Die Jugendlichen und ihr Umgang mit Sexualität, Liebe und Partnerschaft - Eva-Verena Wendt - E-Book

Die Jugendlichen und ihr Umgang mit Sexualität, Liebe und Partnerschaft E-Book

Eva-Verena Wendt

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Beschreibung

Die erste Liebe, der erste feste Partner und die ersten sexuellen Erfahrungen sind etwas Besonderes und stellen als Entwicklungsaufgabe die Jugendlichen vor ganz neue Herausforderungen. Der eigene Körper entwickelt sich in ungewohnter Weise, die erste Trennung und der erste Liebeskummer rufen so noch nicht erlebte Gefühle hervor. Das Buch liefert zunächst aktuelle Zahlen und Befunde zum Sexualverhalten Jugendlicher. Zum Thema Liebe und Partnerschaften werden neben Befunden zur Aufnahme erster Partnerschaften entwicklungspsychologische Modelle vorgestellt und gezeigt, welche Wechselwirkungen Liebe und Partnerschaften mit anderen zentralen Lebensbereichen wie Familie, Freundschaften oder Schule haben. Der Band geht aber auch auf potentiellen Risiken von Sexualität, Liebe und Partnerschaft ein, z.B. verfrühte Sexualentwicklung oder inkonsequente Verhütung.

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Die Autorin

Dr. Eva-Verena Wendt ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München. Sie beschäftigt sich im Schwerpunkt mit der Entwicklung im Jugendalter, insbesondere im Bereich Sexualität, Partnerschaften und Problemverhalten, mit verschiedenen Familienbeziehungen auf Partnerschafts-, Eltern-Kind- und Geschwisterebene, sowie mit unterschiedlichen Familienformen, insbesondere der Familienentwicklung nach Trennung/Scheidung/Adoption. 2011 wurde sie mit dem Preis der Peregrinus-Stiftung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) für herausragende Publikationen mit gesellschaftspolitischer Relevanz ausgezeichnet.

Eva-Verena Wendt

Die Jugendlichen und ihr Umgang mit Sexualität, Liebe und Partnerschaft

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030236-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030237-2

epub:    ISBN 978-3-17-030238-9

mobi:    ISBN 978-3-17-030239-6

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Für Klaus und unsere wunderbaren Söhne Laurenz, Xaver und Hannes

Inhalt

 

 

1     Einleitung: Partnerschaften und Sexualität im Jugendalter als Forschungsgegenstand

2     Sexualität und Partnerschaften als Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

3     Sexualität im Jugendalter

3.1 Sexualität als zentrales Thema der Adoleszenz

3.2 Meilensteine sexueller Entwicklung im Jugendalter: empirische Befunde

3.2.1 Körperliche Reife und Pubertät

3.2.2 Abfolge sexueller Aktivität im Jugendalter

3.2.3 Petting und erster Geschlechtsverkehr

3.2.4 Vorverlagerung sexueller Aktivität?

3.3 Einfluss- und Risikofaktoren sowie Folgen sexueller Aktivität

3.3.1 Frühe vs. späte Aufnahme sexueller Aktivität

3.3.2 Einfluss- und Risikofaktoren

3.4 Verhütungsverhalten und Teenagerschwangerschaften

3.4.1 Teenagerschwangerschaften

3.4.2 Verhütungsverhalten im Jugendalter

3.5 Pornographiekonsum im Jugendalter

4     Romantische Beziehungen im Jugendalter

4.1 Verbreitung und Dauer romantischer Beziehungen im Jugendalter

4.2 Theorien und Modelle

4.2.1 Liebesbeziehungen als Teil der Autonomieentwicklung

4.2.2 Stufen- und Phasenmodelle

4.3 Besonderheiten der Beziehungsgestaltung Jugendlicher

4.3.1 Zunehmende Dauer und Intensivierung

4.3.2 Partnerschaftsgestaltung im Jugendalter

4.4 Partnerschaften im Jugendalter als Bindungsbeziehung

4.5 Transmissionsprozesse aus der Herkunftsfamilie und Einflüsse der Peers

4.5.1 Einflüsse der Herkunftsfamilie

4.5.2 Einflüsse der Peerbeziehungen

4.6 Romantische Involviertheit und schulischer Erfolg

4.7 Trennung und Auflösung von jungen Partnerschaften als Herausforderung

4.7.1 Häufigkeiten von Trennungen im Jugendalter

4.7.2 Umgang und Probleme mit Trennungen

4.8 Gewalterfahrungen/Teen Dating Violence in romantischen Beziehungen

5     Die Verzahnung der Entwicklungsaufgaben Liebesbeziehungen und Sexualität

6     LSBT*I*Q-Jugendliche

7     Präventionsbedarf und Angebote für Jugendliche

7.1 Aufklärungs-/Präventionsbedarf und Unterstützung durch Eltern, Peers, Schule und außerschulische Anbieter

7.2 Arten der Prävention im Jugendalter

7.3 Beispiele und Kriterien gelungener Präventionsmaßnahmen

Literatur

 

 

 

 

1

Einleitung: Partnerschaften und Sexualität im Jugendalter als Forschungsgegenstand

 

Liebe, Partnerschaften und Sexualität gehören fraglos zu den zentralen Themen im Leben Jugendlicher. In den Fantasien der Jugendlichen oder den Gesprächen und Chats unter Gleichaltrigen ist das Thema allgegenwärtig, aber auch in Jugend-Zeitschriften, -Musik und -Büchern. Trotzdem haben sich Wissenschaftler lange Zeit nicht systematisch mit diesem Themenfeld auseinandergesetzt, wobei dies insbesondere für den Bereich der Liebesbeziehungen im Jugendalter galt (Brown, Feiring & Furman, 1999), weniger für das Thema Jugendsexualität. Brown und Kollegen/-innen (1999) gehen davon aus, dass die Liebesbeziehungen Jugendlicher lange Zeit aus fünf Gründen nicht untersucht wurden:

1.  Die gängigen Theorien, die auf dauerhafte Liebesbeziehungen Erwachsener angewandt werden, z. B. zur Partnerwahl, passen nicht.

2.  Die Beziehungen Jugendlicher, die nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt sind, besitzen in den Augen der Forscher/innen nicht die nötige Reife und Ernsthaftigkeit.

3.  Die Kurzlebigkeit der Beziehungen erschwert deren Untersuchung.

4.  Im Zentrum der Forschungsaufmerksamkeit liegen mehr die sexuellen Beziehungen der Jugendlichen.

5.  Die psychologische Forschung betrachtet eher innerfamiliäre Beziehungen.

Den Aufbruch in eine neue Forschungsära stellte eine wegweisende Sammlung von Aufsätzen und Studien dar, die Wyndol Furman, B. Bradford Brown und Candice Feiring (1999) unter dem Titel »The Development of Romantic Relationships in Adolescence« publizierten. Seither sind zahlreiche internationale wie auch nationale Publikationen zum Thema Partnerschaften im Jugendalter entstanden, die das Thema auf vielfältige Weise beleuchten (vgl. von Salisch & Seiffge-Krenke, 2008; Collins, Welsh & Furman, 2009; Seiffge-Krenke & Shulman, 2012; Vierhaus & Wendt, 2018; Connolly & McIsaac, 2009). Bereits in den Anfängen der Forschung in diesem Bereich sind auch spezifische Modelle zur Partnerschaftsentwicklung im Jugendalter formuliert worden, die davon ausgehen, dass sich die Partnerschaften im Verlauf des Jugendalters zunehmend intensiv und langfristig gestalten (Brown, 1999; Connolly & Goldberg, 1999; Furman & Wehner, 1994; Furman & Wehner, 1997) und dass die Erfahrungen im Bereich der romantischen Beziehungen in enger Verbindung mit anderen Beziehungskontexten, etwa der Eltern-Kind-Beziehung, stehen (Furman & Wehner, 1994; Bryant & Conger, 2002; Gray & Steinberg, 1999).

Nicht ganz so stiefmütterlich wurde der Bereich Sexualität im Jugendalter behandelt. Die sexualwissenschaftliche Forschung der Jugendsexualität in Deutschland lässt sich dabei drei Epochen zuordnen (Klein & Sager, 2010):

•  der Enttabuisierungsepoche in den 1960er/70er Jahren,

•  der Individualisierungsepoche in den 1980er Jahren

•  und schließlich der Aids-Epoche in den 1990er Jahren (Klein & Sager, 2010, S. 104).

Bereits seit dem Jahr 1980 führt die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) regelmäßig ihre Studie »Jugendsexualität« durch, mit ihrer jüngsten Studie »Jugendsexualität 2015« mit Daten aus dem Jahr 2014 (Bode & Heßling, 2015) (Kap. 3.2.2). Diese Studie erlaubt damit auch historische Vergleiche zwischen den beforschten Dekaden. So kann beispielsweise gezeigt werden, dass seit den 1980er Jahren der Anteil von sexuell aktiven Jugendlichen immer größer geworden ist, dass es allerdings in jüngster Zeit keine weitere Vorverlagerung des Einstiegsalters beim ersten Geschlechtsverkehr mehr gibt (Bode & Heßling, 2015). Darüber hinaus wurden aktuell auch bisher unerschlossene Populationen, etwa Jugendliche mit Migrationshintergrund oder ältere Jugendliche beim Übergang ins junge Erwachsenenalter ins Visier genommen.

Der vorliegende Band hat das Ziel, einen relativ umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand im Bereich der romantischen und sexuellen Entwicklung im Jugendalter zu geben. Hierzu werden relevante Theorien aufgeführt und mit nationalen und internationalen empirischen Befunden untermauert. Zu Beginn des Buches wird die Bedeutung der Entwicklung in diesem Bereich als wichtige Entwicklungsaufgabe des Jugendalters dargestellt (Kap. 2). In zwei Großkapiteln folgt dann die Darstellung der Entwicklung im Bereich der Sexualität (Kap. 3) und im Bereich der romantischen Beziehungen (Kap. 4). Diese Kapitel enthalten jeweils viele Subkapitel mit einer genauen Darstellung des jeweiligen Forschungsstandes, u. a. im Hinblick auf Einflussfaktoren, Problementwicklungen und spezifische Anwendungsfelder (beispielsweise zum Thema Verhütung siehe Kapitel Sexualität oder zum Thema Gewalt in Datingbeziehungen siehe Kapitel Romantische Beziehungen). Im Anschluss an diese beiden Großkapitel erfolgt die Darstellung der Verzahnung der beiden Entwicklungsbereiche während des Jugendalters (Kap. 5), von Besonderheiten in diesen Entwicklungsbereichen bei LSBT*I*Q-Jugendlichen (Kap. 6) sowie letztlich die Darstellung von spezifischen Präventionsangeboten im Jugendalter für die Bereiche Sexualität und Partnerschaft (Kap. 7).

 

 

 

 

2

Sexualität und Partnerschaften als Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

 

Das Jugendalter ist eine Altersphase, in der es im Bereich der Sexualentwicklung und der sozialen Beziehungen zu fundamentalen Veränderungen kommt. Den Umgang mit dem eigenen Körper, sexuellen Bedürfnissen und mit Liebespartnern/-innen zu erlernen, gehört zu den zentralen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (Fend, 2005). Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde ursprünglich von Robert J. Havighurst in den 1930er und 1940er Jahren formuliert (Havighurst, 1948) und ist in Deutschland vor allem durch Eva und Michael Dreher untersucht worden (Fend, 2005), wobei neuere Untersuchungen beispielsweise auch kulturelle Unterschiede von Entwicklungsaufgaben in den Blick nehmen (Silbereisen & Weichold, 2012) oder die Bedeutsamkeit der von Havighurst formulierten Aufgaben für die Anpassung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter belegen (Seiffge-Krenke & Gelhaar, 2008).

Dem Entwicklungsaufgabenkonzept zufolge stellen sich im Jugendalter, wie in anderen Lebensphasen auch, bestimmte Lernaufgaben, deren Bewältigung in der jeweiligen Altersphase am günstigsten gelingt (Oerter & Dreher, 2008). Die Grundlage dieser Aufgaben bilden

•  die biologischen Veränderungen während des Jugendalters, v. a. hormonelle Veränderungen und das Erreichen der Geschlechtsreife sowie Veränderungen des Gehirns, insbesondere im präfrontalen Kortex,

•  gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Anforderungen (etwa die Notwendigkeit, einen Schulabschluss zu erreichen) sowie

•  individuelle Ziele der Jugendlichen selbst (vgl. Silbereisen & Weichold, 2012).

Zusammenfassend lässt sich also definieren: »Entwicklungsaufgaben sind an das Alter gebundene Anforderungen, die sich typischerweise jedem Individuum im Laufe des Lebens stellen. Sie ergeben sich durch das Zusammenspiel biologischer Veränderungen des Organismus, Erwartungen und Anforderungen, die aus dem sozialen Umfeld an das Individuum gestellt werden, sowie Erwartungen und Wertvorstellungen seitens des Individuums selbst« (Eschenbeck & Knauf, 2018, S. 24).

Als entscheidende Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz gelten nach Havighurst für das Alter von etwa 12 bis 18 Jahren (Eschenbeck & Knauf, 2018, S. 26):

•  Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen des eigenen und anderen Geschlechts,

•  Übernahme der männlichen bzw. weiblichen Geschlechtsrolle,

•  Akzeptieren des eigenen Körpers und dessen effektive Nutzung,

•  Loslösung und emotionale Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen,

•  ökonomische Unabhängigkeit,

•  Berufswahl und -ausbildung,

•  Vorbereitung auf Heirat und Familienleben,

•  Erwerb intellektueller Fähigkeiten, um eigene Rechte und Pflichten ausüben zu können

•  Entwicklung sozial verantwortlichen Verhaltens

•  Erlangen von Werten und eines ethischen Systems, das einen Leitfaden für das eigene Verhalten darstellt.

Aufgaben, die ganz direkt mit der romantischen und sexuellen Entwicklung in Verbindung stehen, wurden kursiv gesetzt, sodass deutlich wird, dass dieser Entwicklungsbereich einen großen Anteil der zu bewältigenden Aufgaben einnimmt. Eine starke Verbindung hat dieser Aufgabenbereich auch zur Aufgabe der Loslösung von den Eltern. Und auch die beiden letzten Aufgaben in der Liste sind für die Gestaltung von romantischen und insbesondere sexuellen Beziehungen relevant, wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass sexuelles Handeln immer auch mit spezifischen Folgen, etwa einer unerwünschten Schwangerschaft, einhergehen kann und die Übernahme sozialer Verantwortung erfordert.

Fend sieht in diesem Zusammenhang die Bewältigung der Sexualität sogar als Kernaspekt der sozialen Entwicklungsaufgaben im Jugendalter: »Zu lernen, Liebesbeziehungen einzugehen und zu lösen, könnte deshalb mit Fug und Recht als die übergeordnete Aufgabe angesehen werden« (Fend, 2005, S. 258f). Fend sieht die Aufgabe der Sexualität als eine Verquickung ganz zentraler menschlicher Bedürfnisse: Dem Bedürfnis nach Akzeptanz und Selbstwert, dem Bedürfnis nach Bindung sowie die Einbettung von Erotik und Sexualität in soziale Bindungen und Verpflichtungen. Damit entsteht eine enge Verbindung der Frage nach der Sexualität mit der Frage nach moralischen Normen, und damit schließlich der Entwicklung der Sozialität des Jugendlichen. Darüber hinaus geht es auch um die Entwicklung im Bereich der Personalität, hat Sexualität doch auch mit Authentizität zu tun, also der eigenen geschlechtlichen Identitätsbildung und der damit verbundenen Frage, was im Bereich der Sexualität »…einem gemäß und nicht gemäß ist, was man für sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation mit einem bestimmten Partner möchte« (Fend, 2005, S. 259; siehe auch Wendt, 2009). Zusammenfassend enthält die Entwicklungsaufgabe »Umgang mit Sexualität lernen« also drei zentrale Aspekte:

1.  einen verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität,

2.  die Einbindung in soziale Bindungen und

3.  die Platzierung im Kern des Selbstverständnisses der Person (Fend, 2005, S. 259).

Die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters stellen sich nicht isoliert nur in dieser spezifischen Altersphase, sondern haben ihre Vorläufer und auch Nachfolger in den Aufgaben der mittleren Kindheit und des jungen Erwachsenenalters. In der mittleren Kindheit (etwa 6 bis 12 Jahre) wären dies beispielsweise der Aufbau einer gesunden Einstellung zu sich als wachsender Organismus, das Lernen mit Gleichaltrigen zurechtzukommen oder das Erlernen einer angemessenen männlichen oder weiblichen sozialen Rolle; im jungen Erwachsenenalter (etwa 18 bis 30 Jahre) u. a. einen Lebenspartner/eine Lebenspartnerin zu finden, zu lernen, mit dem Partner/der Partnerin zusammenzuleben, die Gründung einer Familie und Kinder aufzuziehen (Eschenbeck & Knauf, 2018, S. 26).

Bezogen auf die romantische und sexuelle Entwicklung zeigt die Forschung tatsächlich, dass die Bewältigung spezifischer Lernaufgaben im Kindes- und Jugendalter wichtige Vorläufer für die erfolgreiche Etablierung von Partnerschaften im Erwachsenenalter darstellen. Allerdings scheinen entsprechende Entwicklungsprozesse nicht immer domänenspezifisch abzulaufen. So zeigen etwa Roisman und Kollegen/-innen (2004), dass die Etablierung einer zufriedenstellenden Partnerschaft im Erwachsenenalter durch die kompetente Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Bereich Freundschaften und akademische Leistung vorhergesagt werden kann, nicht jedoch, wie erwartet werden würde, durch romantische Erfahrungen im Jugendalter (vgl. Eschenbeck & Knauf, 2018). Auch Collins und van Dulmen (2006) zeigen, dass gerade die Kompetenzen in Peerbeziehungen und die Qualität von Freundschaftsbeziehungen einen wichtigen Beitrag zur Qualität späterer Partnerschaften zu Beginn des jungen Erwachsenenalters haben, während sich in einer anderen Studie jedoch kein solcher Einfluss der Freundschaftsqualität auf verschiedene Bereiche der Qualität von Liebesbeziehungen mit 20 Jahren nachweisen lässt (Seiffge-Krenke, Shulman & Klessinger, 2001). Andere Befunde wiederum zeigen, dass domänenspezifisch das Sammeln romantischer Erfahrungen im Jugendalter prädiktiv für eine spätere Heirat ist (Raley, Crissey & Muller, 2007). Allerdings scheint eine Überinvolviertheit (viele Datingbeziehungen im Jugendalter) mit mehr negativem Affekt in späteren Partnerschaften (mit 20/21 Jahren) in Verbindung zu stehen, während eine geringere Anzahl an Datingpartnern/-innen eine höhere Beziehungsqualität vorhersagt (Madsen & Collins, 2011). Auch ein positives Körperselbstbild im Jugendalter trägt zu einer höheren Beziehungsqualität im Sinne einer geringeren unsicher-vermeidenden Bindung zum Partner/zur Partnerin im Alter von 25 Jahren bei (Seiffge-Krenke, Persike & Shulman, 2015).

Diese unterschiedlichen Befunde weisen darauf hin, dass Entwicklungsaufgaben aus verschiedenen Bereichen untereinander in Verbindung stehen und Einfluss auf den weiteren Entwicklungsverlauf nehmen, aber dass letztlich auch die »Qualität« der Bewältigung der jeweiligen Aufgabe prädiktiv für die weitere Entwicklung im jungen Erwachsenenalter ist. Längsschnittliche Befunde zeigen im Bereich der Partnerschaftsentwicklung im jungen Erwachsenenalter, dass sich die Bedeutung der Entwicklungsaufgabe »Aufbau einer Partnerschaft«, d. h. die diesbezügliche Entwicklungsnorm, entsprechend ihrer Realisierung anpasste: bei Personen, die mit 21 Jahren keinen Partner/keine Partnerin hatten, bei der Befragung mit 23 Jahren jedoch eine Partnerschaft etabliert hatten, konnte parallel eine Zunahme der Bedeutsamkeit dieser Entwicklungsaufgabe nachgewiesen werden, d. h. die Entwicklungsnorm wurde entsprechend des erreichten Entwicklungsstands adjustiert und eine höhere Entwicklungsnorm ausgeprägt (Seiffge-Krenke & Gelhaar, 2006). Darüber hinaus zeigte sich, dass für Personen mit einem Partner/einer Partnerin die Bedeutung weiterer Entwicklungsaufgaben, wie die Gründung einer Familie, zunahm, dass es also auch Auswirkungen des erreichten Entwicklungsstandes auf die Entwicklungsnorm in Bezug auf weitere Entwicklungsaufgaben gibt (Seiffge-Krenke & Gelhaar, 2006). Jugendliche sammeln zudem auch innerhalb ihrer romantischen Beziehungen wichtige Erfahrungen und können ihren Lernzuwachs durch ihre Beziehungserfahrungen vor einem Jahr auch in qualitativen Interviews reflektieren (Norona, Roberson & Welsh, 2017).

Gleichwohl die von Havighurst formulierten Entwicklungsaufgaben teils veraltet anmuten, finden sich trotzdem erstaunliche Ähnlichkeiten zu aktuellen, jugendtypischen Aufgaben, die anhand von Daten der Shell Jugendstudie zu vier Aufgabenclustern gruppiert werden konnten (Eschenbeck & Knauf, 2018). Die Aufgaben aus dem Bereich der romantischen und sexuellen Entwicklung gehören dabei dem Cluster Soziale Bindungen aufbauen an, neben dem es die Cluster Qualifizieren (intellektuelle und soziale Kompetenzen entwickeln) und Partizipieren (individuelles Werte- und Normensystem und die Fähigkeit zur politischen Partizipation entwickeln) gibt (Albert, Hurrelmann, Quenzel & TNS Infratest Sozialforschung, 2015). Neu hinzugekommen ist im Vergleich zu Havighursts Aufgaben lediglich der vierte Cluster Konsumieren und Regenerieren (Fähigkeiten, mit Konsum-, Medien- und Freizeitangeboten umzugehen entwickeln) (Eschenbeck & Knauf, 2018).

Bereits in den 1980er und 1990er Jahren zeigte die Forschung, dass sich die Rangreihe und Bedeutsamkeit der von Havighurst formulierten Aufgaben stetig verändert und dass beispielsweise bei einem Vergleich der Rangreihen von 1985 und 1997 die Bedeutsamkeit der Entwicklungsaufgabe »Engere Beziehungen zu einem Freund/einer Freundin aufnehmen« für Jungen und Mädchen deutlich zunahm und bei Mädchen 1997 den Spitzenplatz unter den wichtigsten Entwicklungsaufgaben einnahm (1985: Platz 9 von 10), bei Jungen immerhin Platz drei (1985: Platz 7 von 10) (Dreher & Dreher, 1997; Oerter & Dreher, 2008). Im weiteren Entwicklungsverlauf schätzen junge Erwachsene im Alter von 23 Jahren insbesondere die drei Entwicklungsaufgaben Aufbau einer Partnerschaft, Auszug aus dem Elternhaus und Einstieg in die Berufstätigkeit als überdurchschnittlich wichtige Entwicklungsaufgaben ein, also als Aufgaben mit einer hohen Entwicklungsnorm (von hoher relativer Bedeutung) (Seiffge-Krenke & Gelhaar, 2006). Allgemeiner befragt nach ihren Lebenszielen geben aktuell in der Shell Jugendstudie 2015 die dort befragten 12- bis 25-Jährigen den Wunsch nach guten Freunden/guten Freundinnen als wichtigstes Lebensziel an, direkt gefolgt vom Wunsch nach einem Partner/einer Partnerin, dem man vertrauen kann (Albert et al., 2015).

Entwicklungsaufgaben scheinen jedoch auch abhängig von den aktuell herrschenden kulturellen Erwartungen zu sein, etwa im Hinblick auf Verhaltensweisen der Autonomieentwicklung (Titzmann & Silbereisen, 2015). So zeigen diese Befunde etwa, dass jugendliche Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion den erwarteten Zeitpunkt für hierzulande akzeptierte Schritte der Autonomieentwicklung, etwa sich zum ersten Mal zu verlieben, später datieren, möglicherweise aufgrund des stärkeren Grades an Kontrolle seitens der Eltern. Seit einigen Jahren lässt sich auch eine Verlagerung von Entwicklungsaufgaben in ein höheres Alter verzeichnen, etwa in Bezug auf die berufliche Festlegung, die Unabhängigkeit von den Eltern oder das Gründen einer Familie (Silbereisen & Weichold, 2012), was letztlich sogar zur Diskussion um eine eigene Entwicklungsphase – das »Emerging Adulthood« – führte, die laut Arnett zwischen dem Jugendalter und dem jungen Erwachsenenalter anzusiedeln ist (Arnett, 2000).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Sammeln romantischer und sexueller Erfahrungen wichtige Entwicklungsaufgaben des Jugendalters darstellen, verbunden mit hoher subjektiver Bedeutsamkeit als wichtiges Lebensziel für die Jugendlichen selbst (siehe auch Kindelberger & Tsao, 2014). Diese Aufgaben bleiben jedoch auch nach dem Übergang ins junge Erwachsenenalter weiterhin von hoher Relevanz: einerseits weil sie wichtige und direkte Vorläufer von Entwicklungsaufgaben des jungen Erwachsenenalters sind, andererseits weil ein gewisser Anteil Jugendlicher die Bewältigung dieser Aufgaben ins junge Erwachsenenalter »verschiebt«, wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird.

 

 

 

 

3

Sexualität im Jugendalter

3.1         Sexualität als zentrales Thema der Adoleszenz

Die Voraussetzung für die Aufnahme intensiver sexueller Beziehungen ist in der Regel das Erreichen der Geschlechtsreife und damit der Fortpflanzungsfähigkeit. Diese Entwicklungsphase wird als Pubertät bezeichnet und steht bei den meisten Jugendlichen am Beginn des Jugendalters (Silbereisen & Weichold, 2012), meist angesiedelt in der frühen Adoleszenz (ca. 10 bis 13 Jahre) (Konrad & König, 2018). Während der Pubertät kommt es zu erheblichen Veränderungen auf physiologischer, emotionaler und sozialer Ebene. Zwar gibt es bereits im Kindesalter durchaus sexuelle Handlungen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Auflage 6.200.11.12), aber erst mit Erreichen der Pubertät ist Sexualität mit Reproduktionsfunktion möglich.

Der Motor für die Aufnahme sexueller Beziehungen im Jugendalter sind zum einen die hormonellen Veränderungen während der Pubertät, aufgrund derer die Jugendlichen nun häufiger sexuelles Verlangen und Verhalten zeigen. Zum anderen werden in diesem Alter sexuelle Handlungen erstmals als bewusst und intentional sexuell betrachtet, sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch in der Wahrnehmung anderer (Steinberg, 2017, S. 292). Aufgrund der reiferen äußeren Erscheinung ändert sich auch die Wirkung auf potentielle Geschlechtspartner und -partnerinnen.

Allerdings ist das Jugendalter auch im Hinblick auf die Sexualität eine Lernphase (Fend, 2005, siehe Kapitel 2: Sexualität als Entwicklungsaufgabe): Der Umgang mit der eigenen körperlichen Erscheinung, den eigenen sexuellen Bedürfnissen sowie denen anderer, die Gestaltung sexueller Beziehungen und die damit verbundene Verantwortung für sich und andere sind neu und müssen erst erlernt werden (vgl. Wendt, 2009). Sexualität im Jugendalter ist somit mit vielen neuen Erfahrungen und Gefühlen und damit meist auch mit einigen Unsicherheiten behaftet, die sich oft erst im Erwachsenenalter oder mit größerer sexueller Erfahrung reduzieren.

3.2       Meilensteine sexueller Entwicklung im Jugendalter: empirische Befunde

3.2.1     Körperliche Reife und Pubertät

Die Basis intensiverer sexueller Aktivitäten ist, wie oben angedeutet, das Erreichen der Geschlechtsreife während der Pubertät. In der Pubertät vollziehen sich neben vielen anderen biologischen Teilprozessen drei zentrale Entwicklungsprozesse (Fend, 2005):

1.  das Körperwachstum insgesamt,

2.  die Entwicklung primärer Geschlechtsmerkmale und die sexuelle Reifung im Sinne der Menarche/Ejakularche sowie

3.  die Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale wie Brustentwicklung, Stimmveränderung oder Haarwachstum.

Neben der Ejakularche und Menarche gibt es zahlreiche weitere körperliche Veränderungen während der Pubertät, deren genaue Abfolge hier aus Platzgründen nicht aufgegriffen werden kann (siehe hierfür Weichold & Silbereisen, 2008; Silbereisen & Weichold, 2012; Oerter & Dreher, 2008; Konrad & König, 2018). Wichtig für die folgenden Ausführungen zur sexuellen Entwicklung sind jedoch Informationen über Entwicklungsunterschiede im Entwicklungstempo, v. a. Formen der Akzeleration oder Retardation in der körperlichen Reifung, da diese in klarem Zusammenhang mit dem psychischen Befinden der Betroffenen oder sozialen Reaktionen anderer stehen (z. B. Oerter & Dreher, 2008). Während die Abweichungshypothese (Deviance Hypothesis) davon ausgeht, dass sowohl frühe wie auch späte Reife mit Anpassungsproblemen verbunden sind, geht die Entwicklungsschlusshypothese (Stage Termination Hypothesis) davon aus, dass es vor allem die vorzeitige Reifung ist, die mit Problemverhalten einhergeht (vgl. Silbereisen & Weichold, 2012). Tatsächlich weisen viele empirische Befunde darauf hin, dass vor allem eine Beschleunigung in der körperlichen Entwicklung im Zusammenhang mit mehr emotionalen und Verhaltensproblemen steht (z. B. Negriff & Susman, 2011), stärker ausgeprägt bei Mädchen als bei Jungen (vgl. Steinberg, 2017). Entsprechendes deviantes Verhalten kann auch als verfrühte Aneignung »erwachsener« Verhaltensweisen, beispielsweise in Form von Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum, interpretiert werden (vgl. Weichold, Silbereisen & Schmitt-Rodermund, 2003).

Zu diesen »erwachseneren« Verhaltensweisen kann auch sexuelle Aktivität gezählt werden: so zeigen empirische Befunde, dass frühreife Jugendliche auch früher sexuell aktiv werden (z. B. Lam, Shi, Ho, Stewart & Fan, 2002), dass auch die individuelle Wahrnehmung des Reifungsgrades mit dem Alter beim ersten Geschlechtsverkehr zusammenhängt (Moore, Harden & Mendle, 2014) und dass die Jahre der Geschlechtsreife ein ausschlaggebender Faktor dafür sind, wann der erste Geschlechtsverkehr erlebt wird, weniger das absolute Alter der Jugendlichen (Kluge, 1998) (Kap. 3.3.2).

Welche Faktoren sind jedoch für die vorzeitige vs. verzögerte körperliche Reifung verantwortlich? Grundsätzlich reifen Jugendliche heute im Vergleich zum 19. Jh. durchschnittlich wesentlich früher (Säkularer Trend), aber darüber hinaus existieren weiterhin erhebliche interindividuelle Unterschiede im Entwicklungstempo. Für das Timing der Pubertätsentwicklung werden sowohl genetische Faktoren als auch Umwelt-Einflüsse – also sozialisatorische Einflüsse – verantwortlich gemacht, wie ein Überblicksartikel darstellt (Was beeinflusst das Reifungstempo? Körperliche Entwicklung und sozialisatorische Einflüsse, Wendt & Walper, 2013c). Im Folgenden werden die wesentlichen Einflussfaktoren aus diesem Artikel in aller Kürze zusammengefasst und um aktuelle Befunde ergänzt:

Genetische Einflüsse: Studien belegen, dass das Entwicklungstempo zumindest teilweise genetisch bestimmt wird. So haben frühentwickelte Mädchen meist auch frühentwickelte Mütter, eineiige Zwillinge reifen ähnlich schnell. Die Forschung geht davon aus, dass jedes Individuum eine genetisch bedingte Vorbestimmung (Prädisposition) besitzt, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu reifen. Inwieweit diese Prädisposition zum Tragen kommt, wird allerdings vor allem von externen Einflüssen aus der Umwelt bestimmt (Gen-Umwelt-Interaktion, vgl. Steinberg, 2017, S. 23ff).

Ernährung und Gesundheit: Die Pubertätsentwicklung vollzieht sich bei Jugendlichen mit Ernährungsdefiziten, chronischen Erkrankungen oder bei intensivem körperlichem Training später, bei gut ernährten Jugendlichen hingegen früher. So erleben laut Daten des Deutschen Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) stark untergewichtige Mädchen ihre erste Monatsblutung erst mit 14,9 Jahren – das ist im Durchschnitt 2,8 Jahre später als bei stark übergewichtigen Mädchen (Kahl et al., 2007). Bei Jungen hat das Gewicht keinen derart starken Einfluss auf das Alter beim Stimmbruch (15,7 Jahre bei stark unter- bzw. 15,0 Jahre bei stark übergewichtigen Jungen).

Sozialstatus und Migrationshintergrund: Aktuell reifen Mädchen mit niedrigem Sozialstatus früher als Mädchen mit hohem Sozialstatus (Kahl et al., 2007), wobei auch hier als Ursache die stärker verbreitete Adipositas bei niedrigem Sozialstatus diskutiert wird. Abermals lässt sich dies für Jungen nicht nachweisen.

Auch Jugendliche aus Zuwanderungsfamilien und bestimmten ethnischen Gruppen reifen schneller, dies zeigen nationale Studien bspw. für türkischstämmige und russlanddeutsche Mädchen (Kahl et al., 2007), aber auch international zeigt sich, dass afroamerikanische und hispanische Mädchen früher reifen als weiße Mädchen. Für Jungen ergibt sich in Deutschland in der Studie Jugendsexualität 2015 (Bode & Heßling, 2015) ein Hinweis auf eine frühere körperliche Reifung von Jungen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Jungen ohne Migrationshintergrund. Auch diese Unterschiede in den Bevölkerungsgruppen werden teils auf Unterschiede im Hinblick auf Übergewicht und Ernährungsweise zurückgeführt.

Einflüsse der Familie: Mittlerweile zeigt eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, dass ungünstige Erfahrungen in der Familie im Kindesalter großen Einfluss auf das Entwicklungstempo nehmen. Spannungen und Distanz in den familiären Beziehungen sollen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen Stress verursachen, der wiederum die Ausschüttung von Hormonen (v. a. Cortisol) triggert, die die körperliche Reifung beschleunigen. Entscheidend sei dabei vor allem die Rolle der Vaterabwesenheit. Tatsächlich zeigen mehrere Studien, dass Mädchen, die in einem Haushalt ohne biologischen Vater aufwachsen, früher körperlich reifen (siehe Neberich, Penke, Lehnart & Asendorpf, 2010). Auch bei Jungen scheint die Abwesenheit des biologischen Vaters mit einem jüngeren Alter beim Stimmbruch verbunden zu sein (siehe Weichold & Silbereisen, 2008). Die Anwesenheit eines Stiefvaters ist hingegen in manchen Studien mit einer beschleunigten körperlichen Reifung der Mädchen verbunden, wobei die Befundlage hier nicht eindeutig ist. Darüber hinaus nehmen Belsky und Kollegen/-innen in ihrem Modell noch weitere Einflussfaktoren der familialen Lebenswelt auf das Timing der körperlichen Reifung in den Blick, etwa elterliche Konflikte, Instabilität familiärer Beziehungen oder eingeschränkte finanzielle Ressourcen, die wiederum ein ungünstiges Erziehungsverhalten und Spannungen in der Eltern-Kind-Beziehung bedingen und in der Folge u. a. mit einer früheren körperlichen Reifung verbunden sind (z. B. Weichold & Silbereisen, 2008).

Insgesamt zeigen die hier berichteten Ergebnisse verschiedener Untersuchungen, dass die Pubertätsentwicklung als komplexes Zusammenspiel von Genen und Umwelt zu verstehen ist. Zumindest teilweise vermittelt über körperliche Faktoren wie Ernährung, Gesundheit, körperliche Anstrengung und Stress, nehmen auch der Sozialstatus, Migrationshintergrund, Familienzusammensetzung und die Qualität der Familienbeziehungen Einfluss auf das Entwicklungstempo.

3.2.2     Abfolge sexueller Aktivität im Jugendalter

Die Abfolge in der sexuellen Entwicklung ist über die Jahrzehnte hinweg relativ unverändert geblieben: Auf autoerotisches Verhalten folgen meist Zärtlichkeiten mit anderen Personen mit Händchenhalten, Küssen, Zungenküssen, Berührungen am Oberkörper mit und ohne Kleidung, Berührungen am Unterkörper mit und ohne Kleidung, bis schließlich hin zu vaginalem Geschlechtsverkehr und Oralverkehr (Steinberg, 2017; vgl. Vierhaus & Wendt, 2018).

Daten für die Entwicklung hierzulande bietet die repräsentative deutsche Studie »Jugendsexualität 2015« der BZgA (Bode & Heßling, 2015), die im Folgenden kurz vorgestellt sei (vgl. Vierhaus & Wendt, 2018):

Seit 1980 führt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) regelmäßig ihre repräsentative Studie »Jugendsexualität« durch, ganz überwiegend in der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen. Bislang gab es 8 Befragungen in den Jahren 1980, 1994, 1996, 1998, 2001, 2005, 2009 und 2014, teils mit zusätzlicher Befragung der Eltern.

Die Studie »Jugendsexualität« umfasst im wesentlichen Fragen zu Aufklärung, körperlicher Entwicklung, sexuellen Aktivitäten und Empfängnisverhütung. Teilweise haben die einzelnen Befragungen ergänzende Foki, etwa den Unterschied zwischen Jugendlichen deutscher Herkunft und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Befragungen 2009 und 2014). Die Ergebnisberichte stehen auf der Homepage der BZgA zum Download zur Verfügung.

Für die aktuellste Studie »Jugendsexualität 2015« (Befragung durchgeführt im Jahr 2014) erfolgte eine Ausweitung der Altersstichprobe bis zum Alter von 25 Jahren – ein wichtiger Schritt, um die altersgradierte Entwicklung umfassend darstellen zu können (Bode & Heßling, 2015; www.forschung.sexualaufklaerung.de).

(vgl. Vierhaus & Wendt, 2018, S. 156)

In Bezug auf die Abfolge sexueller Entwicklung zeigt die Studie Jugendsexualität 2015 der BZgA, dass in der Altersgruppe der 14- bis 17-jährigen Jugendlichen deutscher Herkunft im Durchschnitt etwa 77 % Erfahrung mit Küssen haben, etwa 52 % mit Brustpetting, etwa 41 % mit männlich-aktivem Genitalpetting, 39 % mit weiblich-aktivem Genitalpetting und 31 % mit vaginalem Geschlechtsverkehr (Bode & Heßling, 2015, S. 100/112). Sehr deutlich wird hier die Abfolge in der sexuellen Entwicklung, wobei sexuelle Handlungen mit stärkerer Intensität in der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen seltener sind als sexuelle Handlungen geringerer Intensität.