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Als einen unverbesserlichen Träumer bezeichnete der Surrealist André Breton den Menschen, nichts sei uns eigener als unsere Träume, konstatierte Friedrich Nietzsche, und Sigmund Freud meinte gar, mit der revolutionären Methode seiner Traumdeutung das Totenreich in Bewegung versetzen zu können. Wie jede Träumende weiß, ist der Traum ein Erleben intimsten Selbstseins im Gewand merkwürdigster Fremde, ein seltsames Zwischenreich unseres Seelenlebens.
Denn unsere Träume erzählen uns in einer unbekannten Sprache das Nächste und zugleich Fernste, sie wachen über uns und unsere Wünsche, sind ein riesiger unterirdischer See von Inspiration und Schaffenskraft, zugleich aber auch jene lebenswichtige, nächtliche Quelle, die uns zu vergessen hilft.
Anne Dufourmantelles Buch legt in prägnanten Skizzen noch einmal die kulturhistorischen Wurzeln des Traums frei und hebt die nicht zu unterschätzende Bedeutung des Träumens für das geistige Leben hervor. Ein engagierter Essay, der deutlich macht, warum gerade angesichts medialer Hyperpräsenz und allgegenwärtiger Rationalitätslogik die immense Kraft der Träume als ureigenste menschliche Intelligenz begriffen werden muss.
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Seitenzahl: 113
Veröffentlichungsjahr: 2025
I. Die Träume
In Gegenwart des Traums
Frontlinie
Große Träume
Kurze Geschichte der Wunder
Das Bekenntnis
Ein cartesianisches Erbe
Widersacher
Funktionsweisen des Traums
Vorzeichen
II. Vom Phantasma
Erscheinungen
Phantasma und Wunschbilder
Double
III. Kreative Intelligenz
Die Inspiration
Fürsprecher: Genien, Daimonen, Engel
Auslöschungen
Verkündigungen
Die Inspirierten
Heimsuchung und Kindheit
Zur Unzeit
Luzidität
Das Unverhoffte
Anmerkungen
A quien sabe lo que pueden los sueños
– Wer weiß schon, was Träume bewirken können
Der Mensch, dieser unverbesserliche Träumer André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus
Der Traum ist der Ursprung der Schöpfung, aber er ist nicht die Schöpfung. Es braucht eine Wandlung. Jean Gillibert, Interviews
Wir glauben, dass wir außerhalb unserer Träumen leben, aber gehen wir einmal vom Gegenteil aus: Wir haben sie nie verlassen, unsere Träume wachen über uns.
Der Traum ist reiner Verstand, pure Intelligenz. Mensch sein heißt nicht zuletzt, sich in jenen neuartigen Weltbezug einzunisten, der uns im Traum widerfährt. Wir sollten lernen anzuerkennen, dass der Traum nicht nur die geheime Chiffre unserer Sehnsucht ist, sondern dass er, in Übereinstimmung mit dem Realen, in der Nacht unserer Sinne unser Sein bestimmt.
Der Traum vermag unendlich viel: Er repariert, erinnert, prophezeit, er hört zu, warnt, terrorisiert, besänftigt, enthüllt, befreit. Und er erlaubt uns zu vergessen.
Der Traum ist eine einzigartige Weise der Vergegenwärtigung. Was er an lebenden und toten Wesen, Tieren, Gegenständen, Lichtern und Räumen in uns hinterlässt, gleicht der Kraft einer Offenbarung. Die Frage ist, ob wir diese Kraft aufzunehmen vermögen, ob wir eine Beziehung zum geträumten Rätsel der Welt aufbauen können, ob wir zulassen, wozu der Genius des Traums uns aufruft: uns bekehren zu lassen.
Du läufst auf einer Düne entlang. Eine riesige Welle am Horizont schiebt sich nach vorn. Es wird Nacht.
Vielleicht träumt man nur, um zu erfahren, was es heißt, ein Überlebender zu sein.
Der Traum schließt den Kreis eines Lebensabschnitts, nur um einen anderen zu eröffnen. Er ist Zeichen dafür, dass etwas geschieht. Weder ist er einfach ein Vorbote noch Inhalt einer Verdrängung, die den Fängen der Zensur entkommen ist. Vielmehr trägt er jenen Lebensweg, auf dem wir uns so schwer halten können. Er ist eine Darstellung von etwas, das das Bewusstsein zunächst nur in Bildern auszudrücken vermag … Die Traumwelt ist von dieser aus dem Herzen unserer Wirklichkeit geschöpften Fremdheit geprägt: Diese Landschaft, dieses Haus, diese Person – ja, ich erkenne sie wieder, und doch ist ihr Erscheinungsbild nicht mehr dasselbe. Sie sind zu »Negativen« einer Szene geworden, die von magischen oder schädlichen Lösungen durchtränkt ist, die das Denken entwickeln kann, um in ihnen einen Sinn auszumachen. Wie bei Schöpfern, denen ihr Werk vorausgeht, erscheint der Traum kurz bevor die Verwandlung statt hat, bevor sich die Chrysalide öffnet. Manchmal auf dramatische, manchmal auf wunderbare, aber fast immer auf unheimliche Weise offenbart sich, was in uns präsent zu werden beginnt.
Lässt der Traumverstand unser bewusstes Leben nicht dem Gang eines Blinden auf einer Klippe ähneln? »Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewusstseinsgrad?«, schreibt Breton im Ersten Manifest des Surrealismus, »Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Fragen des Lebens dienen? […] Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Realität in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.« 1 Scheinbar, ja. Man hat gesagt, der Traum sei eine gespenstische Kraft, die eine verbotene Wahrheit wiederherstellt, man hat gesagt, er komme aus Krypten und Gräbern, er entstehe direkt am Grund der Ohnmacht, der Angst, der Grausamkeit und der Scham. Man hat uns glauben lassen, dass seine Zusammensetzung Auskunft über unsere Leidenschaften und Verbrechen gibt… Seit jeher wird ihm eine Klarsicht zugeschrieben, die uns entweder retten, oder – wer weiß? – in die Irre führen kann. Aber wissen wir überhaupt, in und mit welcher Zeitlichkeit der Traum operiert? Ist er unser Werk oder das Werk nächtlicher Ahnungen?
Der Traum ist ein Ereignis: Er findet statt, und doch ist er unerreichbar. Er spricht von uns, doch bedarf er weder unseres Bewusstseins noch unserer Aufmerksamkeit oder unseres Denkens. Der Traum kommt und vergeht, er lenkt uns vom wachen Leben ab, aber auch vom Schlaf, von seiner lebendigen Tiefe. Er ist diese Flucht, die Dauer einer Nacht, die keine Macht der Welt verhindern kann.
Ein Haus aus deiner Kindheit. Du entdeckst unbekannte Zimmer. An der Schwelle zum letzten steht mit Kreide geschrieben: Segelboot. Die Silben sind durch Leerzeichen getrennt.
Ohne den Traum würden Leben und Tod in eins fallen, weder Raum noch Zeit lassen, das auszusagen, was auf zerbrechliche, aber eindringliche Weise von dorther spricht, wo wir sind, und was uns selbst unbekannt bleibt. Der Traum eröffnet die Möglichkeit einer anderen, vertikalen Zeitlichkeit, die dennoch dieses Leben, diese Zeit durchquert. Was wäre ein Leben, das nicht ein anderes Leben in sich bärge?
Wolken kann man nicht bauen und deshalb wird die erträumte Zukunft niemals wahr, sagt Ludwig Wittgenstein. Der Traum ist eine vergangene Zukunft, bei der es nicht darum geht, etwas vorherzusagen, sondern darum, das, was wir für stumm oder für nicht möglich halten, neu zu ordnen, ein Ziel aus einer verlorenen Handlung heraus zu erzählen. Er wirkt in uns ein wenig wie eine Kraft, manchmal voller Angst und Gewalt, die kommt, um die Vergangenheit aufzutrennen, um sie auf andere Weise bewohnen zu können. Der Traum sagt nicht, was geschehen wird, er eröffnet einen anderen Weg. Wenn ich nicht träume, habe ich keinen Ort in mir, an dem die Zeit sich entfalten kann. Die Zeit ist so etwas wie das Blut des Traums.
Der Traum ist eine Ent-Setzung der Zeitlichkeit, dessen, was seit Kant letztlich die Grenzen begründet, in denen sich die Subjektivität denkt.
Er, der dich ansieht, gleicht dir. Er ist weder feindselig noch wohlwollend. Warum hast du Angst?
Seit langem hat sich die Menschheit in ihren Träumen selbst erdacht – eine lebenswichtige, kulturstiftende Verbindung, eine Erzählung, die ein kollektives Bewusstsein, eine Gemeinschaft zu stiften vermag. Welche Erzählung erlaubt Gemeinschaft? Träume eben; der Versuch, diese zu erhellen, um Spaltung und unterschiedlichen Begierden zu überwinden. Ein Traum ist nicht notwendigerweise an einen einzigen Menschen gerichtet. Er hat dieses Vermögen, geteilt werden zu können – andere als ich könnten ihn geträumt haben. Außerdem scheinen uns die Gegenstände im Traum nie wirklich zu gehören, unsere eigene Identität dort nie gesichert zu sein… Das Thema des Doppelgängers, das in Literatur und Film so präzise durchdekliniert wurde, rührt zweifellos von dieser ursprünglichen Verdopplung des Subjekts im Traum her. Der Traum vereint sowohl im Schrecken wie in der Entzückung. Auch haben wir nicht selten die gleichen Ängste… Wir träumen von Anfängen, von Erfüllungen. Die Armut unserer Träume gibt auch Aufschluss darüber, wo wir stehen…
Einige heute verschwundene Kulturen standen in enger Beziehung zu Träumen, was voraussetzte, dass man sich weder vor dem Tod noch vor der Kindheit fürchtete. Die Weisheitsbücher Oberägyptens, die gelehrten Schriften Mesopotamiens, des alten China, der präkolumbianischen Völker, die indischen Veden, die biblischen Schriften wie heute die Mythen der Aborigines, der Völker Melanesiens und Amazoniens begriffen den Traum als Wiege, in der die Welt ruht. Jene, die wir Schamanen nennen, bewahrten sich eine Nähe zu den Gefilden des Traums, potenziell unendlich in seiner Entfaltung von Bedeutungen, Bildern und Wahrnehmungen, die wir in unseren Breitengraden verloren haben. Das Besondere am Schamanismus ist, dass er ein Gegenüber anruft, das eigentlich nicht mit uns sprechen kann: Gegenstände, Verstorbene, Mächte, Symbole, Tiere…
Ein Pferd steckt bis zum Widerrist im Schnee. Der Schnee fesselt es, es kann nicht mehr vorwärts. Die Wirkung seines Blicks weckt dich. Dein Vater ist am Ende des Krieges in Rom gestorben. Man hat dir gesagt, dass er nicht durch feindlichen Beschuss umgekommen ist, sondern vom Gewicht seines Pferdes erdrückt wurde. Du trägst seinen Vornamen.
Wie verhält es sich mit dem Tier, das träumt, dem Baum, der träumt, dem Stein, der träumt? Jacques Derrida stellte in einem seiner letzten Seminare die Frage nach dem Blick des Tiers. Hat sich die Philosophie – und erst recht die Psychoanalyse – jemals für das Träumen der Tiere interessiert: Wir sind von ihm durchdrungen und wollen zugleich nichts von ihm wissen. Traumgebiete sind ihm sicherlich nicht unbekannt, nur bewahrt es das Geheimnis ihrer Sprache in sich. Es kann seine Träume nicht erzählen. Das Tier, dieser unendliche Träumer, ist unser Rätsel… Und was ist mit uns, was heißt es für uns, dass wir träumende Tiere sind? Als ob ein sprechendes Wesen zu sein bedeutet, sich seine Träume erzählen zu müssen…
Lange wurde der Traum mit der Gabe der Vorsehung in Verbindung gebracht. Er war eine göttliche oder teuflische Prophezeiung, auf jeden Fall eine Botschaft. Ähnlich den Erinnerungen und Sternbildern, den im Sand entzifferten Spuren, dem Vogelflug, der Bahn des Lichts und den Eingeweiden von Opfertieren verkörperte der Traum die Matrix Gottes oder der Natur. Man musste ihn mittels Worten herauslesen, ihm zuhören und ihn teilen, um ihn zu erhellen und den Träumer von der Last, die er darstellte, zu befreien. In gewissem Sinne grenzt der Traum an die Tat, die dazu bestimmt ist, das Trauma aufzudecken… Auch er stellt eine Figur an die Stelle des Undarstellbaren; er realisiert ein Drehbuch um die Wahrheit. Er lüftet das Geheimnis.
Eine Frau liegt verletzt am Boden. Sie ruft dich um Hilfe. Du weißt, dass sie sterben wird, wenn du nichts unternimmst. Man reicht dir ein Messer, ein Spielzeugmesser. Einige Wochen später kommst du bei einem Unfall gerade noch mit dem Leben davon.
Voraussagungen erfüllen eine wesentliche Funktion. Sie erhalten die Trennung zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, der göttlichen und der monströsen Welt aufrecht. Sie fordern Fürsprache, Entzifferung, Lektüre. Als habe der Traum in der Geschichte unsere Leidenschaft zur Deutung hervorgerufen. Seit Homer ist er Gegenstand und Träger einer hermeneutischen Tradition. Eben weil er die greifbare Präsenz einer radikalen Andersartigkeit unseres Wesens ist, die doch so wenig mit ihm verbunden ist, konnte man glauben, dass der Traum – neuronal oder spektral, in jedem Fall aber unserem Bewusstsein fremd – sein gänzlich eigenes Leben in uns lebt.
Auf dem Boden sind Blumen verstreut. Wie sie so auf dem Boden liegen, hast du das Gefühl, auf einen lebenden Körper zu treten. Du hörst jemanden zu dir sagen: »Halt! Bleib stehen, sonst verschwindet alles.«
Der Traum gewinnt seine visionäre Kraft durch das Flechtwerk des Tages hindurch. Man kann jemanden in den Wahnsinn treiben, indem man ihn am Träumen hindert; in Folterkammern hat man diese Macht zu nutzen gewusst. Rechtzeitig auf seine Träume zu hören, kann einem auch das Leben retten… Denn der Traum hat eine besondere Beziehung zur Zeit: Er setzt sie außer Kraft, indem er uns Zugang zu einer anderen Zeitlichkeit verschafft. Freud sagt, das Unbewusste sei zeitlos, es kenne keine Zeit. Zwischen der Zeit der Erinnerung und dem Traum gibt es keine Entsprechung. Der Traum ist frei von den Bedingtheiten der Zeit, so wie er es in Bezug auf die Sprache, das Begehren, die Vernunft und selbst die Affekte ist. Diese Freiheit ist unvergleichlich und es ist von entscheidender Bedeutung, ihr wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Dazu musste die Psychoanalyse entdecken, dass es die Triebe sind, die den Traum durchdringen. Sie entriss die Träume dem Mythos, der sie nur als Vorhersagen oder Beschwörungen, Gebete oder Akte der Befreiung denkt, und begann aus ihnen nicht das Schicksal eines Individuums oder eines Volkes herauszulesen, sondern vielmehr die geheimnisvolle Bahn des Begehrens eines Subjekts, das sich immer wieder entschließt, dieses zu ignorieren.
Die Grenze des Traums ist eine Frontlinie. Er ist der Bote eines unbekannten Krieges.
Sich auf die Begegnung mit einem Traum einzulassen bedeutet, feindliche Linien zu überqueren, noch bevor man ein Bündnis eingehen kann. Es bedeutet, ein von den Überresten eines totgeschwiegenen Krieges besiedelte Gebiet zu betreten, dessen Echos die gegenwärtige und zukünftige Realität prägen. Dort sind unsere Ängste unser Feind, unsere Zugeständnisse, unsere Verleugnungen, aber auch unsere familiären Bindungen und sozialen Konditionierungen, die ganze uns durchdringende Geschichte. Dieser Krieg ist ein aus dem Bewusstsein des Subjekts verbannter Konflikt, dessen Protagonisten ihm unbekannt sind und dessen Einsatz und Ursache es ignoriert. Der Traum ist ein Akt des Widerstands in diesem Krieg. Er erhellt den Träumer unter Einsatz seines psychischen Lebens, indem er Verbote und Zensurinstanzen umgeht.
Die Suche nach der Wahrheit verläuft entlang dieser Frontlinie. Denn der Traum verschiebt ihre Fragestellung radikal. Er weist auf andere Wege als die, die der Träumer normalerweise in seinem Leben einschlägt: die Gründe, die er für seine Entscheidungen, Wünsche und Befürchtungen angibt. Die Wahrheit ist immer das Schlimmste, das man befürchten muss. Die Offenheit, zu der sie uns aufruft, bringt unsere Alibis, Entschuldigungen und Dummheiten zu Fall: Sie erschreckt uns. Aus eben diesem Grund muss der Albtraum, die Heimsuchung durch den Schrecken, nicht als das Gegenteil der Wahrheit, sondern als ihre direkteste Übersetzung verstanden werden.
Eine Klinge zerteilt das Neugeborene. Eine Menschenmenge um dich herum hindert dich daran, es in die Arme zu nehmen. Das Kind beginnt zu sprechen. Weil es spricht, weißt du, dass es gerettet ist.
Kein menschlicher Traum kommt ohne seinen Übergang zum Erzähltwerden aus. Die Menschlichkeit des Traums liegt darin, dass er zunächst Geschichte, dann literarische Übertragung wird. Dies ist in gewisser Weise eine »Onirographie«. Durch diese verwandeln wir den Traum in eine Geschichte, die uns gehört.