Die Lesereise - Franz J. Brüseke - E-Book

Die Lesereise E-Book

Franz J. Brüseke

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Beschreibung

Ein alter Mann reist durch die Lande und liest vor einfachem Publikum zu allen nur denkbaren Themen. Ein Junge wird sein Assistent und zieht den Koffer voller Manuskripte von Ort zu Ort. Der Alte stirbt und hinterlässt ein folgenschweres Erbe.

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Inhalt: Ein Mann reist durch die Lande und liest vor einfachem Publikum zu allen nur denkbaren Themen. Ein Junge wird sein Assistent und zieht den Koffer voller Manuskripte von Ort zu Ort. Der Alte stirbt und hinterlässt ein folgenschweres Erbe.

Franz J. Brüseke, geboren 1954 in Hamm in Westfalen, war Professor für Soziologie an verschiedenen Universitäten und lebt heute in Florianópolis im Süden Brasiliens. Er ist Autor mehrerer Romane und Bücher über Entwicklungsfragen und Techniksoziologie.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Der Alte

Zweiter Teil: Der Junge

Erster Teil: Der Alte

Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter starb. Es kam alles sehr schnell. Nach dem Frühstück hatte sie sich über Schmerzen in der Brust beklagt und kurzerhand beschlossen, sich in der Notfallaufnahme des Krankenhauses zu konsultieren. Sie selbst steuerte noch das Auto bis dorthin, wo sie, an der Auffahrt für Krankenwagen angekommen, mich bat, einen Krankenpfleger zu holen. Dann fiel ihr Kopf vornüber auf das Lenkrad und ich rannte voller Panik die Rampe hoch.

Von da an erinnere ich mich nur noch vage an die weiteren Ereignisse. Ich weiß nur, dass irgendjemand von der Stadt, es muss wohl jemand von der Familienfürsorge gewesen sein, mich zu Hause aufsuchte und mich aus der Wohnung holte, wo ich seit Tagen mutterseelenallein vor dem Fernseher saß. Er brachte mich in ein Kinderheim, wo mir von der nach Sagrotan riechenden Leiterin freudestrahlend mittgeteilt wurde, dass ich bald abgeholt würde. Schon am Nachmittag stand er vor mir. Ein alter Mann mit ungepflegtem Bart und auch ansonsten nachlässigem Äußeren streckte seine Hand aus, lächelte mich an und sagte nur: Komm, mein Junge, lass uns gehen!

Wie ich dazu kam, ihm die Hand zu reichen und widerstandslos mit ihm zu gehen, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Dabei hätte es doch mir, dem mittellosen Waisen, von Anfang an klar gewesen sein müssen, dass dieses kein gutes Ende nehmen würde. Aber warum habe ich seine Einladung angenommen? Und warum hat er gerade mich eingeladen und nicht einen anderen? Ich wusste es damals nicht.

Wenn ich mich recht besinne und heute versuche, aus meinen Erinnerungssplittern zusammenzusetzen, wer ich einmal gewesen war, kann ich nicht umhin, bei mir, dem Kind und dann jungen Mann, einen Überschuss an Empfänglichkeit für große Ideen festzustellen. Schon im Vorschulalter hatte mich alles angezogen, was versprach uns über unsere armselige, vergängliche Existenz hinauszuhelfen und mich, so schien es, aus der Ewigkeit her anhauchte. Mehrmals musste man mich, unter lebhaftem kindlichem Protest meinerseits, aus dem Altarraum zerren, wo ich wieder einmal, wie vernarrt, vor dem Ewigen Licht stehen geblieben war. Diese Flamme, hinter dem dicken, purpurrotem Glas, stand da, ruhig und gelassen. Wenn ich längere Zeit vor ihr ausharrte, kurz bevor mich die feste Hand meiner Mutter fasste, schwankte sie manchmal kaum merklich und zuckte, so, als ob sie mir eine Botschaft von dem ewigen Feuer geben wollte, aus dem sie gemacht war. Eine Botschaft aus den Zeiten ohne Anfang und Ende.

Man sagt, dass alle großen Utopien ihren Urgrund im Religiösen haben. Das mag sein. Doch versteht man diesen Satz nur unzureichend, wenn man nicht selbst diesen Urgrund und sei es nur ein einziges Mal, selbst erfahren hat. Natürlich nicht in seinem wahren Ausmaß, denn dafür sind unsere Sinne nicht gebaut und ist unsere Seele einfach zu klein. Aber wer nie diesen Hauch von weither je in seinem Gesicht verspürt hat, wird nur schwerlich verstehen, was ich sagen will.

Auch ist das, was ich hier Urgrund genannt habe, nicht gleichzusetzen mit einem soliden, endlich gefundenen letzten Fundament, aus dem sich alles ableitet, sei es die in langer Entwicklungsreihe schließlich aus dem Meer auftauchenden nach Luft schnappenden Lebewesen, sei es unser Planet selbst, die um ihn herum rasende Sonne und die sich immer weiter entfernenden Nebel und Galaxien. Nein, dieser Urgrund, von dem ich spreche, ist eher ein Abgrund. Wenn man so will ein Loch im Sein, vor dem wir normalerweise tunlichst die Augen verschließen.

„Der Grund hat keinen Grund“, pflegte der Alte zu sagen und drückte damit in nur fünf Worten aus, wozu ich selbst mehrere Sätze brauche und welche dann noch, eher in die Irre führen, als dass sie Licht in diesen Abgrund werfen, an dessen Rand ich mein bisheriges Leben verbracht habe und das ich immer noch nicht auch nur annähernd verstehe.

Er musste wohl gefühlt haben, dass ich, obwohl von meinen schulischen Leistungen her eher dem Mittelfeld meines Jahrgangs zuzurechnen war, anders als die meisten anderen, empfänglich war für dieses schwindelerregende Gefühl der Bodenlosigkeit. Es versteht sich von selbst, dass ich darauf keineswegs stolz war. Beinahe täglich von diesen durchaus befremdlichen Anwandlungen befallen zu werden, versetzte mich in einen Alarmzustand, der, wenn es nicht ebenfalls Stunden innerer Ruhe gegeben hätte, mich wohl um den Verstand gebracht hätte. Vielleicht fehlte mir das, was anderen wohl in die Wiege gelegt worden war und um das ich sie beneidete: die Gewissheit, dass alles normal war. Diese Sicherheit war mir auf unerklärliche Weise abhandengekommen. Vielleicht war sie mir auch nie zu eigen gewesen, was das Wahrscheinlichere ist. Nur in wenigen, raren Momenten, die ich gerade deshalb besonders intensiv wahrnahm, weil ich wusste, dass sie im nächsten Augenblick zerstieben würden, wich dieses Gefühl von mir.

Er musste schon bei unserer ersten Begegnung gewusst haben, wie es um mich stand. „Plötzlich ist nichts mehr wie vorher,“ hatte er gesagt und das war es: dieses aus dem Nichts heraus mich plötzlich anspringende Gefühl, dass alles um mich herum fremd und grundlos war.

Noch am selben Tag fragte er mich, ob ich ihn auf seiner Lesereise begleiten wolle, und ich willigte ein. Aus seiner Sicht müssen es wohl praktische Gründe gewesen sein, die ihn bewogen hatten, mich mitzunehmen. Er besaß allerlei Gepäck, darunter einen schweren Rollenkoffer mit Manuskripten, den er mit Mühe von Ort zu schleppte. Selbst für uns beide war es jetzt, wo ich ihm half, einigermaßen umständlich damit treppauf und treppab zu kommen, ganze Zugabteile zu durchqueren, uns in enge Aufzüge zu zwängen, um dann schließlich in irgendeinem billigen und entsprechend engen Hotelzimmer zu landen.

Ich selbst fand nichts dabei, mit dem alten Mann im selben Zimmer zu schlafen, war ich doch von zuhause aus gewöhnt, mit meiner Mutter dasselbe zu tun. Manchmal, wenn es zwar ein Doppelzimmer, aber keine Einzelbetten gab, schliefen wir sogar zusammen in einem Bett. Ich rollte mich dann ganz an den Rand meiner Hälfte und er tat dieses auf seiner Seite.

Zahlen könne er mir leider nichts, hatte er gesagt und Mehrausgaben für ein Einzelzimmer könne er auch nicht machen. Mir war es nur Recht, um nicht zu sagen, es war mir sogar lieber so, denn allein in einem Zimmer zu nächtigen, noch dazu in einer fremden Stadt, war mir nicht ganz geheuer.

Ich huschte immer vor ihm ins Bad, machte dort meine Morgentoilette und zog meine Kleider über. Bevor er richtig erwachte, war ich schon fertig und räumte das Feld, damit er, der Ältere, ausreichend Platz hatte, sich ebenfalls für den Tag herzurichten.

Bevor er zum Frühstück erschien, hatte ich einige Zeit nur für mich. Ich suchte ein Tischchen möglichst abseits, von dem aus man sehen konnte, wie auch die anderen Gäste langsam eintrafen. Meistens waren es einzelne Männer, die wohl einen Dienst in der Stadt zu verrichten hatten, der sie zu einer Übernachtung nötigte. Sie hatten kein Auge für ihre Umwelt, packten sich am Büfett den Teller mit Wurst und Käse voll, bedienten sich reichlich an den ausgelegten Broten und, nachdem sie ihre Beute an einem der nächstliegenden freien Plätze abgestellt hatten, liefen sie zur Thermoskanne mit heißem Kaffee, den sie je nach Geschmack mit Milch verlängerten.

Frauen sah man selten zu dieser frühen Stunde und wenn, dann meistens in Begleitung eines Mannes, dem sie beim Belegen der Brote halfen oder dem sie andere kleine Zureichungen machten. Stets gehörte dazu das Öffnen der Zuckertütchen, die auf allen Tischen in eigens dafür vorgesehenen Kästchen ausgestellt waren. Bis auf einige wenige Ausnahmen, die, wegen ihrer Seltenheit meine Aufmerksamkeit erregten, lehnten die Männer den angebotenen Zucker ab. Dieser fand dann seine wohl ihm von Anfang an zugedachte Bestimmung im Kaffee der Dame, manchmal begleitet von einem bedauernden Gesichtsausdruck ihrerseits.

Hingegeben an die kleinen Ereignisse um mich herum, fiel mir das Warten auf den Alten nicht lang und es kam vor, dass ich mich sogar erschrak, wenn er dann plötzlich neben mir stand. Ich hätte ruhig schon ohne ihn anfangen sollen, meinte er dann stets, war aber insgeheim wohl dankbar, dass ich auf ihn mit dem Frühstück gewartet hatte. Jetzt war es an mir, ihn zu bedienen, kannte ich doch seine Vorlieben und brauchte ihn nicht mit lästigen Fragen oder irgendwelchen Kompottdöschen und Zuckertütchen, die er dann doch nicht öffnete, zu behelligen. Er akzeptierte mit nickendem Kopf das vorher von mir aufgeschnittene Weizenbrötchen, belegt mit Schnittkäse und ein oder, je nach Dicke, zwei Scheiben gekochten Schinken. Seinen Kaffee mochte er besonders stark und, falls daran wieder einmal gespart und ein solcher nicht angeboten wurde, ausnahmsweise, wie er mir dann etwas verstimmt zu verstehen gab, auch einen schwarzen Tee. Wenn alles zu seiner Zufriedenheit angerichtet war, machte ich mich dann ebenfalls über das Buffet her.

Was, so nahm ich an, das Hauptmotiv des Alten gewesen war mich mitzunehmen, war der Koffer mit den Manuskripten. Er hatte mir gesagt, dass dieser Koffer zu Beginn seiner Reise sehr leicht gewesen sei. Nun aber, da er bis zum Bersten mit Notizen, Redevorlagen, fertigen und halbfertigen Artikelentwürfen und sogar der Urschrift einer nun kurz vor seiner Vollendung stehenden Zusammenfassung seiner Weltsicht, wie er es nannte, angefüllt war, konnte ich ihn nur mit Mühe bewegen. Und auch das nur, weil es sich um einen Koffer handelte, der an seiner Unterseite in alle vier Himmelsrichtungen drehbare Rädchen hatte.

Es war abzusehen, dass dieser Koffer irgendwann platzen würde, oder sich auf diskretere Weise, etwa durch das jetzt schon häufiger vorkommende, endgültige Verklemmen des Reißverschlusses, weigern würde, noch ein weiteres Konvolut beschriebenen Papiers aufzunehmen. Ein paar Seiten gingen vielleicht noch hinein, aber das war es dann.

Immer dann, wenn ich mich wieder einmal abmühte den Koffer zu schließen, wies ich den Alten auf diesen Umstand hin, was er aber nicht weiter beachtete. Stattdessen nutzte er die Stunden, in denen er keine Lesungen hatte oder mir Dinge erklärte, die zu begreifen ich mich ernsthaft bemühte, um zu schreiben. So kam er der physischen Grenze seiner Produktivität, genauer gesagt, der Grenze des Transportes seiner Produktion, von Tag zu Tag näher, und ich sah schon den Koffer bei einem dieser waghalsigen Manöver im Innern eines überfüllten Eisenbahnwaggons oder beim schweißtreibenden Einstieg in denselben, bersten, um seinen preziösen Inhalt zu unpassender Stunde und an unpassendem Ort, auf den schmutzigen Boden des Ganges oder, schlimmer noch, in den düsteren Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante zu entladen.

Allgemeine Unheilserwartung, so nannte der Alter meine durchaus begründeten Befürchtungen. Er könne morgen darüber lesen, denn auch darüber hätte er schon ein Manuskript verfasst. Nicht zur Veröffentlichung angenommen, wie er freimütig gestand; wie fast alle seiner Texte, die er vor Jahren Fachzeitschriften oder einschlägigen Verlagen angeboten hatte, bis er dann auch davon gänzlich Abstand genommen hatte und sie stattdessen in zumeist abendlichen Veranstaltungen vor ausgesuchtem Publikum vortrüge.

Allein schon diese Bezeichnung, allgemeine Unheilserwartung, schien auf meine damalige Grundstimmung wie die Faust aufs Auge zu passen. Wenn ein Glas Bier in Reichweite der Arme eines gestikulierenden und zudem sicherlich schon angetrunkenen Hotelgastes stand, sah ich es schon umstürzen und seinen Inhalt quer über den Tisch ergießen. Der Gast würde, zu spät! zu spät! dem Glas hinterhergreifen und, statt es am Umfallen zu hindern, es durch den ungeschickten Rettungsversuch endgültig zu Boden schicken, wo es in tausend Splitter zerbersten würde. Der Schweiß ließ in solchen Momenten meinen Haaransatz feucht werden, und ich wäre am liebsten aufgesprungen, um das in jedem Moment eintretende Missgeschick zu verhindern.

Allgemeine Unheilserwartung war dann nicht das Thema, zu dem er am nächsten Tag las. Zumindest konnte ich das „Wegdenken“, so nannte er es, nicht damit in Verbindung bringen.

Wir waren vor den anderen gekommen. Die anderen, das waren die Leute, welche normalerweise dem Alten bei seinen Lesungen zuhörten. Zumeist waren sie genauso alt oder ein wenig jünger als er selbst. Das heißt, die eine oder andere grauhaarige Frau kann auch älter gewesen sein. Aber das tut hier nichts zur Sache, denn er hatte allen anderen etwas voraus, was man schwerlich in Jahren messen kann. Und deshalb kamen sie.

Zumeist sind Vortragende, Lehrer etwa oder Politiker, daran interessiert, dass man ihnen zuhört. Sie geraten schnell aus der Fassung, wenn es im Publikum unruhig wird oder jemand, statt konzentriert nach vorne zu blicken, anfängt mit seinem Nebenmann zu reden. Anders der Alte, er saß da, blickte hin und wieder von seinem Manuskript auf und hatte einen Gesichtsausdruck, als ob er im nächsten Augenblick aufhören wolle zu lesen, ohne dass ihm das auch nur das Geringste ausmachte. Manchmal fürchtete ich, dass dieses tatsächlich geschah, machte er doch zuweilen Pausen, die durch nichts gerechtfertigt waren. Die Zuhörer im Saal schienen meine Befürchtung zu teilen, denn man hätte in solchen Momenten die berühmte Stecknadel fallen hören, so still war es jetzt. Wer bis dahin mit den Füssen gescharrt hatte, saß jetzt unbeweglich da und die Frau mit dem Schultertuch, die gerade noch vorhatte, wieder einmal ein nervöses Hüsteln von sich zu geben, hielt die Luft an.

Er hob den Kopf und lächelte kurz, so als ob er sich für etwas entschuldigen wollte und suchte auf seinem Blatt die Stelle, an der er innegehalten hatte. Es konnte vorkommen, dass er dann sein Manuskript zu Seite legte, sei es, weil er sich nicht mehr entsann, wo er aufgehört hatte, sei es, weil ihm eine neue Idee gekommen war, die ihm als einleuchtender erschien, als der alte Text, den er irgendwann, unter ihm selbst nicht mehr nachvollziehbaren Umständen, verfasst hatte.

Er sprach jetzt völlig frei, zwar noch langsamer, als wenn er lesen würde, aber es war allen klar warum. Er dachte. Und dieses vor uns allen stattfindende Denken brauchte eine Zeit, die ihm gemäß war. Wort fügte sich an Wort und schien von dem bedächtig ausgesprochenen, gerade entstandenen Satz, mit unvermeidlicher Logik nach vorne geschoben zu werden. Die Zuhörer quittierten seine überraschenden Improvisationen mit zustimmendem Kopfnicken und zuweilen, man staune, mit kurzem Beifall, wie man ihn auch kennt, wenn nach einem langen und virtuos vorgetragenen Schlagzeugsolo, schließlich die Band wieder einsetzt. In diesem Moment war es dann an mir, ihm ein Glas Wasser zu reichen.

„Wegdenken“, sagte er, „kann man durchaus auf zweifache Weise verstehen. Zum einen so, als ob man an einen Weg denkt, den man gerade gegangen ist, oder den man sich anschickt zu beschreiten. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Es geht um die zweite Bedeutung, die man nur vernimmt, wenn man „Weg“, mit kurzem „e“ spricht, so wie in „Weckruf“ oder „Wecker“. Darum also geht es, um dieses Wegdenken. Denn gerade, wenn man viel denkt und gewohnt ist, dieses als höchste Konzentration auf ein bestimmtes Thema zu verstehen, sollte man, zum Ausgleich gewissermaßen, das Wegdenken beherrschen. Wenn man an etwas denkt, zieht man dieses förmlich in seine Nähe, in eine zuweilen sogar gefährliche Nähe. Sagt man nicht, dass etwas geistig vor mir steht? Oder auch, dass ich etwas vor meinem inneren Auge vorbeiziehen lasse?“ Es sei diese Art des Denkens, vor allem, wenn man es übertreibe, die nun einfach das Wegdenken brauche, um unseren inneren Frieden wiederherzustellen.

Der Alte hielt inne und sah mich, der in der ersten Reihe saß, kurz an, dann fuhr er fort.

„Viele meinen ja, dass allein das Denken schon schwierig genug ist. Deshalb versucht man es uns von Kindesbeinen an, mit allen möglichen Methoden beizubringen. Aber selbst nach zwanzig Jahren intensiven Studierens, können selbst die meisten unserer Doktoren noch nicht denken. Das Wegdenken nun, ist noch um einiges schwieriger. Denn wenn man wegdenkt, denkt man an nichts und an nichts denken, ist noch schwieriger als das eigentliche Denken. Deshalb können es nur wenige.“

Der Alte sah in den Gesichtern seiner Zuhörer, dass er eine heillose Konfusion angerichtet hatte. Er blickte mich an und schien sich an sein Versprechen zu erinnern, über die allgemeine Unheilserwartung zu sprechen. Ich aber hatte schon ganz diskret den Zettel in die Hand genommen, auf dem eine diskrete „3“ ihn wie verabredet auf die letzten drei Minuten seiner Lesung aufmerksam machte. So wandte er sich noch einmal der Hörerschaft zu, hob beschwichtigend beide Arme und verabschiedete sich mit den Worten:

„Machen Sie sich nichts daraus, wenn sie nicht denken können und wenn sie es ebenfalls nicht schaffen wegzudenken, dann beten Sie einfach. So ordnen Sie wenigstens ihre Gedanken und kommen auf keine anderen.“

Der Beifall, der noch kurz zuvor seinem Vortrag gegolten hatte, blieb jetzt aus. Die Dame mit dem Schultertuch hüstelte, die in der letzten Reihe erhoben sich und bald drängten alle hinaus. Es wunderte mich nicht, dass die Hörerschaft des Alten nicht wuchs, denn trotz allgemeiner Anerkennung seines Wissens und seiner Fähigkeit interessanten Themen neue oder dem Publikum zumindest nicht bekannte Dimensionen zu verleihen, nahmen seine Vorträge häufig derart ungestüme Wendungen, dass die Leute den Faden verloren und ratlos den Saal verließen, so wie es heute wieder einmal der Fall war.

Er selbst merkte dieses wohl, tat aber nichts, um seinen Vortragsstil seinen Hörern anzupassen. Ich hätte dazu nichts gesagt, wenn er mir nicht die Verwaltung unserer bescheidenen Einnahmen übertragen hätte. Mit dem, was die Abendkasse heute eingebracht hatte, konnte ich gerade einmal die Rechnung für das Hotel und unser bescheidenes Abendbrot begleichen. Wie aber sollten wir die Bahn bezahlen, und wie zum nächsten Vortragsort kommen?

„Laufen“, sagte er. „Wir laufen.“

Es war nicht das erste Mal, dass er mich mit einem solchen Scherz in Angst und Schrecken versetzte, denn das sollte es sein, ein Scherz. Die nächste Lesung war in einem abgelegenen Städtchen, fast hundert Kilometer entfernt, das man nur - und dies nach zweimaligem Umsteigen - mit der Bahn erreichen konnte. Der Alte hatte mir von lange zurückliegenden Zeiten berichtet, in denen er diese Wege im Handumdrehen mit dem Auto bewältigte. Aber ein Auto hatte er schon lange nicht mehr und ich konnte mir, ehrlich gesagt, diesen unbeholfenen Herrn nicht hinter einem Steuer vorstellen.

„Gut, wir laufen“, antwortete ich und löschte das Licht über unserem gigantischen Ehebett. Nachts träumte ich, dass ich träumte. Ich lag im Bett meiner Mutter, genau so breit und weiß wie das Bett, in das ich gerade gestiegen war. So daliegend träumte ich, dass sie neben mir lag und noch beim Einschlafen meine Hand hielt. Dies tat sie, seitdem ich häufig nachts aufschreckte, von meinen eigenen Schreien des Entsetzens aufgeweckt und von fürchterlichen Traumbildern geplagt. Ich träumte, dass ich träumte, sie wäre wieder da und läge so wie immer neben mir und hielte meine Hand. Es ist nur ein Traum sagte sie, und ich nickte, ohne die Augen zu öffnen. „Behandelt er Dich gut?“ fragte sie, nachdem wir eine Weile so gelegen und ich die Wärme ihrer Hand in der meinen genossen hatte. „Wer?“ fragte ich und noch ehe sie antworten konnte, fuhr ich in die Höhe und wusste im ersten Augenblick nicht, wo ich war. Aber es war immer noch dasselbe große, weiße Ehebett, auf dessen anderer Seite der Alte lag und schnarchte.

Es dauerte den ganzen nächsten Tag bis ich von den Veranstaltern, darunter ein philanthropisch eingestellter Kulturverein, einen für unsere Anreise und zwei Übernachtungen ausreichenden Vorschuss erhalten hatte. Der Alte war bemüht sein Ungeschick vom vorherigen Abend zurechtzurücken und versuchte mir zwischen den Telefonaten zu erklären, warum er dem verstörten Publikum empfohlen hatte zu beten.

Er verstünde, dass die meisten Menschen heute keinen Bezug mehr zum Beten hätten, ja, er wäre sich sicher, dass nur noch wenige in der Lage wären, auch nur ein einziges Gebet aufzusagen. Wer kenne denn noch das Ave-Maria oder das Vaterunser? Wer wüsste denn noch was jede einzelne langsam durch die Finger gleitende Perle des Rosenkranzes bedeute? Wer kenne denn noch das Introitus, das zu Beginn des Gottesdienstes vor dem Altar knieend im Wechsel zwischen Priester und Ministranten gesprochen wurde? Doch vielleicht, so sagte er innehaltend, habe er die Leute überfordert.

„Das glaube ich auch“, pflichtete ich ihm bei. „Dabei“, fuhr er fort, „wollte ich es ihnen ganz einfach machen. Das Wegdenken ist nämlich einfacher, wenn man eine Geistesstütze hat, ein Mantra. Zum Beispiel: Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“ Ich blickte ihn verdutzt an.

„Das muss man natürlich mehrmals sagen. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Und wenn man dann aufhört, braucht man diese Stütze nicht mehr, denn die Seele ist wieder gesund. Zumindest,“ sagte er und blickte mich an, so als ob er sich vergewissern wollte, dass ich ihm auch zuhöre, „ist man ruhiger. Man kann natürlich auch Hare Krishna sagen, Do Re Mi Fa So La Si, oder was einem sonst einfällt.“ Er lachte.

„Aber warum soll man in die Ferne greifen, warum umständlich Sanskrit lernen, versuchen den Hinduismus oder Buddhismus zu verstehen, wenn alles, was wir brauchen, so nahe liegt? Das meinte ich, als ich gestern den Leuten empfohlen habe zu beten. Ich wollte mich nicht über sie lustig machen, ich wollte ihnen helfen.“

Tatsächlich war mir jetzt sein gestriges Verhalten verständlicher. Ich wusste zwar immer noch nicht, warum das Aufsagen immer derselben Worte, uns beruhigen sollte, aber zumindest hatte ich begriffen, dass, wenn man sein Gehirn mit irgendeiner Wortfolge konzentriert beschäftigt, man gar keinen Platz in seiner Vorstellungwelt mehr hat, um sich ängstigenden Fantasien hinzugeben.

„Die Leute suchen und suchen“, fuhr er fort „und, wenn sie Glück haben, schaffen sie es, sich aus Bruchstücken verschiedener Kulturen eine Rettungsinsel zu basteln. Dabei hatten wir schon alles, was wir brauchen. Aber die meisten sind wie vor den Kopf geschlagen. Ja, irgendetwas hat sie vor den Kopf geschlagen.“

„Und was war das?“ Ich hatte den Telefonhörer beiseitegelegt und eine dieser Fragen gestellt, die tatsächlich nur ein Anfänger machen kann.

„Eine gute Frage“, sagte er. „Vielleicht war es der Krieg, vielleicht die Erziehung. Aber wahrscheinlich ist es auch einfach nur ein Verschwinden, ein Untergehen. Sind nicht auch die Inkas einfach von der Bildfläche verschwunden? Wenn die steinernen Tempel nicht wären, was wüssten wir von ihnen? Und waren es wirklich Tempel? Tempel in unserem Sinne. Wir wissen es nicht. Der Sinn der Dinge verschwindet, wenn er nicht sorgsam von Mund zu Mund weitergegeben wird. Und wenn wir unsere eigene Geschichte nicht weitergeben, wird sie eines Tages von Fremden erzählt, so wie wir heute die Geschichte der Inkas erzählen. Vielleicht finden sie eines Tages noch ein paar unserer Knochen. Obwohl,“ er unterbrach sich, „es bei der Zunahme von Feuerbestattungen in der letzten Zeit, ein Glücksfall wäre. Aber ganz sicher finden sie unsere Müllhalden und werden sich fragen, warum wir Millionen von Aluminiumdosen vergraben haben.“

Ich hatte an der nächsten Ecke, um Geld zu sparen, zwei Döner Kebap und zwei Dosen Coca-Cola gekauft. So saßen wir, während es draußen langsam Nacht wurde, auf dem Rand unseres Bettes und versuchten, soweit es die wacklige Position der Einwegs-Packung auf unseren Knien zuließ, so zivilisiert wie möglich zu speisen.

„Darüber rede ich morgen“, sagte er schließlich und zeigte Richtung Koffer auf das Heft, das ganz oben lag. Ich verstaute die verschmierten nach Zwiebeln riechenden Verpackungen und die leeren Aluminiumdosen im Mülleimer. In jedem Hotel stand der Mülleimer im Bad, immer. Ich wusch meine Hände, putzte die Zähne und fuhr mir mit einer Handvoll Wasser durchs Gesicht. Als ich zurück ins Zimmer kam, lag der Alte auf dem Rücken und schlief mit offenem Mund.

Über das Leichte stand auf dem Manuskript, das zuoberst im Koffer lag. Ich gab es ihm, er las einige Zeilen und legte es dann weg.

„Ich erinnere mich“, sagte er. „Mach Dir keine Sorgen, heute werden alle zufrieden sein.“

Und in der Tat, waren die Gesichter während der Lesung am nächsten Tag freundlich und danach der Applaus entsprechend. Nur ich schien der Einzige gewesen zu sein, der dieses Mal nichts verstanden hatte. Als ich ihm dies, nicht ohne ein gewisses Schuldgefühl zu empfinden, gestand, sah er mich verschmitzt an.

„Mach Dir nichts draus“, sagte er. „Das Leichte ist gerade für die am schwersten, die viel denken.“

Lange lag ich wach. Fetzen seines Vortrags flogen mir durchs Gehirn, als wollten sie mich necken. Sie schienen genau das Gegenteil von dem zu sagen, was ich bisher von ihm gehört hatte. An Gott glauben oder nicht? Dieses sei kein Problem, hatte er gesagt. Wer es wolle, soll es ruhig tun und wer es nicht könne, der solle sich keine Sorgen machen, denn es kümmere Gott nicht, ob man an ihn glaube oder nicht.

Ich versuchte mir einen Gott vorzustellen, an den niemand glaubt. Er saß da und lächelte, denn es war ihm ja egal, was man von ihm hielt. Es war ihm sogar gleichgültig, ob er da war oder nicht. Nein, so konnte man das nicht sagen. Es interessierte ihn nicht, ob jemand glaubte, dass es ihn gab.

Was wäre das auch für ein Gott, so hatte der Alte gesagt, der von der Meinung der Leute abhängig ist! An dieser Stelle hatten einige gelacht, so verdutzt waren sie und dann klatschte der ganze Saal.

Kann Gott lächeln? Kann Gott sitzen? Wenn, wo säße er? Auf einer Wolke, auf einem Thron? Und wo, wiederum, stünde dieser Thron? Meine Fragen wurden immer absurder. Erst weit nach Mitternacht fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ich saß auf dem Rücken des Alten, der wie ein Brustschwimmer, die Wolken vor uns mit weit ausholenden Armbewegungen teilte. „Wo bist du? Wo bist du?“ rief ich.

Als ich erwachte, war der Alte schon im Bad. Als er schließlich fertig war und mich, noch benommen von meinen Träumen, im Bett sitzen sah, sagte er lachend: „Hier bin ich! Du hast im Schlaf gesprochen.“

„Stell Dir vor“, fuhr er fort, als wir schon am verkrümelten Frühstückstisch saßen, „dass du in deiner Hängematte im Mangobaum hängst. Ja, es kann gut der Baum sein, der oben auf dem Hügel steht und außer einem Termitennest an einem morschen Ast weiter oben, unzählige Insekten in seiner Rinde verbirgt. Doch diese gehen ihren winzigen Geschäften nach und belästigen dich nicht. Eine ständige Brise weht vom Meer her und sorgt für eine angenehme Kühle. Manchmal hebt sich der Ast, an dem deine Matte hängt und du schwingst leicht nach oben, ganz leicht, denn der starke Ast ist zu stark, um einer Brise leichtfertig nachzugeben. Du weißt das und hast die Augen geschlossen, schon lange. Warum solltest du auch etwas sehen wollen, von dem du weißt, dass es einfach da ist, so wie du selbst?“

Ich war der Aufforderung des Alten gefolgt und stellte mir diesen uralten Mangobaum vor mit seinen von keiner Hand gestutzten, fast bis auf den Boden reichenden Ästen.

„Und jetzt mach die Augen auf und stell dich vor den Baum.“

Ich kletterte wie geheißen aus der Hängematte.

„Jetzt,“ so hörte ich seine Stimme, „hast Du dich vor einen Baum gestellt, den du dir vorgestellt hast. Stell dich ihm jetzt vor!“

„Guten Tag,“ sagte ich zum Baum, „darf ich mich vorstellen?“

„Das ist nicht nötig,“ antwortete der Baum, „ich kenne dich. Du bist der, der immer zur Mittagszeit, wenn es am heißesten ist, in der Hängematte liegt.“

„Ja,“ sagte ich, „der bin ich, und wer bist du?“

„Ich bin der alte Mangobaum, so alt, dass selbst der Wind mich kennt.“

„Der Wind?“ Sagte ich und erschrak, denn der Alte hatte mich am Arm gefasst und meine sanft schaukelnde Hängematte abrupt angehalten.

„Siehst du, wie leicht es ist, sich einem Baum vorzustellen, den man sich vorgestellt hat? Aber du sollst es nicht übertreiben mit den Vorstellungen, die bekommen, wie du weißt, schnell ein Eigenleben.

„Ja“, sagte ich, etwas enttäuscht, denn ich hätte gerne noch länger in der Hängematte gelegen und mich von der Brise sanft schaukeln lassen.

„Was ist heute dran?“ fragte er. Ich verstand nicht gleich. „Was ist heute mein Thema?“

Ich warf einen Blick auf den Kalender und las, was dort unter dem heutigen Datum eingetragen war. „Die Zeit.“

„Ja, die Zeit,“ sagte er und schob sich den Rest des Croissants in den alten Mund.

„Die Zeit gibt es eigentlich gar nicht, aber ich will trotzdem darüber zu ihnen sprechen, denn sie wird immer knapper.“

So eröffnete der Alte seinen Vortrag, der heute schon auf siebzehn Uhr angesetzt war, denn das Seniorenstift, auf dessen Einladung er lesen sollte, hatte dieses zur Bedingung gemacht, um den Tagesablauf, zu dem ein Abendessen um neunzehn Uhr dreißig Uhr gehörte, nicht aus dem allen Insassen schon in Fleisch und Blut übergegangenen Rhythmus zu bringen.

„Das stimmt,“ rief ein Mann aus der letzten Reihe, die den Rollstuhlfahrern vorbehalten war.

„Aber wie kann etwas knapp werden, das es nicht gibt?“

Der Rollstuhlfahrer, der während seines Zwischenrufes den Oberkörper nach vorne gestreckt hatte, sackte verschämt in sich zusammen. Ich war schon in Sorge, dass der Alte die Antwort auf diese Frage selbst nicht wusste, denn sie stand nicht im Manuskript. Weder die Frage noch die Antwort. Aber anstatt das Rätsel aufzulösen, stellte er eine weitere Frage.

„Haben wir nicht alle jeden Tag vierundzwanzig Stunden Zeit? Und ist es nicht so, dass die Zeit manchmal nicht zu vergehen scheint, ja dass sie manchmal sogar stillsteht?“

Der Rollstuhlfahrer hatte sich wieder gefangen. „Das stimmt! Besonders des Nachts!“

„Aber warum?“ Der Alte schien einen Dialog mit den ungeplanten Zwischenrufen zu führen, ich wusste aber, dass er jetzt seinem Manuskript folgte.

„Die Zeit steht still, wenn wir stillstehen. Wer nicht läuft, dem läuft die Zeit nicht weg. Die Zeit kann nicht laufen. Noch nicht einmal unsere Uhren können laufen. Oder hat schon jemand eine Uhr laufen sehen?“ Einige der älteren Damen kicherten.

„Aber wenn wir unseren Terminkalender vollpacken. Wenn wir von einer Verpflichtung zur anderen hetzen. Wenn wir selbst in der Mittagspause noch Anrufe entgegennehmen und unsere Mahlzeiten in Arbeitsessen verwandeln, dann verfliegt die Zeit, wie ein flüchtig aufgetragenes Parfüm.“

„Oh“, sagte eine Seniorin und hielt sich rasch ein Tüchlein vor den Mund. Ich hatte schon bemerkt, dass die Damen in der ersten Reihe, Gefallen am Vortragenden zu finden begannen. Doch mittlerweile begann deren unsachliches Verhalten mich zu ärgern. Wie sollte der Alte sich konzentrieren können bei so einem Publikum! Aber er schien sich nichts aus dem Gekicher und dem ungehörigen Getuschel zu machen.

„Zeit ist Bewegung und Vergehen. Was ist ein Tag, wenn nicht eine komplette Drehung der Erde um ihre eigene Achse? Statt zu sagen: es sind vierundzwanzig Stunden vergangen, könnten wir genauso gut sagen: wir haben uns einmal mit der Erde gedreht. Zeit gibt es nicht, was es gibt, ist Bewegung. Und sie ist natürlich auch Vergehen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Vergehen und Entstehen. Werden und Verfall. Leben und Tod.“

Der Alte hatte die letzten Worte langsam und mit langen Pausen zwischen ihnen gesprochen. Jetzt hielt er inne und schlug eine Seite von seinem Manuskript um. Im Publikum rührte sich niemand.

„Obwohl es die Zeit also nicht gibt, wie einen Stuhl oder andere Dinge, benennen wir mit dem Wort Zeit den Strom der Ereignisse, die vor uns auftauchen, uns mitreißen und schließlich mit uns hinter dem Horizont verschwinden. Dabei kann die Zeit, obwohl es sie nicht gibt, verschiedene Formen annehmen.“

Ich hatte das Manuskript vorher gelesen und wusste, dass diese Stelle das Verständnis einer durchschnittlichen Hörerschaft übersteigen musste. Und da einige der Anwesenden schon weit über achtzig Jahre alt waren, war ich mir dessen in diesem Moment völlig sicher. Umso überraschter war ich, als jetzt eine der Damen, die zuvor gekichert hatte, Beifall klatschte, in den zuerst die in ihrer Nähe Sitzenden einfielen und dann der ganze Saal. Der Alte sah kurz in meine Richtung und, als es wieder still geworden war, fügte er eine Bemerkung hinzu, die wohl auf mich gemünzt war, denn, das muss ich zugeben, ich schien der Einzige im Saal zu sein, der den Satz nicht verstanden hatte, weder beim erstmaligen Lesen noch als ich ihn jetzt wieder hörte.