe. Braucht man, um einfach da zu sein, eine Vergangenheit? Ich glaube es nicht. In diesem exakten Augenblick glaube ich es nicht. Die Fischchen nähern sich wieder, hin und wieder machen sie alle gleichzeitig eine blinkende Bewegung, so als ob sie einer plötzlichen Gefahr ausweichen wollten. Wie verständigen sie sich? Warum flüchten nicht einige nach links und andere nach rechts? Warum stoßen sie nicht zusammen. Ich strecke meine Beine aus und die Fischchen schießen endgültig davon, so als ob jemand ein Kommando gegeben hätte.