Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wie einfach ist die Rückkehr in die Heimat wirklich, nachdem einen die Realität des Alltags verändert hat? Im zweiten Band der Familienchronik um die Jeromins beginnt Jons sein Medizinstudium in Königsberg. Trotz seines Ehrgeizes und großen Erfolgs wird Jons schnell bewusst, dass er seine Heimat nie in der Großstadt finden, sondern sein Herz immer in Sowigro sein wird. Während seiner Nebentätigkeit in der kleinen Praxis eines jüdischen Arztes lernt Jons viel über das Leben, Barmherzigkeit und die Medizin. Mit 25 Jahren absolviert er sein Examen und kehrt in seine Heimat zurück. Doch kann er sein Glück in dem einfachen Leben auf dem Land finden oder haben ihn die Großstadt und sein Erfolg zu sehr verändert?-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 655
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ernst Wiechert
Saga
Die Jeromin-Kinder - Zweiter Band
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1947, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726927511
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Der Landjäger Korsanke ritt auf seiner hochbeinigen Fuchsstute durch das Dorf. Er saß gerade wie immer im Sattel, und wenn der leise, kaum fühlbare Schmerz unter dem Koppelschloß sich meldete, der ihm seit Monaten Unbehagen machte, richtete er sich noch gerader auf, zog die Augenbrauen ein wenig zusammen und blickte noch strenger als sonst über die spielenden Ohren des Pferdes hinweg auf die Dorfstraße, auf der die Hühner im Sande scharrten und an deren Rändern die Fliederbüsche nun wieder zu blühen begannen.
Korsankes Haar war nun ganz grau geworden, und wenn er nach rechts blickte, konnte er hinter den niedrigen Hütten den Kirchhof sehen, die alte Mauer aus Feldsteinen, die Holunder- und Fliederbüsche, und dazwischen die Gräber. Und am Ende der Gräber die langen Reihen der kleinen Hügel, unter denen die Kinder schliefen, um deren Tod der Pfarrer Agricola ein Abtrünniger geworden war. Auch Korsankes Sohn schlief dort, so viele Jahre schon, und einen Augenblick lang zog er die Zügel an, starrte hinüber nach dem Ort des Friedens und sah das schmerzverzogene Kindergesicht, das nach Atem rang, und die Gestalt des Pfarrers, der in einem Winkel auf den Knien lag und die Arme zu Gott erhob.
Ja, viel war geschehen, lieber Gott, und den Strom der Zeit hinuntergeschwommen. Vor dem Kriege und während des Krieges und nachher. Dienstritte in Sonnenschein und Regen, tagaus und tagein. Holzdiebstahl und Schlingensteller, Trunkenheit und Prügelei. Tote hatten auf dem Moos gelegen, mit blinden Augen, die nach dem Recht riefen, und feierliche Worte waren über sie gesprochen worden. Die alte Frau in der »Armen Sünde« hatte ihre Beichte in seine Hand diktiert, und am Meiler hatte Jakob gesessen und sich am Sinn der Welt die Seele zergrübelt. Und der Kaiser saß nun nicht auf dem Thron, sondern in einem Schloß in Holland, und Korsanke hatte einen neuen Eid geschworen, einen Eid auf die Republik, aber er wußte nicht, was eine Republik war. Die Großen bestimmten den Weg des Vaterlandes, und der kleine Mann gehorchte. Auch Korsanke gehorchte. Auch in der Republik brauchte man Brot, und Brot gab es für einen alten Beamten nur, wenn man den Eid nachsprach. »So wahr mir Gott helfe ...«
Korsanke erwachte aus seinen Gedanken und ließ dem Pferd die Zügel frei. Der leise Schmerz war wieder da, aber er wollte nicht zum Arzt gehen. Er wollte warten, bis Jons Ehrenreich Jeromin wiederkam, dem sie im Kriege die Hüfte verrenkt hatten und der ein großer Doktor werden würde, ein Wunderdoktor, auf den sein Dorf wartete. Vor ihm würde er den Uniformrock ausziehen und sich nicht schämen, denn Jons hatte er auf den Knien gehalten, und er war einer von den ihrigen. Einer aus dem Jeromin-Hause, aus dem so viel Wunderliches und Erschreckendes und Tröstendes ausgegangen war.
Wieder wollten seine Gedanken in die Vergangenheit zurückgehen, aber nun schüttelte Korsanke den Kopf, richtete sich im Sattel auf und ritt die Dorfstraße weiter, wobei er hier und da zwei Finger an den Helmrand legte und ein paar Worte über Wetter und Saatenstand sprach.
Die Fenster im Schulhaus standen offen, und er konnte die weißblonden und dunklen Köpfe sehen, wie sie sich nach dem gleichmäßigen Gang der Pferdehufe wendeten, und die helle, etwas knarrende Stimme des neuen Lehrers hören, der ein »Roter« war, wie die Kätner sagten. Aber Korsanke hatte seinen Eid geschworen, und es hatte ihm gleich zu sein, ob hinter dem Schulpult ein Roter saß oder ein Schwarzer oder ein sonstwie Gefärbter. Der Eid löschte die Farben aus.
Aber als Korsanke auf der Höhe war, wo der wilde Birnbaum stand und von wo man Dorf und See und Wald und Moor überblicken konnte, seufzte er doch ein bißchen auf, zog noch einmal die Zügel an und nahm den Helm ab, der ihm die Stirne drückte. Er war ein einfacher Mann und einfacher Leute Kind, aber dies konnte er doch fühlen, daß die Erde schön war, über die er ritt. Und daß es seine Heimaterde war. Ein verbranntes Dorf, aber die neuen Rohrdächer waren schon wieder grau, der Flieder blühte an den Zäunen, und auf dem Kirchenhügel stand die dunkle Fichte, die sie den »toten Pfarrer« nannten. Wo die Nonne die Wälder zerfressen hatte, leuchtete das junge Grün, der Fischadler kreiste über dem unbewegten See, und über dem Moor lag das blühende Wollgras wie ein schimmerndes Seidentuch. Friede, soweit seine Augen reichten, Friede nach einem blutigen Krieg, und Friede, solange es denen gefiel, die dem kleinen Mann den Eid abnahmen.
Was für ein seltsamer Tag, an dem seine Gedanken weit fort waren von der Haussuchung, die er im Nachbardorf abzuhalten hatte, und die wirren Wege gingen, die in Vergangenheit und Zukunft führten. Nur in der Krankheit gab es so etwas, im Fieber, aber Korsanke war nie krank gewesen, und Fieber war keine Krankheit, solange man im Sattel sitzen konnte.
Nun kam durch die offenen Schulfenster der Geigenstrich des neuen Lehrers, ein klarer, sauberer Strich, und dann ein paar Doppelgriffe, die sich wunderlich verschlangen und lösten. Die Luft war so still, daß jedes Schwingen der Töne zu hören war.
Wieder nahm Korsanke den Helm ab, weil die Stirn ihn schmerzte und weil er meinte, so besser hören zu können. Fast wie am Sonntag war es ihm zumute. Die Glocken waren mit der Kirche im Feuer vergangen, aber auch eine Geige war schön, wenn sie sich über ein stilles Dorf erhob, und daheim in seiner alten Kiste aus der Soldatenzeit, ganz tief auf dem Grunde, lag die kleine Kindergeige, die er seinem Sohn geschenkt hatte, ehe der Kindertod über das Dorf gekommen war. Er hatte sie nicht mehr gespielt, er hatte nur ein paarmal mit seinen blassen Fingern an den Saiten gezupft, und nachher hatte Korsanke sie in das Dunkle gelegt, und selbst seine Frau wußte nicht, wo sie geblieben war.
Es sei wohl auch nichts für arme Leute, dachte Korsanke noch wie zur Entschuldigung, aber dann hörte er, wie der Geigenbogen auf das Pult klopfte und dann, wie die Kinder zweistimmig in die neue Melodie einfielen. Eine leichtfertige, aufdringliche und, wie es Korsanke schien, unfromme Melodie. Eine Jahrmarktsmelodie, wie sie unter glitzernden Karussells ertönte, und Korsanke beugte sich im Sattel vor, um die Worte des Liedes zu verstehen.
»Im Jahre Sechsundsechzig,
zu Luxemburg am Rhein,
da ward ein Kind geboren
mit Namen Humpelbein.
Zum Hia ... hia ... humpel ...
zum Hia ... humpelbein!«
Korsanke, ohne zu wissen, was er tat, setzte seinen Helm wieder auf, und eine tiefe Falte erschien zwischen seinen grauen Augen.
Die Geige fügte eine fröhliche Kadenz an das letzte Wort, und dann erklangen die Kinderstimmen von neuem.
»Das Kind wollte Schauspieler werden,
die Mutter sagte: ›Nein!
Erst mußt du beten lernen,
verfluchtes Humpelbein!‹
Zum Hia ... hia ... humpel ...
zum Hia ... humpelbein!«
Korsanke saß nun ganz gerade im Sattel, die Zügel angezogen, und lauschte. Aber es kam nichts mehr. Die Geige schwieg, der Gesang schwieg, und nur die Lerchen standen jubelnd über den jungen Saatfeldern.
Da ritt Korsanke langsam weiter, den Blick auf die Ohren des Pferdes gerichtet. So war es also nicht nur der neue Eid und nicht nur die Republik. Es war mehr, und auch seinem einfachen Verstande ging es auf. Auch bei Stilling hatten die Kinder gesungen, und auch dann hatte Korsanke das Pferd angehalten. »Wie schön leuchtet uns der Morgenstern ...«, und das hatte er besonders gern gehört. Und auch bei Martin Gollimbeck hatten sie gesungen, der nun verschollen war in den Steppen Rußlands, und es waren fröhliche Lieder gewesen, wie ein einfaches Herz sie gedichtet hatte.
Dies aber war anders, und so hatten die Kinder von Sowirog noch nie gesungen. Eine neue Zeit, dachte Korsanke, und vielleicht wäre es gut, in Pension zu gehen, ehe sie auch von den Kanzeln solche Lieder sängen ... verfluchtes Humpelbein ... und wie viele humpelten über die Straßen des Reiches, denen er begegnete, mit und ohne Krücken, und mit finsteren Augen auf ihn und das Pferd blickend ...
Erst am Rand des Moores zog er so scharf die Zügel an, daß die alte Fuchsstute sich bäumte. Er hob den Kopf und die rechte Faust, wie ein Mann, dem in allem Grübeln ein großer, leuchtender Gedanke kommt, wendete das Pferd und jagte im Galopp bis zu Daidas Hütte zurück, die die erste am Dorfende war. Dort hing, wie er wußte, eine große Landkarte aus dem Weltkrieg neben dem Küchenfenster, mit Nägeln an das Holz der Wand geschlagen und noch lange nach dem Kriege in Ehren gehalten.
Er achtete nicht auf den erschreckten Ruf der Frau, die einen Herdring fallen ließ, trat dicht an die Karte und fuhr mit dem Zeigefinger über die dunkel gewordenen Flecken der Länder links des Rheines, bis er den Namen gefunden hatte. Er atmete tief auf, sah die blasse Frau mit seinen durchdringenden Augen an und sagte: »Hab' ich doch gewußt! Liegt ja gar nicht am Rhein!«
»Was ist denn, Herr Wachtmeisterchen?« erwiderte die Frau. »Er war ja nie bei der Nacht im Walde, so wahr mir Gott helfe!«
Erst nach einer Weile konnte Korsanke lächeln. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte ihr begütigend zu. »Es ist nicht von wegen deinem Mann«, sagte er, »und du brauchst nicht zu schwören. Es ist nur, weil nicht einmal die Geographie in diesem verfluchten Liede stimmt, und das hätte er wenigstens wissen können, dieser neue Heilbringer!«
Und darnach stieg er wieder in den Sattel und trabte aus dem Dorfe heraus, und er achtete nicht mehr auf die Kinderstimmen, die wieder zweistimmig aus den Fenstern des Schulhauses herausdrangen.
Korsanke ritt um den See herum, immer in scharfem Trabe, und auch den leisen Schmerz fühlte er nicht mehr. Erst als der Weißbuchenwald ihn beschattete, den die Leute »das Paradies« nannten, und in dem vor Jahren Friedrich Jeromin erschossen gelegen hatte, zog er wieder die Zügel an und nahm den Helm an der Stelle ab, wo die alte Frau aus der »Armen Sünde« den Toten bewacht hatte. So vieles trug er in seinem Gedächtnis, und nichts war verlorengegangen, weder Menschenbilder, noch Worte, noch Lieder. Nicht einmal der braune Laubhaufen, der zwischen zwei Baumstümpfen lag, und das Sonnenlicht vergoldete die verdorrten Blätter. Ein gutes Gedächtnis war ein Segen für seinen Beruf, aber Vergeßlichkeit war besser für das menschliche Herz.
Und nun ritt er nach dem Dorfe, in dem das Mädchen zu Hause war, das dem Toten die »letzte Freude« geschenkt hatte, wie Jakob am Sarge gesagt hatte, und er hatte nie den Verdacht verloren, daß ihr Bruder um das Verbrechen gewußt hatte. Gegen dieses Haus war wieder eine Anzeige bei ihm eingelaufen, einer der zerknitterten Zettel, die er so wohl kannte und auf dem mit schwarzen Buchstaben geschrieben stand, daß Rehdecken und Gehörne auf dem Boden des Hauses versteckt seien.
Er seufzte beim Weiterreiten, und es verlangte ihn nach ein paar stillen Jahren des Friedens. Nach der Arbeit an den Bienenstöcken, an dem duftenden Nelkenbeet, nach einer stillen Abendstunde bei dem alten Lehrer Stilling, der mit seiner zitternden Hand die Weltkugel leise bewegte, die vor seinen Büchern stand und vor der er so eindringliche Worte der Weisheit zu sprechen verstand. Er war es müde, nach Rehdecken und Drahtschlingen zu suchen, nach Kornsäcken und Fahnenflüchtigen. Er wußte, was Not war, Not des Leibes und der Herzen, und wer das Böse aufhellte, ein ganzes Leben lang, nahm leicht Schaden an seiner Seele, und wenn auch nur an der Freudigkeit, die Gott in jede Seele gelegt hatte.
Er ritt langsam in das kleine Gehöft ein, band das Pferd an den verfallenen Zaun und trat in die Küche. Die Frau stand am Herd und nickte ihm nur spöttisch zu. Unter dem niedrigen Fenster aber saß der Sohn, den er in dem schweren Verdacht hatte, und sein rechter Rockärmel hing ihm lose und leer herab. Korsanke hatte das nicht gewußt. Nicht daß er aus dem Kriege zurückgekehrt war und daß es so geschehen war. Die Sprache verging ihm für einen Augenblick, und er starrte wortlos auf den leeren Ärmel, und hinter dem faltigen leblosen Stoff erblickte er wieder den braunen Laubhaufen aus dem »Paradiese« und die Augen des Toten, über denen die Frau aus der »Armen Sünde« die runzligen Hände gebreitet hielt.
»Damit ist es nun nichts mehr«, sagte er endlich. »Außer wenn du mit der linken Hand allein schießen kannst ...«
Der Angeredete verzog keine Miene, und es war so still wie in der Kirche, bis die Frau einen Herdring klirrend auf die Platte warf.
Da erwachte Korsanke, nahm die kurze Leiter, die an der Wand lehnte, und stieg langsam zur Bodenluke hinauf. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe unter dem Gerümpel umher, rückte hier eine zerfallene Kiste zur Seite und hob dort ein vermorschtes Brett aus dem Fußboden. Dann zuckte er nur die Schultern und stieg wieder hinunter. Er wußte, wie es bei solchen Haussuchungen ging.
»Seid vorsichtig!« sagte er unten. »Manchmal wartet Gott auf den zweiten Arm ...«
Und dann stieg er langsam in den Sattel und ritt die Dorfstraße weiter, ohne nach rechts oder links zu blicken. Es war ihm, als ob er aus einem Gerichtssaal käme.
Er ritt nicht denselben Weg zurück. Er ritt um den ganzen See herum, langsam und in Gedanken verloren, und nur wenn die Haubentaucher am Schilfrand lärmten, hob er den Blick und ließ ihn über die weite Wasserfläche gleiten. So viele Menschen und Schicksale, so viele, so viele. Da war die Insel, auf der der arme Pfarrer gelebt hatte und auf der der Großvater Jeromin im Feuer gen Himmel gefahren war, wie Elias. Und seine Enkel und Urenkel gingen wieder über dieselbe Erde ... Solch ein Dorf, klein und arm und von Leid geschlagen, wie lag es doch tief in der Ewigkeit geborgen. Menschen vergingen und Häuser vergingen, Wälder starben und Glocken zerschmolzen im Feuer. Aber das Dorf blieb stehen, der Urgrund der Menschengemeinde. Ein Hirte trieb die Herden aus und brachte sie am Abend wieder ein. Ein Mann mit dem Sälaken schritt über das sandige Feld, der Balken des Ziehbrunnens hob und senkte sich. Rauch stieg auf über grauen Dächern, und der Wind nahm ihn und trieb ihn fort. Geschlecht auf Geschlecht, Jahrhundert auf Jahrhundert.
Und hier ritt er die sandige Straße entlang, ein kleiner Mensch in einer bunten Uniform, und dachte, daß er die Ordnung aufrechterhalte, das Recht, das Gesetz. Wieviel Torheit unter einem blitzenden Helm! Unter allen blitzenden Helmen der Weltgeschichte!
Er kam von der andern Seite ins Dorf zurück, und vorher lenkte er von der Straße ab und ritt den schmalen Steig zum verlassenen Meiler. Es gab wohl Tage, an denen man immer rückwärts ritt, so regelmäßig auch das Pferd einen Huf vor den anderen setzte.
Die Lichtung lag so still, wie sie vor tausend Jahren gelegen sein mochte. Moos wuchs in grünen Flecken auf dem erloschenen Meiler, und die berußte Stange lehnte noch daran, mit der Jakob die Glut geprüft hatte.
Korsanke zog die Zügel an und sah auf die Schwelle der Hütte, auf der Michael gestorben war. Nun saß Frau Marthe da, in ihrem schwarzen Kleid, die Hände um die Knie gefaltet, und blickte durch ihn hindurch in die sonnigen Gründe.
Es fröstelte ihn wie in einem Totenland, aber er ritt doch näher, hob die Hand an den Helm und fragte nach ihrer Gesundheit.
Sie wendete langsam die Augen nach ihm, diese erloschenen und von Gram leergetrunkenen Augen, vor denen das Dorf sich fürchtete, aber sie antwortete nicht. Er wußte auch nicht, ob sie ihn erkannte, ja, ob sie ihn auch nur sah. Oder ob er nur ein formloser Nebel vor einem weiten Lande war, und niemand wußte, was sie auf diesem Lande sah.
Das Herz tat ihm weh, als er so in ihre Augen niederblickte, die wie Augen einer Blinden waren. Wie schwer konnte Gottes Hand sein, auch in einem kleinen Leben ...
Er nickte ihr zu wie einem Kinde, ritt langsam über den stillen Platz bis zu der Höhe, wo die Wacholder standen und man auf Kiewitts Mooracker sehen konnte, und sah das weiße Pferd unter den Zwergbirken weiden. Das Pferd, von dem sie scherzend sagten, daß schon der heilige Johannes auf der Insel Patmos es gesehen hätte, aber dem sie nicht gern allein in der Dämmerung begegneten, weil es plötzlich den Kopf aufwerfen und mit seinen großen Augen in eine unermeßliche Ferne blicken konnte, indes der Wind in seine fahle Mähne fuhr und sie bewegte wie eine Herde von Schlangen.
Kiewitt war nicht zu sehen, und Korsanke war es nicht leid.
Er holte doch tief Atem, als er den Raum unter den letzten Kiefern verließ und das Dorf nun wieder vor ihm lag. Ein weißlicher Wolkenschleier hatte sich vor die Sonne geschoben, und es sah nach einem frühen Gewitter aus. Davon komme das alles, dachte Korsanke, dieses merkwürdige Reiten und der leise Schmerz unter dem Koppelschloß, diese Begegnungen mit der Gegenwart, aber die Gegenwart war eigentlich Vergangenheit, und in die Vergangenheit reichten die Toten hinein. An solchem Tage sollte man bei den Blumen sitzen und die Haussuchungen lassen. Haussuchung war wie Heimsuchung, und Heimsuchung war ein Wort aus der Bibel, ein großes und schweres Wort, und fast immer ging Gott dabei auf die Suche.
Unter ihm lag das Jeromin-Haus, und der alte Ahorn stand noch immer über dem Seeufer. Es sah schon wieder aus wie ein altes Haus, und von ferne konnte niemand erkennen, daß das Feuer des Krieges auch über diese Hofstätte gegangen war. Häuser wollten nicht jung bleiben wie Menschen, und erst zu einem alten Dach kamen die Eulen und die Unterirdischen. Sowirog hieß das Dorf, und das war der Eulenwinkel. Gute Namen hatten die Alten gewählt, und es würde gut sein, wenn es so auf dem Totenschein stünde: »Gestorben in Sowirog.« Als ob es eine gute Heimat wäre für die Toten.
Aber nun schüttelte Korsanke mißbilligend den Kopf und ritt nun wirklich den schmalen Weg zum Jeromin-Hause hinunter. Es war ihm, als grollte es leise hinter den Kiefern, und über die dunkle Fläche des Sees fiel ein fahler Glanz. Aber es war zu früh im Jahr, und er hatte sich wohl getäuscht. Es war gerade der richtige Tag, um Dinge zu sehen und zu hören, die nicht da waren.
Er hielt am Gartenzaun, zwischen zwei Fliederbüschen, und sah den beiden Kindern zu, die eine kleine, dunkle Spitzmaus beerdigten. Dem kleinen Jons, der Michaels Sohn war, und der kleinen Barbara, die Maria geboren hatte. Der eine Vater hatte erschossen auf der Schwelle der Meilerhütte gelegen, während er geboren wurde, und der andere war in den östlichen Ebenen verschollen, und noch immer saß die Mutter Abend für Abend am Rande des Moores, wo der Weg nach Osten in den Hochwald führte, und wartete, daß eine graue Gestalt zwischen den Stämmen auftauchte, ein Erblindeter vielleicht, oder einer auf zwei Krücken, oder nur einer, den Gott eben geschlagen hatte, wie den anderen ein Gendarm erschlagen hatte, einer aus Korsankes Reihen, der mit einem blitzenden Helm auf Haussuchung ging.
Er hielt ganz still und sah den Kindern zu. Das eine war schweigsam und mit einem tödlichen Ernst in dem jungen Gesicht, gerade so wie Michael gewesen war, ob er nun hinter dem Pfluge herging und den Acker des Schulzen umbrach, oder ob er auf der Schwelle lag, die Kugel in der Brust, und nach rückwärts lauschte, ob ihm ein Sohn geboren würde, ehe der dunkle Vorhang ihm über die furchtlosen Augen fiel.
Das andere war, wie seine Mutter als Kind gewesen war, wenn sie in der Jeromin-Küche die Abendsuppe kochte und die Verse des Märchens über ihre wartenden Geschwister sprach:
»Mantje, Mantje, Timpete,
Buttje, Buttje in de See ...«
Das weißblonde Haar fiel ihr in die Stirn, und manchmal strich sie es mit dem Rücken der Hand zurück, so wie ihre Mutter es getan hatte. »Zuerst Blumen«, sagte sie zärtlich, »daß die Erde es nicht drückt ...«
Jons reichte ihr gehorsam die kleinen Gänseblumen, die wie Sterne im Grase lagen, aber es war seinem Gesicht anzusehen, daß er das nicht billigte und für verkehrt hielt. »Erde ist Erde«, sagte er schließlich. »So hat auch mein Vater gesagt.«
Sie sah ihn verwundert von der Seite an und fuhr fort, das kleine Grab mit Blumen zu füllen. »Väter sagen manchmal so was«, erwiderte sie weise.
Aber dann nahm sie doch von der schwarzen Gartenerde, die er ihr reichte, und streute sie behutsam in die schmale Höhlung. »Es wird gesät verweslich«, sagte sie mit ihrer hohen Kinderstimme, »und wird auferstehen unverweslich ...«
Jons hörte mit unbewegtem Gesicht zu, aber er sah nicht auf ihre Hände, die den kleinen Hügel mit Moos bedeckten, sondern zuerst über den See hin, der wie dunkles Metall vor den Wäldern lag, und dann mit unruhigen Augen den Gartenzaun entlang, über dem der Flieder blühte. Und bei dem ersten leisen Klirren der Kinnkette an Korsankes Pferd sprang er auf wie ein junges Tier aus dem Lager, warf einen langen stillen Blick auf den Reiter und ging dann dem Hause zu, die Hände auf dem Rücken, wie ein Mann, der in Gedanken versinkt.
Barbara aber kletterte mit einem Jubelruf über den Zaun und ließ sich von Korsanke auf den Sattel vor sich heben, aber noch bevor sie das Haus hinter sich gelassen hatten, wandte sie den Kopf zurück und ließ ihre Augen über alle Büsche gleiten. »Immer geht er fort, wenn jemand kommt«, sagte sie. »Und es tut ihm doch niemand was zuleide ...«
Noch nicht, dachte Korsanke. Noch nicht ... Und er streichelte in Gedanken das helle Kinderhaar an seiner Brust. »Halte dich nur immer zu ihm«, sagte er. »Das wird ihm gut tun für alle Zeit.«
Er nahm das Mädchen bis zu seinem Hause mit, gab ihm ein Glas Honig für die Mutter und sah ihm dann nach, wie es die Dorfstraße entlanglief, und es sah aus, als tanze sie.
»Stilling war da«, sagte seine Frau. »Er hat Sorgen, weil die Mark fällt, und Jons soll doch davon studieren.«
Korsanke nickte und schob den Teller zurück. Es schmeckte ihm nicht, obwohl er hungrig war. »Sie wird noch weiter fallen«, sagte er. »Auch die Republik kann nicht alles halten, was fällt. Laß mich nun ein bißchen schlafen, ich will nachher zu ihm gehen.«
In der verdunkelten Kammer horchte er eine Weile auf den leisen Schmerz, der sich verschärft hatte, aber dann schoben sich die Dinge des Vormittags davor, Menschen, Worte und Bäume, und im beginnenden Schlaf war es ihm, als hätte er sein ganzes Leben durchschritten an diesem Tage, weit in die Vergangenheit zurück und weit in die Zukunft hinein. Als hätte Gott ihn leise heimgesucht, während er zu einer Haussuchung unterwegs gewesen sei. Und das letzte beunruhigende Gesicht war die Gestalt des kleinen Jons, wie er von ihm fortging, die Hände auf dem schmalen Kinderrücken, und das altkluge Kinderwort: »Erde ist Erde!«, das nun seinen ersten Traum zu erfüllen begann, sich immer wiederholend, mit einer eintönigen Qual, die wie die Qual eines Fiebers war.
Am Abend stieg er langsam den Hang zum »Zwergenhäuschen« hinauf, wo Stilling nun mit seiner Schwester lebte. Die Sonne beglänzte die Weltkugel, die vor den Büchern stand, und es war der Große oder Stille Ozean, der Korsanke seine blaue Unendlichkeit zuwendete.
Aber der alte Lehrer saß nicht vor der Weltkugel, sondern er stand vor seinem schmalen Lesepult, das mit Papieren bedeckt war, und hatte den weißen Kopf in seine Hände gestützt. »Sie fällt, Korsanke«, sagte er und nickte dem Gast zu. »Sie fällt, und mit ihr wird auch Jons Ehrenreich fallen, denn wovon soll er nun seine Kolleggelder bezahlen? Bin ich ein ungetreuer Hausvater gewesen, Korsanke?«
Seine blauen Augen, die im Alter nun ganz hell geworden waren, gingen bekümmert über die Bücherreihen hin, als gehe ihm nun die Erkenntnis auf, daß er diese Weisheit aller Zeitalter mißverstanden habe, weil sie ihn nicht vor dem Irrtum bewahrt hatte, daß das Geld etwas Bleibendes und Unveränderliches sei.
Aber Korsanke machte nur eine begütigende Bewegung mit seiner rechten Hand und fuhr fort, den Stillen Ozean zu betrachten, über den die feinen Linien des Gradnetzes liefen. »Mache dir keine Sorgen, Stilling«, sagte er. »Oder meinst du, daß Elisa vor einer Inflation die Waffen strecken wird? Ich habe noch nichts gesehen, wovor sie ihre Waffen gestreckt hätte. Und sie können nicht alle Studenten entlassen, die nicht ihre Taschen mit Gold gefüllt haben.«
»Ach, sie können alles, Korsanke«, erwiderte Stilling und legte seine mit Zahlen bedeckten Papiere übereinander. »Sie können Kriegsanleihen mit einem Strich zunichte machen und morgen eine neue Kriegsanleihe auflegen. Der Staat hat kein Gewissen, weißt du. Alle anonymen Mächte, hinter denen nicht ein einzelner Mensch steht, haben kein Gewissen. Schon wo zwei oder drei sich zusammentun, gibt es eine Firma oder einen Verein, aber kein Gewissen. Nur der einzelne hat es, du oder ich ... morgen will ich zum Herrn von Balk gehen, der denkt immer für sich allein, nicht wie die Zeitungen denken, wo es auch kein Gewissen gibt. Er hat Kühe und Felder, und Kühe haben keine Inflation.«
Korsanke nickte, aber seine Gedanken waren weit fort. »Meinst du, Stilling«, sagte er nach einer Weile und deutete auf den Stillen Ozean, »daß sie dort auch so leben? Die kleinen Dörfer, meine ich. Daß die Toten in den Tag hineinreichen, bis an die Türschwelle sozusagen, und daß das meiste nichtig und eitel ist?«
Stilling sah ihn prüfend von der Seite an und schob ihm dann den Tabakkasten zu. »Laß es gut sein, Korsanke«, sagte er freundlich. »Grüble nicht auf deine alten Tage. Sorge ein bißchen für die Gerechtigkeit, und das andere wollen wir dem Herrgott überlassen.«
»Ja, ja«, erwiderte Korsanke und stopfte sich langsam seine kurze Pfeife. »Aber siehst du, heute bin ich um den See geritten, und es war so ein seltsamer Tag. Es war so, weißt du, als wäre die Erde aufgetan, und ich konnte alles sehen, was verborgen war. Menschen, weißt du, und Lebensläufe, und Heimsuchungen ... ja besonders Heimsuchungen ...«
Und er sagte langsam das Lied auf, das die Kinder am Morgen in der Schule gesungen hatten. »Das singen sie nun, Stilling«, sagte er bekümmert. »Erst mußt du beten lernen, verfluchtes Humpelbein ...«
Der Lehrer lächelte hinter seinen Rauchwolken. »Laß es gut sein, Korsanke«, sagte er noch einmal. »Sie denken immer, daß sie wie Gott sind und ein kleines Dorf nur wie die ›Finsternis‹ in der Schöpfungsgeschichte, aus der sie eine neue Welt erschaffen könnten. Aber die kleinen Dörfer, weißt du, sind immer stärker als diese neuen kleinen Propheten. Denn ein Dorf besteht nicht nur aus Kindern, denen man Lieder beibringen kann. Ein Dorf besteht aus Alten und Jungen, aus Toten und noch nicht Geborenen, aus Sand und Wasser und Wald, aus Vergangenheit und Zukunft. Ein Dorf ist nämlich in die Ewigkeit eingebettet, wie ein Kind in seine Mutter, und solch ein Lied, Korsanke, macht der Ewigkeit nichts aus. Es ist nur wie ein einziger Wimperschlag in einem ganzen langen Menschenleben.«
»Ja, ja«, sagte Korsanke. »Aber siehst du, dann war da der Mann mit dem leeren Rockärmel ... und dann war die Jerominfrau vor dem Meiler ... und Kiewitts Pferd ... und zuletzt war der kleine Jons, wie er sich umdrehte und von mir fortging wie von einem Mörder, und ich war es doch nicht, der Michael erschossen hat ... ich will dir sagen, wie es war, Stilling: es war, als hätte Gott mich bei der Hand genommen heute früh, um mir zu zeigen, daß wir keine Haussuchungen halten sollen. Es ist nicht unser Haus, Stilling, es ist sein Haus!«
»Du mußt ein bißchen ausspannen, Korsanke«, sagte Stilling und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es kommen mal so Zeiten, siehst du, in denen die Uniform von uns abfällt, und sie braucht gar nicht bunt und glänzend zu sein wie deine. Das Angemaßte fällt ab, verstehst du? Das kleine Menschliche. Und wenn wir dann nackt sind, ist es uns plötzlich, als rühre Gottes Finger uns zum ersten Male an. Aber er hat uns immer angerührt, wir haben es nur nicht gemerkt durch die Uniform hindurch.«
»Und was will er? Weshalb rührt er uns an?«
»Vielleicht will er nur, daß wir die Augen aufmachen, Korsanke, so wie wir einen Schlafenden leise mit dem Finger berühren. Er will, daß wir seine Füße sehen, wie sie durch Zeit und Ewigkeit gehen. Nicht die neuen Lehren oder die neuen Lieder, nicht die leeren Rockärmel oder die leeren Augen. Sondern eben nur sein Füße, die vor uns hergehen wie eine goldene Spur.«
»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte Korsanke nach einer langen Weile und drehte die Weltkugel langsam um ihre Achse. »Und vielleicht tut es deshalb auch wieder ein bißchen weh ...«
Stilling sah ihn bekümmert an. »Weshalb gehst du nicht zum Arzt, Korsanke? Es kann eine Kleinigkeit sein. Nach diesen Hungerjahren müssen solche Dinge kommen, und du würdest dann doch beruhigt sein.«
Der Gendarm schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich warte, Stilling«, sagte er. »Ich warte auf Jons Ehrenreich. Ich denke mir immer, daß er wie ein Heiland zu uns kommen wird. Und siehst du, ich bin nun einmal ein bißchen komisch darin: ich könnte mich nicht ausziehen vor den Leuten in der Stadt. Zwölf Jahre bin ich Soldat gewesen, und da habe ich es ja oft genug tun müssen. Aber nun widersteht es mir. Es ist mir, als könnte ich das nur hier tun, in Sowirog, vor einem, der der Unsrige ist ... Hab nun schönen Dank, Stilling. Es ist mir doch leichter ums Herz. Und auf den Humpelbeinsänger will ich ein bißchen achtgeben, damit er nicht zu schnell wächst.«
»Das tu nur«, sagte Stilling gutmütig und begleitete ihn bis zur Tür. »Aber der liebe Gott wird schon dafür sorgen, daß er nicht zu schnell wächst. Er hat einen guten Zollstock, der liebe Gott.«
Dann sah er ihm noch eine Weile nach, wie er den Steig langsam hinunterging, ein bißchen gebeugt in den Schultern, wie niemand es bisher an ihm gekannt hatte. Und dann kehrte er an sein Pult zurück und schloß die Papiere in die Schublade.
»Aber qualmen muß er noch wie ein armer Mann, der Brot backt«, sagte Elisa und öffnete die Fenster. »Auch wenn Gott ihn schon gezeichnet hat.«
»Wen zeichnet er nicht, Schwester?« erwiderte Stilling. »Wir sind von Kindesbeinen an gezeichnet, nur daß wir es nicht sehen. Und das Rauchen gönne ihm schon. Für manchen ist Rauchen so gut wie ein Gebet.«
»Manchmal redest du wie ein Nebukadnezar«, sagte Elisa zornig. »Und manche Männer bekommen nur aus Versehen weiße Haare.«
Nach dem Abendessen setzte Stilling sich auf den kleinen Balkon unter dem Dach, der wie ein Vogelbauer aussah. Es gab nicht viel mehr Platz als für den alten grünen Ohrenbackenstuhl, aber von hier aus lagen Dorf und Wald und See fast wie auf einer Landkarte ausgebreitet, und für einen alten Mann, der sein Leben hier zugebracht hatte, war es schön, hier zu sitzen und zuzusehen und zuzuhören, wie der Friede des Abends über die Erde kam. Es gab keinen Giebel, von dem er nicht wußte, was er bedeckte, und keinen Ton im Dorfe, von dem er nicht wußte, wohin er gehörte und was er bedeutete. Das Abendrot stand groß und feierlich über Wasser und Wald, und die Welt sah aus wie aus Glas gesponnen. Ein durchsichtiges und zerbrechliches Sein, und die Kette der Kraniche über dem Moor erschien wie ein feiner Sprung im Glase, der sich mit einem leisen Tönen weiterfraß nach dem Horizont.
Eine schrille, scheltende Stimme drang von einem der Hofräume bis an das Zwergenhaus, und Stilling wußte, daß es die alte Frau Kroll war, die ihr Altenteil verteidigte. Das böse Herz des Dorfes, und weder Krieg noch Hungersnot würden sie dämpfen. Ein zweistimmiges Lied vom Seeufer, langgezogen und traurig, und eine helle Kinderstimme ging wie eine Vogelschwinge darüber hin. »Es dunkelt schon auf der Heide«, sangen sie. »Nach Hause wollen wir gehn.« Das waren die Frauen aus dem Jeromin-Haus, und die Kinderstimme gehörte der kleinen Barbara. Das Mädchen aus dem Nachbardorf, um das Friedrich gestorben war, sang nicht mehr. Es saß wohl still dabei, wie es unter Menschen zu tun pflegte, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte nach der Insel hinüber. Es hatte einmal eine Flöte gehört, die einen Zauber über Menschen und Tiere geworfen hatte, und danach sang man nicht mehr. So ein wunderliches Haus ..., dachte der alte Lehrer, und noch ist es nicht zu Ende mit den Wundern ...
Und dann kam jemand über das Moor gegangen und hatte in beiden Händen etwas an der Brust geborgen, einen Vogel oder eine Pflanze. Und das war Goguns Sohn. Der Sohn des Kranichräubers, der im Moor versunken war, den Dolch in der fröhlichen Brust, und die Kosaken hatten nach ihm wie nach einer Zielscheibe geschossen. Das schweigsamste Kind im ganzen Dorf, noch schweigsamer als der kleine Jons, und das Schicksal zog wie eine rostige Kette hinter seinen Füßen her.
Lieber Gott, dachte Stilling, wie öffnest du doch deine Erde vor meinen Augen und bin doch nur ein blinder und alter Mensch vor dir ...
Er sah nach dem hohen Walde hinüber, hinter dessen blauer Wand der verlassene Meiler stand, und am Meiler die verlassene Frau, deren Herz versteinert war. Aber Stilling wußte, daß es ein glühender Stein war, und niemand wußte, wie so etwas schmerzte, nicht einmal er. Und daß die Lichtung vor ihrer Hütte voller Gestalten war, Tote und Lebende, und daß sie lautlos die Hände um sie rang.
Aber von da gingen seine Gedanken zu Ehrenreich in die große Stadt, der über dicken und schweren Büchern sitzen mochte, und in den Büchern war Gottes Ebenbild gemalt, ohne Hüllen, ganz nackt und bloß, und die jungen Augen glitten die roten und blauen Linien entlang, die Adern und Muskeln und Nervenstränge, und in der Mitte war das große Wunder, das ewige Geheimnis, das Menschenherz. Stilling sah ihn dasitzen, das Lampenlicht auf dem hellen Haar, und hinter ihm stand die ernste Wand der Bücher, die dem toten Jumbo gehört hatten. Schweigen war in dem großen Haus, und auch der Buchfink unter seiner Decke hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt und schlief. Nur das junge Menschenkind wachte, dessen Gesicht doch nicht mehr jung war, weil es aus einem dunklen Hause kam und durch Krieg und Sterben gegangen war, und durch Dinge, die schwerer waren als Krieg und Sterben. Aber es war hindurchgegangen, weil sein Vater und Großvater hinter ihm gestanden hatten, eine erhobene Tafel in ihren verarbeiteten Händen, und auf der Tafel stand das Gesetz der armen und rechtlichen Leute, die »Gerechtigkeit auf dem Acker«, oder wie man es nun nennen wollte. Und hinter den Vätern stand das Dorf, das kleine und unbekannte Dorf Sowirog, in dem er gegen den Tod kämpfen wollte. Und hinter dem Dorf alle anderen kleinen und unbekannten Dörfer der Erde, die große, die unendliche Gemeinde der Armen und Mißhandelten, und wenn der Lesende einmal die Augen von den Blättern und Bildern hob, mochte er sie wohl alle sehen, die im Schatten standen und warteten, von Korsanke an, mit seinem leisen Schmerz unter dem Koppelschloß, bis zu der geschlagenen Frau vor dem erloschenen Meiler, und das Pendel der alten, wurmstichigen Uhr, die Jumbo bei einem Trödler erworben hatte, mochte mit jedem seiner eiligen und etwas heiseren Schläge ihn daran erinnern, daß es für ihn keine Müdigkeit zu geben habe, keine flache Lust, kein Sichverweilen. Das Salz der Erde wartete, daß er es dämpfe, wie der alte Gastwirt gesagt hatte, und der hatte nicht zu schlafen, um dessen Lager die Tränen fielen.
Stilling hatte die Hände gefaltet und den Kopf an den grünen Rips des Stuhles zurückgelehnt. Der Abendstern stand nun schon leuchtend über dem Kiefernwald, die Dächer waren zu dunklen Flecken geworden, die Stimmen waren verstummt, und ein paar matte Lichter hoben sich verloren aus der fallenden Nacht. Die Fliederbüsche dufteten, und von den Nebeln über dem Moor kam der Geruch der Birken in schweren Wellen über das Dorf. Die Erde atmete, lautlos und wie eine unendliche Zuversicht, und der alte Mann saß dort über Nebel und Dunkelheit, unter dem hellen Schein seines weißen Haares, das stille Gewissen des Dorfes, und sein siebzigster oder fünfundsiebzigster Frühling war ihm so schön wie irgendeiner seiner Kinderzeit. Das Dorf Sowirog, das der Eulenwinkel hieß, was hatte der Herr mit ihm vor, indes die Sterne sich langsam entzündeten und über den Wald stiegen?
Er wußte es nicht, aber er hielt die Hände gefaltet und fühlte die große Geduld, in die sein Herz eingebettet war wie die Sterne in das dunkle Himmelsgewölbe.
»Wie gehen deine Tage, Jons Ehrenreich?« fragte Stilling in einem seiner Briefe, und Jons blickte auf die kleinen, etwas zittrigen Buchstaben, die wie gestochen aussahen, und dann von dem Briefblatt durch das Fenster, vor dem der alte Buchfink saß, auf die graue Mauer, von der der Bewurf nun in großen Stücken abgefallen war. Und hinter der Mauer sah er das Dorf Sowirog mit See und Wald und Feld, und auf dem Moor sah er die grünen Birken wehen und Pionteks Herde hinter dem kleinen Hirtenfeuer, und auf der sandigen Straße sah er die Kinder spielen, und am Meiler sah er die Mutter sitzen, im schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, und die berußte Fichtenstange lehnte immer noch an dem erloschenen Hügel.
Wie so eine Welt sich aufbauen konnte hinter einer fleckigen Wand, und so nahe war sie, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um den grauen Zaun zu berühren, der um das Jeromin-Haus lief ... Das Auge, das war die Retina, und Stäbchen und Zäpfchen, und der nervus opticus und die lens crystallina, und hundert andere Namen und Wunder, und wenn man die Namen und Wunder zusammensetzte, blieb doch immer noch das große Geheimnis, wie alles in einem winzigen Keim zusammengeschlossen war und sich entfaltete und das nackte Bild mit Farben erfüllte, mit Vorstellungen, mit Leiden und Schmerzen, und darüber hinaus mit der Idee der Ewigkeit.
Er seufzte leise und schüttelte den Kopf, indes seine abwesenden Augen sich langsam wieder mit der Wirklichkeit zu erfüllen begannen. Ja, wie gingen seine Tage? Sie begannen in der Frühe, wenn der erste Sonnenstrahl die grüne Spitze des Kirchturms rötete, und sie endeten in der Nacht, wenn das Sternbild des Großen Bären sich über die Mauer neigte. Lange Tage, an dem heiseren Schlag des Perpendikels gemessen, und kurze Tage, an dem Bewußtsein gemessen, das von ihnen erfüllt wurde. Erfüllte Tage, wenn man sie auf die Waagschale der Arbeit legte, und dürftige Tage, wenn man die Frucht maß, die sie trugen. Eine Tasse Tee in der Frühe, auf einem kleinen Spirituskocher bereitet, und ein Stück Schwarzbrot aus dem Jeromin-Haus. Und danach eine von Jumbos kurzen Pfeifen, aus dem Tabakkasten gefüllt, den er zurückgelassen hatte, und ein paar Minuten vor der Bücherwand, die er Jons vermacht hatte. Hier und da ein behutsamer Griff nach einem der abgeschabten Bände und das Umblättern von ein paar Seiten, um die Bleistiftnotizen in der winzigen Schrift des Toten zu lesen. »Laufe nicht«, stand da, »denn du überholst das Schicksal nicht!« Oder: »Wenn der Tod kommt, reiche ihm noch den Schleifstein, damit er sieht, daß du bereit bist.« Oder ähnliche frühe Früchte eines stillen, tapferen und nachdenklichen Lebens.
Jons war es, als seien sie nur für ihn aufgeschrieben und als habe der Tote lange vorher gewußt, daß er hier einmal stehen würde, das »Mönchlein«, ohne Berater und ohne Freund, und sein schweres Tagewerk mit einem solchen Leitwort beginnen. Er hatte soviel gewußt, dieser Gastwirtssohn, der nun unter den Tannen in Rußland schlief, die vermoderte kurze Pfeife in der vermoderten Hand. Ja, von dieser Unsterblichkeit wußte Jons nun, von der des Wortes, das man still und vorsichtig in die Furchen des Herzens streute.
Er stellte den Band langsam in die Reihe zurück, gab dem Buchfink Körner und Wasser und schlug dann ein Buch und seine Kolleghefte auf, den Kopf in beide Hände gestützt, so wie der Vater über der Bibel gesessen hatte.
»Wie gehen deine Tage, Jons?« So wenigstens begannen sie, am Werktag wie am Sonntag, und tausend oder zweitausend Tage würden so beginnen, nur daß die Bücher wechselten und der Stand der Sonne über der noch schlafenden Stadt. Von dem, was das Herz erfüllte, war nicht zu reden, obwohl Stilling wohl mehr daran dachte als an die Kolleghefte. Das Herz war zugetan und verschlossen, für lange Jahre. Das Herz war für die Reichen und Sorglosen, für die Dichter und die Liebenden, aber nicht für jemanden, der von eines alten Mannes Erspartem lebte, wie ein Kranker von gespendetem Blut lebt. Er aber hatte nur im Geist zu leben, in dem, was er früh als das Brüchige, das Unvollkommene erkannt hatte, in dem, worauf die Menschheit des Abendlandes immer schneller zutrieb, wie in einen rasenden Strudel, und niemand wußte noch, was auf dem verborgenen Grunde mahlte. Und es kam nur darauf an, das andere still zu bewahren, das, was der Vater gehabt hatte, der Großvater, was das Dorf besaß: die dumpfe Einfalt des Herzens. Und einmal, wenn er sein Rüstzeug erworben hatte, dieses beides wieder zu vereinen, nicht das eine um des andern zu verlieren, ganz zu bleiben, auch wenn es für Jahre nur um das Handwerk ging, um Namen und Kenntnisse, um Instrumente und Methoden, um die Überlistung dessen, was sie den Tod nannten. Und es war doch nur eine arme Überlistung, ehe man nicht wußte, daß er nur die andere Seite des Lebens war. Erst wer ein Freund des Lebens war, konnte ein Arzt sein, nicht, wer nur ein Feind des Todes war.
Langsam begann das Haus zu erwachen, die leisen Geräusche hinter dem Vorhang, wo die Schwestern Holstein immer noch schliefen, der erste rauhe Kampfschrei der ländlichen Pensionäre, die erste Schlagermelodie aus einer heiseren jungen Kehle. Aber es kam nur wie hinter dicken Mauern zu ihm her, aus einer fernen, ihm nicht zugehörigen Welt. Es war nicht, wie ein Feld erwacht, ein Wald, ein Dorf. Nur der Mensch erwachte, der Gefangene, der vom großen Dasein Abgetrennte, und so mochte das Erwachen in einem Gefängnis sein, das leise Klirren der Ketten, der Riegel, der Laut von vielen Füßen, und darüber ein wildes, aber ganz und gar vergebliches Lied.
Und dann kam die älteste der Schwestern, die ihm zugetan war mit ihrem freudlosen Leben, so wenig sie die jungfräuliche Angst vor ihm ganz überwunden hatte, vor den dunklen und blutigen Schicksalen seines Hauses, vor dem tödlichen Ernst seines Weges. Sie brachte ihm die kleine Kanne mit Kornkaffee und zwei Brötchen, wenn die Bäcker nicht gerade im Streik standen. Sie setzte alles leise auf die Tischdecke, nachdem sie sich ängstlich vergewissert hatte, ob in den Büchern nicht gerade eine der schrecklichen Abbildungen aufgeschlagen war, in denen der Mensch, das Ebenbild Gottes, wie ein geschlachtetes und ausgeweidetes Tier in grellen Farben vor ihr lag. Und dann setzte sie sich auf den Rand des alten Sofas mit den weißen Porzellanknöpfen, legte die blutlosen Hände im schwarzen Schoß zusammen und sah Jons an. Die Witwe Holstein war nun gestorben, an den Entbehrungen des Krieges, dem Hunger, der Kälte und der grauen Zwecklosigkeit ihres Lebens, und die »drei Parzen«, wie der ländliche Witz die Schwestern immer noch nannte, fochten nun allein den bitteren Kampf gegen die Unbotmäßigkeit ihrer Pensionäre, gegen Lebensmittelkarten und Steuern, gegen Streiks und Revolutionen, gegen das unendliche und grauenvolle Einerlei des Lebens und gegen den stillen, fressenden Haß, den sie immer noch gegeneinander trugen.
Für diese aber, die wenigstens einer sanften Traurigkeit noch geöffnet sein konnte, war diese Viertelstunde in der Sofaecke wie eine Frühmesse für den verlassenen Gläubigen. Hier war nicht einer, der Widerstand leisten oder quälen wollte, nicht einer, der verachtete oder an rohen Scherzen Gefallen hatte. Hier war einer, der aus einem schweren Leben kam und in ein schwereres ging. Der die Erde des Dorfes noch unter seinen sauberen Schuhen trug und die Frömmigkeit seines Vaters noch in seinen Händen bewahrte. Der nicht mit Zucker, Kaffee und Zigaretten handelte wie die anderen. Den sie in den Krieg hatte ziehen sehen und aus ihm zurückkommen, nicht lärmend, nicht prahlend, nicht verbittert und nicht aufrührerisch, sondern mit seinem stillen, früh gezeichneten Gesicht, und um den sie gebangt hatte wie um ein Kind, das sie selbst unter dem Herzen hätte tragen können. Der andere war gegangen, der wie ein lächelnder Mönch hier gelebt hatte, und sein Lächeln war ihr unheimlich gewesen, unheimlich wie sein Tod, von dem Jons ihr erzählt hatte, und wie sein Vater, der ein Trinker war und mit der zitternden Hand seinen Zylinder geglättet hatte.
Aber dieser war geblieben, und er war nun fast ein Stück ihres armen Herzens geworden, von dem Augenblick an, als er mit dem alten, komischen Lehrer zum ersten Male auf ihrer Schwelle gestanden hatte, das Bauer mit dem Vogel in der Hand und die ernsten Augen klar und ohne Falsch zu ihr aufgeschlagen, bis zu diesen Morgenstunden, in denen sie ein Weilchen bei ihm saß und zusah, wie er mit abwesenden Gedanken aß und trank, ein früher Arbeiter, dessen Augen schon beim nächsten Werk waren und von dessen Hoffnungen und Leiden sie so wenig wußte wie von denen eines Bergmannes oder eines Königs.
»Die Mark fällt, Herr Jons«, sagte sie mit ihrer leisen, bekümmerten Stimme und blickte die Bücherreihen entlang, wo die vergebliche Weisheit gesammelt stand, die Weisheit, die nicht verhindern konnte, daß es Hunger und Kriege und Inflation gab. »Was soll werden, Herr Jons?«
Jons kehrte von den Geheimnissen der Sehnerven, der Zäpfchen und Stäbchen zurück und sah sie an. Das gütige, karge Lächeln seines Vaters war um seine Lippen, als er begütigend sagte: »Was immer war, Fräulein Holstein, und was schon im Alten Testament geschrieben steht: ›Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht‹, davon haben die Leute in Sowirog gelebt, hundert oder tausend Jahre, und davon werden auch wir leben. Solange die Mark fällt, ist nichts verloren. Erst wenn die Erde fällt, wird es schlimm. Aber sie fällt noch nicht, und Sie sollen eines tun: Sie sollten Ihre jungen Leute nur gegen Lebensmittel aufnehmen und sich Ihre Arbeit mit Roggen oder Weizen bezahlen lassen. Herr von Balk hat mir das geschrieben, und er weiß mehr als alle Nationalökonomen.«
Fräulein Holstein nickte vor sich hin und sah ihn dann mit ihrem scheuen Lächeln an. Es war nur wie der Rest eines Lächelns, das, was aus fünfzig Jahren übriggeblieben war, aber es verschönte ihr blasses, langes Gesicht. »Immer gibt es einen Trost bei Ihnen, Herr Jons«, sagte sie, »wenn es überall nur Haß und Tränen gibt. Und sicherlich werden Sie ein großer Arzt werden.«
»Werde ich?« fragte Jons und sah aus dem Fenster auf die graue Wand. »Ich will mir Mühe geben, Fräulein Holstein.«
Dann stand sie leise auf, weil seine Augen schon wieder weit fort waren, nahm das Geschirr lautlos von der Tischecke und ging zur Tür. Aber dort drehte sie sich noch einmal um und umfing mit ihren traurigen Augen das Bild des Raumes und des über die Bücher Gebeugten, und es war ihr, als werde sie sterben müssen, wenn diese Gestalt dort nicht mehr sitzen werde, dieser stille Abendschein ihres freudlosen Lebens, dieser lautlose Brunnen in der grauen Wüste ihres Lebens.
Jons aber sah nach der alten, wurmstichigen Wanduhr, packte seufzend seine Hefte zusammen, sprach ein paar leise Worte mit dem Buchfinken und ging dann die stillen Straßen zum Botanischen Institut hinunter, wo sein Tagewerk begann. Die Hüfte schmerzte immer noch, und an Regentagen nahm er einen Stock zu Hilfe.
Er ging langsam, und seine Augen nahmen alles auf, was der Weg ihm bot. So wie alles geordnet und bedacht war in seinem jungen Leben, so hatte er gleich zu Beginn des Semesters beschlossen, auf diesen Wegen von Institut zu Institut seine Bücher zu vergessen und dieses steinerne Leben so aufmerksam zu durchwandern, wie er als Kind einen Wald durchwandert hatte. Er wußte, daß Bücher wie Mauern sein konnten, die die Welt verschlossen, und da er mit einer frühen Erkenntnis über den Gefahren seiner Anlage wachte, fiel es ihm nicht schwer, nach einem »Plan« zu leben, wie er es nannte, auch wenn er sich mit einem spöttischen Lächeln nicht verhehlte, daß eben auch dieser Plan eine Gefahr war. Sein Vater und Großvater hatten nicht nach einem »Plan« gelebt, sie hatten nur versucht, den Plan zu erfüllen, den Gott mit ihnen gehabt hatte; aber unter seinen Geschwistern hatte es Warnungen für ihn gegeben, die er nicht vergaß.
So gingen seine stillen Augen über Häuser und Menschen dahin, immer noch unbestechliche Augen, und ihnen entging nicht, daß mancher Putz von beiden abgefallen war, ja daß die neue Freiheit mehr daran getan hatte als die harte Hand des Krieges. Er kannte nun nach zehn Jahren das Gesicht der kleinen Läden wie die großen, prahlerischen Schaufenster, den Mann, der das ausgefahrene Pflaster fegte, wie die alten Rentner, die mit ihren letzten Schmucksachen heimlich zum Trödler schlichen, um das nackte Leben zu fristen. Das Lehrmädchen, das in der Munitionsfabrik Geld gewonnen und Besseres verloren hatte, und den Sohn der Waschfrau, der mit einer zu bunten Krawatte vor dem schwarzen Schild stand, auf dem mit Kreide der Dollarkurs angeschrieben war. Es war ihm, als blicke das Schicksal aus allen den vielen Fenstern, ein hartes Schicksal, ungerührt von Zeitungsaufsätzen, von Umzügen und Versammlungen, das Schicksal, das über die Entwurzelten gesetzt war, und als lebten die Leute von Sowirog ein sichereres Leben trotz ihrer Armut, weil die Kartoffeln am Moorrand für sie wuchsen, der kümmerliche Roggen auf den sandigen Feldern, die kleinen, sauren Birnen an den Ackerrainen. Die Revolutionen reichten nicht bis in die Erde, und die einzigen Umzüge, die sie kannten, gingen mit dem Taufkind zur Kirche, oder mit einem Fichtensarg zum Friedhof, oder Piontek zog mit der Herde zum Walde und am Abend wieder heim. Der Kaiser war nicht mehr da, sondern ein Reichspräsident, aber sie hatten keinen von ihnen je gesehen. Sie sahen nur Korsanke und den alten oder neuen Lehrer und sehr selten den Landrat. Sie hörten, daß der Arbeiter nun dicht an Gottes Thron stehe, aber sie merkten nichts davon. Es galt wohl nicht für den Eulenwinkel.
Jons ertappte sich dabei, daß er wieder träume, und er lächelte sich gutmütig zu. Er merkte, daß die Straßenbahn nicht fuhr, und mußte an einer Hauptstraße eine Weile warten, weil ein langer Zug von Männern, Frauen und auch Kindern vorüberkam. Sie trugen rote Plakate mit vielen Aufschriften, und ein kleines Mädchen mit zwei festgeflochtenen, abstehenden Zöpfen blickte andächtig zu dem Schild auf, das ihre Hände trugen. »Nieder mit der Reaktion!« stand dort mit ungeschickt gemalten Buchstaben zu lesen, und während das Kind an Jons vorüberkam, strich er ihm lächelnd einmal über das sauber gescheitelte Haar. Aber es wich ihm aus und blickte zornig über die Schulter zurück, als habe er nicht begriffen, daß es sich um große Dinge handle, und daß diese großen Dinge gefährdet seien, wenn die dünne Stange in den schwachen Händen nicht sorgsam und senkrecht getragen werde.
Jons wartete, bis der lange Zug der Gesichter zu Ende ging, trotzige und eitle, bittere und leuchtende Gesichter, aber alle verhungert und entkräftet, seine Gedanken gingen mit einer unvermittelten schweren Traurigkeit zu dem Mädchen Margreta, dem er am Herzen gelegen hatte, bevor der Krieg ihn genommen hatte, und deren junger und zärtlicher Leib von Sprengstoffen zerrissen worden war, ehe er hatte blühen können zu seiner gottgewollten Bestimmung.
»Nun, Jeromin, ist der Dollar zu hoch gestiegen?« fragte sein Nachbar im Hörsaal, ein Lehrerssohn, der noch auf Krücken ging.
Aber Jons sah ihn an wie einen Fremden, und es war zu merken, daß er gar nicht wußte, wer neben ihm saß. Erst nach einer Weile kehrten seine Augen zurück, und er versuchte zu lächeln. »Nein«, erwiderte er und öffnete sein Kollegheft, »ich habe nur an das Lied gedacht: ›Dann gehet leise, auf seine Weise, der liebe Herrgott durch den Wald ...‹«
Der andere sah ihn vorsichtig von der Seite an. »Ein komischer Kauz sind Sie doch, Jeromin«, sagte er.
Dann kam der Professor, und sie nahmen ihre Bleistifte zur Hand.
Für Jons gab es schon im ersten Semester nicht viel mitzuschreiben. Davor bewahrte ihn die Erinnerung an Jumbos Weisheiten, und er wußte, daß alles, was der Professor sagte, viel klarer und faßlicher in den schweren Bänden aufgezeichnet war, die Jumbo ihm hinterlassen hatte. Er notierte nicht viel mehr als den »Gang der Handlung«, aber er zeichnete gern, was die zitternde Hand des Vortragenden mit merkwürdiger Sicherheit auf der Wandtafel erscheinen ließ. Man sagte, daß der Professor ein Morphinist sei, und um dieses Gerücht ließ Jons seine Gedanken wandern. Um die grauen und wie zerklüfteten Züge des abweisenden Gesichtes, um die schmalen, zitternden Hände, um das Leben dieses Fremden, wie es aus Sicherheit und Wissen in das Dumpfe des Rausches gelangt sein mochte, und wie der Geist wohl doch nicht ausreichte, um die Rätsel des Daseins zu bestehen.
Und von da ließ er seine Gedanken weitergehen, zu den vielen Gesichtern, die sich über die Hefte beugten, müde und erleuchtete Gesichter, rohe und demütige, und er versuchte zu erkennen, wie sie nun fünf oder sieben Jahre später sich über einen Sterbenden beugen würden, über das Mädchen etwa, das mit dem Plakat gegen die Reaktion so tapfer die Straßen entlanggegangen war, über den alten Lehrer Stilling etwa, oder gar über den furchtlosen Herrn von Balk. Und dann kehrte er wieder zu dem Mann an der Tafel zurück, der heimlich nach seiner Armbanduhr sah, und manchmal war ihm, als sei dies alles nicht ganz richtig, was hier betrieben wurde, als fehle etwas, was sich mit Worten nicht sagen ließ, aber er wußte nicht, was es war. Nur, daß er ab und zu an den jungen Studenten Tobias denken mußte, wie er nachts auf dem Grabenrand gestanden hatte, den Stahlhelm in den schmutzigen Händen, um die Seligpreisungen über die verbrannte Erde zu sprechen. Als liege da eine Lösung verborgen, aber als werde man lange Zeit brauchen, um sie zu finden.
Dann nickte er seinem Nachbarn mit den Krücken zu und ging langsam durch die stillen, grauen Straßen, zum Chemischen Institut, oder zur Anatomie, oder wohin sein Stundenplan ihn nun gehen hieß.
Was ihm am meisten Sorge machte, war nicht die Vielfalt der Arbeit, sondern ihr zäher und langsamer Gang. Daß der vorausfliegende Geist immer wieder zurückkehren mußte zu den Elementen und daß der Hand noch immer nichts zu tun blieb, als zu schreiben oder zu zeichnen, indes sie doch ein Messer halten wollte, um mit einem ganz behutsamen Schnitt in das Innere einer Schöpfung zu dringen, das Kranke vom Gesunden zu trennen und die Wurzeln des Lebens wieder freizulegen für Wachstum und Atem. Und unterdessen fiel die Mark, wie Fräulein Holstein sagte, wurden die Umzüge häufiger und länger, der Haß der Zeitungen bitterer, der Beifall der Studenten immer lauter, wenn einer der Professoren mit billigem Spott sich an die neuen Männer heranmachte, die nun das Schicksal des Reiches aus der Zerstörung herauszuführen versuchten.
Ja, auch der Krieg war ihnen ein Beruf gewesen, dachte Jons, wenn er die Gesichter in den Hörsälen betrachtete, ein Beruf wie dieses Studium, und es galt ihnen ganz gleich, ob sie den Tod gaben oder vor ihm retteten. Sie waren nicht neu geworden im Feuer der Schlachten, wie sein Vater neu geworden war, oder Jumbo; sie waren nur zurückgekommen und hatten einen anderen Rock angezogen. Einen Alltagsrock, aber an besonderen Gedenktagen hefteten sie ihre Orden an diesen Rock und verglichen heimlich, ob sie zahlreicher oder bedeutender waren als die Orden anderer.
In der Mittagszeit saß Jons für anderthalb Stunden auf dem alten Sofa mit den Porzellanknöpfen, aß schnell, was Fräulein Holstein ihm brachte, und nahm dann eines der Bücher aus den langen ernsten Reihen. Es war die einzige Zeit des Tages oder der Nacht, in der er nicht an sein Studium dachte. In der er Verse las oder die Lebensweisheit der Alten oder was andere Völker über den Weg der Menschheit gedacht hatten und dachten. Es war die »zwecklose« Stunde, wie er sie nannte, oder die »verbotene«, aber aus ihr gewann sich für ihn der tiefste Trost des Tages und der Nacht, die Ablösung von den Zwecken, die Erkenntnis der Macht des wahren Geistes, die immer zugleich eine Macht des Herzens war, und das leise Erschauern vor dem Zauber der Schönheit, die nicht an eine Menschenform gebunden war, nicht einmal an die Sprache allein, weil die Sprache nur eines der Mittel war, der vielen, mit denen das Tor der Wunder sich öffnen ließ.
Und am seltsamsten war ihm die Erfahrung, daß auf dem Grunde dieser Stunden, ja eigentlich hinter ihrem Grunde das Bild seines Dorfes mit einem ganz stillen Leuchten stand, als hätten die Alten wie die Neuen von ihm gewußt. Von den sanften Linien der Wälder und Hügel bis zu den ärmlichen Gespannen, die über die Äcker gingen, und von dort zu den stillen Gesichtern, die sich über den Pflug oder den Spinnrocken beugten. Als sei auch dort und gerade dort diese geheimnisvolle Schönheit zu Hause, die aus Tagewerk und Ehrfurcht sich zusammenwob, und die nur dort gedeihen konnte, wo Mensch und Menschenwerk sich nicht entfernt hatten von dem alten Urgrund, weder durch die Empörung noch durch den Geist.
Ging er dann wieder am frühen Nachmittag zur nächsten Vorlesung, so trug er die Erinnerung an diese Stunde wie einen stillen Talisman mit sich, ähnlich der feinen silbernen Kette, die er um seinen Hals fühlte und die das Mädchen Margreta ihm umgehängt hatte, als er in den Krieg gegangen war.
Brannte dann am Abend die kleine Petroleumlampe auf seinem Tisch, war der Buchfink zugedeckt und das Fenster hinter dem Vorhang verschwunden, so wischte er mit einer Bewegung seiner Hand die Zeit von seinem Tisch, Vergangenheit wie Gegenwart und Zukunft, und auf seinem Gesicht erschien der harte und gespannte Zug, den sein Vater gehabt hatte, wenn der Meiler zu glühen begann, der Zug eines Mannes, der sich zu verantworten beginnt, nicht vor einem Menschengericht, aber vor seinen Vorfahren oder seinen Kindern, und in diesen Stunden bis zur Mitternacht lernte er, was Arbeit ist, schwere, an die Menschen gewendete Arbeit, ohne Lohn, ohne Ruhm, aber von dem tödlichen Ernst erfüllt, der die Hand des Mannes zum Segen oder zum Fluch wenden kann.
In diesen Stunden formte sich ohne sein Wissen das Gesicht, auf das die Studenten mit Mißtrauen oder Spott, die Professoren mit einer überraschten Aufmerksamkeit und Fräulein Holstein mit Sorge zu blicken begannen, als ein paar Semester vorübergegangen waren.
»Wie gehen deine Tage, Jons Ehrenreich?« fragte Stilling in seinen Briefen, aber darauf war nicht viel zu antworten. Sie reihten sich wie Perlen an eine Schnur, aber wenn man die einzelne in der Hand hielt, war sie grau und unscheinbar, und man wußte nicht, ob das Ganze einmal leuchten würde. Man wußte wenig von Frühling und Herbst, von Hunger und Kälte. Sie waren nur Hülsen, in denen das Korn wuchs, und es wuchs unendlich langsam.
Manchmal, am Sonntagabend, saß er bei Charlemagne, sprach über Menschen und Zeiten oder hörte lieber zu, und manchmal bat er die Frau seines alten Lehrers, wieder ein Lied zu singen. »Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten, es schlafen die Menschen in ihren Betten ...«, oder »Tödlich graute mir der Morgen ...« Und schwang die Stimme sich dann auf mit den strahlenden Akkorden, zu dem »Bis der Sieg gewonnen hieß!«, dann fühlte er die gleiche wunderbare Reinigung seines Daseins wie bei den Klängen der Orgel oder wie damals, als das Wunderkind vor den schwarzen und weißen Tasten gesessen hatte. Auch so also konnte man zu den Quellen kommen, aber es bedurfte der Gnade, nicht des Schweißes, der Gnade, die Friedrich gehabt hatte und um die er erschlagen worden war.
»Sie arbeiten zuviel, Jons«, sagte die Frau, wenn er wieder gehen wollte. »Und Sie gönnen sich keine Freude.«
Aber er schüttelte den Kopf. »Die Meinigen kennen das nicht, ›zuviel Arbeit‹«, erwiderte er. »Wenigstens die nicht, nach denen ich mich zu richten habe. Und Freude hat mein Vater wohl nur am Meiler gehabt.«