Hans Noll in Amazonien - Franz J. Brüseke - E-Book

Hans Noll in Amazonien E-Book

Franz J. Brüseke

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Beschreibung

Der dreissigjährige Aufenthalt des Geologieprofessors Hans Noll in Brasilien beginnt gleich in der ersten Nacht in einem zwielichtigen Vergnügungsviertel von Belém, dem Einfallstor zum tropischen Regenwald. Noll trifft hier alle, die sich damals in Amazonien herumtrieben, unter ihnen Goldsucher, besserwisserische Entwicklungshelfer und Waffenschmuggler. Mit dem Doktor, den niemand mag, schliesst Noll eine Freundschaft, die ihn mit einer vom Bier beflügelten Philosophie des Scheiterns des weissen Mannes in den Tropen bekannt macht. Ein naturmystisch angehauchter Franziskanerpater und Vater eines Sohnes, der Noll von Meister Eckharts Lehren überzeugen will, sorgt für einen gewissen Ausgleich. Nach dem Tod von Maria zieht sich Noll immer mehr auf sein Landhaus zurück, bis eines Tages seine Hunde vergiftet werden.

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Inhalt: Der dreißigjährige Aufenthalt des Geologieprofessors Hans Noll in Brasilien beginnt gleich in der ersten Nacht in einem zwielichtigen Vergnügungsviertel von Belém, dem Einfallstor zum tropischen Regenwald. Noll trifft hier alle, die sich damals in Amazonien herumtrieben, unter ihnen Goldsucher, besserwisserische Entwicklungshelfer und Waffenschmuggler. Mit dem Doktor, den niemand mag, schließt Noll eine Freundschaft, die ihn mit einer vom Bier beflügelten Philosophie des Scheiterns des weissen Mannes in den Tropen bekannt macht. Ein naturmystisch angehauchter Franziskanerpater und Vater eines Sohnes, der Noll von Meister Eckarts Lehren überzeugen will, sorgt für einen gewissen Ausgleich. Nach dem Tod von Maria zieht sich Noll immer mehr auf sein Landhaus zurück, bis eines Tages seine Wachhunde vergiftet werden.

F. J. Brüseke geb. 1954 in Hamm/Westfalen, war seit 1987 Professor für Soziologie an verschiedenen Universitäten Brasiliens. Lebt mit seiner Familie in Florianópolis/Brasilien. Autor mehrerer Romane, vornehmlich mit historischem und politischem Hintergrund, sowie Publikationen zu Modernisierungstheorie, nachhaltiger Entwicklung und Techniksoziologie. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Zeus und Goldenberg“ (Dittrich Verlag, 2021)

Den deutschen Geologieprofessor Hans Noll habe ich 2016 kennengelernt, als er, wie ich, an Besinnungstagen in einer katholischen Tagesstätte in Körbecke am Möhnesee teilnahm. Er war vor Kurzem aus Brasilien zurückgekehrt, um sich, wie er in der Vorstellungsrunde mitteilte, von einer Krebsoperation spirituell und körperlich zu erholen. Beides, die überwundene Krankheit und sein über dreißigjähriger Aufenthalt in Brasilien, erweckte meine Neugier und es entstand ein reger Gesprächskontakt, der auch nach Ende der Besinnungstage fortgesetzt wurde. Leider verstarb Noll zwei Jahre später an der überwunden geglaubten Krankheit. Der folgende Text beruht auf Nolls ausführlichen Erzählungen, die ich auf seinen Wunsch hin aus dem Gedächtnis so getreu wie möglich wiedergebe. Trotz zeitaufwendiger Recherchen konnte ich keine Verwandten oder auch nur Freunde oder Bekannte des Professors in Deutschland ermitteln. Ich bitte, dass sich eventuell vorhandene Anspruchsberechtigte an den Verlag wenden, um Urheberrechte oder etwaige finanzielle An-sprüche zu klären. Ich selbst habe keinerlei wirtschaftliche Interessen, sondern erfülle mit der Niederschrift lediglich eine Bitte, die der mir liebgewordene Professor in seinen letzten Lebensmonaten an mich richtete. Nach Ablauf der Verjährungsfrist gehen etwaige Einnahmen aus dem Verkauf des Manuskripts an die Katholische Tagesstätte Körbecke. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns in der Zeit zwischen dem ersten Kontakt und seinem Ableben wöchentlich getroffen. Noll hatte sich mit wenig Umzugsgut in einer Seniorenresidenz in der Nähe des Kurparks seiner Geburtsstadt Hamm einquartiert, was unseren Kontakt erleichterte, denn ich selbst wohnte ganz in der Nähe. Häufig redete Noll, während wir langsam auf den gepflegten Wegen des Parks einher-gingen. Später dann, im ersten Winter, lud ich den Professor in mein Haus ein, wo er sich, so mein Eindruck, sichtlich wohler fühlte. Leider war ich völlig unerfahren, sodass ich keinerlei Hilfsmittel, etwa ein Aufnahmegerät oder gar eine Filmkamera benutzte, wie ich es doch hätte tun sollen. Denn meine Erinnerungen an die Gespräche mit Noll sind arg subjektiv gefärbt und das eine oder andere Detail seiner Berichte habe ich sicherlich vergessen. Eine weitere Schwierigkeit liegt natürlich darin, dass Noll willkürlich zwischen den Ereignissen seines Lebens hin- und hersprang. Es kam manchmal vor, dass wir während eines Gesprächs drei oder vier Jahrzehnte durchkreuzten. Eine chronologische Berichterstattung, wie ich sie der Ordnung halber vorziehe, ist daher enorm erschwert geworden. Gegen Ende unserer zweijährigen Freundschaft, als Noll schon keine langen Wege mehr gehen konnte, ohne seine abnehmenden Kräfte völlig zu erschöpfen, trafen wir uns häufiger und dann ausschließlich in der Seniorenresidenz selbst. Ein durchaus angenehmer Ort, wo uns eine stets freundliche Dame aus Polen so manchen Kaffee servierte. Das gehörte zu den Dienstleistungen des Hauses, die Noll zunehmend in Anspruch nahm. Die erwähnten Schwierigkeiten mit der möglichst getreuen Wiedergabe unserer Gespräche, welche meistens eher Selbstgespräche des Professors waren, unterbrochen durch meine Verständnisfragen, scheinen es nötig zu machen, dass ich hin und wieder kurze Erläuterungen einschiebe, ohne die der fragmentarische Charakter dessen, was folgt, manchmal nur schwer verständlich ist. Ich muss jedoch gestehen, dass ich einige Themen, im Besonderen solche sexuellen Inhalts, etwas geglättet habe, um die Leser nicht zu befremden. Bei dem einen oder anderen Glas Wein, dem Noll bis zuletzt gerne zusprach, ging es mitunter doch recht, wie soll man sagen, pikant zu. Trotz meiner redaktionellen Sorgfalt war es unumgänglich, im Namen der Authentizität des Gesagten gewisse Übertreibungen im Leben Nolls zu konstatieren, die mich mehr als einmal befremdeten oder zumindest in einen Zustand der Ratlosigkeit versetzten. Kurzum, meine Gefühle und Meinungen sind nicht das Thema, sondern das mir als Chronist anvertraute Leben des Professors Noll. Damit bin ich aber auch schon am Ende dessen angekommen, was ich meinte, unbedingt sagen zu müssen.

Zwei Meter vor ihm wurde die Projektionsfläche für das Bordkino heruntergeklappt. Der Film zeigte die Flucht einer Familie aus der DDR in einem Heißluftballon. Man stelle sich das vor: Noll, auf dem Weg heraus aus Westdeutschland sah, wie eine Familie, ebenfalls in Ost-West-Richtung, ihr Land verlässt. Von Ost nach West. Aus Deutschland heraus, nach Deutschland hinein. Die Untertitel auf Portugiesisch zeigten an, dass der Film für Zuschauer gedacht war, die kein Deutsch sprachen. Noll nutzte die Chance, um sein immer noch lückenhaftes Portugiesisch zu verbessern. Er zog den Sicherheitsgurt etwas an, denn das Flugzeug machte eine merkwürdige Bewegung nach unten. Den Start in Lissabon, seinen dritten, hatte er glatt verschlafen. Als er wach wurde, fragte er sich einige bange Sekunden, wo er war. Dann wurde es ihm klar: Er war hoch über dem Atlantik, jede Umkehr war unmöglich. Dieses Gefühl, nicht mehr aussteigen zu können, gehörte zu den unangenehmsten, die Noll kannte. Er schluckte und sah nach der Uhr. Erst als die Stewardess Getränke servierte und er hastig eine dieser Mini-Flaschen Rotwein trank, löste sich langsam die Beklemmung. Die ängstliche Frau neben ihm hatte ein Schlafmittel genommen und döste schon seit geraumer Zeit vor sich hin, was ihr Mann als Chance nahm, den kleinen Vorrat an Rotweinfläschchen – er hatte der Stewardess nach und nach ein halbes Dutzend abgeluchst – mit Noll zu teilen.

Da sehe ich mich doch gleich genötigt, eine kleine Erläuterung einzuschieben. Wie Sie gleich sehen werden, hat Noll Deutschland schon vor dem Fall der Mauer verlassen, nach meinen Recherchen muss es wohl 1986 gewesen sein. Gerade die Jüngeren unter Ihnen, die in den optimistischen Neunzigerjahren geboren sind oder gar erst in diesem neuen Jahrhundert das Licht der Welt erblickt haben, machen sich keine Vorstellung davon, was Noll fühlte, als er das waffenstarrende alte Europa unter sich weggleiten sah und dem unbekannten Südamerika entgegenflog. Um ehrlich zu sein, erst die Erzählungen Nolls über die damalige Zeit haben auch in mir Gefühle aktualisiert, die ich schon lange – ich muss es so sagen, auch wenn es sich merkwürdig anhört – zu den Akten gelegt hatte.

„Am achten Juli 1613 brachen vierzig Soldaten in Maranhão auf, zehn Seeleute und acht eingeborene Häuptlinge, begleitet von einigen ihrer Krieger. Der Kommandant war La Ravardière, ein Kenner der Nordküste Brasiliens bis hinauf nach Cayenne. Lokale Stämme hatten schätzungsweise 1.200 bewaffnete Männer mobilisiert, was eine Landung an der Küste Parás unmöglich machte. Deshalb segelte er, ohne weiter behelligt zu werden, in den südlichen Amazonasarm hinein bis zur Mündung des Tocantins. Dort hatte des Vaux auf einer früheren Reise eine bescheidene Niederlassung errichtet. Unterstützt von den Tupinambá, die in der Gegend des heutigen Santo Antônio wohnten, schafften es die Franzosen, die Angriffe der Pacajá und Parisó zu überstehen. Neun Monate lang segelten und ruderten sie den Tocantins stromaufwärts. Es geschah, was auf diesen Reisen häufig geschah: La Planque, ein Begleiter von La Ravardière, verließ seine Kameraden und beschloss, bei den Tupinambá zu bleiben, mit denen er tatsächlich drei Jahre lang zusammenlebte. Was macht ein Franzose in den besten Mannesjahren von 1610 bis 1613 in einem Indianerstamm? Wir haben nichts Schriftliches über das Schicksal dieses Zivilisationsflüchtlings während seines langen Aufenthalts unter den Wilden. So verschwindet er aus der Geschichte und ist jedweder wissenschaftlichen Betrachtung derselben unzugänglich. Aber wir wissen, La Planque war da. Er zog es vor, Frankreich Adieu zu sagen, und mehr noch, seine französischen Kameraden der Expedition von La Ravardière zu verlassen. Wir können uns also nur vorstellen, was der fremdsprachige La Planque unter den Tupinambá gemacht haben mag, brauchen unsere Empathie, um seinen Motiven näher zu kommen, haben lediglich unsere Fantasie, um der Realität näher zu kommen. Wie wäre es also, ihm die Worte in den Mund zu legen, die ein anderer Tocantinsfahrer, Ignacio Baptista de Moura, fast dreihundert Jahre später 1896 an Bord der Alcobaça von sich gab: „Morgen, oh! Gute Morgen, die gibt es nirgendwo wie auf dem Tocantins! Der Wind streicht durch die Kleider der Reisenden, als ob es die Finger einer Frau wären. Es gibt keinen, der sich nicht befriedigt fühlte, konfrontiert mit diesem Panorama poetischen Lebens, befeuchtet vom Tau der Nacht, den Körper und die Seele leichter fühlend, mit klareren Gedanken und einer Lust zu lachen und zu singen.“

Noll hatte seinen Kopf gegen die Fensterverkleidung der portugiesischen Tristar gelehnt und war mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien eingeschlafen. In seinem Kopf voller Erwartungen tanzten Bilder aus Vergangenheit und Zukunft einen bunten Reigen.

In Recife stieg Noll fast euphorisch aus dem Flugzeug. Gerade ging die Sonne auf. In wenigen Minuten stand sie am Himmel. So schnell wie die Sonne aufging, so schnell verging Nolls gute Laune. Er musste neun Stunden warten, bis er nach Belém weiterfliegen konnte. Nach drei Stunden verspürte er einen undefinierbaren Druck im Kopf. Er war allein. Ein Versuch, vom öffentlichen Fernsprecher aus in Belém anzurufen, scheiterte. Noll zwang sich zur Ruhe. Zwei junge Frauen neben ihm, die eine war etwa siebzehn, die andere etwa zwanzig, ließen sich auf ein Gespräch ein. Die Zwanzigjährige hatte er wegen ihrer krausen blonden Haare für eine Deutsche gehalten. Nach einer Weile ging es Noll schon besser. Er stellte fest, dass es im Flughafengebäude von Militär nur so wimmelte. „Das ist die Militärpolizei“, sagten die Frauen. Die Soldaten standen breitbeinig da, hatten runde weiße Helme auf und einen langen Holzknüppel an der Seite. Später las Noll in der Zeitung, dass der brasilianische Präsident zu dieser Zeit in Recife war. Nach Zwischenlandungen in Fortaleza, Teresina und São Luis ging es jetzt runter nach Belém. Noll sah nur verschlungene Flussläufe, die sich durch eine immense grüne Fläche wanden. „Wo ist die Stadt?“, fragte er sich. Plötzlich Wasser unter der schon tieffliegenden Maschine und eine Hochhausfront seitlich rechts. Nach wenigen Augenblicken setzte das Flugzeug auf der Piste von Belém auf. Noll war da. Noch im Flugzeug versuchte er, sich das Tropenklima vorzustellen.

*

Die Klimaanlage, mit der sein Zimmer ausgestattet war, benutzte er nicht. Es war ihm klar, dass er sich an die ungewohnte Temperatur gewöhnen musste. Dieses diffuse Bedürfnis, sich an seine Umgebung anzupassen, bestimmte seit der Ankunft alle seine Handlungen. Die mitgebrachten Hemden lagen noch zusammengefaltet in seinem Koffer. Nur einige davon würde er tragen können, die anderen wichen in Farbe und Zuschnitt zu stark von den hier getragenen ab. Obwohl man an den aufgekrempelten langen Ärmeln rasch den Amerikaner – für den man ihn meistens hielt – erkannte, wollte er wenigstens die weißen Oberhemden tragen. Ansonsten würde er nicht daran vorbeikommen, sich alle möglichen Varianten von T-Shirts zuzulegen.

Von einer anderen Gewohnheit nahm er nur ungern Abschied: das Pfeiferauchen. Doch schon bei seinem Zwischenaufenthalt in Recife hatte er gemerkt, dass seine Pfeife neugierige Blicke auf sich zog. Er hatte tatsächlich in den zwei Tagen, die seit seiner Ankunft verstrichen waren, keinen einzigen Pfeifenraucher gesehen. Außer diesem Engländer, auf den er im Tabakgeschäft getroffen war, als er sich entschlossen hatte, fürs Erste auf leichte und kleinformatige Zigarren umzusteigen. Die verzweifelten Versuche des Engländers, Mixture von Mac Baren zu erstehen, bestätigten ihn in seinem gerade gefassten Beschluss, von der Pfeife zu lassen. Der gute Mann erregte mit seinem Kaufwunsch, den er wiederholt und, wie Noll fand, mit ziemlicher Penetranz vortrug, ein derartiges Aufsehen, dass Noll froh war, als er den Tabakladen verlassen konnte. Außerdem musste er in der Toilette eines Restaurants, wo er sein Bargeld überprüfte, feststellen, dass der freundliche Tabakverkäufer das Wechselgeld zu seinen Ungunsten herausgegeben hatte.

Dass auch das Zigarrenrauchen nicht recht verbreitet war, nahm Noll einige Tage später widerwillig zur Kenntnis. Hin und wieder verlängerte er daraufhin seinen Zigarrenvorrat durch Zigaretten, die nach nichts schmeckten und auch noch unpassenderweise als cigarros bezeichnet wurden.

Doch jetzt hatte er sich wieder einmal eine Zigarre angesteckt und versuchte, sich über sein Vorhaben klarer zu werden. Er betrachtete seine Hände. Am Ringfinger seiner rechten Hand, dort, wo sechs Jahre lang der Ehering gesteckt hatte, war immer noch ein dünner, weißer Streifen zu sehen.

„Ich werde mehr in die Sonne gehen“, nahm er sich vor und überlegte, wo er den Ring eigentlich gelassen hatte. Bilder von früher tanzten durch sein Gehirn: Wie sie die Düne herunterlief und er hinterher, wie sie lachte und er noch „halt!“ schrie und sie kopfüber mit einer Lawine Sand immer noch lachend rutschte und er sie halten wollte und Angst hatte und sie ihn auf sich zog und er unter Sand und Haaren ihre Lippen spürte und sie nicht mehr losließ und sie oben, er unten weiterrollten und dann atemlos und Sand und alles Mögliche spuckend liegen blieben.

„Es ist vorbei“, sagte Noll und hatte gleichzeitig das Bedürfnis, bei ihr zu sein. Aber heute wollte er sich nicht wieder in alte Gefühle verstricken. Er ging ans Fenster. In der Einfahrt des Hauses gegenüber türmte sich der Müll. Zwei Kinder waren damit beschäftigt, einen ausgemergelten Hund in einen leeren Karton zu setzen. Als sie das widerstrebende Tier endlich soweit hatten, drehten sie unter Begeisterungsrufen den Karton um.

Der durch einige Tritte gegen sein Gefängnis aufgeschreckte Hund rannte los, sodass es den Anschein hatte, als würde der Karton über die Straße laufen. Die Kinder hüpften vor Freude in die Höhe. Noll schloss das Fenster und gab es für heute auf, weiter nachzudenken.

Noll wusste nicht, wie spät es war. In diesem Haus gab es keine funktionierende Uhr. Gestern nach dem Flug hatte er tagsüber von halb acht bis um halb vier am Nachmittag geschlafen. Die Zeitverschiebung von fünf Stunden brachte alles durcheinander.

Wir erreichten gerade die Parkbank, wo der Weg um den großen See eine sanfte Kurve macht. Für gewöhnlich verschnauften wir hier eine Weile, um uns dann frisch gestärkt auf den Rückweg zu machen. Doch Noll war so vertieft in seine Erzählungen, dass ich ihn am Arm nehmen musste, um ihn freundlich auf die Bank zu bugsieren, denn auch ich war bereits nicht mehr der Jüngste und wir hatten ja nun keinen Grund, uns völlig zu verausgaben. „Lassen Sie mich das nur kurz zu Ende erzählen“, sagte er schon sitzend und so, als ob er aus einem Traum erwacht wäre, den er noch rasch festhalten wollte, bevor er ganz der Vergessenheit anheimfiel.

Seine zweite Nacht in Belém hatte er gleich im Condor, einem Viertel am Fluss mit bis zum Morgen währendem Nachtleben, verbracht. Erst war er mit Paul im Palácio dos Bares, einer Gaststätte, die teilweise über den Fluss gebaut war. Paul, ein Studienfreund von Noll, der schon seit Jahren in Brasilien lebte und bei dem Noll vorübergehend wohnte, erzählte, dass das Dach der Bar bei Filmarbeiten mit Klaus Kinski abgebrannt sei. „Fitzcarraldo” wurde auch in Belém gedreht? Noll hörte zu und wunderte sich. An den anderen Tischen und auf der Tanzfläche herrschte reges Treiben. Eine Gruppe Studenten feierte ausgelassen und begrüßte freudig jeden Dazukommenden. Paul blieb nicht lange, er hatte einige Stunden zuvor erfahren, dass Kai, ein Freund von ihm, in Rio de Janeiro an einem Herzinfarkt gestorben war. Herzinfarkt mit vierzig! Noll schauderte, obwohl er Pauls Freund nicht persönlich kannte. Noll blieb, obwohl Paul ihm davon abriet. Er machte sich wohl um den unerfahrenen Besucher Sorgen. Bald fand Noll das Gedränge und das Gejauchze der Studenten langweilig und suchte das Weite. War es der Kellner oder der Taxifahrer, der ihn auf die Kneipe am Hafen aufmerksam gemacht hatte? Noll erinnerte sich nicht mehr, lehnte jetzt an einem Holzpfeiler nahe der Tanzfläche und genoss die Trunkenheit, die sich wohltuend auf seinen Körper gelegt hatte. Eine Kette aus gelben und grünen Glühbirnen schwang sich von Pfeiler zu Pfeiler, bis sie irgendwo über den Köpfen der tanzenden Paare verschwand.

Direkt neben der über das Wasser hinaus gebauten Plattform hatte ein Boot festgemacht. Ein Mann lag quer in einer Hängematte und schlug manchmal mit der Hand auf seinen Körper. Schließlich rollte er sich ganz in das blau und rot gestreifte Leinentuch ein, sodass die Mücken keinen Angriffspunkt mehr fanden.

Die Paare, egal ob schon lange miteinander befreundet oder nicht, tanzten hinreißend leicht, geschmeidig, erotisch. Es war für Noll eine Sensation. So etwas hatte er noch nicht gesehen! Die Frauen legten den Männern gleich die Arme um den Hals oder um die Schultern und schmiegten sich mit dem Oberkörper dicht an. Die Harmonie der Bewegung wurde dadurch noch erhöht und Noll drängte sich der Eindruck geradezu auf, dass nur ein einziger Körper sich ganz der Musik und der Liebe hingäbe. Die Nähe des Wassers machte die drückende Schwüle erträglicher. Das andere Ufer des Guamá war rasch in der Dämmerung verschwunden. Schon blinkten einige Lichter auf dem Wasser. Die stromaufwärts fahrenden Boote bewegten sich kaum von der Stelle, während die ihnen entgegenkommenden rasch vorwärts getragen wurden.

Eine Hand legte sich auf Nolls Arm: „Tanzt du nicht?“ Noll war der einzige der zahlreichen Gäste, der den Tanzenden den Rücken zugedreht hatte. „Bist du traurig?“, Noll wandte sich von den auf dem Wasser treibenden Lichtern ab und suchte nach einer Antwort. Doch er war zu erfüllt von diesem Fluss und dieser Nacht, als dass er etwas hätte erwidern können. Und so ließ er sich widerstandslos auf die Tanzfläche ziehen, ohne auch nur ein Wort an seine Partnerin gerichtet zu haben. Sie spielten gerade einen Forró, einen Paartanz, den Noll an diesem Abend zum ersten Mal gesehen hatte und den, wie er fand, die Frauen besonders erotisch tanzten. Dadurch dass er außer der Sympathie für diese Musik keinerlei Verständnis für den Tanzrhythmus hatte, geriet er, da er sich mangels einer Alternative in einer Art Walzerschritt bewegte, ständig mit seiner Partnerin aneinander. Sein Bemühen, sich mit ihren Bewegungen in Einklang zu bringen, quittierte diese mit einem Lächeln, besonders da er sie bei dem Versuch, jenseits des Rhythmus eine Harmonie ihrer Körper herzustellen, fest an sich zog. Der Schweiß brach Noll aus allen Poren. Er wünschte sich an seinen Platz zurück, spürte jedoch, wie der Frauenkörper in seinem Arm Wirkung tat. Sie schwang sich zärtlich hin und her und improvisierte mit weichen Bewegungen auf dem von Noll vorgegebenen Walzertakt, der, mit ein wenig Fantasie, irgendwo zwischen den Tönen zu finden war. Noch immer hatten sie kein Wort gewechselt, aber ihre Körper begannen, sich im Widerstreit der Rhythmen füreinander zu interessieren.

Sie war um die zwanzig Jahre alt. Die Verständigung war gar nicht so einfach, weil das ohnehin noch schwache Portugiesisch Nolls durch die ohrenbetäubende Musik kaum zu hören war. Doch dem Mädchen machte das nichts aus. Sie stellte sich dicht neben ihn, um auch ja alles zu verstehen. Schließlich gingen sie ao lado, wie sie es nannte, also „nach nebenan”. Dort zahlte Noll tausend Cruzeiros für ein Zimmer, das penetrant nach parfümiertem Desinfektionsmittel roch. Noch verallgemeinerte er, später sollte er bemerken, dass es unter den brasilianischen Frauen erhebliche Unterschiede gibt. Diese war eine bezaubernde amazonische Morena mit stark indianischem Einschlag. Und sie sollte, obwohl Noll sie nie wiedersah, eine besondere Bedeutung in seinem Leben gewinnen. Nach dieser Nacht hatte er nie wieder eine Beziehung zu einer deutschen Frau oder auch mit einer weißen Brasilianerin, die es ja im Süden Brasiliens auch gibt. Der Blick, tief und kurz, ins Andere hinein hatte offenbar genügt, um ihn aus der Bahn zu werfen.

Als Noll wieder zu Hause war, stand die Sonne schon schräg am Himmel. Er war hellwach und überdreht, sein Körper vibrierte innerlich. Der Rausch des Alkohols war verflogen, dafür waren seine Nachwirkungen unerträglich deutlich zu spüren. Vor allem das grelle Sonnenlicht machte ihm zu schaffen. Noll fühlte sich jämmerlich. Er wechselte vom Bett in die Hängematte und fiel bald in einen traumlosen Schlaf, im Ohr einen piependen Nachklang der dröhnenden Musik der vergangenen Nacht.

Am Sonntagmorgen rief Fernando an und lud Noll ein, mit aufs Land zu fahren. Fernando war Deutschlehrer am dortigen „Haus für deutsche Kultur“, ein pompöser Name für einige schlecht möblierte Klassenräume, eine Bibliothek mit drei Regalen und ein Büro mit Klimaanlage. Noll nahm diese Einladung dankend an. Bald fand er sich mit Fernando, dessen Frau und zwei Kindern im Auto wieder. Die Kinder, mit denen Noll zusammen auf der Rückbank saß, bombardierten ihn gleich mit den verdrehtesten Fragen. Noll verstand zumeist gar nicht, was die beiden wollten, was diese aber nicht daran hinderte, munter weiter zu fragen. Schließlich bogen sie von der Asphaltstraße ab und nahmen einige hundert Meter Schotterpiste durch den Wald, die auf einer Lichtung endete. Dort standen einige Häuschen, deren Wände aus mit Lehm beworfenen Holzgerüsten bestanden. Hühner flüchteten erschreckt ins Gebüsch. Abermals eine kurze Strecke durch den Wald – richtiger Urwald, wie Noll feststellte – und sie hielten auf einem Platz, der einer Familie Santana gehörte.

Mitten auf dem Platz standen zwei schindelgedeckte Pavillons. Im Schatten des einen waren im Viereck Tische aufgestellt. Bald gab es Bier, über das sich Noll angesichts der hohen Temperaturen nicht wenig freute. Töpfe mit Bohnen, Fleisch und Maniok-Mehl sowie Körbe mit Früchten wurden aus den Autos geholt, mit denen die Verwandtschaft der Santanas bald zahlreich eintraf. Noll unterhielt sich eine Weile mit Senhor Santana, dem Familienoberhaupt. Zufrieden stellte Noll fest, dass er dessen wohlartikuliertes Portugiesisch verstehen konnte. Kleinere Missverständnisse lockerten das Gespräch auf und wurden stets mit einem sympathischen Lachen quittiert. In der Zwischenzeit schwamm, wer wollte, in einem kleinen See, der sich durch das Aufstauen eines Urwaldbaches, eines Igarapé, gebildet hatte. Im See tummelten sich Schwärme von kleinen Fischen und manch-mal, wie Fernando übertreibend berichtete, auch Schlangen. Durch das Baden im lau-warmen Wasser, was Noll sehr genoss, verflog die Wirkung des Alkohols rasch.

Eine der anwesenden jungen Frauen, Noll glaubte, dass sie mit einem der Männer verheiratet war, saß allein am Wasser. Noll setzte sich auf eine der nahestehenden Holzliegen und begann ein belangloses Gespräch. Sie hatte gerade ein Verwaltungsstudium oder so etwas Ähnliches beendet. Als Noll vom Wasser zurückkehrte, sprach ihn Fernando an, der Noll freudig berichtete, dass es die Familie gerne sehe, wenn er sich mit der jüngsten Tochter unterhalte. Eilfertig vervollständigte er seine Information: Sie sei nämlich noch nicht verheiratet. Etwas beschwichtigend fügte er hinzu, Noll solle sich keine Gedanken machen, es ginge nicht um etwas Ernstes. Wie zufällig stand der Vater neben ihnen und als ob er das Thema des Gesprächs geahnt hätte, fragte er Noll, ob er verheiratet sei und Kinder habe. Noll verneinte, zur sichtlichen Zufriedenheit des Senhors Santana. Wieder am Tisch widmete sich die Mutter aufmerksam Nolls Bierglas. War dieses halb leer, schüttete sie den Rest fort, mit dem Hinweis, das Bier sei schon warm. Kaltes Bier wurde in Nolls Glas nachgegossen und bald schlug Senhora Santana Noll augenzwinkernd vor, ihre Tochter doch zu heiraten. Noll war überrascht von der Geschwindigkeit und Direktheit dieser fürsorglichen Mutter. Übrigens: Die Tochter war zweiundzwanzig Jahre alt, im Bikini von ansehnlicher Figur und besaß ausgesprochen weiche und liebliche Gesichtszüge. Es war der erste Heiratsantrag, den Noll in Brasilien erhalten hatte. Es sollten weitere folgen.

Noch in derselben Nacht war Noll wieder allein im Condor. Paul, der am Anfang mit seinen eigenen Erfahrungen und seinem nächtlichen Durchhaltevermögen geprahlt hatte, war längst abgehängt. Nicht dass Noll Rekorde aufstellen oder irgendwem imponieren wollte. Er fühlte sich einfach wohl, wenn er an seinem Blechtisch saß, langsam sein Bier trank und seinen Blick durch die Bar streifen ließ. Ganze Nächte hatte er schon so verbracht. Die Superbar São Jorge war heute seine erste Station. Noch waren nicht viele Gäste da. Ein einsames Paar tanzte langsam vor sich hin und schien seine Umgebung völlig vergessen zu haben. In einiger Entfernung saßen an drei, vier Tischen einige Mädchen. Sie waren aber noch nicht zu irgendeinem Kontaktversuch aufgelegt. Da Noll es vorzog, der Musik nachzuhängen, statt irgendwelche dummen Fragen zu beantworten, war die Situation perfekt. Das Paar hatte seinen Tanz beendet und steuerte auf einen Vorhang neben der Damentoilette zu. Da also sind die Zimmer, stellte Noll fest. Als die nächste Musik anfing, standen zwei der Mädchen auf und begannen zu tanzen. Eine der beiden in einer hautengen Bermuda, sie mochte vielleicht sechzehn sein, war sichtbar schwanger. Als sie bemerkte, dass er sie musterte, spitzte sie die Lippen und simulierte einen Kuss in seine Richtung. Noll fühlte sich ertappt und griff hastig nach seinem Bierglas.

Sie werden verstehen, wenn ich nicht die geringste Neigung verspüre, mich über das Nachtleben des Professors auszulassen. Wenn es um mich ginge, aber darum geht es ja nicht, hätte ich da Einiges zu sagen. Nur so viel: In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Amazonien fühlte sich der noch junge Professor von dieser doch so unwestfälischen Welt stark angezogen. Zu meiner Verwunderung fand er an diesen fragwürdigen Orten etwas, was ihm zu Hause gefehlt hatte. Aber zu unser aller Beruhigung darf ich vorwegnehmen, dass er mit steigendem Alter und zunehmender Erfahrung in die Gleise des Normalen zurückkehrte. Zumindest hat er mir das versichert, als wir in vorweihnachtlicher Zeit bei einem Glas Glühwein und stimmungsvoller Beleuchtung durch die Kerzen des Adventskranzes beisammensaßen.

Nach einer kurzen Überfahrt mit der Fähre kam er schon um neun Uhr auf der Insel Outeiro an und setzte sich ans Flussufer, das auch ein Meeresstrand hätte sein können, so weit war die andere Seite entfernt. Sogar auf den Sand laufende Wellen fehlten nicht. Er ging nur einige hundert Meter in der schon stechenden Sonne den Praia do Amor entlang. Dort wurde er überrascht von dicht am Ufer schwimmenden blassen Fischen. Wenn man durch das flache Wasser watete und näherkam, stoben sie, wie Flugboote gleitend, davon. Zurück am Ausgangspunkt winkte er einen Kellner herbei, der, ohne zu fragen, sofort mit einem Bier erschien. Die Strandkneipe war eine von mehreren Bretterbuden, mit wackligen Holzhockern und den dazu passenden Tischchen. Eine schöne Frau räkelte sich vor ihm in der Sonne. Weiter hinten im Wasser knutschte sich ein Paar ausgiebig ab. Der trübe Amazonas verbarg das Geschehen unter Wasser, aber man brauchte nicht viel Fantasie, um das Bild zu vervollständigen.

Obwohl er schon eine Stunde dasaß und sich nicht rührte, außer um dann und wann einen Schluck Bier zu trinken, überzog ein Film von glitzernden Schweißperlen seine Haut. Hin und wieder kam der Junge mit den in spitze Tüten eingedrehten Erdnüssen vorbei. Aber da Noll gleich beim ersten Mal energisch abgewunken hatte, ließ dieser ihn in Ruhe. Mit dieser Geste hatte er all seine Energie verbraucht. Er saß einfach da und schwitzte. Von den pastellblau gestrichenen Klappstühlen blätterte die Farbe. Ebenso wie die wackligen Tischchen standen sie ungeordnet herum.

„Weil die Leute sie immer dahin rücken, wo gerade Schatten ist“, vermutete Noll. Und die Ordnung und Unordnung ringsum verschwamm in der Hitze zu irgendetwas, das er nicht begriff, das aber ohne Zweifel da war. „Ich verdampfe“, dachte Noll. Jetzt verstand er den Kommentar eines Nordbrasilianers, den er einst in einem Dokumentarfilm gehört hatte: „Allein wegen der Feuchtigkeit haben wir ein anderes Verhältnis zu Büchern als ihr. Wir können Bücher nicht jahrzehntelang aufbewahren. Sie verschimmeln oder werden von Insekten aufgefressen.“ Damals hatte Noll dies als eine Übertreibung angesehen, doch jetzt betrachtete er, wie langsam seine Hose auf der Oberseite der Schenkel dunkle Flecke bekam. Er öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes. Seine behaarte Brust erschien und war für ihn selbst, als er sich seines Aussehens vergewisserte, ein ungewohnter Anblick.

„Es fehlt nur noch ein Goldkettchen und ich sehe aus wie ein Italiener.“ Er musste schmunzeln und hatte damit dem Mädchen, das sich ansprechend auf der randvoll gefüllten Kühltruhe niedergelassen hatte, das offenkundig ersehnte Signal gegeben: Sie lächelte. Noll blickte wieder an sich herunter, konnte aber außer der durchgeschwitzten Hose und dem für seinen Geschmack zu weit geöffnetem Hemd nichts entdecken, was Anlass für ihre Aufmerksamkeit hätte sein können: Sie lächelte weiterhin. Noll zeigte verwirrt auf die leere Bierflasche. Er vermied es, Portugiesisch zu sprechen, obwohl ihm seine Lehrerin bestätigt hatte, dass er sich schon recht gut ausdrücken konnte. Das Mädchen, das Noll auf vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre schätzte, hüpfte von der Kühlbox und angelte eine Flasche Bier hervor.

„Nein“, sagte Noll, „ich möchte jetzt lieber eine Cola“, und er fügte ein „entschuldigen Sie“ hinzu, da seine Geste offenbar missverständlich gewesen war. Das Mädchen steckte die Cola umständlich in eine schon etwas ramponierte und viel zu große Isoporhülle und kam an seinen Tisch. Den Rest Bier, der sich noch in seinem Glas befand, schüttete sie ungeniert auf den Boden, schwenkte das Glas, Nolls erstaunten Blick auffangend, noch einmal durch die Luft und schenkte in das so gesäuberte Glas die kalte Cola ein.

„Es ist heiß, was?“, sie wartete auf eine Reaktion von Noll. „Ja“, sagte dieser, „sehr heiß,“ und er spürte, wie die Anwesenheit ihrer zärtlichen Hände eine Erinnerung in ihm auslöste, die sich jedoch nicht einfügen wollte in diesen Eindruck von Feuchtigkeit, der er ausgeliefert war, die ihn aufweichte und die offenbar seine Denkfähigkeit beeinträchtigte.

*

Geweckt durch die schon auf den Fensterläden brennende Sonne, blickte Noll benommen um sich. Er hatte in seinen Kleidern geschlafen und fragte sich, wie er überhaupt in sein Zimmer gekommen war. Ein ängstlicher Griff unter das Bett bestätigte ihm, dass sein Gepäck noch da war. Er riss sich Hemd und Hose vom Leib und stellte sich unter die Dusche. Das lauwarme Rinnsal, das kläglich an ihm herabträufelte, verschaffte ihm nicht die erhoffte Erfrischung. Sein Kopf dröhnte.

Heute verschmähte er die fleckigen Früchte, an denen sich bereits Dutzende von Ameisen zu schaffen machten. Einer der Hotelangestellten – Noll hatte ihn bis dahin für einen Gast gehalten, da er sich stets, wenn Noll ihn sah, mit irgendwelchen Leuten unterhielt – brachte ihm einen Kaffee. Noll bestellte gleich noch eine Tasse und drückte dem Angestellten das Körbchen mit Früchten in die Hand. „Wegen der Ameisen”, sagte Noll, als dieser mit dem Kaffee wiederkam. Durch diesen unbeabsichtigt mürrisch hervorgebrachten Kommentar sah sich der Kellner aufgefordert, mit einem undefinierbaren Stück Tuch auf dem Tisch herumzuwischen, dabei eher seine Bereitwilligkeit demonstrierend, als die klebrige Tischplatte tatsächlich zu reinigen. Noll war das Frühstück endgültig verleidet.

Es hatte Monate gedauert, bis Noll endlich auf seine Arbeit zu sprechen kam. Über alles Mögliche hatte er geredet, aber das, was den Mann ernährte und seinem Leben eine Richtung gab, nicht. Schließlich war es so weit und ich hörte ihm zu, auch um endlich zu erfahren, wovon der gute Professor denn eigentlich gelebt hatte.

Das Institut für Geologie hatte ihm ein recht großzügiges Büro zur Verfügung gestellt. Von den sechs Schubladen seines Schreibtisches waren jedoch drei dermaßen verquollen, dass sie sich nicht öffnen ließen. Den gerade abgerissenen Griff der sechsten Schublade hielt er eine Weile unschlüssig in der Hand, beschloss dann, ihn der nur mühsam wieder zu schließenden ersten anzuvertrauen und wandte sich in der Gewissheit, diesen Schreibtisch tatsächlich nur zum Schreiben zu benutzen, der Tischplatte zu. Der zu kleinen Häufchen aufgetürmte Holzstaub entpuppte sich als das Produkt einer Schar von Holzwürmern, die er durch kräftiges Klopfen versuchte, von ihrem Treiben abzuhalten. Zu seiner Erleichterung setzte sich der Ventilator in Bewegung, als er mit spitzen Fingern und jederzeit bereit, die elektrische Leitung fallen zu lassen, den Stecker in die Dose schob.

*

Nachdem er die Anschrift des Paters aus seinem Notizbuch herausgesucht hatte, übertrug er sie auf einen kleinen Zettel und steckte ihn in die Brusttasche. Einen Augenblick hatte er gezögert, ausgerechnet nach einer derart unchristlich verbrachten Nacht, einen Pater zu besuchen. Ein Blick in den Spiegel, dem er ein ernsthaftes „guten Tag, ich bin Hans Noll” anvertraute, hob jedoch sein Selbstvertrauen.

Das Haus in der Rua Doutor Malcher unterschied sich kaum von den anderen auf dieser Straßenseite. Irgendwann war auch hier ein Teil der Kacheln von der Vorderfront abgefallen und durch andersfarbige und andersgemusterte ersetzt worden. In den letzten Jahren waren auch diese improvisierten Reparaturen unterlassen worden, sodass sich in der Höhe der zweiten Etage quadratmeterweise der nackte Putz zeigte. Noll hatte bereits mehrmals an die Haustür geklopft, als sie sich endlich öffnete. Vor ihm stand ein kleines Männchen, das ihn irritiert musterte. „Guten Tag, ich bin Hans Noll.” Sein Gegenüber, das wohl über 80 Jahre alt sein musste, nickte und blickte an ihm vorbei auf die Straße. Noll hatte den Eindruck, dass er hinter ihm etwas entdeckt haben musste und sah sich unwillkürlich um. „Aha, die Paulistas sind da, kommen Sie, kommen Sie, nur ein Minütchen, nur ein Minütchen,” nach dieser überraschenden Begrüßung murmelte der alte Mann noch einige unverständliche Worte und verschwand im Haus. Noll folgte ihm und setzte sich in einen Korbsessel, auf den der Mann mehrmals mit einer einladenden Geste hinwies. „Nur ein Minütchen, nur ein Minütchen...”, und er schlurfte in das angrenzende Zimmer. Noll lehnte sich in dem quietschenden Korbsessel zurück und registrierte dankbar die angenehme Raumtemperatur. An der Wand gegenüber hing ein Bild des heiligen Franziskus gleich neben dem Bild des polnischen Papstes Wojtyla, hinter den Rahmen des Heiligen waren einige frische Blumen gesteckt. „Heute ist sein Festtag“, dröhnte die Stimme des plötzlich in der Tür erschienenen Pater Osmar durch den Raum, offensichtlich daran gewöhnt, mit seinem Sprachorgan, das in seinem massigen Körper Resonanz fand, Säle zu füllen: „Heute ist der Namenstag des heiligen Franziskus.“ Nolls erstauntes Gesicht löste bei dem gewichtigen Franziskanerpater eine solche Lachsalve aus, dass Noll sich augenblicklich aus dem Sessel erhob. „Bleiben Sie sitzen, mein Freund, oder noch besser: Kommen Sie in den Garten und lassen Sie uns einen Saft trinken.“

Die Unscheinbarkeit der zur Straße gewandten Seite des Hauses hatte einen solch prächtigen Garten auf seiner Rückseite nicht vermuten lassen. Nach links und rechts durch eine blendend weiß gekalkte Mauer abgeschirmt, eröffnete sich der Blick auf ein Gewirr von Stauden und Pflanzen, von denen Noll keine hätte beim Namen nennen können. Zwischen den Balken, die das Dach der Veranda stützten, war eine Hängematte ausgespannt, die noch leicht hin und her schwankte, so als ob sich gerade jemand aus ihr erhoben hätte. Ein unverkennbarer Geruch von Kölnisch Wasser kam von dort her und kontrastierte mit dem natürlichen Aroma, das den ganzen Garten beherrschte.

„Setzen Sie sich, genießen Sie das herrliche Grün und lassen Sie sich um Gottes willen durch Bruder João nicht verwirren, er selbst ist es schon genug“, und wieder schüttelte den massigen Pater ein Lachen, das Noll im Verlaufe des Gesprächs noch mehrmals in Verwunderung versetzen sollte. Da Noll dem Mitteilungsdrang seines Gastgebers keinen Widerstand leistete, verfiel dieser bald in eine weitschweifige Schilderung seiner kleinen Franziskanergemeinde, die offenbar mit den Theologen der Befreiung irgendwelche Probleme hatte, die Noll aber nicht verstand. Der Pater hielt erst inne, als es Noll schon fast aufgegeben hatte, auf den Beginn eines wirklichen Gesprächs zu hoffen.

„Die Deutschen sind aufmerksame Zuhörer, finden Sie nicht?“, wandte sich der Pater überraschend an Noll.

„Ich hatte bisher keine Gelegenheit, das Gesprächsverhalten von Deutschen, Brasilianern oder auch anderen Nationalitäten zu vergleichen“, antwortete Noll zögernd und erwartete eine neue Redeflut seines Gegenübers. Dieser schwieg jedoch und blickte Noll neugierig an, flink die Lider über die für sein Gesichtsformat viel zu kleinen Augen schlagend. Noll spürte, dass jetzt der Augenblick gekommen war, in dem es sich entschied, ob er den Pater für sich gewinnen konnte oder nicht.

„Aber selbst wenn es so wäre“, fuhr Noll fort, „ist nicht die Fähigkeit, sich angemessen auszudrücken, ebenso hoch zu bewerten, wie die Fähigkeit, konzentriert wahrzunehmen?“

„Ein Diplomat! Ausgezeichnet!“, spottete der Pater. „Aber Sie haben natürlich Recht. Das fällt mir sowieso an euch Europäern auf, dass ihr immer Recht habt.“ Noll hob beschwichtigend die Hände. An einem Streitgespräch war ihm nun gar nicht gelegen. Doch der Pater schien Gefallen an dem Thema zu finden.