Lob des Risikos - Anne Dufourmantelle - E-Book
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Anne Dufourmantelle

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Beschreibung

„Das Risiko ist der alles entscheidende Augenblick.“ Anne Dufourmantelle. Im Risiko, im Unvorhersehbaren liegt eine ungeahnte Kraft. Wenn wir etwas wagen, ohne zu wissen, wo es uns hinführt, können wir nur gewinnen: Handlungsräume, Kreativität und Selbstbestimmung. Das größte Risiko unseres Lebens ist und bleibt die Liebe. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle hat stets nach dieser Maxime gelebt. Als sie im Sommer 2017 zwei Kinder vor dem Ertrinken rettete, hat sie ihr eigenes Leben riskiert – und verloren. Dieses Buch ist ihr Appell, die Fenster aufzureißen, um das Ungewisse in unser Leben zu lassen. „Ihre Worte, ihre Intelligenz, ihre Sanftheit werden uns fehlen, weil sie uns halfen, das Risiko einzugehen, sich anderen und der Welt gegenüber zu öffnen.“ Libération. „In ihren Arbeiten verband Dufourmantelle auf vornehmste Art philosophisches Denken mit gesellschaftlicher Realität.“ Süddeutsche Zeitung.

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Über Anne Dufourmantelle

Anne Dufourmantelle war Philosophin, Psychoanalytikerin und Autorin. Sie promovierte an der Université Paris-Sorbonne und verbrachte ein Jahr an der Brown University in den USA. Für ihre philosophisch-zeitgeistigen Bücher zu Themen wie Liebe, Sanftheit, Traum und Risiko erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Preis der Académie Française für Philosophie.

Nicola Denis wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Sie übersetzte u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac und Éric Vuillard, zuletzt seinen mit dem Prix Goncourt 2017 ausgezeichneten Roman »Die Tagesordnung«. Nicola Denis lebt seit vielen Jahren in Frankreich.

Informationen zum Buch

»Das Risiko ist der alles entscheidende Augenblick.« Anne Dufourmantelle

Im Risiko, im Unvorhersehbaren liegt eine ungeahnte Kraft. Wenn wir etwas wagen, ohne zu wissen, wo es uns hinführt, können wir nur gewinnen: Handlungsräume, Kreativität und Selbstbestimmung. Das größte Risiko unseres Lebens ist und bleibt die Liebe. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle hat stets nach dieser Maxime gelebt. Als sie im Sommer 2017 zwei Kinder vor dem Ertrinken rettete, hat sie ihr eigenes Leben riskiert – und verloren. Dieses Buch ist ihr Appell, die Fenster aufzureißen, um das Ungewisse in unser Leben zu lassen.

»Ihre Worte, ihre Intelligenz, ihre Sanftheit werden uns fehlen, weil sie uns halfen, das Risiko einzugehen, sich anderen und der Welt gegenüber zu öffnen.« Libération

»In ihren Arbeiten verband Dufourmantelle auf vornehmste Art philosophisches Denken mit gesellschaftlicher Realität.« Süddeutsche Zeitung

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Anne Dufourmantelle

Lob des Risikos

Ein Plädoyer für das Ungewisse

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Mit einem Vorwort von Joseph Hanimann

Inhaltsübersicht

Über Anne Dufourmantelle

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorwort

Sein Leben riskieren

Eurydike gerettet

Winzig-wunderbare Abhängigkeiten

Freiwillige Knechtschaft und Ungehorsam

In der Schwebe

Das Risiko der Leidenschaft

Das Verlassen der Familie

Vergessen, Amnesie, Erlösung

Unheilbare (Un)treue

Null-Risiko?

Wie man sich (nicht) selbst verwirklicht

Ein Geheimnis wahren

Sich mit seinen Ängsten anfreunden

Die Traurigkeit riskieren

Das Risiko der Freiheit

Über das Zeitverlieren

Lebendige Tote

Von einer viel ausgedehnteren Wahrnehmung

Angst und Sehnsucht – geistige Formen des Hungers?

Der Abschied von der Wunderwelt – Jenseits der Enttäuschung

Unser Leben oder das Leben

Das Risiko des Unbekannten

Das Risiko der Fleischlichkeit

Auf dass unsere Qualen enden mögen

Trennungen

Das Risiko des Sprechens

Einsamkeiten

Lachen und träumen – außerhalb der Sackgasse

Nicht mehr hoffen

Athenaeum oder das Risiko der Romantik

Das Risiko des Glaubens

Das Risiko der Variation

Das Ereignis: Hyperpräsenz

Die innere Prophezeiung

Das Risiko der Blendung

Begehren, Körper, Schreiben

Heilung?

Eine andere Sprache

Den Skandal riskieren

Seine Kindheit riskieren

Beharrlichkeit

Die Zukunft riskieren

Das Risiko der Schönheit

Das Risiko des Geistes

Das Universelle riskieren?

Heimsuchungen

Spiralen, Ellipsen, Metaphern, Anamorphosen

Die Nacht in Betracht ziehen

Revolutionen

Das Risiko der Unterwelt (Eurydike)

Anmerkungen

Impressum

Für Clara, Gabriel und Maud

Vorwort

Bücher, die wie dieses nachträglich vom Autor beglaubigt wurden durch einen Akt der Courage, verlangen vom Leser eine ganz besondere Einstellung. Sie werden durch jenen Akt nicht wahrer, sind nicht ein für allemal gefeit gegen Vorbehalte, Einwände, Kritik. Sie weisen diese aber in Grenzen, hinter denen der Kommentar letztlich verstummt und allein die Tat sprechen lässt.

Als am 21. Juli 2017, sechs Jahre nach Erscheinen dieses Buchs, an einem französischen Badestrand der Côte d’Azur bei heraufziehendem Sturm zwei Kinder in Gefahr gerieten, ist Anne Dufourmantelle ihnen zu Hilfe geeilt und kam dabei selbst um. Die beiden Kinder blieben heil. Über die letzten Lebensmomente der Autorin können wir nichts wissen. Ihre Empfindungen bei jenem endgültigen Schritt vom Gedanken zur Tat bleiben uns verborgen. Nachvollziehbar ist aber der lange Weg dorthin, denn wir haben die veröffentlichten Bücher und Schriften sowie die Zeugnisse von Angehörigen, Bekannten und Freunden.

Unermüdlich schritt die Psychoanalytikerin und Philosophin in ihren wechselnden Aktivitäten auf den Querpfaden zwischen Platon, Spinoza, Kierkegaard, Freud, Derrida, zwischen den großen literarischen Figuren Kassandra, Medea, Raskolnikow, Joseph K., zwischen den Erzählungen ihrer Analysepatienten und ihren eigenen Überlegungen dazu das Gelände unserer zeitgenössischen Lebensfragen ab. Was wird aus einer Zivilisation, die hinter der Bereitschaft zum Risiko nur noch Heroismus, hellen Wahnsinn oder ein abstruses Verhalten zu sehen vermag, fragt sie am Anfang des vorliegenden Textes. Anliegen ihrer Arbeit war es stets, das menschliche Tun aus den vorgestanzten Normen zu lösen und in den Horizont einer offeneren, reflektierten, hinterfragbaren Normalität zu stellen.

Sie unternahm dies als Psychoanalytikerin in der Tradition Freuds und Lacans, aber auch als Leiterin philosophischer Seminare in Paris und New York, als Verlagslektorin, Gastpublizistin bei der Zeitung Libération und als Autorin von rund zwanzig philosophischen, psychologischen und bellettristischen Büchern. Das letzte, 2018 postum erschienene Werk, ist der Roman Souviens-toi de ton avenir (Denk zurück an deine Zukunft) über einen mongolischen König und seine Expedition im 14.Jahrhundert über den Pazifik bis zu den Gestaden Ecuadors.

Dass die Öffnung auf dieses breite Spektrum schon in ihrem Elternhaus begonnen hatte, war der 1964 in Paris Geborenen stets bewusst. Ihr Vater war englischer und schweizerischer Herkunft, ihre Mutter, eine Französin, stand als Psychoanalytikerin in der Nachfolge C.G.Jungs. Beide fühlten sich dem Denken Ivan Illichs verbunden. Philosophische Grundsatzdiskussionen waren der Schülerin und Studentin von Haus aus vertraut. Und ihre hohe Erwartung an die Philosophie zeigte sich in der 1994 an der Sorbonne eingereichten Doktorarbeit. Es war keine akademische Studie zu einem geistesgeschichtlichen Thema, sondern eine Untersuchung über die »prophetische Bestimmung« der Philosophie. Die Arbeit erschien vier Jahre später als Buch. Sie handelt von der Art, wie das Subjekt im Spannungsfeld zwischen Determinismus und Freiheit durch ein höheres Wissen den individuellen Lebenshorizont übersteigen kann. Gezeigt wird das anhand zweier mythologischer Figuren: Kassandra, die Künderin eines unabwendbaren Schicksals, und der biblische Jonas, der aus der göttlichen Vorsehung ausbricht und auf seinen Irrwegen den Menschen die Möglichkeit einer anderen Zukunft andeutet.

In jenen frühen Jahren ereignete sich aber auch etwas, was in der Laufbahn der Philosophin sich später mehrmals wiederholen sollte. Aus der Begegnung mit dem Philosophen Jacques Derrida, dessen Seminare sie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales besuchte, entstand ein Denken im Dialog. »Gastfreundschaft« hieß das Thema, das Derrida in einem seiner Seminare behandelte, ausgehend von der Frage, was genau passiere an jenem seltsamen Ort zwischen »hospitalité« und »hostilité«, Gastfreundschaft und Feindseligkeit, den wir »Grenze« nennen. Anne Dufourmantelle fügte den Ausführungen Derridas zu dieser Frage eigene Überlegungen hinzu und lud ihn ein, seinerseits darauf zu antworten. So entstand 1997 das gemeinsam verfasste Buch De l’hospitalité. Es versucht, deutlich zu machen, dass der Zusammenhang zwischen Öffnung und Abgrenzung gegenüber dem Fremden eine komplexe Frage des immer neuen gegenseitigen Einschätzens ist und nicht so schnell über den Kamm von Offenheit und Abschottung, von Groß- und Kleinmut geschoren werden kann.

Dufourmantelles fragende, tastende, die Problematik mehr an- als umreißende Art des Philosophierens machte sie besonders empfänglich für die Gedankenarbeit zu zweit. Mit ihrem Kollegen Miguel Benasayag zusammen publizierte sie 2001 einen Gesprächsband mit dem Titel Parcours. Im Duo mit dem italienischen Philosophen Antonio Negri legte sie 2002 ein ABC zur Biopolitik vor (De retour: abécédaire biopolitique). Mit der tschechisch-amerikanischen Autorin Avital Ronell veröffentlichte sie vier Jahre später das Buch American Philo, eine Studie über Derrida und die »French Theory«. Austausch, Konfrontation, Vergleich war ein Grundgestus dieses Denkens, das mehr auf Weiterbewegung als auf thesenhafte Endgültigkeit abzielt.

Damit hängt auch zusammen, dass Anne Dufourmantelle schwer in den Rahmen der »French Theory«, der intellektuellen Strömungen im Frankreich des Post-Strukturalismus, einzuordnen ist. Diese Autorin stand mittendrin und zugleich stets leicht daneben. Ihre Nähe zu Derrida machte sie nicht zu einer Schülerin seiner Philosophie des endlosen Zeichendeutens und Spurenlesens. Statt sich mit einem festgelegten Begriffsinstrumentarium gegenüber anderen Theorien zu positionieren – gegenüber Jean-François Lyotard etwa und seiner Ökonomie der Libido, Pierre Bourdieu und seiner politisch engagierten Soziologie, Étienne Balibar und seinem Neomarxismus –, schöpfte sie aus vielen Quellen zugleich. Eher als auf Insiderdebatten zielt ihr Denken auf die Lebensfragen eines breiteren Publikums ab.

Ähnlich verhält es sich auf ihrem anderen wichtigen Tätigkeitsgebiet, der Psychoanalyse. Im Wespennest der rivalisierenden psychoanalytischen Schulen stand ihr der Sinn nicht nach fulminanten Wortgefechten und Theorieschlachten. Sie war zwar ein aktives Mitglied im Kreis des »Cercle Freudien«, eines in Ablösung der »École freudienne de Paris« 1981 entstandenen Vereins, der sich nach dem Tod Jacques Lacans wieder stärker am Urvater Freud orientieren wollte und in Konflikt geriet mit der von Lacan-Schülern gegründeten »École de la cause freudienne«. Auch engagierte sie sich tatkräftig bei der Initiative Stop DSM gegen das starre Klassifizierungssystem für Geistesstörungen, das unter dem Namen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders von Amerika aus sich als maßgebender Standard der Psychiatrie aufzubauen sucht.

Sowohl Kollegen wie Patienten stellten aber praktisch einhellig die große Sensibilität, das tiefe Einfühlungsvermögen und die außerordentliche Sanftheit der Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle in den Vordergrund.

Sanftheit war auch das Thema eines ihrer Bücher. Unter dem Titel Puissance de la douceur veröffentlichte sie 2013 eine Reflexion über jene besondere Kraft, die im menschlichen Umgang mehr durch diskretes Einfühlungsvermögen als durch herrisches Auftreten wirkt. Mit ihrem nicht kalkulierten Schwebezustand zwischen Geben und Nehmen hat die Sanftheit in einigen speziellen Lebensmomenten ihren selbstverständlichen Ort: nach der Geburt gegenüber dem Säugling, vor dem Tod gegenüber der geschwächten Person. Und da sie durch ihr zurückhaltend uneigennütziges Vorgehen ebenso viel ausrichten könne wie die zielstrebige, diplomatisch oder autoritär auftretende Macht, schreibt Dufourmantelle, sei sie dieser in der Praxis ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen.

Das bedeutet freilich nicht, dass ihre Bücher nur in leisen Tönen und sanften Andeutungen zu uns sprechen. Ihre erste wichtige Buchpublikation trug im Jahr 2000 den Titel La sauvagerie maternelle. »Jede Mutter ist wild«, lautet der Eingangssatz: wild entschlossen nämlich, das Neugeborene nach der Geburt nie ganz loszulassen. Kaum sei das Kind nicht mehr Teil von ihr, sondern ein Eigenwesen, ein Stück Fleisch, dessen Haut sich von ihrer Haut abgelöst hat und sich nun eigenständig faltet, sich zwar noch an sie schmiegt, aber eben nicht mehr mit ihr verwachsen ist, setze jene spontane Energie des unbändigen Festhaltenwollens ein, schreibt die Autorin. Diese spontane Verweigerung von Ablösung, Weitergabe, Teilhabe, Vermittlung sei etwas Normales, ursprünglich Vererbtes, das in Extremfällen bis zum Kindsmord oder zum Selbstmord gehen könne: ein dumpfer Rest ungeteilten Beisichseinwollens, der sich gegen alle Teilungs- und Unterscheidungsmechanismen von Vernunft, Sprache, Gesetz oder sozialen Umgangsnormen auflehnt. Medea und Jokaste, die biblischen Figuren Eva und Esther, aber auch Sophie aus William Styrons Buch Sophies Entscheidung, die Mutter aus dem Roman Heiße Küste von Marguerite Duras oder Tolstois Anna Karenina sind Beispiele, mit denen die Autorin Dufourmantelle dieses Phänomen subtil zu erläutern versteht. Anna Karenina habe zwei Kinder gehabt, schreibt sie – allzu oft vergesse man das. Und Tolstois Roman sei »einer der schönsten, der je über die ›mütterliche Wildheit‹ geschrieben wurde«. An dieser Frau zeigt die Autorin, wie durch eine überbordende Liebe in der Vorstellung der Mutter manchmal das Kind und der Liebhaber einander überlagern und sich zugleich neutralisieren und negieren. So stößt Anna in einer Romanszene bei der Suche nach einem Porträt von ihrem Sohn Serjoscha auf ein Foto in einem Bilderrahmen und schiebt es, da sie gerade kein geeignetes Instrument zur Hand hat, mit einem anderen Foto aus dem Rahmen: dem Foto ihres Geliebten Alexej Wronskij. »Sieh an!«, entfährt es ihr dabei: Dieser Mann hinter dem Kind sei die Ursache all ihres gegenwärtigen Leids.

Neben solchen literarischen Beispielen und den einschlägigen philosophischen Texten dazu von der Antike bis zur Gegenwart streut die Psychologin Dufourmantelle von Buch zu Buch aber immer auch Zeugnisse aus ihrer Tätigkeit als Analytikerin ein. »Psychoanalytiker sein bedeutet, auf die stimmlose Musik verödeter Leben, verhinderter Freude, dumpfer Liebesangst, stillen Ausharrens, zurückgehaltener Tränen zu hören«, schrieb sie am Schluss von La sauvagerie maternelle.

Deshalb ist im Hintergrund ihrer Bücher durch die dünne Wand der Theorie stets auch ein Echo aus dem Analysezimmer vernehmbar, begleitet vom Nachdenken darüber, was da am Kopfende des Diwans eigentlich genau vor sich gehe. Patientengeschichten und der philosophische Argumentationsverlauf zum jeweiligen Thema sind in Dufourmantelles Werken eng ineinander verwoben: durch unterschiedlichen Drucksatz zwar klar voneinander abgegrenzt, aber doch als Einheit gedacht. Die Übergänge von einem zum anderen muss der Leser durch Gedankenassoziation sich selbst schaffen. Ausschließlich theoretische Abhandlungen wären der Autorin zu spekulativ, Patientengeschichten ohne thematischen Kern hingegen zu anekdotisch vorgekommen. Sie zielte auf ein ständiges Hin und Her zwischen dem konkreten Fall und der Allgemeinheit, dem Einzelschicksal und dem System, der unmittelbar gelebten und der reflektierten Situation, in einem eleganten Stil, der mit Bildern wie mit Begriffen spielt, sie oft nur lose miteinander verknüpft und mehr assoziativ als deduktiv miteinander verbindet.

Auch in ihrem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch Défense du secret (Verteidigung des Geheimnisses) kam die Autorin 2015 gleich zu Beginn noch einmal auf die Funktion des Analytikers zu sprechen. Psychoanalytiker werden bedeute, »sich auf die Seite des Geheimnisses zu begeben«, schrieb sie: ins Halbdunkel, ins Verborgene, in die Stille. Vom Beichtstuhl habe die Psychoanalyse den Gedanken von Geständnis und Vergebung übernommen, nicht aber jenen von Sünde unter einem göttlich urteilenden Auge. »Dem Analytiker ›alles zu sagen‹ ist keine Disziplinierung, um mit sich selbst ins Reine zu kommen oder ein von der Epoche uns abverlangtes Geständnis zu machen«. Gegen die Tendenz unserer Zeit, alles offenzulegen, über die Netzwerke der Dauerkommunikation sich schrankenlos mitzuteilen und hinter jedem Geheimnis den Verdacht auf Vertuschung zu hegen, erinnert die Autorin an die Bedeutung des Verborgenen, nie ausdrücklich Gesagten und im Grunde nicht Mittelbaren. In der Antike wurden die Geheimnisse von den Göttern gehütet als ein Wissen vom Lauf der Welt und von unserem persönlichen Schicksal. Im christlichen Mittelalter und dann in der Renaissance begann in der Intimität des Ich das moderne Subjekt zu reifen. Unsere Epoche muss, so mahnt die Autorin, einen neuen Ort für das Geheimnis finden.

Konkret präsentieren sich die meisten Bücher von Anne Dufoumantelle als Abfolge kurzer Kapitel, die im Wechsel zwischen Meditation, Lesenotiz, Textkommentar, Fallstudie, Zeitanalyse und Gesellschaftskritik weitmaschig eine ganz eigene Ordnung aufweisen. Der ständige Schrittwechsel lässt heraushören, dass sie in kurzen Intuitionsschüben, nicht durch systematische Ausarbeitung eines fest vorgefassten Plans entstanden sind. Entsprechend darf man dieses elegante Staccato der Überlegungen ganz nach seinen eigenen Interessenschwerpunkten angehen. Man kann beim Lesen vorgreifen, Einzelnes herausnehmen, auf frühere Kapitel zurückkommen. Die jeweilige Zentralidee, die wie ein philosophisch-musikalisches Grundmotiv vom Titel her durchs ganze Buch klingt, muss man als solche aber erfassen und stets im Sinn behalten.

In Lob des Risikos herrscht der Gedanke vor, dass das Risiko nicht einfach eine Wette mit dem Zufall, ein kühner Sprung ins Ungewisse oder ein Faktor für Versicherungsexperten sein kann. Die Bereitschaft zum Risiko impliziere eine besondere Lebenseinstellung, einen Daseinshorizont, eine bestimmte Haltung zur Welt, die ebenso in die Vergangenheit wie in die Zukunft reichte und in jedem Moment unser ganzes Sein aufs Spiel setzte, betont die Autorin. Anders gesagt: Das Risiko ist nicht in Einzelsituationen zwischen Mut und Feigheit teilbar. »Sein Leben riskieren« heißt das erste Kapitel des Buchs. Wer sich vor einem riskanten, aber ihm notwendig erscheinenden Einsatz drückt, der widerruft all seine früheren Momente von Courage, lautet das Fazit jenes Kapitels. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welche Anliegen uns denn heute wertvoll genug erscheinen, dass man dafür das Leben riskiert.

Der Nervenkitzel leichtfertig auf sich genommener Risiken erscheint der Autorin ebenso albern wie das Verlangen unserer Vorsehungsgesellschaft nach dem Null-Risiko. Dieses Verlangen spalte unser Ich entzwei in ein abenteuersüchtiges Triebwesen, das den Schauer des Entweder-Oder in der Gefahr suchte, und ein Vernunftwesen, das nie vorsichtig genug sein könne, schreibt sie. In keiner Epoche habe man »sicherer« gelebt als in der unseren, zumindest in der westlichen Welt. Und doch habe es nie so viel Stress, Zukunftsangst und Neigung zur Panik gegeben. Kriege würden aus der Ferne geführt und müssten ohne Tote in den eigenen Reihen auskommen – selbst Hegel habe die Barbarei des »sauberen« Kriegs mit den »Kollateralschäden« unter der Zivilbevölkerung nicht voraussehen können, wundert sich die Autorin. Diese Obsession des Null-Risikos hat aber im Terroristen, der von der Wahrscheinlichkeit seines eigenen Todes ausgeht, einen gnadenlosen Herausforderer gefunden. Wenn die Angst vor ihm um sich greift, hat er gewonnen. Und die Versicherungsgesellschaften halten uns ihre Offerten zum Unterschreiben hin.

Es sind lose angeführte Beispiele aus allen möglichen Lebensbereichen, mit denen Anne Dufourmantelle uns in ihrem Buch zu einer offenen Haltung gegenüber dem Risiko ermutigt. Das Gefühl, abhängig zu sein von einer Person oder einer Sache, gehört ebenso dazu wie das Zögern oder das Zweifeln an sich selbst. Ebenso kann das Hinnehmen der Einsamkeit eine Form von Risiko sein. Oder die Hartnäckigkeit, mit der man gegen alle Widerlichkeiten an einem Ziel festhält. Oder die Traurigkeit, die nicht tragisch ist, sondern »das Drama in einen Horizont der Seelenlandschaft verräumlicht«. Und Risikobereitschaft kann auch hinter den Leidenschaften stehen, vor denen uns die Philosophen seit der Antike so inständig gewarnt haben.

All das läuft auf eine sanfte Absage an die klassischen philosophischen Weisheitslehren hinaus. Sich stoisch über die Alltagssorgen erheben, die kleineren oder größeren Ängste überwinden und gelassen über die allgemeinen Lebenszwänge hinwegsehen – das ist für Anne Dufourmantelle kein Lebensrezept. Nicht durch Ignorieren oder Sublimieren, sondern durch Akzeptieren kommt man ihrer Ansicht nach weiter. In der Leidenschaft sieht sie nicht primär einen Verlust der Selbstkontrolle, sondern eine vorübergehende Selbstaufgabe, die alle Bindungen des Vertrauten kappt und ein Tor zum Außerordentlichen aufstößt. Das hat seinen Preis. Es kann ins Verderben führen, zu Mord oder Selbstmord, denn die Leidenschaft, dieser »Rest von Passivität in uns, der bei jeder Reizwirkung wahnsinnig werden kann«, ist so etwas wie die Grundsubstanz des Risikos. In der Sucht wiederum entfaltet sich dieses zu einem intensiveren In-der-Welt-Sein und in der Liebe, dieser »Kunst der Abhängigkeit«, durchsetzt es das Glück der Nestwärme mit Momenten von eisiger Kälte.

Eine neue Moral von erfolgreicher Selbstverwirklichung und individuellem Lebensglück verleitet uns gern zur Illusion einer Freiheit, die Authentizität mit Caprice verwechselt. Je zwangloser jedoch die Regeln, desto starrer sind oft die verinnerlichten Leitbilder. Man möchte im Rahmen der Konvention Konventionen brechen, pocht in Beruf, Freizeit und Familie auf lockere Individualität und tauscht, wenn es damit schwierig wird, gern die alten mit neuen Lebenssituationen aus, die nach demselben vorgeprägten Muster gestrickt sind. Die Bereitschaft zum Risiko, wie Anne Dufourmantelle sie versteht, verlangt hingegen etwas mehr als Tapeten-, Partner- oder Berufswechsel. Die aus dem Risiko entsprungene Freiheit stößt tief verankerte Lebensmodelle um, denn sie ist »eine Bewegung der ständigen Ablösung, sie ist kein stabiler Zustand«.

Nie sei die freiwillige Unterwerfung größer gewesen als heute, wundert sich die Autorin. Wir ertappen uns täglich selbst bei unserem selbstverständlich vorauseilenden Gehorsam. Denn dieser tritt meistens unter Decknamen auf. Sicherheit ist einer davon. Es gehöre zum guten Ton, liest man in Lob des Risikos, Eigensinn, Unabhängigkeit, Ungehorsam zu predigen, in seinen Akten dann aber doch klug und vorsichtig zu sein – sicher ist sicher. Ungehorsam kommt jedoch ohne Händeringen und laute Widerrede aus. Die Philosophin plädiert für einen leichtfüßigen Ungehorsam, mehr ein Wegtreten als ein kämpferisches Entgegentreten. In Anspielung auf eines ihrer früheren Bücher appelliert sie an die »Sanftheit in der Auflehnung« und die »Unverschämtheit des Humors«, ein ruhig vor sich hin pfeifendes Ausscheren aus den inneren wie äußeren Zwängen, stets bereit, dabei alles zu verlieren, aber entspannt und etwas einsilbig wie Bartleby aus Herman Melvilles Erzählung zu antworten: »Ich würde lieber nicht …«.

Das verleiht diesem Buch ohne scharfe Thesen, ohne Programm und markante Formulierungen einen anarchischen Unterton. All unsere Selbstverständlichkeiten geraten in Bewegung. »Du warst eine Gesetzesbrecherin ganz eigener Art«, schrieb Anne Dufourmantelles Tochter Clara nach deren Tod in einer bewegenden Würdigung für die Zeitung Libération. Sie habe auf die artigste Weise immer ein bisschen neben dem normalen Verhalten gestanden, wenn sie sich mit dem liebenswürdigsten Lächeln vorn in die Warteschlange stellte, Flugtickets stets für den falschen Tag oder Monat kaufte, beim Autofahren den Rhythmus zum Chanson mit dem Fuß auf dem Bremspedal schlug. Nicht Leichtsinn steht hinter dieser Bereitschaft zum Risiko, sondern ein entspanntes Wissen um die Fragilität unserer Gewissheiten.

Joseph Hanimann, Paris im Juni2018

»Das Risiko ist schön.«

Platon

»Der Moment der Entscheidung ist eine Verrücktheit.«

Søren Kierkegaard

Sein Leben riskieren

Mit dem Leben gehen wir, die Lebenden, ein leichtfertiges Risiko ein. Unsere Zeit steht im Zeichen des Risikos: Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Umfragen, Crash-Szenarien, Evaluierung psychischer Belastbarkeit, Prävention gegen Naturkatastrophen, Krisenzellen – keine Facette des politischen oder ethischen Diskurses entgeht diesem Prozess. Das Vorsorgeprinzip ist zur Norm geworden. In Bezug auf Menschenleben, Unfälle, Terrorismus oder soziale Forderungen ähnelt es einem Cursor, der je nach den Bedürfnissen der kollektiven Mobilisierung und Geschäftemacherei verschoben wird. Es bleibt unhinterfragt.

Der Ausdruck »sein Leben riskieren« gehört zu den schönsten unserer Sprache. Bedeutet er zwingend, dass man sich dem Tod stellt – und überlebt? Oder wohnt dem Leben selbst eine geheime Vorrichtung inne, eine Musik, die für sich genommen allein imstande ist, das Dasein auf jener Kampflinie zu verschieben, die Begehren heißt? Denn das Risiko stößt in einen unbekannten Raum vor. Wie können wir es als Lebende vom Leben und nicht vom Tod her denken? Es stellt im Augenblick der Entscheidung unser innerstes Verhältnis zur Zeit auf die Probe. Das Risiko ist ein Kampf, bei dem wir den Gegner nicht kennen, ein Begehren, das uns selbst nicht bewusst ist, eine Liebe, deren Gesicht uns verborgen bleibt, ein reines Ereignis.

Man muss sich geradezu fragen, was aus einer Zivilisation wird, die das Risiko nur noch denken kann, indem sie es zu einem heldenhaften Akt, zu purem Irrsinn erklärt? Und wenn das Risiko bereits eine bestimmte Grundeinstellung zur Welt voraussetzte, einen Horizont vorgäbe?

Sein Leben zu riskieren bedeutet womöglich in erster Linie, sich dem Sterben zu verweigern: einem Sterben zu Lebzeiten, durch verschiedene Formen des Verzichts, schleichende Depressionen und Aufopferung. In den entscheidenden Augenblicken unseres Daseins sein Leben zu riskieren, ist ein Akt, der uns unwillkürlich zuvorkommt, wie eine innere Prophezeiung oder Bekehrung. Ist es die Geste der Gefangenen in Platons Höhlengleichnis, die sich dem Tageslicht zuwenden, oder aber Kants moralisches Gesetz, jene allgemeingültige innere Richtlinie, mit deren Hilfe wir denken und frei sein können?

Der Akt des Risikos ist dem Zufall ausgesetzt. Wir wollen ihn als etwas Freiwilliges sehen, doch er wurzelt im Dunklen, Unüberprüfbaren und Ungewissen. Ich beleuchte das Risiko hier unter dem Aspekt der Sterbensverweigerung, der weder seine Evaluierung noch seine Eliminierung erlaubt. Sollte unsere Gewissheit über den eigenen Tod denn umgekehrt keinerlei Auswirkungen auf unser Dasein haben? Am äußersten Rand dieser Gewissheit wissen wir, dass eines Tages alles, was wir geliebt, gehofft und verwirklicht haben, ausgelöscht sein wird. Und wenn die Sterbensverweigerung das oberste aller Risiken wäre, das sich in der Nähe zu Geburt und Tod spiegelte?

Das Risiko ist der alles entscheidende Augenblick (kairos). Es bestimmt nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit, wo es einen ungeahnten Vorrat an Freiheit offenbart. Wie ließe sich das bezeichnen, was die Zukunft bestimmt, zugleich aber die Vergangenheit belebt? Das Risiko gehört zu einer akustischen Familie, zu jener Art von Rückkoppelung, die den Klang wieder dem Schallsender zuträgt. Der Klang, der rückwirkend hörbar wird, bewirkt ein heimliches Einvernehmen, vielleicht die einzige Möglichkeit, die Wiederholung zu entschärfen. Das Risiko ist alles andere als ein bloß zukunftsbezogenes »Vorwärts«, vielmehr begehrt es sanft und beharrlich auf, bis Zeit und Gedächtnis zu einer Verkehrung der Prioritäten bereit sind. Wie das Trauma leitet auch der entscheidende Augenblick, in dem das Risiko eingegangen wird, eine andere Zeit ein: als positives Trauma. Auf wundersame Weise wäre das Risiko damit das Gegenteil der Neurose, deren Markenzeichen es ist, die Zukunft so zu vereinnahmen, dass sie unsere Gegenwart nach dem Muster der bisherigen Erfahrungen formt und keinen Platz für den Einbruch von Unbekanntem lässt, für die geringste Verschiebung einer veränderten Horizontlinie. Ja, die Rückwirkung des Risikos wäre das genaue Gegenteil, gewissermaßen eine rewind-Einstellung aus der Zukunft, die das in jeder Vergangenheit enthaltene Reservoir an Schicksalshaftigkeit aufbricht und die Möglichkeit einer wahren Präsenz aufzeigt: die Risikolinie.

Eurydike gerettet

Eurydike, zeitlose und hochmoderne Figur zugleich, ist diejenige, die aus Liebe bis in den Tod hinein gesucht wurde. Das Risiko der Sterbensverweigerung einzugehen, stellt die Frage nach dem, was uns zu Lebenden macht, vor allem aber zu Menschen, die wie Eurydike in der Lage sind, zu rufen. Der Mythos1 erwähnt Eurydikes Rufen nicht, und doch besteht für mich in ihrem Ruf und Orpheus’ Antwort, seinem verhängnisvollen Umschauen, das Wesen der menschlichen Bindung. Die Anrufung bezeichnet unsere erste Bindung an den anderen, von unserem fötalen Ursprung bis ans Lebensende, sie durchdringt und formt uns anders – nicht nur als vernunftbegabte Körper, sondern als Menschen, die zu jenem ungeheuerlichen Ereignis fähig sind: der Liebe.

Sie dachte, mit dreißig werde sie sterben. Das hatte sie immer schon geglaubt. Bloße Routine, nicht wichtiger als Zahnarzt, TÜV oder Zigaretten. Dieser Morgen, das wusste sie, wäre nur ein bisschen endgültiger als die anderen. Oh nein, es käme ihr nicht im Entferntesten in den Sinn, ihrem Leben ein Ende zu setzen oder das bewusst dem Zufall zu überlassen. Sie stellte einfach fest, dass sie den anderen um eine Nasenlänge voraus war, weil sie wusste, wann der Tod sie holen würde. Eine Hellseherin hatte versucht zu vermitteln: Es handelt sich doch nur um einen symbolischen Tod, wissen Sie, einen großen emotionalen Schock, ach ja, hatte sie gelächelt, und danach kommt das richtige Leben, stimmt’s? Für Hellseher hatte sie schon immer ein mütterliches Gefühl gehegt, als ob ihre Besuche dort nur bestätigten, was sie ohnehin schon wusste. Was sie gar nicht, überhaupt nicht eingeplant hatte, war die Angst. Eine kaum spürbare Angst, die an einem regnerischen Nachmittag plötzlich da war, wie ein streunender Hund auf der Straße, wie eine Erkältung. Sie hatte sich diese Angst eingefangen– vielleicht auch zugelegt. Die Angst zu sterben. Das war vor ein paar Wochen gewesen… Daraufhin hatte sie ihn aufgesucht. Einen Psychoanalytiker, den sie sich auf gut Glück ausgesucht hatte, wegen seiner Stimme, die spätabends im Radio zu hören gewesen war. Sie hatte schon immer nur mit dem Radio einschlafen können. Das war ihre Art, sich der Kindheit zu verweigern, was ihr im Hinblick auf die Unterredung mit diesem Herrn nun ein bisschen unangenehm war. Er würde sie sicher bitten, über ihre Kindheit zu sprechen. Dabei gab es nichts, was sie für erinnerbar hielt. Doch die Angst setzte ihr zu, es kam jedenfalls nicht in Frage, mit dieser am Leib klebenden Angst zu sterben. Wenn es schon sein musste, dann lieber in Anmut und Heiterkeit. Und egal, dass sie so wenig Lust hatte, ihre Erinnerungen zusammenzuflicken, mit dem, der bereit war, ihr zuzuhören, würde sie sich schon arrangieren. Es blieb ihr nur noch wenig Zeit, sie war reichlich spät dran, aber schließlich ging es ja nur darum, dass ihr jemand diese Angst, die sie plötzlich gepackt hatte, begreiflich machen konnte. Ihr Leben würde kurz sein, na und? Nachdem sie den Namen des Analytikers beim Radiosender erfragt hatte, war sie zu ihm gegangen wie zu einem verbotenen Rendezvous.

Der Psychoanalytiker hatte ein bisschen Verspätung, aber mit dem Warten konnte sie ihr Unbehagen etwas bezähmen. Er hörte ihr zu. Das hatte sie eigentlich auch erwartet. Dann sagte er: »Vielleicht möchten Sie doch noch ein bisschen weiterleben?« Beinahe hätte sie gelacht über diese schlichte, fast dümmliche Bemerkung, über seine sanfte Art.

»Ja, daran hatte ich auch schon gedacht, wissen Sie…«

»Ah!«

»Wenn man Angst hat, heißt das doch, es ist etwas bedroht, was einem wichtig ist, oder?«

Jetzt war sie diejenige, die Fragen stellte.

»Ja, wahrscheinlich«, gab er zu.

Dann entstand ein eher beruhigendes Schweigen, wie eine schwache kleine Brise in den Segeln, hart am Wind. Nach der Sitzung begleitete er sie an die Tür, ob sie wohl wiederkäme? Nächste Woche? Zur selben Zeit? Nichts Genaueres. Er strahlte eine ansteckende Güte aus, die einen hinterlistig einhüllt, ohne dass man weiß, wie man sich ihr entziehen soll. Fast klebrig– nein, eher höflich, allerdings auch einen Hauch gleichgültig. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass er das nahe Datum ihres Todes nicht berücksichtigte. Sie würden nur drei oder vier gemeinsame Sitzungen haben. Nun, sie vertraute ihm und würde überdenken, was er ihr gesagt hatte. Um ehrlich zu sein, hatte sie die Sache noch nie aus dieser Perspektive betrachtet, weil der Tod jedes Begehren nach diesem Terminus post quem verbot. Indem er sie seit dreißig Jahren im Visier hatte, glich ihr Leben vergilbten Fotos, die man wie ein Zeitdokument betrachtet. Ihr Leben war immer in der Vergangenheit gedacht worden, von dem vermeintlichen Nichtigkeitspunkt des eigenen Todes aus.

Im Gegensatz zu allen anderen hatte er nicht versucht, sie von der–unerschütterlichen– Schicksalshaftigkeit ihrer Verabredung abzubringen: Aber nein, Eurydike, du weißt doch, das ist Unsinn, wir werden bald gemeinsam auf deinen dreißigsten Geburtstag anstoßen, sogar am nächsten Tag noch… Sie ließ sie reden und lächelte innerlich, ja, ja. Die Wahrheit ist ein unvergleichlich starker Widerstandspunkt gegen das Wirkliche. Eine Prüfung mit Testcharakter. Sie zwingt die Wirklichkeit dazu, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Das mit der Wahrheit konfrontierte Subjekt ist sich darüber im Klaren. Auch Eurydike war sich darüber im Klaren und hatte niemanden gebeten, sie davor zu beschützen.

In der folgenden Woche antwortete niemand in der Sprechanlage. Sie insistierte, und die Hausmeisterin fragte: Suchen Sie M.X.?

»Ja, wir hatten einen Termin«, sagte sie und setzte hinzu, »ich glaube…«

»Ah, ich verstehe, Sie wissen also noch nicht Bescheid! Wir sollten einen Zettel aufhängen, sie haben nicht alle Leute benachrichtigen können, das verstehe ich ja, aber trotzdem, meine Aufgabe ist das eigentlich nicht!« Sie wirkte verärgert.

»Er ist schon vor drei Tagen gestorben.«

Eurydike erstarrte. Wie damals, als sie mit acht Jahren in Kanada ein Nordlicht gesehen und angesichts dieses großen grünen Vorhangs, der den ganzen Himmel in Bewegung setzte, geglaubt hatte, es sei das Ende der Welt.

»Gestorben?«

»Ja, es stand in der Zeitung, die Beerdigung ist morgen Nachmittag. Sie können seine Schwester anrufen, ich glaube, sie antwortet seinen… Patienten«, wagte die Hausmeisterin nach einem neuerlichen Blick zu sagen.

»Das ist nicht nötig«, entgegnete sie, »aber danke für Ihr freundliches Angebot.«

Sie kehrte der verstummten Sprechanlage den Rücken zu und verließ das Haus.

Auf der Straße wusste sie, dass der Tod an ihr vorübergegangen war, dass er sich jemand anderes genommen hatte. An ihrer Stelle? Nicht unbedingt. Er würde ihre Verabredung einfach nicht mehr einhalten. Die Angst blieb jedoch, wie ein kleines Tier, wie ein Kätzchen, das sie beschützen sollte. Es galt nun, diese Angst zu verwandeln, damit sie wieder Geschmack am Leben finden konnte. Damit sie verstehen konnte, was es bedeutete, am Leben zu sein– noch vor wenigen Augenblicken ein unvorstellbares Ereignis. Sie dachte an einen Unfall, ein Abkommen von der Fahrbahn, dem sie auf wundersame Weise entkommen wäre. Sie würde Acht geben müssen auf dieses Leben, das ihr nicht etwa zurückgegeben, sondern unvermittelt gegeben worden war. Dieses Leben, das mit der Angst gekommen war, mit den Worten des Therapeuten und mit seinem Tod.

Gelegentlich bleibt das Risiko der Sterbensverweigerung (nahezu) unbemerkt. Dann bietet es uns sich nicht als letzte Zuflucht (weiterleben), sondern als das, was indirekt wie ein Verzicht erscheint, wenn man nur noch dazu in der Lage ist, an nichts mehr zu glauben. Wie lässt sich dann der Maßstab verschieben? Der Maßstab des Architekten oder der Stab des Zauberers, je nachdem … Es gilt, das Maß zu verlieren, den großen Winkel weit zu öffnen. Eine Kehrtwende zu machen und die Vergangenheit neu zu entdecken. Man merkt, dass das Licht oft von hinten einfällt, aus dem sogenannten toten Winkel. Oder dass es von einer flüsternden Stimme herrührt: Dreh dich um. Es ist die Stimme des Umschauens, der Revolte, die einen aus der Höhle, aus dem Betäubungsschlaf der Depression und des Verrats, aus dem Irrglauben reißt und hinführt zu dem, was lediglich ein Traum scheint, weil man glaubt, ja schwören wollte, das dort auf die Wand projizierte Bild sei die Wirklichkeit. Sich umzuschauen, ist ein echtes Risiko. Scheinbar bedeutet es einen Verzicht, einen Rückschritt. Einer gegen alle, eine philosophische Anamnese, ein Weg der Psychoanalyse; der Wahnsinn, allen Dogmen zum Trotz zu glauben, dass sich »hinter« uns ein beispielloser Vorrat an Freiheit auftut. Und nun flüstert Eurydike: Auf diesem Weg seht ihr dem Tod ins Auge. Würde Eurydike uns begreiflich machen können, wie man vom Tod ins Leben zurückkehrt, wenn wir um ihre Figur Mikrophilosophien, winzige Gedankenfragmente, konstruieren würden?

Bekanntlich ist es der Tod, der als Risiko in uns lauert. Die Tatsache, ihn gedanklich im Visier zu haben, macht uns weder lebendiger noch liebesfähiger. Wenn das Risiko mit dem Ereignis der »Sterbensverweigerung« gleichbedeutend ist, handelt es sich jenseits der Entscheidung um ein körperliches Bekenntnis zum Unbekannten, Dunklen, Nicht-Gewussten, ein Wagnis angesichts dessen, was sich eben gerade nicht entscheiden lässt. Und so eröffnet es die Möglichkeit des Unverhofften.

Würde es nicht schon reichen, weniger dramatisch mit Spinoza das zu denken, was uns im Sein verharren lässt? Die Geduld zu denken, dieses Zeitmaß, das im Angesicht der Dringlichkeit Wunden verätzt … Die Geduld zu sein, eine subtile, vergessene, nicht von sich selbst eingenommene Kunst, in der Denken und Fühlen einander überlagern: ein schöpferisches Labor. Eine Geduld jedoch, die nicht im Dienst des Wartens steht, geschweige denn von Depressionen, Kompromissen und verhängnisvollem Verzicht. Dieses Risiko des Seins lässt sich nicht planen oder evaluieren. Es ist die große Wirtschaftsmaschine, die der Risikoevaluierung zugrunde liegt.

Manchmal bleiben nur wenige Augenblicke bis zum Ablauf der Frist. In der Intensität des Gelebten aber liegt ein unendlicher Zugewinn an Zeit. Eine Gnade, a mercy.

Winzig-wunderbare Abhängigkeiten

Das Wort »Sucht« ist in Mode. Es hat einen aktiven Charakter, der dem Begriff Abhängigkeit fehlt. Tatsächlich hat die Abhängigkeit eine denkbar schlechte Presse. Man schreibt ihr ein Gefahrenpotenzial zu, das in einem proportionalen Verhältnis zu ihrer Anziehungskraft steht. In vielfacher Hinsicht toxisch, dienen ihr als Ersatz zahlreiche mehr oder weniger harte Substanzen, gemeinhin Drogen genannt (zu denen man die verschriebenen Beruhigungsmittel rechnen kann), aber auch all unsere bio-technologischen, hochgradig faszinierenden Erzeugnisse. Heimlich pflegen wir alle unsere Abhängigkeiten, während wir sie öffentlich verteufeln.

Abhängig zu sein, ist angeblich etwas Schlechtes. Ob man von einem Körper, einer Flüssigkeit, einem fetischisierten Objekt abhängig ist, ob von einem Ritual, Spiel oder Bildschirm – alles suspekt. Und doch haben wir alle so angefangen, in der nacktesten, schutzlosesten Abhängigkeit. Unsere Befürchtungen und Ängste werfen uns manchmal zu diesem Neugeborenenkörper zurück, der Hunger, Durst, Kälte, Warten, Schmerz und Unbekanntem ausgeliefert ist. Die Empfindungen unserer ersten Lebenswochen sind noch immer intakt, es bedarf nur einer stärkeren melancholischen Anwandlung, damit wir unseren Erwachsenenkörper wieder in den Neugeborenenkörper schlüpfen sehen. Das Neugeborene ist dem anderen ausgeliefert: nicht nur seiner Bereitschaft, es zu liebkosen und ihm eine möglichst innige Pflege angedeihen zu lassen, sondern auch den Seelenzuständen seiner Eltern, Geschwister oder Tagesmütter, ja allem, was es innerlich bewegt, denn das Neugeborene hat sich, anders als sein Körper, in der Zeit nach der Geburt in emotioneller und spiritueller Hinsicht vermutlich noch nicht vollständig von seiner Mutter und der uterinen Welt gelöst. Was genau nimmt das Neugeborene wahr, wenn es uns mit diesem angeblich noch nicht »sehenden« Blick anschaut?

Wenn ein Erwachsener in seinem Gefühlsleben Schiffbruch erlitten hat und sich treiben lässt, bis er zu einem Wrack wird, spricht genau dieser Körper, der Säuglingskörper, aus ihm und fordert eine Aufmerksamkeit, die kein Erwachsener ihm je hat spenden können.

Diese angeborene Abhängigkeit suchen und meiden wir mit derselben konstanten Energie. Wir spielen eine Art Erwachsenen-Verstecken, haben unsere Kindheit irgendwo im Gras verloren, die Kissenschlachten, die Geheimnisse und kleinen Ausflüge, man weiß nicht genau, wonach man dort zwischen den Gesichtern und den nackten Körpern in der durchsichtigen Verflechtung der Landschaften eigentlich sucht.

Das Risiko der Abhängigkeit einzugehen, ist ein freundschaftlicher Wink an jenen Nachgeburtskörper, aber nicht nur: Nach Art eines Impfstoffes, der dem Körper Viren injiziert, um ihn abzuhärten, sodass er sich einen eigenen Schutz aufbauen kann, sollten wir unsere Abhängigkeiten zu unserer eigenen Freude besser wild wachsen lassen wie in einem Englischen Garten, wo Unkraut neben Thymian und Dahlien wuchert. Wir sollten sie nicht meiden, sondern uns mit ihnen beschäftigen, sie mit Verstand betrachten. Die Liebe ist eine Kunst der Abhängigkeit. Sie setzt also ein Wagnis voraus. Sie setzt voraus, dass man seine Niederlage, das unsinnige Warten, seine Verzweiflung angesichts der abrupten Ablehnung des anderen eingesteht, dass man sich von einem scheinbar nicht enden wollenden Schmerz zerrütten lässt. Dieses Gutheißen der Abhängigkeit ist keine Resignation, sonst würde ein verhängnisvolles Gift in die Seele sickern und bald einer Depression den Weg ebnen, so wie sich ein zu lang aufgestauter Fluss im Sumpfgebiet verliert. Die Liebe ist ein Ereignis, das uns befähigt, uns in den anderen zu versetzen, uns selbst aufzugeben, um sich einen Gegner auszusuchen. Die Liebe existiert, Gewalt, Dummheit, Neid und Traum zum Trotz. Sie kommt, wenn man sie nicht erwartet. Sie wohnt in der Verzückung und im Ekel, sie ist Selbstentäußerung und Entmündigung. Man weiß nicht, was es ist, das sich uns in den ersten Stunden des Lebens so rätselhaft einprägt, um später in einem Faible für eine bestimmte Hautfarbe, einen bestimmten Geruch, für eine Geste oder eine leichtfertige Art, für einen bestimmten Tonfall, eine kaum merkliche Hüftbewegung oder einen gewissen Abstand zwischen den Wörtern wieder an die Oberfläche zu kommen.

Wenn Abhängigkeit Versuchung bedeutet, kann man ihr zugutehalten, die Gestalt des Teufels wieder zum Leben erweckt zu haben. Der Versucher, der Hiob auf die Probe stellt, offenbart unsere menschliche Bedingung. Einer Provokation kann man unterliegen. Denn selbst wenn man dem Versucher widersteht, wenn man ihn im Visier hat wie einen speziellen Feind, ist auch die Weigerung noch eine Form der Abhängigkeit. Auch sie hält uns in Schach, indem sie uns zwingt, jeden Tag ein bisschen, ja fast ständig an die Versuchung zu denken. Jeder von uns paktiert auf seine Art mit dem Teufel und führt ein heimliches Zwiegespräch mit ihm.

Man kennt seine eigenen Abhängigkeiten nicht. Man kann mehr oder weniger guten Gewissens von Tubenmilch abhängig sein, vom frühjährlichen Schrei der Schwalben über den Dächern von Rom, vom Adrenalin an einer Felswand, wenn man mitten unter einem Sommerhimmel um drei Uhr morgens angeseilt ist, von hohen Absätzen, die unsere Knöchel wie leichte Bügel tragen, von einem bestimmten Parfum, von Pornovideos, von Lavendelhonig, von der Farbe Rot, von schlechtem Wein oder durchwachten Nächten, von einer bestimmten Haut, die ich ahne, noch ohne sie berührt zu haben, von B-Movies, vom Fliegenfischen oder vom Träumen. Soviel zur vertrauten Landschaft unserer Abhängigkeiten. Der Rest liegt im Dunkeln, in unserer Menschheitsnacht, die keine Analyse je durchdringen, höchstens streifen, vielleicht benennen wird, so wie man die Wörter einer Fremdsprache lernt. Dieser Rest geht auf jenen uterinen Körper zurück, an den wir keine Erinnerung mehr haben, obwohl er uns ausmacht und trägt.