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Wenn das Herz und die Seele nicht am selben Ort leben. In dieser zweiteiligen Familienchronik erzählt Ernst Wiechert über das Leben von Jons Ehrenreich Jeromin. Der tugendhafte Jons unterscheidet sich bereits in seiner Jugend von der Einfachheit der ländlichen Bevölkerung. Nach seinem Aufenthalt beim Militär gelingt es ihm mithilfe seiner Familie und seines ehemaligen Lehrers seinen Traum vom Medizinstudium in Königsberg wahr werden zu lassen. Doch bald wird Jons klar, dass er dem Leben in der Großstadt nicht gewachsen ist. Wird es Jons gelingen seine Heimat in Königsberg zu findet oder zieht es ihn zurück aufs Land?-
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Seitenzahl: 1400
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Ernst Wiechert
Saga
Die Jeromin-Kinder - Roman in zwei Bänden
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1945, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726927498
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
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Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Die Frauen von Sowirog kehrten in ihr Dorf zurück. Sie hatten zum Wochenmarkt in der Kreisstadt das Wenige getragen, was sie im Haushalt erübrigt hatten: etwas Butter, etwas Sahne, ein paar Pfund Fische aus dem See. Und Gogun, der Fröhliche, der »Kranichräuber«, hatte in einem strohgefüllten Leiterwagen ihre Ferkel hingefahren.
Mit ihm hatten sie auch zurückkehren wollen, denn es war ein zwei Meilen langer Weg. Aber der Fröhliche war schon um die Mittagszeit betrunken gewesen. »Ihr Goldenen«, hatte er gesagt und sie der Reihe nach geküßt. »Noch ein Stündchen, ihr Goldenen. Ein einziges kleines Stündchen!« Und obwohl seine Frau ihn mit einem Stein, den sie in ihr rotes Taschentuch gebunden hatte, in den Rücken geschlagen hatte, »um ihm den Nebel aus dem Kopf zu treiben«, hatte er plötzlich auf beiden Händen vor aller Augen auf dem Marktplatz gestanden, hatte die eisenbeschlagenen Absätze hoch in der Luft zusammengeschlagen und dazu mit einer hellen Stimme sein Lieblingslied gesungen: »Zigánuschka, Zigánuschka, Zigánuschka moija ...«
Da hatten sie sich abgewendet, weil sie den Text des Liedes kannten, und waren noch einmal durch die Straße mit den großen Schaufenstern gegangen. Sie hatten mit müden Augen auf die Schätze geblickt, die dort, unerreichbar für sie, lagen, und nur Gina, die junge Frau des Waldarbeiters Bojar, die ihr erstes Kind erwartete, war plötzlich mit einem zornigen Wort die Steintreppe hinaufgeeilt und nach einer Weile mit einer Kinderklapper wieder zurückgekommen, einem zerbrechlichen, kostbaren Ding, hell wie Elfenbein, mit roten und blauen Blumen, die wie ein wunderbarer Kranz um die Rundung liefen. Trotzig hatte sie das Spielzeug in die Höhe gehalten, so daß die Blumen in der Sonne wie lebendig glühten, indes ihr Kindermund schon wie im Weinen zuckte; aber als die alte höhnische Stimme der Mutter Kroll etwas von einer Krone sagte, die man nächstens den Kätnerkindern auf das Haar setzen werde, hatte sie nur böse aufgelacht und gesagt: »Besser vertan als vertrunken!«
Als sie nach zwei Stunden wieder am Markt angekommen waren, hatte Gogun auf der Deichsel des Wagens gesessen wie auf einem schmalen Sattel, die Peitsche in der Rechten, die Flasche in der linken. »Noch ein halbes Stündchen, ihr Goldenen!« hatte er gebeten. Aber Marthe Jeromin, die wie eine Nonne unter ihnen war in ihrem schwarzen Kleid und dem weißen Kopftuch, hatte sich schroff umgedreht und war die Straße hinuntergegangen, die an der Kaserne vorbei ins offene Land führte. Und da war ihnen nichts übriggeblieben, als ihr zu folgen, wie sie ihr immer folgten, obwohl sie sie nicht liebten und sie immer noch eine Fremde war, aus den litauischen Mooren, wo sie Meineide schworen und farbige Kreuze auf den Kirchhöfen hatten.
Vor der Kaserne hatten sie noch einmal warten müssen, weil das Bataillon von einer Übung zurückkehrte und gerade in das geöffnete Tor bog. Die Klänge der Regimentskapelle erfüllten die schmale Straße mit Hall und Dröhnen, eine betäubende Woge von Silber und Gold, die sich an den Häusern brach und über den Köpfen der Wartenden zusammenschlug. Der Schritt der genagelten Stiefel schlug auf das Pflaster nieder, die Gewehrläufe schimmerten über dem verstaubten Blau der Uniformen, und sie standen und starrten regungslos mit verwirrten Augen auf diese Schlange des Glanzes, die sich prächtig und drohend vor ihnen in das Tor hineinwand, ein Gesicht dem nächsten, ein Glied dem andern gleichend, ja, als seien die Gesichter nur helle, leblose Flecken, die Glieder nur dünne Ringe unter einer bläulichen Haut und das Ganze dem Menschlichen und ihnen Vertrauten schon nicht mehr angehörig, eine drohende Kraft, die sich in eine unbekannte Höhle zurückwand.
Ihnen gegenüber, nur durch den schimmernden Zug von ihnen getrennt, hielt der Major und blickte über die Helmspitzen unter sich auf die Gruppe der wartenden Frauen. Er kannte diese demütigen und gebeugten Gestalten aus den Walddörfern in der Runde, die so viele Söhne für des Kaisers Rock geboren, und es befremdete ihn, daß vor ihnen eine dunkle, nonnenhafte Frau stand, hochgewachsen und schmal, mit strengem, abweisendem Gesicht, aus dem die grauen Augen durch ihn hindurch-, ja über ihn hinwegsahen, als stehe er wie ein Zaun in ihrem Wege.
Und noch als er hinter dem Bataillon her sein Pferd in das Tor lenkte, streifte er mit einem Seitenblick das dunkle Gesicht über dem herabgeglittenen weißen Kopftuch, das die Augen nicht nach ihm wandte, sondern geradeaus auf die nun freigewordene Straße blickte, einem Ziele zugewendet, das still und nüchtern in der Ferne der dunklen Wälder liegen mochte.
»Ein schöner Herr ...«, sagte eine ergriffene Stimme hinter ihr. »Fast so wie der Kaiser ...«
»Und beinahe so schön wie dein Gonschor mit den krummen Beinen«, kam die spottende Antwort.
Und dann gingen sie endlich die Straße aus der Stadt hinaus, zwischen Häusern, die immer niedriger und seltener wurden, an der Abdeckerei vorbei, über der eine Wolke bösen Geruches hing, an der Windmühle auf dem Hügel über dem See vorbei, bis das freie Feld weit und grün sie umschloß.
Sie schoben die Kopftücher zurück und atmeten tief. Schön war die Stadt, ein Ort des Glanzes und des Reichtums, der Wunder und Verheißungen. Soldaten marschierten über ihre gepflasterten Straßen, ein Denkmal mit einem eisernen Adler stand hoch und feierlich über dem Markt, hinter spiegelnden Fenstern lagen die Schätze der Welt. Aber die Füße schmerzten in den ungewohnten Schuhen, das Geld verschwand aus dem zugeknöpften Taschentuch, und die Männer betranken sich, sowie man sie aus den Augen verlor.
Leicht ging es sich nun im Staub des Sommerweges, der sich warm zwischen die Zehen legte, gut war der Geruch der jungen Birkenblätter und schön und vertraut der Ruf der Kiebitze, die über ihren Nestern kreisten. Und wußte man auch nie, was einen zu Hause erwartete, eine verlaufene Ziege, ein angebrannter Topf, der Mann, der im Kruge lärmte, oder das Kleinste, das einen Knopf verschluckt hatte: das Haus würde doch dastehen, das gebeugte Dach, die blinden Fenster. Der See würde glänzen, der Birnbaum auf dem steinigen Ackerrain blühen, die Kraniche auf den Moorwiesen rufen. Ohne Glanz war das Leben, mit schmerzendem Rücken ging man durch die Tage, auf der Schwelle saß die Sorge als Gast. Aber doch umschloß ein Zaun das Leben, ein Hund wachte, und Kinder wuchsen aus dem Gröbsten herauf, Blut vom eigenen Blut, die für einen Sarg sorgen würden und für ein Holzkreuz auf dem schmalen Hügel unter den alten Fliederbüschen und dem Holunder, in dem die Drosseln zur Herbstzeit lärmten.
Sie verließen die Chaussee, und die alte Landstraße stieg mit ihnen die Hänge zu den großen Wäldern hinauf. Weiße Frühjahrswolken zogen wie schwere Schiffe über ihnen dahin, und ihr Schatten legte sich kühlend auf ihre heißen Stirnen. Der Löwenzahn blühte, die Erde roch feucht und warm.
Sie hatten vier Stunden zu gehen, und einigemal rasteten sie auf einer der Lichtungen, auf der Grabenböschung, wo die Eidechsen über ihre nackten Füße glitten. Sie brachen von den Semmeln ab, die sie in ihren Körben trugen, vorsichtig die Krümel sammelnd, und tranken aus der blauen Blechkanne den kalten Kornkaffee. Sie beredeten die Stadt und das Dorf, den Wald und den See. Sie beredeten den Krugwirt Czwallinna, ob er wohl das Kind seiner Magd umgebracht habe, und den Gemeindevorsteher, ob er zwei oder drei Säcke mit Talern verborgen habe. Sie beredeten den Förster und den Gendarmen, den Fischereiaufseher und den Pfarrer, und nicht zuletzt den allmächtigen Herrn von Balk, dem der See gehörte und die Waldweide, die Torfbrüche und das Schilf, ja, dem sie fast alle gehörten mit Schuld und Zinseslast, Männer und Frauen und Mädchen. Besonders aber die Mädchen. Und der doch nicht der schlechteste Herr war. Nicht schlechter als der Kaiser, der ihre Söhne nahm, oder der Landrat, der ihre Groschen als Steuer nahm, oder der Tod, der sie alle nahm.
Sie beredeten es ohne Bitterkeit. Es war das Unabänderliche, das schon die Nacken ihrer Großväter und Großmütter gebeugt hatte und auch die Nacken ihrer Enkelkinder beugen würde. Aber aus gebeugtem Munde konnte man scherzen, über den schweren gelben Mantel des Herrn von Balk etwa, der ihm bis auf die Füße reichte, oder wie er seine Frau auf dem Mistwagen über die Grenze seiner Äcker fahren ließ, wenn er ihr »Dornenkronengesicht« nicht mehr ansehen konnte, wie er zu sagen pflegte.
Immer blieben die Augen still, auch beim Scherzen, und die Hand der Sorge blieb auf ihren Schultern, und die Falten blieben in ihren strengen Gesichtern. Aber wenn sie aufstanden, die Schuhe in der Hand und den Korb über dem Arm, sahen sie doch aus, als könnten alle Landräte und Gendarmen und Krugwirte der Welt sie nicht bis in die Erde hineinbeugen. Ihre Stirnen konnten den Acker berühren und ihre Knie den Staub der Straße, aber tiefer hinein gehörten nur die Toten, die sich nicht mehr wehren konnten.
Es gab Böse unter ihnen, wie die Mutter Kroll, die auf ihrem Ausgedinge lebte, aber eine Herrin blieb über Sohn und Schwiegertochter, mit harter Hand und hartem Herzen. Es gab Prahlerische und Törinnen, wie die Frau des krummbeinigen Gonschor, und kindlich Träumende und Trotzende wie Gina Bojar. Aber sie lebten doch zu dicht beisammen, als daß sie eine Welt der Täuschung vor einander hätten aufrichten können. Es gab Neid und Feindschaft in dem kleinen Dorf, Streit und Versöhnung; aber es gab keine Geheimnisse. Zu dicht stießen Giebel und Fenster aneinander. In Haß und Liebe waren sie nackend und bloß, und das einzelne Schicksal war auch des Dorfes Schicksal.
Und wie sie nun wieder aufstanden und sich auf den Weg machten, vom Staub umweht und der schon sinkenden Sonne beglänzt, ein müder und gebeugter Zug, auf dessen Schultern alle Tagewerke ihres Lebens zu liegen schienen, sahen sie doch aus wie Schwestern desselben Glaubens und desselben Schicksals, von der gleichen Hand geformt, von dem gleichen Befehl gelenkt.
Auch Marthe Jeromin, so still und abseits sie sich hielt. Vielleicht konnte man gegen einen Mann und seine Kinder leben, wenn es nottat. Aber gegen ein Dorf konnte man nicht leben. Es bestand nicht aus dem ungeschriebenen Gesetz der Lebenden, sondern aus dem Gesetz der Toten. Vieler Toter, die über Jahrhunderte zurück in der sandigen Erde lagen, auf dem Grunde des Sees und in den Mooren an seinem Rande. Deren Gesichter zerfallen waren, aber deren Hände noch immer des Nachts an die niedrigen Türen pochten, wenn jemand aufstehen wollte gegen ihr Gesetz. Die Hütten zerfielen, die Dächer sanken ein, und viele Male waren Krieg und Pest, waren Mord und Brand über sie dahingegangen, so daß nur die verkohlten Schächte der Schornsteine gegen den roten Himmel gestanden hatten. Aber immer war jemand übriggeblieben, der aus seinem Blut aufgestanden war oder aus den Höhlen des Waldes zurückgekrochen kam. Der sich an den glühenden Balken wärmte und von Wurzeln und Rinde seine Nahrung gewann. Und von ihm war die Auferstehung ausgegangen. Auch hatte er das Gesetz bewahrt. Die Kätner fielen, die Kinder, das Vieh. Aber das Dorf fiel nicht. Aus Brache und Ödland wuchs wieder das Korn, die Schwalben kehrten zurück, der Flieder blühte über den zerstreuten Särgen. Stolze Geschlechter sanken dahin und kamen nicht wieder, aber die Armen kamen immer wieder. Sie waren fruchtbar wie die Erde, und ihren Samen trug der Wind, wie er den Samen der Erde über die Öde trug.
Während die Kiebitze über den Mooren schrien, dachte Marthe, daß sie sieben Kinder geboren hatte, und eines davon war ein Krüppelkind. Und eines war böse wie ein Wolf und eines finster und stolz. Und keines kam zu ihr, wie der junge Vogel in sein Nest kommt. »Frau Mutter«, hatte der Wolf gestern zu ihr gesagt. »Frau Mutter, dürfen wir auf den Hof gehen und Atem schöpfen?« Sie hatte zugeschlagen, hart und genau, wie immer, wenn der lodernde Zorn ihr in die Augen schoß, aber der Schlag hatte sein Lächeln nicht ausgelöscht, das wie ein Aussatz um seine Mundwinkel saß.
»Frau Mutter«, lachte sie bitter und blickte auf Ginas gesegneten Leib. »Wenn sie jung sind, denken sie, daß eine Klapper eines Kindes Herz gewinnt, aber wenn sie aufhören, jung zu sein, erkennen sie, daß sie nur der Schacht sind, aus dem es aufwärts steigt. Das Fremde, das ganz für sich ist. Von einem fremden Mann und fremden Ahnen. Dann büßen sie die Lust, und manchmal war es nicht einmal die Lust ... getrieben wie die Kreatur und ärmer als sie, denn die Kreatur ist wenigstens ohne Scham ...«
Sie blickte über die Schonungen hin, ob der Rauch des Meilers schon zu sehen wäre, wo ihr Mann die Kohlen für den Herrn von Balk brannte. Das war nun sein Tagwerk. Über den Netzen träumen, die der Großvater instand hielt; oder am Meiler liegen und dem Rauch nachsehen, der weiß oder blau über die Wipfel stieg; oder die Bäume fällen im königlichen Forst. Und einmal hatte sie gedacht, daß er ein Herr sein würde über Menschenherzen, mit seinen stillen Augen und der leisen Gewalt des Wortes, die ihm gegeben war und mit der er sie verzaubert hatte zwischen den dunklen Mooren ihrer Heimat. Aber der Wind unter seinen Flügeln war erstorben, und wie ein kranker Vogel suchte er sein Brot im Gebüsch. Sie hatten keinen Stolz hier und keine Wildheit. Sie waren Kinder des Waldes, und der Wald machte dumpf und still. Er war der große Zauberer, der die Netze auswarf und mit seinen kühlen Händen die Menschenherzen aus den Fäden nahm.
Die Sonne stand schon hinter dem Walde, als sie den Rauch des Dorfes rochen und Kiewitt sahen, der mit seiner alten Kuh den Pflug durch das Ödland zog. Sie hatten seinen Namen im Dorf vergessen und nannten ihn Kiewitt, wegen seiner hellen Stimme und weil er den Kopf zwischen die Schultern duckte, bevor er sprach. Er war derjenige, der die Gemeinschaft des Dorfes verlassen hatte, ein Sektengläubiger und Abseitiger, von dem sie sagten, er sei mit sechzig Jahren mit Moorwasser noch einmal getauft worden. Der Herr von Balk hatte ihm ein Stück Moorland gegeben, wo es an die Heide grenzte, und dort hatte er seine Hütte gebaut und seinen Herd gemauert. Er flocht Körbe und Fischreusen, Netze und Peitschenstiele, und alle Geheimnisse des Waldes waren ihm kund. Er war kein Gerechter, sondern ein Leidender, und man sagte, daß er den Tod sehe, wenn er am Waldrand stehe und über die Rohrdächer des Dorfes blickte.
»Kiewitt, komm mit!« riefen die Kinder, und auch Gina rief es, als die kleine, gebeugte Gestalt in der Furche stand und geduldig wartete, bis die Kuh ihre Füße wieder langsam voreinander setzte.
Aber er schüttelte nur stumm den Kopf, deutete mit der Hand auf die gepflügte Erde und beugte sich dann herab, wobei er die rechte Hand an sein Ohr legte, als wolle er die Rufenden ermahnen, auf eine Stimme unter der Erde zu lauschen. Dann zog die Kuh wieder an, und sie sahen, wie die Griffe des Pfluges seine Arme hin und her warfen. So viele Wurzeln und Steine barg der Boden.
Da gingen sie weiter, Gina mit stillem Gesicht, und es war nicht nötig, daß die alte Frau Daida mahnend sagte: »Beuge dich, junge Frau, beuge dich!«
Auf der letzten Höhe sahen sie die dünne Rauchsäule des Meilers, und Marthe nickte ihnen zu, bevor sie zwischen den Wacholderbüschen verschwand. Sie wollte sehen, ob ihr Jüngster wieder am Meiler lag und seine Zeit vertat. Er und Maria hielten zum Vater, stille Kinder, die vor einem harten Wort erschraken. Sein Blut, nicht das ihrige, aber sie wußte nicht, ob sie es anders wünschen sollte.
Der Meiler war eine Laune des Herrn von Balk. Die Kohle ging zu den Schmieden und Bäckern der Umgegend, aber es kam ihm nicht auf die Kohle an. Es kam ihm auf das Geheimnis an, das Ort und Tätigkeit umspann, und daß der stille Mann mit dem alten Namen Jeromin in seinen Diensten stand. Immer wenn er durch das Dorf kam, hielt sein hochrädriger Wagen vor dem Haus mit dem alten Ahorn, und immer verlangte er, Frau Marthe zu sprechen. Aber oft ließ sie sagen, sie habe keine Zeit, und wenn sie Zeit zu haben meinte, sah sie über ihn hinweg, wie sie über den Offizier am Kasernentor hinweggesehen hatte. Es gab Weniges, auf dem sie ihre Augen ruhen ließ.
Doch kam er immer wieder. Unter allen Demütigen, die im Dorfe lebten, wo die Frauen noch seinen Ärmel zu küssen liebten, ragten diese beiden Stolzen auf wie die Pappeln über die Uferweiden: der Großvater Jeromin, der die Netze in seinem See stellte und von dem die Leute sagten, daß er schon Napoleon aus Rußland habe zurückkehren sehen, und Marthe, die Frau seines Sohnes. Für beide war er nichts als ein Bild wie andre Bilder, die im Raum der Welt aufgehängt waren, und beider Augen gingen durch ihn hindurch, als suchten sie die Wand hinter ihm, in die der Nagel seines Lebens eingeschlagen war.
Einmal sah Marthe sich um, ob er nicht zwischen den Büschen stehe wie ein Wolf um die Abenddämmerung. Aber dann ging sie ruhig weiter. Männer waren nicht zu fürchten, solange man sie nicht begehrte. Und sie begehrte nicht mehr.
»Die meisten von uns«, sagte Jakob Jeromin zu seinem Sohn, »bleiben wie Fallholz, das der Sturm und Schnee von den Bäumen brachen. Sie liegen, wo sie gefallen sind, und werden wieder zu Erde. Die Armen haben keine Flügel. Und einige sind wie der Rauch, der aus dem Meiler steigt. Die Menschen sehen ihnen nach, aber der Wind verweht sie. Aber einige sind wie das Holz, das dort unter der Erde glüht. Sie werden Kohle, und sie bewegen die Welt.«
Wunderbar war es, dem Vater zuzuhören. Man verstand nicht immer, was er sagte. Wie Wasser im Fließ glitt es vorbei, dunkel über die Schwärze des Grundes. Aber es rauschte und zog dahin, Schatten und Licht, Raum und Stille. Es war schöner, als was der Pfarrer sagte, und anders, als wenn die Mutter sprach. Nur der Großvater konnte noch so sprechen, aber bei ihm wußte man nicht, ob er nicht im Traume spreche, denn seine Augen waren oft geschlossen, und seine Worte fielen so langsam wie die Nebeltropfen vom Ahorn im Herbst.
Sie lagen auf der Lichtung, den Kopf an die Mooswand der Hütte gelehnt, und sahen zu, wie der Meiler rauchte. Ihre Gesichter waren schwarz unter dem hellen Haar, das des Vaters von der Arbeit und das des kleinen Jons, weil er es heimlich mit den Kohlenresten der alten Meiler eingerieben hatte, um zu sein, wie der Vater war. Er war Jons Ehrenreich getauft, aber des zweiten Namens schämte er sich. Die Mutter mußte wohl nicht klug gewesen sein, als sie ihn sich ausgedacht hatte, und die Leute im Dorf hatten die Köpfe zusammengesteckt. Der Vater hatte geschwiegen, wie er meistens tat, und erst in diesem Frühjahr, als er Jons in der Schule angemeldet und der alte Lehrer Stilling gesagt hatte, daß es ein schöner Name sei, hatte der Vater gemeint, daß es besser sei, die Leute gäben einen solchen Namen beim Begräbnis statt bei der Taufe. »Denn wer weiß von uns«, hatte er hinzugesetzt, »ob er am Ende seines Lebens Ehrenreich heißen wird?«
Ja, das wisse wohl nur der liebe Gott, hatte der Lehrer nachdenklich gesagt.
»Und was ist das, die Welt bewegen, Vater?« fragte Jons.
»In der Schule werden sie dir sagen, daß es die Kaiser und Könige sind, die die Welt bewegen«, erwiderte Jakob. »Aber du mußt das nicht glauben. Sie werfen Steine in das Wasser, aber sie schöpfen es nicht. Sie verbrennen, aber es bleibt nur Asche unter ihren Füßen, nicht Kohle. Christus hat die Welt bewegt und viele nach ihm. Er hat Blinde geheilt und Tote auferweckt. Er hat die Herzen bewegt. Und nur wer die Herzen bewegt, bewegt die Welt.«
»Und der Großvater, hat er die Welt bewegt?«
»Der Großvater hat Speise für die Armen gefangen, ein ganzes Leben lang. Und auch Petrus war nicht mehr als ein Fischer. Und einmal, als ich ein Kind war, ist ein Mensch erschlagen worden in diesem Wald. Ein Förster. Wir haben alle gewußt, wer es getan hat, aber niemand hat es gesehen, und er hat es geleugnet und die Tat gerühmt, denn der Förster war ein strenger Mann gewesen, eine Zuchtrute über den Armen. Aber dann ist der Großvater zu ihm gegangen und hat in sein Herz gesprochen. Man hat den andern schreien und fluchen hören, so daß die Leute auf der Straße gestanden haben, alle vor ihren Türen, wie vor einem Gewitter, das Hagel bringt. Aber dann ist er leise geworden, immer leiser, und zuletzt ist der Großvater mit ihm aus der Tür getreten. Der andre hat wie ein alter Mann ausgesehen, grau und mit blinden Augen, aber der Großvater hat geleuchtet wie Jakob nach dem Kampf mit dem Engel, und er hat den anderen die Straße entlang geführt wie ein Kind, bis zum Hause des Gemeindevorstehers, und die Menschen haben kein Wort gesprochen, wie sie vorübergegangen sind. Und dort hat der andere bekannt, daß er es gewesen ist, und sie haben ihn fortgebracht vor den Richter. Viele Jahre ist er fortgewesen, in einem Haus, wo Eisenstangen vor den Fenstern sind, und dann ist er fortgezogen von hier, und keiner weiß, wohin seine Füße ihn getragen haben ... ein einfacher Mann war der Großvater, geringer als Pfarrer und Richter, nichts als ein Fischer, aber damals hat er die Welt bewegt!«
In seinem dunklen, mageren Gesicht unter dem hellen Haar leuchteten seine Augen, als habe er selbst den Kampf mit dem Engel geführt, und seine grobe, rußige Hand war wie die Hand eines Propheten, als er sie aufhob und sagte: »Auch die Armen können eine Krone tragen, Jons. Vergiß es nicht, wenn du groß bist und deine Hände an ein Werk legst!«
»Und du selbst, Vater?« fragte Jons, blaß vor Erregung.
Aber Jakob lächelte sein stilles, trauriges Lächeln. »Nein, Jons«, sagte er freundlich. »Ich habe nichts bewegt. Nur Worte und Gedanken vielleicht. Ihr seid sieben, und da habe ich keine Zeit gehabt.«
Jons dachte lange nach. »Aber Michael?« fragte er dann. »Wird es nicht vielleicht Michael sein?«
Michael war der älteste seiner vier Brüder, siebzehn Jahre alt, düster und schweigsam wie ein Novemberwald. Der Knecht beim Gemeindevorsteher war und kaum mehr als ein spöttisches Lächeln für den sechsjährigen Jons übrig hatte, aber dem er mit einer zärtlichen, scheuen Liebe ergeben war, wie dem Ritter Roland, dem in der Todesstunde sein Horn zersprang, und von dem Christean, der Bruder mit den Krücken, ihm erzählt hatte.
Der Vater legte ihm die schwarze Hand leise auf die Stirn. »Laß es gut sein, Jons«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß es Michael sein wird, aber wir wissen es nicht. Jeder von euch kann Ehrenreich heißen, wenn sie Sand auf eure Augen schütten werden.«
Aber Jons wußte, daß es nicht jeder von ihnen sein konnte. Und er wußte auch, weshalb der Vater eben geseufzt hatte. Gotthold würde es nicht sein können. Er quälte die jungen Katzen und warf mit Steinen nach den Hunden, die an der Kette lagen. Und auf den Pfad zu den Booten hatte er Glasscherben gestreut, am Abend, bevor Jons barfuß zum Großvater gelaufen war. Und er war es auch gewesen, der »Frau Mutter« gesagt hatte. Nein, nicht jeder, und es wäre besser gewesen, die Mutter hätte ihm nicht diesen Namen gegeben. Denn vielleicht wartete der Vater am meisten auf ihn. Und er hatte doch eben erst begonnen, zur Schule zu gehen.
Der schwarze Fichtenwald stand hoch und regungslos um die Lichtung, und die dünne Rauchsäule aus dem Meiler stieg so gerade wie ein Stab aus ihr empor. Wenn man die Augen halb schloß, konnte man meinen, daß sie bis zu der weißen Wolke reiche, die langsam über den Himmel schwamm, und wenn man Michael wäre, der die Habichtshorste ausnahm, würde man an diesem Stab vielleicht bis in die Wolke klettern können. Dann würde man das Dorf sehen und den See, das Schloß des Herrn von Balk und die Moore, und vor allem die großen, schwarzen Wälder, in denen der Förster erschlagen worden war, bei dessen Tode der Großvater die Welt bewegt hatte.
Die Kiebitze riefen auf dem Moor, und manchmal ging ein leises, hohes Sausen über den Wald. Dann rieselten die trockenen Fichtennadeln herab, oder ein Zapfen schlug mit dumpfem Laut ins Moos. Aber es war niemand gewesen, nur der Wind, und man brauchte die Augen nicht zu öffnen, auf deren Lidern die warme Sonne lag. Manchmal stand auch der Vater leise auf und schlich sich zum Meiler, wo er niederkauerte und in die unsichtbare Glut zu lauschen schien. Oder er hielt eine Stange in den Händen; und zwischen den leise gehobenen Wimpern sah er schwarz und riesig aus, ein Zauberer des Waldes, der die Bäume kochte, als eine dunkle Speise für alles, was unter den Wurzeln und dem Moose lebte.
Die Mutter aber war in der Stadt und Gotthold auf dem See, und kein Leid konnte geschehen, gar kein Leid. Und es war noch so viel Zeit, bis man die Welt bewegen mußte, so viel Zeit. Länger als bis Weihnachten und bis zum nächsten Geburtstag, und vielleicht erst dann, wenn die vier Reiter erscheinen würden, von denen der Großvater sprach, wenn er am Wasser saß um die Abendzeit und der hohle Wind den Regen anzeigte, den man noch nicht sah.
Jons mußte wohl geschlafen haben, denn als er die Augen öffnete, stand die Sonne schon als ein rotes Feuer hinter dem Wald. Der Vater war nicht zu sehen, aber der Speer war fort, mit dem er die Hechte in den Moorgräben schlug, um die Laichzeit, und auf der Schwelle der Hütte lagen Tafel und Fibel für ihn bereit und das grobe Brot mit der blauen Kanne für die Vespermahlzeit.
Es verlangte ihn sehr, hinzugehen, wo er den Vater wußte, aber er nahm doch die Tafel auf die Knie, den Griffel in die rechte Hand und das Brot in die linke. Niemand brauchte ihn zu seiner Pflicht zu treiben. Auch den Vater trieb niemand, und doch war sein Meiler noch nie erloschen.
Was er schrieb und las, war nur ein Spiel, denn längst hatte Christean ihn gelehrt, was Herr Stilling ihnen als große Wunder wies. Aber man konnte es so schreiben, daß es von dem nicht zu unterscheiden war, wie es in der Fibel stand, und es war schön, Herrn Stillings große Hand lobend auf seinem Haar zu fühlen. Sie war fast so wie des Vaters Hand. Wie der Mutter Hand auf seinem Haar sich anfühlen mochte, wußte er nicht.
Als er fertig war, ging er um den Meiler herum, eine Stange in der Hand, einen Schilfhalm mit einer ausgehöhlten Eichel wie eine Pfeife im Munde, die Augenbrauen zusammengezogen, die junge Stirn streng gefaltet. Der Herr von Balk sollte wissen, daß an seinem Meiler alles in Ordnung war.
Eine Weile sahen sie ihm beide zu, von verschiedenen Seiten. Der Vater, der gegen die Sonne stand, den Speer über der Schulter, das Netz mit den Hechten in der Hand. Und die Mutter zwischen den Wacholderbüschen, so dunkel und schmal, als sei auch sie dort gewachsen. Jakob lächelte auf seine stille Weise, ohne die Lippen zu bewegen, so wie ganz alte Leute lächeln, wenn sie zusehen, wie das Spiel des Lebens immer mit denselben bunten Reifen beginnt, und er mochte wohl nachgrübeln, ob dieses als das einzige seiner Kinder einmal den Namen Ehrenreich führen würde, den die Hoffart oder ein wilder, schmerzlicher Stolz an seinen unbewußten Anfang gebunden hatte.
Die Mutter, den Korb über dem Arm, das weiße Tuch um den Nacken, mit einer strengen Verlorenheit im Blick, in dem Mißbilligung und widerwillige Rührung sich mischten. Ein spielendes Kind, das ein Großer sein wollte, und ein Großer, der ein Kind war, beide geringen Spielen hingegeben, an Worten sich entzündend, die vor zweitausend Jahren schon gesprochen worden waren, die unendliche Male und von unzähligen Lippen wiederholt worden waren, die man mit dem Tode besiegelt hatte, und die doch den Armen keine Speise und den Reichen kein Gericht gegeben hatten. Nichts, das man greifen konnte und halten, sondern an dem man sich nur berauschen konnte wie an Träumen, um dann mit müden Knien die steinige Straße fortzusetzen.
Nein, auch er würde nicht Ehrenreich heißen. Auch an ihm würde der Name vertan worden sein als an der letzten Hoffnung ihres Leibes, weil fremdes Blut zu dem ihrigen geflossen war, Waldblut und Träumerblut. Ein Pfarrer würde er vielleicht werden, der an den Betten der Sterbenden saß, ein Meister der Worte, der die Kirchen erfüllte, ohne Brot in den Händen, ohne Schwert, ja selbst ohne Pflug und Spaten. Ein Diener würde er sein, aber kein Herr, ein Knecht und ein Hirte, ob auch die Großen der Erde sich flüchtig vor ihm neigen würden.
Und nach diesem wollte sie nicht mehr gebären, außer von einem fremden Manne. Aber sie würde ihn hassen, weil sie seiner bedürfen würde und die Natur dem Weibe versagt hatte, aus seinem eigenen Blute allein das Kind zu formen, das es ersehnte.
»Die Mutter ...«, sagte Jons und nahm die Schilfpfeife aus dem Munde. Aber er lief ihr nicht entgegen und lehnte nur langsam die Stange gegen den Meiler. Auch flog sein Blick schnell in der Runde umher, ob der Vater nicht zu sehen sei.
»Er steht drüben mit dem Netz«, sagte Marthe nicht ohne Spott. »Bald seid ihr wieder zusammen.«
Sie setzte sich müde auf die Schwelle der Hütte, stellte den Korb neben sich und schob achtlos Tafel und Fibel zur Seite.
»Es ist schon alles fertig, was ich auf habe«, sagte Jons schüchtern. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Tafel und nickte. »Der Kaiser trägt eine Krone auf seinem Haupt«, las sie leise. Und nach einer Weile: »Ja, der eine eine Krone und der andere Asche ...« Sie faltete die Hände um die Knie und blickte über Jons hinweg in den Abend. Es roch nach Harz, nach Kien und Rauch, und es war wohl ein schöner Platz für einen, der Frieden geschlossen hatte mit dem Leben. Sie nickte Jakob zu und fuhr fort, über den Meiler hinaus in den dunklen Fichtenwald zu blicken.
Sie standen beide vor ihr, unruhig und bedrückt, ob sie auch alles recht gemacht hätten. Aber sie war wohl nur müde und weit fort mit ihren Gedanken wie immer.
»Hat er euch gut gefahren?« fragte Jakob endlich.
»Er war betrunken, und wir mußten gehen.«
»O Mutter, so weit ... zwei Meilen ... hatte sie keinen Stein im Taschentuch?«
»Ja, sie hatte einen Stein, aber es half nichts. Zwei Meilen sind nicht weit.«
»Ein paar Hechte sind da«, meinte Jakob. »Es wird den Vater freuen ... und vielleicht auch dich.«
Sie sah gedankenlos auf das Netz und nickte. Dann nahm sie aus dem Korb die Semmeln, die immer in Reihen zu fünf zusammengebacken waren, und reichte jedem von ihnen eine.
»Ich muß nun gehen«, sagte sie. »Ihr bleibt wohl die Nacht hier.«
Ja, für Jons wäre es wohl schöner, erwiderte Jakob verlegen. Der Harzgeruch sei gesund, und wo sie nun fünf in einer Kammer zusammen schliefen, wäre die Luft am Morgen nicht sehr gut. Vielleicht daß sie noch eine Kammer anbauen können im Sommer ...
Sie war schon aufgestanden, strich ihr Kleid glatt und sah ihn nachdenklich an. »Kammern, an denen man sechs Jahre baut, werden nie gebaut, Jakob«, sagte sie. »Und nach ein paar Jahren haben wir ja auch Platz genug.«
Sie bückte sich noch einmal, legte zwei von den Hechten ins Moos, sagte »Gute Nacht!« und ging in den Wald hinein. Ihr Kleid verschmolz mit der Schwärze der Schatten, und nur das weiße Kopftuch war noch eine Weile zu sehen.
Sie sahen ihr beide nach, seufzten beide, so daß der andre es nicht hören sollte, und gingen dann an ihre Arbeit. Jakob blieb vor dem Meiler stehen, die Hände um die rußige Stange gelegt, und Jons holte Wasser, machte Feuer, setzte den Kochtopf auf und nahm die Fische aus, still und ordentlich wie ein Erwachsener.
Als sie aßen, kam schon der schmale Frühlingsmond herauf und warf die Schatten auf ihre Hände. Die Kiebitze riefen immer noch, und von der hohlen Eiche klagte der Kauz. Sie hörten den Brunnen aus dem Dorf, wie der alte Balken sich ächzend neigte und wieder in die Höhe stieg, und die Haubentaucher auf dem See. Es war alles fern und fast unwirklich, und nur der Meiler war nahe, wärmend und vertraut. Es war alles gut zwischen ihnen, kein Unfriede und kein Geheimnis. Unter der Decke glühte das Holz, und der Vater würde wachen, daß der Brand nicht nach außen schlug. Der Vater konnte mehr, als die Mutter meinte. Er war der Herr des Waldes, mehr als der Herr von Balk, und wie er dastand, das Mondlicht auf dem hellen Haar und die Stange wie einen Speer im Arm, war er wohl wie ein König Löwenherz, allein im fremden Land, nur von seinem treuen Sänger Blondel bewacht.
Dann bat der Vater, ihm noch etwas zu lesen. Sie zündeten den Kienspan über dem Herde an, und der Vater schob ihm das große Buch hin. »Schlage es nun auf, wo du willst«, sagte er.
Die rußende Flamme ging unruhig über die großen Buchstaben, die sich zu so seltsamen Worten fügten, und die Worte zu so seltsamem Sinn, aber Jons wußte, daß er zu lesen hatte, wenn sie am Meiler waren, und seine kleine, helle Stimme gab sich gern an die großen Worte hin, die den Wald zu erfüllen schienen und wie erzene Schilde zwischen den Bäumen standen. Glanz und Gewalt gingen von ihnen aus, wie von Wetterwolken, die in den Wald hinabschlugen, und am Ende fiel es sanft wie Regen über das Herz, als läge man im trockenen Laub des Lagers und draußen rausche es warm und fruchtbar auf das Hüttendach.
»Siehe, es wird ein König regieren«, las er, »Gerechtigkeit anzurichten, und Fürsten werden herrschen, das Recht zu handhaben.
Daß ein jeglicher unter ihnen sein wird wie eine Zuflucht vor dem Wind, und wie ein Schirm vor dem Platzregen, wie die Wasserbäche am dürren Ort, wie der Schatten eines großen Felsen im trockenen Lande ...«
Sein Finger folgte achtsam den Buchstaben, und zuerst war seine Stimme leise und wie erschrocken vor den großen Bildern. Aber dann, als er sah, daß niemand ihn argwöhnisch oder schadenfroh ansah, wie manchmal in der Schule, daß sie beide ganz allein waren im großen Wald unter dem weißen Mond; daß nur der Vater ihm gegenüber saß, den Kopf in die Hände gestützt und die blauen Augen fast ehrfürchtig auf ihn gerichtet: da hob seine Stimme sich immer lauter und freudiger, wiewohl er nicht verstand, was hinter den großen Bildern gemeint war, und als er geendet hatte, saß er so still wie der Vater und formte mit den Lippen noch einmal lautlos die letzten Verse nach: »Aber Hagel wird sein den Wald hinab, und die Stadt danieden wird niedrig sein. Wohl euch, die ihr säet allenthalben an den Wassern, und die Füße der Ochsen und Esel frei gehen lasset.«
Er wußte schon, wie das war: »Hagel den Wald hinab« und wenn Kiewitt »an den Wassern säte.«
»Das war der Prophet Jesaja, im zweiunddreißigsten Kapitel«, sagte er ernsthaft, wie er den Pfarrer hatte sagen hören.
Der Vater nickte und schloß vorsichtig das Buch. »Vielleicht wird es so sein, Jons«, sagte er. »Und das Recht wird in der Wüste wohnen und Gerechtigkeit auf dem Acker hausen ...«
»Und ist keine Gerechtigkeit auf dem Acker, Vater?«
»Nicht soviel, wie es sein sollte, Jons. Sie nehmen zuviel von uns, mehr als sie von den Herren nehmen. Sie sagen, daß der Kaiser es braucht, wie er unsre Söhne braucht, aber du mußt nicht immer glauben, was sie sagen. Du darfst auch nicht immer sagen, was du glaubst. Sie hören es nicht gern.«
»Aber ist nicht der Kaiser mein Pate, Vater, und hat er nicht die Tasse geschenkt, die unter dem Spiegel steht?«
»Ja, es war so eine Sache, Jons«, sagte Jakob und schrieb mit dem schwarzen Finger Buchstaben auf den Tisch. »Der Landrat hatte mich bestellt, und es war in der Erntezeit und vier Meilen Weges. Ich wurde in seine Stube geführt, und er stand da, selbst wie ein Kaiser, und hielt eine Rede, vom allergnädigsten Kaiser und Herrn, und daß er allergnädigst geruht habe, uns diese Tasse zu schenken. Und da er tat, als sei nur der arme Mann aus Lehm gemacht, und ich an den Roggen dachte, den nun keiner einfahren würde, drehte ich die Tasse in der Hand und sagte, daß ein Durstiger noch nicht satt werde, wenn man ihm einen Becher schenke, und daß die großen Herren immer denken, daß die armen Leute Kinder sind, die zu weinen aufhören, wenn man ihnen ein Bild vor die Augen hält. Da wurde er zornig und ergrimmte, wie es in der Bibel heißt, und sagte viel von Undank und von der neuen Zeit, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er mir die Tasse wieder fortgenommen. Aber die hielt ich nun, denn von vier Meilen soll man auch etwas zurückbringen, und da steht sie nun unter dem Spiegel. Aber ich weiß nicht, Jons, ob der Kaiser nun noch dein Pate ist.«
Er blickte sorgenvoll auf die unsichtbaren Buchstaben, die sein Finger schrieb, aber in den Augenwinkeln lächelte er schon. Auch sei der alte Landrat tot, und vielleicht wisse der neue gar nichts mehr davon. Und Jons sollte immer daran denken, daß man sich vor den Menschen nicht fürchten sollte. Auch vor den Kaisern und Königen nicht.
Aber Jons war noch immer dabei, sich auszumalen, wie der Vater vor dem Landrat gestanden habe, wie David vor dem Riesen Goliath, und noch als er auf seinem Lager von trockenem Laube lag, die harte Decke über sich, versuchte er, es auszudenken, ob er selbst so vor Herrn Stilling stehen könnte, oder vor dem Herrn von Balk, dessen Nase wie ein Habichtsschnabel war, und erst als der Mond in die offene Tür trat und einen silbernen Balken auf die Feuerstätte legte, fielen seine Augen wieder auf den Meiler und die dünne Rauchsäule, die immer noch wie ein Atem gen Himmel stieg und die nun auf eine wunderbare Weise von Mondlicht durchleuchtet war. Wenn er die Hand bewegte, rührte sich leise das Laub unter ihm, und er dachte an die alten Eichen, an denen es gehangen hatte, an Michael, der es auf seinem Rücken zur Hütte getragen hatte, stumm und ohne Lächeln, und dem er vielleicht die Tasse schenken könnte, die vom Kaiser gekommen war, weil er sonst nichts zu schenken hatte außer ein paar Muscheln und einem Habichtskopf, den er in einem Ameisenhaufen verbarg.
Draußen ging der Vater um die Hütte, der Vater, der ein Held war, ohne Furcht vor den Mächtigen, und manchmal fiel sein Schatten schwer und lauschend über die Schwelle ... morgen früh würde Maria ihn abholen, die Schwester, die immer gut zu ihm war und die der Vater so gern auf den Schultern trug, wenn niemand es sah ... und Herr Stilling würde ihn loben, Ehrenreich Jeromin ... und ein jeglicher unter ihnen würde sein wie ein ... wie ein Hagel den Wald hinab ... nein, wie eine Zuflucht vor dem Wind ... eine Zuflucht vor der Mutter und dem Wind ... ja ...
Indes war die Mutter beim Abendlicht in das Dorf gekommen. Sie stand noch ein paar Minuten unter den alten Kiefern am Waldrand und blickte auf die braunen Rohrdächer, auf den Balken des Brunnens und den See, der sich rötlich glänzend in die Wälder zog. Aus allen Schornsteinen stieg der Rauch in die Höhe, und sie glaubte die Armut der Herde zu schmecken, an denen die müden Frauen nun standen. Ein verlorenes Dorf, mit einer staubigen Straße, die sich in Wald und Öde verlief. Sowirog, das heißt der Eulenwinkel, und nicht mehr war es als das. Kein Strom zog dem Haff und dem Meere zu, kein Möwenschrei zerschnitt die dumpfe Stille, kein Segel glitt leuchtend in die Ferne hinaus. Eine Gefangene war sie seit zwanzig Jahren, gefangen von Mann und Kindern und dem Tagwerk grauer Alltage. Sie hatte sich verkauft an einen Traum, und beim Morgengrauen war der Traum verflogen. Nicht jeder fand am Meiler sein Glück.
Ihr Haus stand abseits, dicht über dem See. Der alte Ahorn blühte schon und warf seinen Schatten auf Hof und Garten. Aus dem Küchenfenster fiel ein rötliches Licht in den Abend. Jemand saß auf der Bank vor dem Hause und glitt nun, als die Hoftür knarrte, lautlos um das Haus. Das war Michael, ihr Ältester.
Einen Augenblick lehnte sie sich müde gegen den Zaun, mit geschlossenen Augen und das Herz voll Leid. Keines ihrer Kinder war ihr so ähnlich in Wesen und Form, und keines floh so hartnäckig vor ihr wie dieses. In seiner Kindheit hatte ihre Hand schwer auf seiner Wildheit gelegen, obwohl es doch ihre eigene Wildheit war, und nun war er so ferne von ihr wie ein Stein auf dem Grunde des Sees. Ferner noch als dem Vater und den Geschwistern und dem ganzen Dorf, ein Mensch aus einem anderen Lande, und sie wußte so viel von ihm wie von dem Baum, auf dem zur Nacht die Reiher saßen.
Aber von welchem ihrer Kinder wußte sie mehr, als was ihnen über die Lippen oder aus den Augen trat? Wußte sie, welche Gedanken der Mann am Meiler in seinem Herzen trug?
Hinter dem kleinen Flur war die Küchentür geöffnet, und sie blieb noch im Dunklen stehen, wie vor einer rötlichen Bühne, auf der sie spielten. Das Feuer brannte im Herd, und sie sah Maria mit ihren sanften Bewegungen an den Töpfen und Ringen beschäftigt. Auch ihr Haar war hell wie das Jakobs, und hätte sie ein weißes Kopftuch getragen, so wäre sie wie eine kleine Frau gewesen, die das Essen für die Ihrigen bereitete.
Nun setzte sie den Deckel wieder auf den großen Topf und drehte sich vom Herde ab. »Und als er an den See kam«, sagte sie, »da war der See ganz schwarzgrau, und das Wasser hob sich von unten auf und roch auch ganz faul. Da stand er am Ufer und sagte:
›Manntje, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
mine Fru, de Ilsebill,
will nich so, as ik wol will.‹
›Na, was will sie denn?‹ sagte der Butt. ›Ach‹, sagte der Mann, ›sie will König werden.‹ ›Geh man hin, sie ist es schon‹, sagte der Butt.«
Ihre Stimme war dunkel und klingend, eine zärtliche und verzaubernde Stimme, und Marthe konnte sehen, wie die Gesichter ihr regungslos zugewendet waren. Das der kleinen Gina mit der harten Falte zwischen den Augen, das schöne, helle, sorglose Gesicht Friedrichs und das blasse, schwermütige des kleinen Krüppels. Und auch der Großvater, der vor der Herdtür saß, hatte die Netznadel sinken lassen und die weißblauen Augen auf sie gerichtet, von denen man nicht wußte, ob sie schon erblindet waren oder ob sie bis auf den Grund des Wassers sehen konnten.
Nur Gotthold konnte sie nicht sehen, aber sie hörte nun seine Stimme, rauh und viel zu alt für seine vierzehn Jahre, eine Stimme, die wie ein stumpfes Messer durch den niedrigen Raum schnitt. »Das wäre das Richtige für sie«, sagte die Stimme, »König zu werden. König von Sowirog ...«
Die anderen begriffen es wohl nicht, denn Maria verstummte, und bis auf den Großvater wendeten sie alle ihre Gesichter in die Ecke, aus der die Worte gekommen waren, aber Marthe begriff es, und sie trat rasch über die Schwelle.
»Die Mutter!« rief Christean, und alle Gesichter wandten sich ihr zu. Nur der Großvater behielt seine Augen auf Marias Lippen, als warte er darauf, daß sie fortfahre, von der Frau zu erzählen, die ein König werden wollte.
»Nimm die Hechte aus, Gotthold«, sagte Marthe zu der dunklen Ecke hin. »Auch Königskinder müssen arbeiten.«
Sie sah ihm zu, wie er mit seinem bösen Lächeln aus der Ecke herauskam, ein schönes Kind mit dunklen Augen, die ohne Ausdruck über ihre nackten Füße glitten. Wie ein Schatten verschwand er aus der Tür, das Netz mit den Hechten in der Hand.
»Absalom, Absalom«, sagte der Großvater, ohne seine Augen von Marias Gesicht zu wenden.
Sie schwiegen alle bedrückt, während Marthe den Korb auspackte. Für alle hatte sie etwas mitgebracht, und alle bedankten sich, aber es schien, als sei der Raum nun verlassen, ohne Feuer und Märchen. Nur Christean fragte, ob sie bei Jons und dem Vater gewesen sei und ob der Meiler noch immer so gut rieche wie früher.
Dann saßen sie alle um den großen Tisch und aßen.
Ob Michael nicht dagewesen sei, fragte Marthe. Ja, um die Abendzeit, aber er habe nur Feuer für seine Pfeife geholt und dann still auf der Hausbank gesessen. Sie sagten im Dorf, daß Grünheids Stier wild geworden sei und den Bauern unter sich gehabt habe, aber daß Michael mit einem Forkenstiel das Tier so über die Nase geschlagen habe, daß sie es ruhig in den Stall hätten führen können.
»Ist ... etwas geschehen?« fragte Marthe.
Nein, die Kalmusfrau habe ihm einen Trank gegeben, und abends sei er schon wieder in den Wald.
»Nein, Michael meine ich«, sagte Marthe.
O nein, Michael sei nichts geschehen. Michael könne überhaupt nichts geschehen. Aber im Dorfe sagten sie, daß es schade sei, daß der Schulze so davongekommen sei. Gotthold habe es gehört.
Ja, Gotthold hörte immer solche Dinge. Das wußte sie. Aber ihre Hände zitterten, und sie legte sie in den Schoß, damit niemand es sehe.
»Aber der Großvater ... Großvater hat einen Hecht gefangen«, sagte Christean, »der ist so groß wie ein ... wie ein Haifisch.«
Er stieß beim Sprechen an und wiederholte hin und wieder die Worte, wobei er seine kleinen Krücken auf die Erde stieß, aber seine hellen Augen, traurig wie Vogelaugen, hingen voller Anbetung am Großvater.
Doch hörte Michael ihn nicht. Er hörte selten, was die Menschen sprachen. Er hörte, was die Vögel sprachen und das Schilf, und manche sagten, er höre, was die Fische sprächen. Sein Gesicht war so braun wie die Rinde des Ahorns über dem Giebel und ebenso voller Falten und Risse, aber sein weißes Haar hing voll und schlicht bis auf den Rockkragen herunter, und aus seinen Augen war kein Alter abzulesen. Nur waren sie weit von den Menschen fort, so weit wie der Anfang seines Lebens von der Gegenwart, und wer ihren Blick empfing, meinte in ein leeres Haus zu sehen, in dem vieles geschehen war, woran nur die Alten sich dunkel erinnern konnten. Christean, der vieles sagte, was die anderen nicht so sagen oder nur denken konnten, hatte einmal gemeint, daß Moses auf dem Berge Nebo so gestanden habe wie der Großvater auf dem Hügel über dem See.
»Waren sie fröhlich am Meiler, Tochter?« fragte er nun und sah sie an.
Immer noch verwirrten seine Augen sie, die einzigen Augen im Dorf, vor denen es keine Wände gab. Aber dann erwiderte sie ruhig, daß sie still gewesen seien wie immer und daß sie wohl immer fröhlich seien, wenn sie allein zusammen sein könnten.
Er nickte und schob seinen Teller zurück. »Eine Frau am Abend«, sagte er, »soll sein wie das Abendrot über dem Walde. Eine Verheißung für Mensch und Tier.«
Sie hob unmerklich die Schultern und stand auf. ›Von ihm kommt es‹, dachte sie in plötzlicher Erbitterung. ›All dies Fromme und Gerechte, das Schweigen und das Urteil. Von ihm allein, und unser Leben lang ist er der Herr gewesen. Er steht da, als sei er tausend Meilen und hundert Jahre fort, aber er setzt den Fuß auf jeden Zorn. Er ist wie sein Gott Jehova, der alles sieht, aber ihn sieht keiner, er ist nur da.‹
Nach dem Abwaschen ließ sie sich noch die Aufgaben zeigen und die Lieder und Sprüche aufsagen. Bei Gina mußte sie einhelfen, aber die Worte wurden ihr bitter im Munde, als sie das stille, zugeschlossene Gesicht sah, mit der Falte über der Nasenwurzel. Die Arme waren ihr müde, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
Sie ging noch einmal hinaus, um nach der Kuh zu sehen. Ruhig leuchteten die Sterne, und unter dem Mond riefen die ziehenden Vögel. Ein Hund bellte am Moor, dort wo der Pflug nun still in Kiewitts Ödland lag. Die Rauchsäule des Meilers war nicht zu sehen, und verlassen sahen Wald und Erde aus. Sie lehnte den Kopf an die Stallwand, hinter der die Kette der Kuh leise klirrte, und sah zum Monde auf. War dies nun das Leben? Für alle Frauen, die einmal geliebt hatten? Kam niemals mehr etwas zu ihnen, das sie das andere vergessen ließ, dies Tagwerk voller Last und Bitterkeit? Dieses Fremdsein unter Mann und Kindern? Diese schreckliche Verlorenheit unter dem kalten Mond?
Sie wußte, daß es nicht antworten würde, daß es nur in Märchen antwortete, aber sie blieb doch noch stehen, weil der Kopf so still an der Stallwand lag und das Mondlicht so tief in ihre Augen fiel. ›Mine Fru, de Ilsebill ...‹ dachte sie. Aber das war es doch nicht. Sie konnte nicht im Keller leben wie die anderen, das würde es vielleicht sein. Aber wußte sie denn, ob Jakob im Keller lebte? Er und die anderen?
Sie blieb stehen, bis sie fröstelte und die Eulen aus dem Walde riefen. Dann erst ging sie hinein.
Der Großvater saß noch am Fenster, aufrecht und gerade, die Hände mit den blauen Adern im Schoß gefaltet. Er sah nicht auf. Er blickte weiter ins Feuer mit seinen blassen Augen, die so viel gesehen hatten, und als er sprach, wußte sie nicht, ob die Stimme aus seinem Körper kam oder von weit her.
»Der Mond macht die Herzen krank, Tochter«, sagte er. »In der Bibel steht nirgends geschrieben, daß der Mond auf den Heiland geschienen hätte.«
»Ach, Herr Vater«, erwiderte sie mit der alten, feierlichen Anrede des Landes, »ich wünschte, er schiene in meine toten Augen ...«
Auch jetzt sah er nicht auf. »Es wird die Zeit kommen«, sagte er, »wo du in viele tote Augen sehen wirst. Warte so lange mit deinem Wunsch, Tochter.«
Sie nickte wie gehorsam und sah noch einmal in die Kammer der Kinder. Der Mond legte ein schmales silbernes Tuch auf die Dielenbretter, und aus dem Dunklen hörte sie den ruhigen Atem der Schlafenden. Es war wie in einer Kirche, wo im Schatten die Särge standen, und es graute ihr vor der Stille. Sie konnte keines der Gesichter erkennen, und sie lauschte nur, ob sie den Atem jedes einzelnen vernehme.
In ihrer Kammer saß sie noch auf dem Bettrand, nachdem sie ihre Füße gewaschen hatte, und flocht ihr Haar. Morgen würde sein, was alle Tage und Jahre gewesen war, und niemals würde etwas anderes sein. Noch ein paar Jahre, dann waren die Kinder fort, und einmal würde Michael sie auf das Altenteil schicken. Dort konnte sie dann spinnen und weben, das Totenhemd und vielleicht etwas für die Enkel. Und zusehen, wie Sommer und Winter kam und wieder von dannen ging. Wildgänse und Kraniche, und ab und zu eine Hochzeit oder ein Begräbnis. Und dann würde sie sich ausstrecken und schlafen können, ohne daß die Sonne auf ihren Augenlidern sie weckte.
Der Mond schien auf ihr Gesicht, als sie sich endlich niederlegte. Es war wie versteint von Gram. Ihre Gedanken gingen noch einmal in ihr Elternhaus, und sie versuchte, schon in der Mühe beginnenden Traumes, sich zu erinnern, mit welchen Puppen sie damals gespielt hatte. Aber sie hatte niemals mit Puppen gespielt.
Um die Mitternacht, als die Eulen in das Dorf kamen, hörte sie im halben Schlaf einen Wagen die Dorfstraße entlangfahren und eine heisere, traurige Stimme, die ganz allein in der weiten Nacht vor sich hinsang: »Zigánuschka, Zigánuschka, Zigánuschka moija ...«
Aber sie wußte nicht mehr, ob es Wirklichkeit war oder Traum.
Von dem Dorfe Sowirog hat noch keine Chronik erzählt. Die Chronik erzählt nicht von verlorenen Dörfern. Sie liegen an den Seen und Mooren jenes östlichen Landes, mit grauen Dächern und blinden Fenstern, mit alten Ziehbrunnen und ein paar wilden Birnbäumen auf den steinigen Ackerrainen. Der große Wald umschließt sie, und ein hoher Himmel mit schweren Wolken wölbt sich über ihnen. Eine sandige Straße zieht zwischen ihren verlassenen Gartenzäunen entlang. Sie kommt aus den weiten Wäldern und verschwindet wieder zwischen ihnen. Der Postbote geht auf ihr entlang und häufiger noch der Gendarm, und manchmal zieht ein Hochzeitszug bunt und lärmend durch ihre tiefen Geleise.
Aber meistens liegt sie schweigend da, und die jungen Birken werfen ihre dünnen Schatten auf die verschilften Gräben. Sie bewahrt nichts von dem, was einmal auf ihr zum Leben oder zum Tode gezogen ist. Sie hat keine Kreuze und keine Gedenksteine. Sie ist eine namenlose Straße.
Und so sind auch die Dörfer. Sie sind so klein, daß ihre Namen nur auf den Karten verzeichnet sind, die der Soldat im Manöver braucht, und auch dort nicht einmal mit Sicherheit. Sie tragen Namen von einem fremden, traurigen Klang, alte Namen sogar, aber schon hinter der Kreisgrenze kennt sie niemand. Sie sind wie Gräber aus den Zeiten lang vergessener Kriege, eingesunken, mit verwischter Schrift. Im Frühling, wenn die Kirschen- und Birnbäume blühen und der Flieder auf dem kleinen Kirchhof, können sie lieblich aussehen von ferne, vom andern Ufer des Sees etwa, aber der Frühling ist rasch und wild in dieser Landschaft. Er nimmt die Farbe, so rasch er sie gegeben hat, und dann sinkt wieder alles ins Graue zurück, unter einem riesigen Himmel, der mit gewaltigen Wolken über das Wesenlose sich spannt. Und wenn die Schneestürme von Osten über die Wälder kommen, decken sie alles zu, Straße und Graben, Giebel und Zaun. Wie gestorben sind dann die Dörfer unter einem ungeheuren Abendrot, und nur der schmale Pfad, der zu den Holzschlägen in die Wälder führt, zeigt an, daß Menschenfüße dort gegangen sind.
Von Sowirog stand in einer alten Urkunde zu lesen, daß es ein Beutnerdorf gewesen war, das heißt eine Gründung des Ritterordens zum Ernten wilden Honigs und wohl noch zur Wahrnehmung anderer Pflichten, von denen nichts geschrieben stand. Auch war der Name Jeromin schon in jenen dunklen Jahrhunderten aufgezeichnet. Doch war das alles, und niemand wußte, was seit jener Zeit an Krieg und Pest, an Unheil und Grauen über das Dorf gekommen war. Polen, Litauer oder Tatern, und wahrscheinlich alle nacheinander. Nur von Hungersnot war noch ein dunkles Gerede im Gange, als man aus Baumrinde Brot backte, und von der Pest, die niemanden verschont hatte als einen Hirten namens Michael. Der mit dem Rest der Herde auf die Waldhügel geflohen war und dann ein neues Geschlecht begründet hatte, reinen oder unreinen Blutes.
Auch lebten die Bewohner von Sowirog nicht in der Vergangenheit. Der Tag begann ihnen, sobald die Sterne verblaßten, und endete, wenn sie wieder über den Wäldern aufstiegen. Und er gab ihnen, mit Schweiß und Mühe, nicht mehr als das nackte Leben. Der steinige Acker trug ihre Kartoffeln und ihren Roggen, das Moor ihren Torf, der Seerand ihr Heu. Der Herr von Balk gab ihnen die Waldweide für die magere Kuh, der Forstfiskus Arbeit und ein wenig Holz, und was ihnen nicht gegeben wurde, nahmen sie sich, in dunklen Nächten, denn kein Pfarrer konnte ihnen glaubhaft machen, daß den Armen nur das Himmelreich gehöre.
Sie waren demütig und gebeugt, und in ihren Augen war noch abzulesen, wie die Jahrhunderte über sie hinweggegangen waren. Aber mitunter brach es doch aus den Fugen ihres Lebens heraus, ein dumpfer Zorn und ein wilder Haß gegen Welt und Gott, die ihr Spiel mit ihnen getrieben hatten, die sie enterbt und entäußert hatten, geschlagen und verflucht, und die doch ihren Zins einforderten. Geld und Söhne, Gebet und Hymne, Laster und Fron. Zuerst fluchten sie, und dann weinten sie, und am nächsten Morgen, beim Sternenlicht, nahmen sie wieder die Axt auf die Schulter und gingen in die Holzschläge, einer hinter dem andern, mit Lappen um die Füße, während der Frost die Bäume spaltete und das Eis auf den Seen schrie.
Manchen erschlug ein fallender Baum, und mancher erstarrte am Wegrand, wenn er betrunken von der Lohnzahlung heimkam. Mancher schlich nachts in die Wälder und kam spät zurück, einen Sack auf der Schulter und erbebend vor jedem Eulenschrei. Und alle sprachen von Wald und See als von »ihrem« Wald und »ihrem« See. Förster und Fischereiaufseher waren nicht ihre Freunde, und den Helm des Gendarmen erkannten sie schon am Horizont.
Niemals war jemand aus ihrer Mitte aufgestiegen und hatte Landschaft oder Provinz mit seinem Namen erfüllt. Das Los war ihnen dunkel gefallen, von Kindheit an, und im Dunklen schritten sie ihren Weg aus. Manchmal gewann einer einen weittönenden Namen als ein gefährlicher Wilddieb, als ein Fischräuber oder Holzstehler. Aber der Name verklang hinter vergitterten Fenstern, und sein Ruhm war mit seinem Tode dahin. Keiner von ihnen, außer dem Großvater Michael, hatte die »Welt bewegt«, wie Jakob sagte. Kein Landrat, kein Pfarrer, kein Lehrer war aus ihrer Mitte aufgestiegen, kein Denker neuer Dinge, kein Prophet einer neuen Liebe. Und aller Überfluß an jungen Söhnen, die kein Erbe zu empfangen hatten, verschwand in den westlichen Städten des Reiches, versank in den Bergwerken unter der Erde, vergaß die Wälder und Moore und bezahlte Lohn und Gewinn mit der Friedlosigkeit der im Dunklen Lebenden, mit der Zugehörigkeit zur Masse der Hadernden, die ihnen doch fremd blieb bis zur Todesstunde.
Kamen sie nach vielen Jahren einmal in die Heimat zurück, als ein kurzer Besuch für das staunende Dorf, in städtische Kleider gepreßt, mit Frauen, die dumm und hochmütig auf die Armut blickten, so standen sie heimatlos am Ufer des Sees, wie lebenslang Eingekerkerte, die das Licht vergessen hatten. Sie rühmten ihren Verdienst und ihr Leben, sie prahlten von dem, was sie dort vorstellten, aber ihre Worte klangen hohl und falsch, und mancher schlich sich in der Dämmerung zu dem wilden Birnbaum am Ackerrain, wo seine Kindheit begraben lag, und blickte in Schwermut und dumpfer Trauer auf das karge Land, das auch ihm verheißen worden war und das er hingegeben hatte um ein Linsengericht.
Sie lasen keine Zeitung, und was im Kreise und in der Welt geschah, kam zu ihnen nur durch den Mund des Lehrers, der für sie der Moses in der Wüste war. Zwar hatten sie auch solche gesehen, die an der Öde ihrer Welt verzweifelt waren und als stille und wilde Trinker ihr Leben dahinbrachten. Oder solche, die in Haß und Verbitterung ihre Herzen zuschlossen, Menschenfeinde, die hart und kalt wie erbarmungslose Richter vor den verstörten Kindern standen und die man nicht mehr sah, wenn die Schulglocke um die Mittagszeit geläutet hatte. Aber die meisten unter ihnen waren doch von der Weisheit der Armut und der Einsamkeit erfüllt, freundlich eingeschlossen in ihre Welt, und das stille Licht, das sie durch ihre verlassenen Jahre trugen, leuchtete den Großen wie den Kleinen, ein zitterndes, kärgliches Licht, aber es fiel doch in manche trübe Stunde als ein tröstender Schein und gab Herz und Hand an ihre Not, während der Pfarrer aus dem fernen Kirchdorf schon aus einer düsteren, feindlichen Fremde kam, seine Worte über sie hinstreute und wieder verschwand.
Es gab solche unter ihnen, die ihre Bienen pflegten, und solche, die am Abend bei offenen Fenstern auf ihrer Geige spielten. Solche, die in den Hügeln nach alten Waffen gruben, und solche, die mit einer grünen Trommel über der Schulter in den Wäldern verschwanden, um nach Pflanzen zu suchen. Aber alle hatten sich in dem Gleichmaß der Tage einen kleinen Altar errichtet, vor dem sie beteten, einen Nachglanz jugendlicher Tage, in denen sie davon geträumt hatten, Führer und Propheten ihrer Dörfer zu werden, ein Brunnen der Liebe oder eine Fackel der Tat, und alle Armen und Gebeugten aus der Not ihres Lebens hinaufzuführen auf die reinen Höhen des Wissens, der Liebe, der Fröhlichkeit.