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Muss man alles zeigen, alles sehen, sagen und kennen? Angesichts eines immer blinderen Vertrauens in den Nutzen von Wissen und Information und entgegen der scheinbar unabweisbaren Forderung nach Transparenz auf allen Gebieten, verteidigt Anne Dufourmantelle das Geheime, das Verborgene, das Ungewusste und Rätselhafte als unverzichtbare Ressource menschlicher Existenz. Ebenso behutsam wie eindringlich entwirft sie Elemente einer Ethik des Geheimnisses im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Kontrolle und privater Sphäre jedes Einzelnen.
Anne Dufourmantelles Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Geheimnis als Schutzmauer des Eigenen und lebenswichtige Quelle innerer Freiheit sowie ein Manifest für ein noch nicht entzaubertes Wissen als notwendiger Horizont einer umfassenderen Wahrheit.
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Seitenzahl: 139
Verteidigung des Geheimnisses
Anne Dufourmantelle
Aus dem Französischen von Luzia Gast
DIAPHANES
Titel der Originalausgabe:
Défense du sécret
© 2015, Éditions Payot & Rivages
© DIAPHANES, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-0358-0218-4
Satz und Layout: 2edit, Zürich
Druck: Steinmeier, Deiningen
www.diaphanes.net
Vorbemerkung
I Erinnerungen an das Geheimnis
Ursprünge
In der Krypta
Etymologie
Als das Geheimnis erscheint
Okkulte Macht
II Die Leidenschaft für das Geheimnis
Den Schleier lüften
Das Uneingestandene
Ein Schatz, ein Gift
Entstehungen
Erste Geschichte
III Sein und Haben
Letztes Geheimnis
Eingesperrte Körper
Erotik
Zweite Geschichte
Dritte Geschichte
IV Transparenz und Wahrheit
Verletzungen
Verheimlichen, Verschleiern, Verbergen
Überwachung
Anpassung
Trugbilder
Big Data, Geschwindigkeit, die Spirale
Archivierung
Geheimgesellschaften
Das Geheimnis als Bündniskraft
V Eine Ethik des Geheimnisses
Panoptikum: Bentham, Kant, Constant
Was sich nicht aneignen lässt
Macht des Kreativen
Geheimnis der Träume
Sex und Gebet
Geheimnis der Sterne
Eifersucht
Theorie des Komplotts
VI Auf das Mysterium zu
Geheime Natur
Schleier
Erbschaften
Vertrauliches
Einen Teil für sich
Geheimnis der prophetischen Stimme
Opfer
Der mysteriöse Teil
Für Mathieu Terence
Ein Kind spielt Verstecken. Es versteckt sich hinter einer Tür. Auf der anderen Seite unterhalten sich zwei Erwachsene. Sie äußern sich beunruhigt über seine Entwicklung. Die Enthüllung geschieht ganz beiläufig, als wäre es eine Banalität. Das Kind ist wie gelähmt. Es hat verstanden. Hinter diesen Moment kann es nicht zurück. Die Zeit ist unumkehrbar, das Wissen auch. Eine Stimme, ganz nah, ruft: »Ich hab’ dich!« Das Kind kommt aus seinem Versteck. Es ist für immer verwandelt. Das andere Kind, das es gesucht hat, weiß von nichts. Auch die Erwachsenen hinter der Tür nicht, die jetzt nichts mehr sagen.
Es spielt nicht mehr.
I
Psychoanalytikerin zu werden heißt, sich auf die Seite des Geheimnisses zu begeben. Sich für das Halbdunkel zu entscheiden, für eine heimliche Reise in die Stille, für immer Migrant zu bleiben. Der lateinischen Etymologie zufolge ist das Geheime, secretus, ein Fernhalten, auf Abstand halten, etwas »zur Seite Gelegtes«, »Reserviertes«. Gemäß dem sanskritischen kris, griechisch krisis, entstammt die Notwendigkeit des Geheimen der ursprünglichen Trennung von Göttern und Menschen. Das Geheimnis, der Schwur und das Heilige haben alle drei einen Bezug zum Unsagbaren, alle drei sind im Gedächtnis der Sprache unauflösbar miteinander verbunden. Die gleichen Grenzen, die das Göttliche vom Profanen, die Toten von den Lebenden, die Nacht vom Tag, das Wort vom Schweigen, das Intime von den anderen trennen, regeln auch die menschlichen Gemeinschaften. Das Geheimnis löst sie auf.
Die psychoanalytische Sitzung hat von der christlichen Beichte die Struktur von Geständnis und Vergebung übernommen, nicht aber die Vorstellung des Bekenntnisses einer unter den Augen Gottes begangenen Verfehlung.
Der Analytikerin »alles zu sagen« ist keine Aufforderung zu einer trügerischen Einsicht in sich selbst, noch geht es darum einzugestehen, was von der Allgemeinheit gerade für gültig erachtet wird, überhaupt geht es nicht darum, irgendetwas zu bekennen. Es ist vielmehr eine Einladung zu einer riskanten Wette, sich von eingeprägten, aus einer Leidenszeit stammenden Verhaltensmustern befreien und andere, lebendigere, offenere Handlungsräume entwerfen zu können – so, wie zwei Orchestermusiker sich über die Interpretation einer noch unbekannten Partitur verständigen. Wo Angst regierte, wo Symptome das tägliche Leben beherrschten, wo alle Zukunft sklavisch an der Vergangenheit hing, ist da Befreiung möglich? Die Kammer der Geheimnisse macht dem Platz, was nie erzählt oder enträtselt werden wird: dem Mysterium.
Das Hinterfragen der eigenen Geschichte führt nicht unbedingt zu Enthüllungen, wohl aber zu Sinnverschiebungen, welche die Last des Fluchs und jene Logik, die die Gewalt dieses Fluchs immer weiter fortführt, aufzuheben vermögen. Selbst wenn Geheimnisse machtlos geworden sind, kehrt ihre Toxizität doch manchmal mit aller Gewalt zurück. Wie wir selbst, sind auch sie in ständigem Werden, in einem steten Wandel begriffen, den nicht einmal die gefrorene Zeit des Traumas unterbricht. Noch Momenten nacktester Angst wohnt eine Möglichkeit zur Verwandlung inne.
Den intimen Raum des anderen zu respektieren heißt, sich mit der Nacht zu verbünden, ihr keine Grenzen zu setzen, den Gedanken zuzulassen, dass das Licht nicht das Gegenteil der Finsternis ist, sondern ihr geheimster Verbündeter, es bedeutet, in geheimen Taten, Gedanken, Gefühlen nicht eine Bedrohung, sondern, im Gegenteil, die Voraussetzung für diese Beziehung zu erkennen. Wie der Traum ist das tiefste Innere die Quelle einer Intelligenz, bei der wir eher Empfangende denn Befehlsgeber, mehr Deuter denn Schöpfer sind.
»Ich sage dir jetzt etwas, das du niemandem weitersagst…« Jemandem etwas anzuvertrauen ist eine Einladung in das intimste Innere eines Menschen. Ein solches Auserwählen ist aber auch ein Fernhalten. In gewissem Sinne ist man bei einem Geheimnis immer zu dritt: der Hüter, der Zeuge, der Ausgeschlossene. Diese wesensmäßige Dreiheit kann sich jederzeit entzünden, in Eifersucht, in Machtkämpfen. Vor jedem Anvertrauen aber gibt es noch ein verborgenes Wort, das von Ich zu Ich wandert. Das Echo unserer inneren Stimme, unserer intimen Geständnisse im Traum streut seinen Samen bis ins tiefste Innere. Seit unserer Kindheit ist diese immense Reserve eine Quelle des Schöpferischen, von Freiheit und Freude. Und aus genau diesen Gründen wird sie unterdrückt.
Ja mehr noch: Unsere heutige Zeit hegt eine regelrechte Aversion gegen sie. Als zeitgemäß erscheint, sich von Momenten des intimen Selbstverhältnisses abzuwenden. Die Stille weicht dem Lärm, dem unablässigen Geschwätz und der Omnipräsenz der Bildschirme, die alle Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen. Fast alle unsere Sinne werden mobilisiert. Die vielfältigen Formen des Gebets, das Horchen auf die innere Stimme und das Betrachten der inneren Wunschvorstellungen – von der ungezwungenen Träumerei bis zur Langeweile –, das Schreiben eines Briefes und das Warten auf die langersehnte Antwort: All dies sind Wege des Geheimnisses, die einen Horizont grenzenloser Immanenz eröffnen.
Ob in den heimlichen Schlichen der Götter oder der militärischen Geheimhaltungspflicht, ob bei erotischen Vertraulichkeiten oder dem Verschleiern eines Verbrechens, die Wahrheit pflanzt Momente des Schweigens direkt in unser Leben. Warum wird mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten, warum wird sie unbedingt zurückgehalten, wenn es um Macht, Liebe, Eingeweihtsein geht?
Unser Wortgebrauch zeugt von einer Vielfalt an Geheimnissen. Auf geistiger Ebene sind es vor allem erotische Träumereien, Gedanken, Gefühle oder Sinneseindrücke, im geschäftlichen Bereich verdeckte Provisionen oder geheime Transaktionen, in der Dingwelt begegnet man ihnen in Form von Sicherheitsschlössern, Geheimtüren, verborgenen Treppen, unvermuteten Zugängen. Im Dunstkreis der Weihe und des Rituals nimmt das Geheimnis die Gestalt von Gebeten, Observanzen, heiligen Schriften an. Diese Konstellation des Geheimen reduziert es letztendlich auf ein Haben, dabei geht es doch in grundlegender Weise um das Sein.
Es ist die Psychoanalytikerin in mir, die sich mit diesen Fragen beschäftigt, die tagaus, tagein heimlichen Gedanken, verbotenen Phantasien, Geständnissen lauscht, all dem, was man in normalen Gesprächen nicht sagt. Was für eine seltsame Leidenschaft, Mitwisserin von familiären Intrigen, Szenen unüberwindbarer Scham, von Betrügereien, Denunziationen, verheimlichten Kindern, aber auch von unaussprechlichen Freuden, einer Liebe, eines Versprechens zu sein. In welche Krypten darf eine Analytikerin hinabsteigen, um dort schließlich auf eine ausgesprochene Wahrheit zu stoßen! Aber vielleicht geht es auch um ein ganz anderes Geheimnis? Sind es wirklich die seit der Kindheit mehr oder weniger absichtlich verheimlichten Dinge, die unser Leben prägen, oder nicht vielmehr das in jedem von uns tief Verborgene, dessen Existenz wir leugnen? Man muss hier von jener Grenzlinie ausgehen, die das Bewusste und das Unbewusste trennt, oder vielmehr – weil ich die Bereiche des Psychischen nur ungern substantiviere – von jener Linie, die die Grenze zwischen Bewusst-Werden und Verheimlicht-Werden markiert. Schließlich kann man auch unwissentlich der Hüter der eigenen Geschichte sein, jenes Geheimnisses, das über einen selbst wacht.
Das Christentum hat einen Zwischenbereich geschaffen, in dem Heiliges und Profanes nicht gänzlich getrennt sind und wo »unser entblößtes Herz« für Gott lesbar ist. Der Raum dieser Intimität, in dem das Göttliche sich spiegelt, lässt Grenzen zu, die auf andere Weise unantastbar sind als jene, die unser soziales Leben bestimmen, führen sie doch in den eingefriedeten Bereich unseres Innenlebens. In den Verkündigungen des Fra Angelico bleibt die Einfriedung verborgen, die den Garten von jenem Ort abtrennt, wo der Erzengel Gabriel zu Maria spricht. Verborgen ist der Pfad, auf dem Vergil durch die waldige Wildnis in Dantes Hölle geht. Verborgen ist das dem Eingeweihten versprochene Wissen. Verborgen ist das, was dem Blick entzogen nur auf Umwegen erscheint: der Schädel der Anamorphose, der in einer Partitur eines Liedes verschlüsselte Name einer Liebe, das Siegel eines Bundes, der zwei Wesen einander von den anderen gesondert verpflichtet. Verborgen ist der Grund eines Eids, der gerade deshalb auch verraten werden kann.
Im Alten Testament ist der Ort des Geheimnisses das Buch Esther (der Name bedeutet »verborgen«). Es bindet den mittelalterlichen Rechtsbegriff des for (das forum internum, das tiefste Innere, das Gewissen) an die Stimme des Dichters und des Troubadours, an den geistlichen Gesang und derart an eine Erkenntnissuche. Für die Romantiker wurde es zum Spiegel der Seele, in der sich wiederum die Welt spiegelt. Im 20. Jahrhundert ist es ein wie ein Packen strukturiertes Unbewusstes, das den Ausdruck dieses Inneren erneut eingeschlossen hat. Auf den Trümmerfeldern der beiden Weltkriege sind neuartige Überwachungstechnologien erwachsen: mediale Diskurse, digitale Speichermedien. Die Tyrannei eines Rechts auf Wissen geht einher mit dem Ressentiment eines Kollektivs, das sich getäuscht fühlt.
Als in den Texten des Mittelalters um das 12. Jahrhundert herum das Wort segreda/segretus auftaucht, bezeichnet es zunächst die Trennung der Spreu vom Weizen nach der Ernte und im übertragenen Sinne ganz allgemein jede Form des Absonderns: Aborte, Geheimfächer, Briefe. Von da aus werden diese Winkel des verborgenen Lebens zu etwas, das sich im Körper selbst verbirgt, sich erotisch auflädt. Das secret der Dame ist die Intimität, mit der sie ihren Ritter »küsst«. Vom »Anblick« zur Berührung ist das Geheimnis das Attribut dessen, was im Begehren selbst im Verborgenen bleiben muss. Aber zugleich vergeistigt es. Es bezeichnet das Göttliche, mehr noch, den Eid und das Heilige, die durch die Sprache (sacramentum) zu dessen Vorrangstellung beitragen. Das vom Mystiker mit Gott geteilte Schweigen gehört diesem an.
Das Geheimnis ist weder Rätsel noch Mysterium, auf die es gleichwohl verweist. Rätsel und Mysterium fallen eher in den Bereich der lateinischen occulta als unter das Abgesonderte der segreda. Das Rätsel ist ein durch Wissenschaft oder Experiment noch nicht entschleiertes Wissen. Und ist das Mysterium nicht die entscheidende Chiffre, die ihre unverbrüchliche Dauer stets erneuert?
Wenn man noch hinter das segreda/sacramentum zurückgeht, stößt man auf die griechische krisis und das kris aus dem indoeuropäischen Sanskrit. Derart abgründige Etymologien werfen Fragen auf: Ist das, was das Geheimnis begründet, etwas Weltliches oder vielmehr eine unsichtbare, unsagbare Wirklichkeit? Ist das Geheimnis bereits eine Figur unserer menschlichen Innenwelt, so wie für uns Heutige, oder besteht das Wesen der Welt darin, geheim, verborgen zu bleiben? Für die Griechen bleibt dem Menschen sein Schicksal, das sich seiner über die verschlungenen Wege widerstreitender Leidenschaften bemächtigt, unbekannt. Es ist der blinder Seher Teiresias, der Laios hinterbringt, dass sein Sohn Ödipus ihn töten wird. Die Verfehlung besteht in der Weigerung des Königs von Theben, dieses Wissen anzunehmen, das die Götter ihm anvertraut haben und gegen das er nichts ausrichten kann. Anstatt irgendetwas damit zu »machen« oder sich darauf vorzubereiten (das Schicksal zu bejahen bedeutet für die Griechen, sich von ihm zu befreien: Das Unabwendbare zu erfüllen ist nicht das Gleiche wie es zu erleiden; nichts anderes sagt auch Freud), entledigt sich Laios des Kindes, indem er einen Diener anweist, es fern von seinen Blicken umzubringen. Wie die Geschichte ausgeht, ist bekannt… Nur die innere Versenkung kann den Menschen aus der Herrschaft seiner Leidenschaften, von der Verführung des äußeren Scheins befreien und dem Suchenden Ruhe spenden. Für die Griechen ist das Geheime und Verborgene das Wesen der Welt selbst (worauf sich Heidegger mit seinem Wahrheitsbegriff bezieht). Am Ende von Ödipus auf Kolonos geht es erneut um ein Geheimnis, um eines, das niemandem, nicht einmal der Lieblingstocher Antigone verraten werden darf, jenes Geheimnis, das Ödipus Theseus anvertraut. Es ist das Geheimnis vom Ort (und der Art) seines Todes. Ein Punktum und »letztes« Geheimnis, auf das jedes menschliche Leben stößt.
In seinem Seminar über die Gastfreundschaft hinterfragt Derrida diesen Sterbeort des Ödipus, der nicht enthüllt werden darf. Das Geheimnis als »Augenblick des gesprochenen Worts« stellt eine Verbindung zwischen Ödipus und Theseus her, ist aber auch, da die Töchter nicht wissen dürfen, wo Ödipus sterben wird, das Unaussprechliche eines unbetretbaren und heiligen Ortes. Sophokles’ Tragödie ist wahrhaft »hellsichtig«, wenn sie uns als Inhalt des Geheimnisses, als Gegenstand einer möglichen Macht genau das anbietet, was uns entgeht: die Stätte des Todes selbst, das, was jedem Einfluss, jeder Macht entgeht – die reine Immanenz des Augenblicks des Todes in Exil und Irrsal.
Ödipus hat sich die Augen ausgestochen, weil er die Wahrheit kannte, sich aus Hochmut aber als Herr über sein Schicksal wähnte. Wenn der Kosmos einen Helden zum Spielball gefährlicher Leidenschaften macht, dann setzen die Götter alles daran, den Irregeleiteten an den Ort zurückzuverweisen, der ihnen angemessen erscheint. Die griechische Ethik ist eine Ethik des Richtigen, sie setzt die Fähigkeit voraus, sich an einen inneren Gleichmut zu halten, der keine subjektive Dimension, sondern eine universelle Regel ist. Was für die Gesetze der Menschenwelt gilt, gilt auch für die Naturwelt. Wer sich den Göttern ebenbürtig glaubt, der verfällt der Hybris (dem Unmaß), so wie Epimetheus, als er die Büchse der Pandora öffnet. Sämtliche darin verborgenen Übel der Schöpfung ergießen sich aus ihr über die menschliche Gattung, einzig die Hoffnung verbleibt in der Büchse.
In der Genesis ist der Mensch, der dafür bestraft wurde, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben, in die Endlichkeit eingetreten. Bei den Hebräern ist all jenes Wissen geheim, dessen Weitergabe Fortbestand und Wert sichert. Es gibt eine Ethik und eine Verantwortung für das, was »verborgen« bleiben muss, wie der unaussprechliche Name Gottes. Eine solche Ethik bindet die Menschen sowohl an das Abenteuer der Erkenntnis wie an die freiwillige Entsagung allen Wissens. Denn in seiner Gesamtheit gehört es nur Gott.
Die Überlieferung der jüdischen Hermeneutik und des Talmud zeugt von der kreativen und normativen Macht dessen, was entzogen bleiben muss. In der Bibel findet sich das Bild des doppelten Vorhangs, der im Tempel das »Heilige« vom »Allerheiligsten« trennt. Dieser Vorhang grenzt einen für den Normalsterblichen unbetretbaren Raum ab, eine Stätte, die er hüten muss. Dieser Vorhang wird von der christlichen Überlieferung dann nach innen, in die unverletzliche innere Festung verlegt. Die zur Konversion gezwungenen Marranen praktizierten ihren jüdischen Glauben im Geheimen. Ein öffentliches Bekenntnis ihres stillen Auserwähltseins wurde mit dem Tod bestraft. Gewisse Rituale waren eigens dafür da, Überleben und Widerstand zu gewährleisten, sodass deren Weitergabe nur im Geheimen erfolgen konnte.
Jedes neue Wort lässt eine ganze Welt entstehen. Während des christlichen Mittelalters wurde die Figur des Geheimnisses nicht mehr nur als Weltordnung, sondern als das Innenleben eines Subjekts begriffen. Die innere Festung, das innerste Innere war jener Herzensort, den nur Gott allein kannte. Selbst während der Inquisition und unter Folter konnte jede Person sich auf das unverletzliche Geheimnis dieser inneren Festung berufen, in die nur Gott Einsicht hatte. Dies war eine Revolution, die nach und nach aus allem »Intimen« einen Wert und aus jedem Einzelnen ein Wesen machte, das zuallererst sich selbst und erst in zweiter Linie der Welt angehört. Eine philosophische Tradition von Augustinus über Abelard, Duns Scotus und Pascal bis hin zu Kierkegaard sucht das Singuläre in einer Beziehung zum anderen und nicht mehr in der Immaterialität des Seins. So wird auch im Roman des Mittelalters das Geheimnis zur wesentlichen Triebkraft des Dramatischen und rückt in seiner kathartischen Funktion in den Blick. Das aufzuschreiben, was eigentlich verschwiegen werden soll, das Verborgene zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, bildet eine tiefgreifende soziale Überschreitung. Geheimnisse weiterzugeben bedeutet, auf das Verbotene zuzugreifen. Ab dem 12. Jahrhundert vertieft sich der Widerstreit zwischen einem Innersten (einem jeder Rechtssprechung entzogenen, nur dem Anblick Gottes unterstellten Bezirk, dem forum internum) und einer sich verändernden Rechtspraxis, die voraussetzt, dass Zeugenaussagen unter dem Siegel der Wahrheit erzwungen und durchgesetzt werden können. So kommt beispielsweise die Frage auf, unter welchen Bedingungen das Beichtgeheimnis aufgehoben werden darf. Diese und andere Fragestellungen rühren an die Fundamente der Selbstbestimmung des Individuums zwischen Gehorsam und Aufbegehren.
Zwischen Heimlichkeit und Intimität, Unzugänglichem und Offenbartem, Verschwörung und öffentlicher Enthüllung ist das Geheimnis zum Schlüssel individueller Identität geworden, während es in der griechischen und römischen Gesellschaft den Göttern und Gesetzgebern vorbehalten war und letztlich die unveränderliche Weltordnung widerspiegelte.
Es gibt noch ein Wortfeld, in dem sich – nach wie vor an der Schwelle zum 12. Jahrhundert – die Vorstellung vom Geheimen ausdrückt: nämlich das Okkulte, von lateinisch occullere (von ob/colere